Eric-Emmanuel Schmitt
Die Liebenden vom Place d'Arezzo
Roman
Aus dem Französischen von Marlene Frucht
FISCHER E-Books
Eric-Emmanuel Schmitt, geboren 1960 in Sainte-Foy-lès-Lyons, studierte Klavier in Lyon und Philosophie in Paris. Anfang der 90er Jahre begann er als Autor für Theater, Film und Fernsehen zu arbeiten. Er lebt heute in Brüssel. Mit seinen kleinen Erzählungen über die großen Religionen der Welt wurde er international berühmt und gehört zu den erfolgreichsten Gegenwartsautoren in Frankreich. Seine Werke wurden in 40 Sprachen übersetzt und haben sich mehr als zehn Millionen Mal verkauft. Mit einem eigenen Theater in Paris, das er 2012 erwarb, erfüllte sich Eric-Emmanuel Schmitt einen langersehnten Traum. Zuletzt erschien in deutscher Übersetzung: ›Die zehn Kinder, die Frau Ming nie hatte‹, Frankfurt am Main 2014
Ein anonymer Liebesbrief bringt Unruhe in das elegante Brüsseler Viertel rund um den Place d’Arezzo. Alle haben ihn erhalten: Der Banker, der seiner Familie verheimlicht, dass er sich von anderen Männern angezogen fühlt. Der hochrangige Politiker, der notorisch jede halbwegs attraktive Frau anmacht. Die sexsüchtige Diane, die sich mit Unbekannten zu sadomasochistischen Sitzungen trifft und einmal, gut geknebelt und verpackt, von ihrem Liebhaber zurückgelassen wird, um Stunden später von ihrem Ehemann erlöst zu werden. Aber es gibt auch die verschrobene alternde Dame, die ein telepathisches Verhältnis zu ihrem Papagei unterhält, oder die glücklich Liebenden, die einander bereits gefunden haben, oder - schöner noch - sich im Laufe des Romans finden. Und allen gibt dieser Liebesbrief - Absender unbekannt - Rätsel auf. Ein jeder fühlt sich angesprochen auf seine Weise. Doch wer verbirgt sich hinter diesen scheinbar so unschuldigen Zeilen?
Coverdesign: Hißmann, Heilmann, Hamburg
Coverabbildung: Marcelino Truong
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die französische Originalausgabe erschien 2013
unter dem Titel ›Les perroquets de la place d'Arezzo
© Éditions Albin Michel, Paris 2013
Für die deutsche Ausgabe.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403168-2
Jeder, der den Place d’Arezzo betrat, merkte gleich, dass irgendetwas seltsam war. Es war ein runder Platz, der von prächtigen Villen aus Stein und Backsteinen im Versailler Stil umgeben war und dessen Vegetation – schattige Rasenflächen, Rhododendren und Platanen – recht nordisch anmutete, dennoch aber wurden die Sinne von einem Hauch tropischer Atmosphäre gekitzelt. Dabei hatten weder die gleichmäßigen Fassaden mit ihren hohen Sprossenfenstern und den mit Schmiedeeisen überladenen Balkonen noch die niedlichen Mansarden, die für enorme Summen vermietet wurden, etwas Exotisches an sich; und auch der Himmel, der oft kummervoll grau war und an dem die Wolken bis auf die Schieferdächer herabhingen, war alles andere als exotisch.
Um zu begreifen, was hier vor sich ging, genügte es nicht, nur den Kopf hin und her zu drehen, sondern man musste auch wissen, wo man hinschauen musste.
Die Hundebesitzer waren diejenigen, die es als Erste errieten: Wenn ihre Blicke den kleinen Spürnasen folgten, die mit gesenkter Schnauze wie besessen den Boden absuchten, stießen sie im Gras hier und da auf die organischen Überreste, kleine Mengen dunkler Exkremente in einer schmutzig weißen Lache; wenn ihre Blicke anschließend die Stämme hinaufwanderten, erblickten sie die äußerst ungewöhnlichen, natürlichen Bauwerke, welche die Zweige verdunkelten; wenn dann schließlich ein farbiger Flügel sich regte, Gegacker durchs Blätterwerk schallte, ein bunter Vogelschwarm, begleitet von schrillen Tönen, aufflatterte, begriff der Neugierige, dass der Place d’Arezzo das Zuhause einer Gruppe von Papageien oder Sittichen war.
