Alice Hoffman
Nachtvögel
oder
Die Geheimnisse von Sidwell
Aus dem Amerikanischen
von Sibylle Schmidt
FISCHER E-Books
Twig ist unsichtbar. Zumindest versucht sie, so unsichtbar wie möglich zu sein. Denn wenn einen niemand beachtet, stellt auch keiner schwierige Fragen. Zum Beispiel nach der Geheimzutat, die Moms Apfelkuchen zum köstlichsten der Welt macht. Dann fragt auch niemand nach dem Fluch, der seit zweihundert Jahren auf Twigs Familie lastet, oder nach dem geflügelten Ungeheuer, das sich in mondhellen Nächten über ihrem Haus in die Lüfte schwingt. Dass dieses Wesen niemand anders als ihr Bruder James ist, der mit schwarzen Flügeln auf dem Rücken geboren wurde, darf niemand wissen.
Doch als Julia im Nachbarhaus einzieht und sich durch nichts und niemanden davon abhalten lässt, Twigs beste Freundin zu werden, ist es vorbei mit der Geheimniskrämerei: Twig entschließt sich, Julia von dem alten Fluch zu erzählen. Und gemeinsam mit ihrer Freundin den Fluch zu brechen.
Alice Hoffman wurde 1952 in New York geboren und lebt heute in Boston. Ihre Kinder- und Erwachsenenromane wurden in über 20 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Nun legt Alice Hoffman ihr neues Kinderbuch vor – und schreibt poetischer und bezaubernder als je zuvor.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage, auch zu E-Book-Ausgaben, gibt es auch auf www.blubberfisch.de und www.fischerverlage.de
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die amerikanische Originalausgabe erschien 20XY unter dem Titel ›Nightbird‹ bei Random House Children's Books, an imprint of Penguin Random House LLC., New York
© 2015 Alice Hoffman
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Norbert Blommel, MT-Vreden, unter Verwendung einer Illustration von Sarah Jane Coleman/CIA
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0257-4
Man sollte nie alles glauben, was man zu hören bekommt. Nicht einmal in der kleinen Stadt Sidwell in Massachusetts, wo angeblich jeder nur die Wahrheit sagt und die Äpfel so süß sind, dass viele Leute zum Apfelfest eigens aus New York City anreisen.
Das meistgehörte Gerücht hier in Sidwell ist die Mär von dem Monster: In unserer Stadt lebe ein geheimnisvolles Wesen, munkelt man. Einige Leute behaupten, es sei ein Vogel, größer als ein Adler. Andere halten es für einen Drachen oder eine riesige Fledermaus, die – aus der Ferne betrachtet – einem geflügelten Menschen ähnelt. Auf jeden Fall gibt es diese Kreatur – sei sie nun Mensch, Tier oder Zwischenwesen – nur hier, flüstert man sich zu, nirgendwo anders auf der Welt. Die Kinder aus unserem Ort sind der festen Überzeugung, hier im Berkshire County würden Märchen wahr und das Wesen sei ein Ungeheuer, so groß wie ein Mann. Im Gemischtwarenladen und an der Tankstelle kann man T-Shirts mit der Aufschrift Sidwell ist eine Reise wert und dem Bild eines geflügelten Wesens mit leuchtend roten Augen kaufen.
Jedes Mal, wenn ich irgendwo so ein T-Shirt sehe, lasse ich es unauffällig im Mülleimer verschwinden.
Ich finde, die Leute sollten achtsamer sein und besser überlegen, welche Geschichten sie herumerzählen.
Jedenfalls schiebt man immer dann, wenn Dinge abhandenkommen, dem Ungeheuer die Schuld zu. Diese merkwürdigen Diebstähle ereignen sich meist am Wochenende: Der Starlight Diner bekommt weniger Brot, als bestellt wurde. Kleidungsstücke verschwinden von Wäscheleinen. Ich weiß genau, dass es dieses Ungeheuer nicht gibt, und doch ist meine Familie auch bestohlen worden: Im einen Moment standen noch vier frisch gebackene Kuchen zum Abkühlen auf der Küchentheke, und im nächsten war die Hintertür offen, und ein Kuchen fehlte. An einem Samstag war plötzlich die alte bunte Patchworkdecke von unserer Veranda nicht mehr auffindbar. Auf dem Rasen konnte ich nirgendwo Fußabdrücke erkennen, doch als ich an diesem Morgen an der Hintertür stand und in den Wald spähte, lief mir ein Schauer über den Rücken. Jemand schien dort durchs Dickicht zu rennen. Vielleicht täuschten mich aber auch nur die Nebelschwaden, die vom Erdboden aufstiegen.
Niemand weiß, ob es sich um Dumme-Jungen-Streiche handelt, ob wirklich jemand in Not ist – oder ob dieses Wesen dahintersteckt, das angeblich hier irgendwo haust. Es gibt ja zu allem und jedem immer viele Meinungen, auch in Sidwell, aber in einem sind sich die Leute einig: Unser Ungeheuer kann man nur bei Nacht sehen, und auch nur dann, wenn man zufällig gerade aus dem Fenster schaut, an den Apfelplantagen spazieren geht oder im richtigen Moment an unserem Haus vorbeikommt.
Unser riesiges, verwinkeltes Farmhaus in der Old Mountain Road ist über zweihundert Jahre alt. Es hat drei Kamine, von denen jeder einzelne so hoch ist, dass ich aufrecht darin stehen kann, obwohl ich für meine zwölf Jahre ziemlich groß bin. Von unserer Eingangstür aus kann man über die Wälder schauen, in denen einige der ältesten Bäume von ganz Massachusetts wachsen. Hinter dem Haus erstrecken sich die Apfelplantagen, ein gewaltiges Gelände von fast acht Hektar Land. Wir bauen dort eine ganz besondere Apfelsorte an, die den Namen »Pink« trägt. Einer meiner Vorfahren hat den ersten Pink-Apfelbaum in Sidwell gepflanzt. (Manche Leute glauben übrigens, den Setzling habe er von niemand anderem als der Legende Johnny Appleseed bekommen, dem wandernden Apfelbaum-Verkäufer, als dieser auf seinem Weg nach Westen durch unsere Stadt kam.) Wir stellen Pink-Apfelsoße und mehrere Sorten Pink-Apfelkuchen her – offenen und gedeckten, welchen mit hellem Teig und welchen mit dunklem. Im Sommer, wenn die Äpfel noch nicht reif sind, backen wir Pfirsich-Beeren-Kuchen und im späten Frühjahr Erdbeer-Rhabarber-Kuchen mit den Früchten aus dem Garten hinter unserem Haus. Rhabarber gleicht roter Sellerie und ist bitter, aber mit Erdbeeren kombiniert schmeckt er köstlich. Ich mag es gerne, wenn man Bitteres mit Süßem mischt. Das liegt vielleicht daran, dass meine Familie anders ist als alle anderen. Für uns Fowlers ist es ganz normal, nicht normal zu sein.
Die Kuchen meiner Mutter seien die besten von ganz Neuengland, heißt es, und unser Apfelwein ist so berühmt, dass die Leute von weit her angefahren kommen, um ihn zu kosten. Unsere Kuchen und Muffins bringen wir fast alle zum Gemischtwarenladen in Sidwell. Der Besitzer, Mr Stern, kann so viele Kuchen verkaufen, wie Mom bäckt.
Seit ich denken kann, wünsche ich mir, nicht staksig und unbeholfen, sondern eher so wie meine Mutter zu sein. Als Mädchen hatte sie Ballettunterricht an der Tanzschule von Miss Ellery in Sidwell, und wenn Mom Äpfel pflückt oder Körbe mit Früchten trägt, sieht sie dabei immer graziös und anmutig aus. Meine Arme und Beine dagegen sind zu lang geraten, und ich neige dazu, über meine eigenen Füße zu stolpern. Das Einzige, was ich gut kann, ist rennen. Und Geheimnisse bewahren. Darin bin ich Meisterin. Weil ich das schon immer perfekt beherrschen musste.