Wie konnten diese Tiere aus entlegenen Gegenden wie Indien, Amazonien oder Afrika in Brüssel, dem griesgrämigen Wetter zum Trotz, frei und gesund überleben? Warum mitten im vornehmsten Stadtviertel?
»Frauen verlassen einen Mann dann, wenn sie feststellen, dass er gewisse gute Eigenschaften nicht mehr besitzt, die er in Wirklichkeit niemals besessen hat.«
Während er diesen Satz sagte, lächelte Zachary Bidermann. Er amüsierte sich über die Entdeckung, dass sein junger Mitarbeiter, der durchaus ein schlauer Kopf war und die allerbesten Schulen besucht hatte, naiv wie ein Teenager war.
»Als ihr euch kennengelernt habt, dachte deine Frau, sie hätte den Vater ihrer zukünftigen Kinder gefunden, dabei wolltest du gar keine. Sie hat darauf vertraut, dass die Beziehung zu dir ihr eine Stellung garantieren würde, die zunächst einmal deinem Studium und später deinem Beruf entsprechen würde, was aber nicht eingetreten ist. Sie hat gehofft, mit Hilfe deiner vielen Kontakte an die richtigen Leute heranzukommen, um ihre Karriere voranzubringen, aber leider ist es so, dass Sängerinnen in der Politik oder der Finanzwelt nicht dazu da sind, dass man ihnen lauscht, sondern nur, um besprungen zu werden.«
Daraufhin fing er, ungeachtet des traurigen Gesichtsausdrucks des Mannes Anfang dreißig, an zu lachen und rief:
»Das war keine Ehe, das war ein Missverständnis.«
»Ist denn jede Ehe ein Irrtum?«
Zachary Bidermann stand auf und ging um seinen Schreibtisch herum, wobei er mit seinem neuen, schwarz glänzenden, mit Platin eingefassten Stift herumspielte, auf dem seine Initialen funkelten.
»Eine Ehe ist ein Vertrag, der idealerweise zwischen zwei vernunftbegabten Wesen geschlossen wird, die wissen, worauf sie sich einlassen. Aber leider befinden die Leute in unserer heutigen, von Gefühlen beherrschten Zeit sich meist nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten, wenn sie vor den Standesbeamten oder den Pfarrer treten. Sie sind geblendet, von der Leidenschaft fehlgeleitet, und winden sich entweder vor Lust – falls sie den Akt bereits vollzogen haben – oder verzehren sich vor Ungeduld – falls sie ihn sich noch aufgespart haben. Kranke Menschen heiraten, lieber kleiner Henry, selten Menschen, die bei klarem Verstand sind.«
»Das soll heißen, Sie wollen mir im Grunde genommen klarmachen, dass man auf keinen Fall verliebt sein sollte, um angemessen zu heiraten?«
»Unsere Vorfahren wussten das. Die haben die Verbindungen kühl kalkuliert, denn sie wussten, was es bedeutet, sich festzulegen.«
»Nicht besonders romantisch.«
»Eine Ehe ist doch auch überhaupt keine romantische Angelegenheit, Sie Unglückspilz! Wollen Sie wissen, was romantisch ist? Sich hinreißen lassen, Delirium, Pathos, Opfer, Märtyrertum, Mord, Suizid. Wer darauf sein Leben aufbaut, errichtet sein Haus auf Treibsand.«
Hinter Zachary Bidermann, auf dem Place d’Arezzo, brachen die Sittiche und Papageien in missbilligendes Gezeter aus. Genervt von dem Gekreische, stieß der Wirtschaftsexperte die Fenster auf und ließ den wundervollen Frühlingsmorgen herein.
Henry blickte sich im Zimmer um, das dezenten Luxus versprühte, Möbel von bekannten Designern, Seidenteppiche mit abstrakten Mustern, die Wände holzgetäfelt mit sandgestrahlter Eiche, das Werk eines Kunsttischlers, erlesen in seiner Unauffälligkeit. An der West- und der Ostwand je eine Skizze von Matisse, das Gesicht eines Mannes und das Gesicht einer Frau, die Zachary Bidermann in der Mitte bewachten. Eine Frage brannte Henry auf der Zunge, aber er traute sich nicht, sie zu stellen.