Meine Mutter hat honigblondes Haar, das sie beim Backen mit einer silbernen Spange hochsteckt. Meine Haare dagegen sind dunkel auf eine Art, die ich selbst kaum beschreiben kann – irgendwie braunschwarz wie Baumrinde oder eine Nacht ohne Sterne. Wenn ich durch die Wälder gestreift bin, waren meine langen Haare danach immer so grässlich verfilzt, dass ich sie mir in diesem Jahr mit einer Nagelschere selbst abgeschnitten habe. Mit dem Ergebnis, dass ich sie jetzt noch hässlicher finde als vorher. Meine Mutter meint zwar, ich sähe wie ein Kobold aus, aber das war natürlich nicht die Absicht. Ich wollte einfach nur meiner Mutter gleichen, von der es heißt, dass sie in meinem Alter das hübscheste Mädchen der Stadt war. Und die jetzt wohl die schönste Frau im ganzen Land ist.
Aber leider ist sie auch furchtbar traurig. Meine Mutter lächelt so selten, dass es einem Wunder gleicht, wenn sie es doch einmal tut. Die Leute in der Stadt sind immer freundlich zu ihr, tuscheln aber über sie und nennen sie insgeheim »die arme Sophie Fowler«. Man müsste meine Mutter eigentlich nicht bedauern, auch wenn sie hart arbeiten muss, seit meine Großeltern verstorben sind und sie nach Sidwell zurückgekehrt ist, um die Apfelplantage zu übernehmen.
Aber ich weiß, warum die Leute meine Mutter bemitleiden. Mir tut sie auch leid, denn obwohl sie aus Sidwell stammt, ist sie immer alleine. Jeden Abend sitzt sie alleine auf der Veranda und liest, bis die Sonne untergeht und es dunkel wird. Mom erinnert mich an diese Käuze im Wald, die wegfliegen, sobald ein Mensch auftaucht. Wenn sie in der Stadt von alten Schulfreunden gegrüßt wird, winkt sie nur flüchtig und hastet im Laufschritt weiter. Den Starline Diner meidet sie, um nicht reden zu müssen und niemandem von früher zu begegnen. An meinem zwölften Geburtstag waren wir zum letzten Mal dort. Ich hatte mir sehnlichst etwas ganz Besonderes für diesen Tag gewünscht. Kuchen, Torten und anderes süßes Gebäck kann ich nämlich immer haben, und genau deshalb bin ich so verrückt nach Eiscreme. Vielleicht ist Eis sogar meine absolute Leibspeise – und wenn Kobolde überhaupt irgendetwas essen, dann würden Kobolde Eis bestimmt auch toll finden, da bin ich mir absolut sicher. Ich liebe dieses Frösteln, das man beim Eisessen bekommt; es fühlt sich an, als sei man von einer kalten Wolke umgeben.
An meinem Geburtstag setzten meine Mutter und ich uns im Diner in eine Ecknische und bestellten zur Feier des Tages zwei Eisbecher. Ich finde, zwölf ist eine geheimnisvolle Zahl, und ich hatte immer erwartet, dass nach diesem Geburtstag etwas ganz Besonderes in meinem Leben passieren würde. Deshalb freute ich mich regelrecht auf die Zukunft, was sonst gar nicht meine Art ist. Ich hatte einen Schokoeisbecher bestellt, Mom einen Erdbeerbecher. Die Kellnerin war sehr nett. Sie hieß Sally Ann und kannte meine Mutter seit ihrer Kindheit. Als Sally Ann zu uns an den Tisch kam, platzte ich damit heraus, dass ich Geburtstag hatte, und so kamen wir ins Gespräch. Sie erzählte mir, meine Mutter und sie seien als Zwölfjährige beste Freundinnen gewesen. Dann warf Sally Ann einen traurigen Blick auf Mom. »Und jetzt sind so viele Jahre vergangen, und ich habe nie mehr was von dir gehört, Sophie«, sagte sie. Es schien ihr wirklich weh zu tun, dass sie nicht mehr befreundet waren. »Warum versteckst du dich in der Old Mountain Road, wenn all deine Freunde dich so vermissen?«
»Du kennst mich doch«, antwortete Mom. »Ich war schon immer eine Einzelgängerin.«
»Das stimmt doch überhaupt nicht«, widersprach Sally Ann. Und zu mir sagte sie: »Das darfst du ihr auf keinen Fall glauben. Deine Mutter war das beliebteste Mädchen von ganz Sidwell. Aber dann ist sie nach New York gegangen, und als sie zurückkam, war sie völlig verändert. Seither redet sie mit keinem mehr. Nicht mal mit mir!«
Sobald Sally Ann wieder am Tresen war, raunte meine Mutter mir zu: »Los, lass uns gehen.«
Wir eilten rasch nach draußen, obwohl wir noch nicht mal unsere Eisbecher bekommen hatten. Ich weiß nicht, ob meine Mutter Tränen in den Augen hatte, aber sie sah furchtbar traurig aus. Und das wurde noch schlimmer, als Sally Ann uns nachlief und uns die Eisbecher zum Mitnehmen in die Hand drückte.
»Ich wollte dich nicht verscheuchen«, sagte sie entschuldigend zu Mom. »Ich hab doch nur gesagt, dass du mir fehlst. Weißt du noch, wie wir zusammen im Ballettunterricht waren? Und dass wir immer früher ins Studio gegangen sind, damit wir den ganzen Raum für uns hatten und rumtanzen konnten wie verrückt?«
Meine Mutter lächelte, und einen Moment lang konnte ich mir gut vorstellen, wie sie früher gewesen war.
»Ich hab Sally Ann immer sehr gemocht«, sagte Mom, als wir losfuhren. »Aber heutzutage könnte ich nie mehr aufrichtig zu ihr sein. Und man kann nicht mit jemandem befreundet sein, wenn man ihm unter keinen Umständen die Wahrheit sagen kann.«
Ich verstand wohl, weshalb meine Mutter keine Freundinnen hatte und weshalb mir dasselbe Schicksal bestimmt war. Weil ich auch niemandem die Wahrheit sagen konnte, obwohl ich sie manchmal am liebsten so laut herausgeschrien hätte, dass mir der Mund brannte. Die Worte, die ich sagen wollte, stachen mir in die Zunge, als hätte ich Bienen im Mund, die alle auf einmal nach draußen wollten. Ich bin, wie ich bin, hätte ich so gerne geschrien. Mein Leben ist anders als eures, aber ich bin Twig Fowler, und ich habe was zu sagen!
Abends und am Wochenende blieben meine Mutter und ich meist zu Hause. So sah unser Leben nun mal aus, und es wäre komplett sinnlos gewesen, sich darüber zu beklagen. Das war eben das Schicksal von uns Fowlers. Aber ich wusste schon, dass Sally Ann recht hatte und dass früher einmal alles anders gewesen war. In einem Schrank auf dem Dachboden gab es Fotoalben, die ich mir angesehen hatte. Früher war meine Mutter ein ganz anderer Mensch gewesen. In der Oberschule hatte sie zur Leichtathletikmannschaft und zur Theatergruppe gehört. Auf allen Bildern war sie von Freunden umgeben, ob beim Schlittschuhlaufen oder beim Eisessen im Starline Diner. Um Geld für die Kinderstation des Krankenhauses zu sammeln, hatte sie einen Backwettbewerb veranstaltet und in einer Woche hundert Kuchen im Ort versteigert.
Nach der Schule hatte sie beschlossen, dass sie die Welt sehen wollte. Damals war meine Mutter mutig, kraftvoll und unternehmungslustig. Sie verabschiedete sich von ihren Eltern und stieg in einen Greyhound-Bus, um sich irgendwo zur Köchin ausbilden zu lassen. Während ihrer Schulzeit hatte sie am Wochenende im Starline Diner gekocht, aber damals träumte sie davon, Chefköchin in einem berühmten Feinschmecker-Restaurant zu werden. Backen war übrigens damals schon ihre Stärke. Sie lebte erst eine Zeitlang in London und dann in Paris, wo sie in winzigen Zimmern wohnte und bei den besten Köchen der Welt in die Lehre ging. An den nebligen Ufern der großen Flüsse entlang wanderte sie zu Wochenmärkten, auf denen sie die köstlichsten Früchte fand. Schließlich landete sie in New York, wo sie meinen Vater kennenlernte. Sie hat mir einmal erzählt, dass ein gemeinsamer Freund damals dachte, die beiden seien wie füreinander bestimmt. Und wie sich dann zeigte, behielt der Freund recht: Mein Vater holte meine Mutter am Flughafen ab, und als sie mit dem Taxi an ihrer neuen Wohnung in Manhattan eintrafen, hatte sich die beiden schon ineinander verliebt.
Aber kurz bevor Mom zur Beerdigung ihrer Eltern nach Sidwell zurückkehrte, trennten sich die beiden. Meine Großeltern waren während eines heftigen Regens bei einem Autounfall in den Bergen ums Leben gekommen. Es war in einer scharfen Haarnadelkurve in den Wäldern passiert, wo die Bäume so uralt und riesig sind, dass es sogar um die Mittagszeit dunkel ist. Es machte mich schrecklich traurig, meine Großeltern zu verlieren, obwohl ich damals noch ziemlich klein war. Ich erinnere mich aber bis heute noch an einzelne Momente mit ihnen: eine Umarmung, ein Lied, unser Lachen und wie mir jemand ein Märchen über ein Mädchen vorlas, das sich im Wald verirrt und den Weg nach Hause findet, weil es Brotkrumen auf den Boden streut oder den blauschwarzen Federn der Krähen folgt.
Als wir nach Sidwell kamen, saß ich auf dem Rücksitz unseres alten Kombi, der es gerade noch mit letzter Kraft nach Massachusetts schaffte. Obwohl ich damals noch klein war, erinnere ich mich daran, wie ich aus dem Fenster schaute und die Stadt zum ersten Mal sah. Mom legte direkt nach unserer Ankunft den Namen meines Vaters ab – wir nannten uns dann wieder Fowler – und übernahm die Farm. Zur Ernte und zur Herstellung des Apfelweins stellt sie jedes Jahr Wanderarbeiter an, aber die Kuchen bäckt sie noch immer ganz alleine. Genau wie sie auch immer einen höflichen Absagebrief schreibt, wenn sie zu einem Fest oder einer Veranstaltung in der Stadt eingeladen wird. Manche Leute behaupten deshalb, wir seien Snobs, weil wir in New York gelebt hatten und hier nun das gleiche rasante Tempo erwarteten wie in der großen Stadt. Andere glauben, wir würden uns für etwas Besseres halten. Und wieder andere zerbrechen sich den Kopf darüber, was wohl aus dem Mann geworden ist, der früher in New York an der Seite meiner Mutter war.
Sollen die Leute reden, was sie wollen. Sie kennen schließlich nicht die ganze Geschichte. Und wenn wir weiter achtsam sind, werden diese Klatschmäuler sie auch nie erfahren.
Als wir aus New York kamen, war ich nämlich nicht die einzige Person auf dem Rücksitz.
Und genau deshalb trafen wir im Dunkeln ein.
Ich bin zwar schüchtern, kenne aber alle Leute in Sidwell zumindest beim Namen. Nur die neuen Nachbarn nicht, die gerade in das alte Haus neben unserer Farm einziehen. Im Gemischtwarenladen habe ich allerdings schon einiges über sie gehört. Ich war mit dem Rad zum Laden gefahren, um zwei Kartons mit Erdbeer-Muffins abzuliefern, die so süß waren, dass ganze Bienenvölker hinter mir herzuschwärmen schienen. Im Laden hockt häufig eine Gruppe von Männern herum, die dort vor der Arbeit Kaffee trinken. »Die Tratschtruppe« nenne ich die insgeheim. Es sind Tischler und Klempner, und manchmal setzen sich auch der Postbote und sogar der Sheriff dazu. Diese Männer müssen zu allem ihren Senf abgeben und machen Witze über das Ungeheuer von Sidwell, die sie offenbar unheimlich lustig finden: Was macht man mit einem grünen Ungeheuer? Warten, bis es reif ist. Wohin schickt man ein Ungeheuer auf Jobsuche? In die Geisterbahn.
Wenn sie keine Witze mehr machen, verkünden einige der Kerle immer großmäulig, dass sie das Ungeheuer bald jagen wollen und dass dann endgültig Schluss sei mit den mysteriösen Diebstählen. Wenn ich so was höre, läuft es mir kalt den Rücken hinunter. Zum Glück haben diese Männer in letzter Zeit mehr darüber geredet, ob in unserem Wald – einem über vierzig Hektar großen Gebiet, das Hugh Montgomery gehört – bald Häuser gebaut werden. Die Montgomerys bekommt man in Sidwell noch seltener zu Gesicht als uns. Sie leben in Boston und sind nur am Wochenende und an Feiertagen in der Stadt. Früher haben sie ganze Sommer hier verbracht, aber angeblich sind sie jetzt häufiger auf der Insel Nantucket oder in Frankreich. In letzter Zeit hat man frühmorgens, wenn es noch neblig ist, häufig Lastwagen im Wald gehört, und die Einwohner der Stadt haben sich recht schnell zusammengereimt, dass hier Wasser- und Bodenproben genommen werden. Was bedeutet, dass jetzt alle argwöhnisch diskutieren, was Hugh Montgomery wohl im Schilde führt.
Ich hatte anderes im Kopf und kümmerte mich nicht um das Gerede. Der Wald war immer da gewesen, und ich ging davon aus, dass sich daran nichts ändern würde. Mich beschäftigte viel mehr, dass neue Leute in das Haus neben unserer Plantage einzogen. Das fand ich richtig aufregend, denn wir hatten bisher noch nie irgendwelche Nachbarn gehabt. Mourning Dove Cottage war seit Ewigkeiten verlassen gewesen; die einzigen Bewohner des mit Disteln und Dornenranken überwucherten Grundstücks waren die gurrenden Trauertauben, nach denen das Nachbarhaus wohl einst benannt worden war. Die Fenster des Hauses waren zerbrochen, und das mit Moos bewachsene Dach war halb eingestürzt. Dieser trostlose, unheimliche Ort wurde von so gut wie jedem hier in Sidwell gemieden, weil alle – nicht nur die Tratschtruppe – sich über eine Sache einig waren: Hier hatte einst die Hexe von Sidwell gewohnt. So lange, bis jemand ihr das Herz brach und sie aus der Stadt verschwand. Doch sie ging nicht einfach so – sie hinterließ der Stadt einen Fluch, sagt man.
Manchmal wagen sich Kinder bis zum Rasen vor und lauschen dem Gurren der Tauben oder machen Mutproben, wer sich bis auf die Veranda traut. Aber sobald einer der seltenen schwarzen Käuze über den Garten fliegt, suchen die Kinder das Weite, und sie betreten auch niemals das Haus. Ich habe mich einmal bis auf die Veranda vorgewagt und sogar die Haustür geöffnet. Doch obwohl ich nicht einmal die Schwelle überschritt, hatte ich danach wochenlang Albträume.
Jedes Jahr im August wird von der jüngsten Gruppe des Ferienlagers im Rathaus ein Theaterstück über die Hexe von Sidwell aufgeführt. Als ich im richtigen Alter war, wollte mir die Schauspiellehrerin, Helen Meyers, die Rolle der Hexe geben.
»Mein Gefühl sagt mir, dass du die beste Agnes Early sein wirst, die wir je hatten«, verkündete Mrs Myers. »Du bist ein Naturtalent. Das kommt wirklich nur ganz selten vor.«
Es war eine große Ehre, die Hauptrolle zu bekommen, und ich war furchtbar stolz darauf. Ich wollte nämlich schon immer Schauspielerin werden, und später will ich vielleicht auch selbst Theaterstücke schreiben. Aber meine Mutter erschien auf der Bildfläche, noch bevor ich bei den Proben meinen letzten Satz gesprochen hatte: Misch dich nicht ein, wenn du nicht Unheil über dich und die deinen bringen willst!
Aufgebracht nahm meine Mutters Mrs Meyers beiseite. »Meine Tochter spielt die Hexe?«
»Sie ist ein Naturtalent«, erklärte Mrs Meyers fröhlich.
Meine Mutter sah verwirrt und empört aus. »Als Hexe, meinen Sie?«
»Nein, natürlich nicht, meine Liebe. Als Schauspielerin. Echtes Talent kommt selten vor, aber man findet es häufig bei schüchternen Kindern. Die blühen dann auf der Bühne richtig auf.«
»Es tut mir leid, aber meine Tochter wird nicht länger an diesem Stück mitwirken«, teilte meine Mutter daraufhin Mrs Meyers mit.
Ich war so verstört, dass ich kein Wort hervorbrachte. Stumm hörte ich zu, wie meine Mutter noch klarstellte, dass ich in dem Stück auch keine andere Rolle übernehmen würde. Damals hatte ich einen sehr guten Freund, meinen ersten und seither einzigen, mit dem ich jeden Tag mein Pausenbrot teilte. Wir waren beide ziemlich schüchtern und beide sehr gute Läufer. Ich weiß noch, dass er an dem Tag, an dem ich das Ferienlager verlassen musste, zu mir trat und mich an der Hand nahm, weil ich zu weinen begonnen hatte. Obwohl ich damals erst fünf war, schmerzte mich das alles so sehr, dass ich zu Hause weinte, bis meine Augen krebsrot waren. Meine Mutter versuchte mich zu trösten, aber ich wandte mich nur wütend von ihr ab. Ich konnte einfach nicht verstehen, weshalb sie so gemein zu mir war, und kam mir vor wie eine Rose, die abgeschnitten wird, bevor sie erblühen kann.
An jenem Abend brachte meine Mutter mir das Abendessen aufs Zimmer – frische Tomatensuppe und Toast. Es gab auch Pfirsich-Beeren-Kuchen zum Nachtisch, aber ich rührte ihn nicht an. Ich merkte, dass meine Mutter auch geweint hatte. Sie sagte mir, dass es leider einen bestimmten Grund gäbe, weshalb ich in dem Stück nicht mitspielen könne. Wir seien anders als die anderen Menschen aus Sidwell und dürften uns nicht über Hexen lustig machen. Und dann erklärte meine Mutter mir im Flüsterton, wozu eine Hexe imstande war, wenn man sie nicht ernst nahm. Sie konnte einen nämlich mit einem Fluch belegen. Genau das sei unserer Familie vor zweihundert Jahren widerfahren, sagte sie, und wir litten noch immer unter den Folgen. Meine Mutter sagte, ich könne mir gerne Geschichten ausdenken, eigene Stücke schreiben und mich mit den alten Sachen verkleiden, die ich in einer Truhe gefunden hatte – aber nur auf unserem Dachboden. Und ich dürfte mich niemals über die Hexe von Sidwell lustig machen.
Ich kannte diesen Gesichtsausdruck meiner Mutter. Wenn sie eine Entscheidung getroffen hatte, gab es kein Zurück mehr. Ich konnte betteln und flehen, so viel ich wollte – meine Mutter ließ sich nicht mehr umstimmen.
Und so kam es dann auch: Wir buken die Apfel-Muffins, die es nach der Aufführung geben sollte, sahen uns das Stück aber nicht an. Stattdessen saßen wir in der Stadtmitte auf einer Parkbank in der Dämmerung und hörten, wie die Uhr des Rathausturms sechsmal schlug. Und wir hörten von ferne den Applaus für die neue Darstellerin der Hexe, als die Aufführung begann.
Ich glaube, an diesem Abend fühlte ich mich zum ersten Mal einsam, und von da an trug ich dieses Gefühl in mir – ein Geheimnis, das ich niemals offenbaren würde. Seit damals weinte ich nicht mehr, wenn ich enttäuscht wurde, sondern häufte alle Kränkungen in mir zu einem Turm aus abgestürzten Sternen an, den niemand sehen konnte, obwohl er in meinem Inneren in grellem Licht erstrahlte.
Im späten Frühjahr, als die Apfelbäume in hellem Rosa leuchteten, zogen die neuen Nachbarn nebenan ein. Monatelang hatten wir das Hämmern und Sägen der Handwerker gehört, die das Dach ausbesserten, neue Fenster einsetzten und die halbzerfallene Veranda reparierten. Einige Männer aus der Tratschtruppe arbeiteten für die neuen Besitzer von Mourning Dove Cottage und berichteten bei ihrer Kaffeerunde jetzt genüsslich, wie viel Geld sie der Familie für die Reparaturen abknöpften. Die Leute kamen aus der Stadt und mussten deshalb Höchstpreise für ein solides Dach und eine stabile Veranda bezahlen. Ich fand das gar nicht freundlich und merkte, dass Mr Stern dasselbe dachte wie ich.
»Ehrlich währt am längsten«, sagte er zu den Männern, als sie zum Bezahlen an die Kasse kamen. Aber ich glaube, außer mir hörte ihm keiner zu.