Da beugte Zachary Bidermann sich zu ihm vor und sagte spöttisch:
»Ich kann Sie denken hören, Henry.«
»Wie bitte?«
»Sie haben Fragen, was meine Ehe mit Rose angeht … Aber da Sie ein bisschen verklemmt sind, trauen Sie sich nicht, mich darauf anzusprechen.«
»Ich …«
»Seien Sie ehrlich: Liege ich falsch?«
»Nein.«
Zachary Bidermann zog einen Hocker heran und setzte sich vertraulich direkt neben Henry.
»Das ist meine dritte Ehe. Und auch für Rose ist es die dritte Ehe. Das heißt, Sie können davon ausgehen, dass keiner von uns beiden Lust hatte, sich auf etwas Ungewisses einzulassen.«
Er schlug sich auf den Schenkel.
»Man muss Fehler machen, nur daraus lernt man. Diesmal handelt es sich um eine gesunde und gute Verbindung. Alles stimmt überein. Ich glaube nicht, dass Rose und ich es bereuen werden.«
Henry dachte daran, was Bidermann die Heirat mit Rose eingebracht hatte: Reichtum. Dann überlegte er, dass Zachary Bidermann seinerseits Roses Wünsche in politischer und sozialer Hinsicht erfüllte: Sie war die Begleiterin eines hohen Würdenträgers geworden, eines europäischen Wettbewerbskommissars, der in regelmäßigem Kontakt mit den Staatsoberhäuptern stand.
Als ob er Henrys Gedanken lesen könnte, fuhr Zachary Bidermann fort:
»Eine Ehe ist eine so folgenschwere Verbindung, dass es besser wäre, den Betroffenen die Verantwortlichkeit dafür zu entziehen und stattdessen seriöse, objektive, kompetente Personen damit zu betrauen, Profis. Wenn es Casting-Directors gibt, die für die passende Besetzung eines Filmes sorgen, warum sollte es diese Funktion nicht auch für Paare geben?«
Er seufzte und richtete den Blick seiner berühmten blauen Augen nach oben an die lackierte Zimmerdecke.
»Heutzutage neigen wir dazu, alles miteinander zu verwechseln. Die Denkweise von Dienstmädchen hat uns dazu gebracht, uns in Rosenwasser zu ertränken.«
Die Uhr stets im Blick, schloss er die private Unterredung, die nun schon lange genug gedauert hatte, mit den Worten:
»Kurz, mein lieber Henry, ich freue mich zu hören, dass Sie sich scheiden lassen. Sie lassen die Schatten hinter sich, um ins Licht zu treten. Willkommen im Club der Vorausschauenden.«
Henry nickte. Er war weit davon entfernt, diese Worte als Beleidigung aufzufassen, sondern nahm sie dankbar an, überzeugt, dass Zachary Bidermann es ehrlich meinte. Der Mann mochte zwar ein gerüttelt Maß an Sarkasmus und Widersprüchlichkeit an den Tag legen, war aber kein Zyniker, sondern ein kluger Genussmensch. Jedes Mal, wenn eine Täuschung oder ein Betrug in sich zusammenfiel, empfand er die ehrliche Genugtuung eines Kämpfers für die Wahrheit.
Zachary Bidermann blickte erneut auf die Uhr und setzte sich voller Schuldgefühle wieder an seinen Platz: Er hatte sechs Minuten pausiert, um über private Angelegenheiten zu reden! Zwar schätzte er solche kleinen Verschnaufpausen, aber sobald sie länger als fünf Minuten dauerten, wurde er ungeduldig und ärgerte sich darüber, seine Zeit zu vergeuden.
Es war neun Uhr morgens, und er hatte in seinem Stadtpalais am Place d’Arezzo bereits einen halben Arbeitstag hinter sich; um fünf Uhr war er aufgestanden und hatte seitdem bereits mehrere Akten durchgearbeitet, eine zehn Seiten lange Zusammenfassung geschrieben und Henry geholfen herauszufinden, welche Schritte er als Nächstes unternehmen sollte. Er war ein Riese, der mit einer eisernen Gesundheit gesegnet war und mit wenig Schlaf auskam, so dass die Energie, die von ihm ausging, allseits Bewunderung hervorrief und ihm, dem Wirtschaftswissenschaftler, ermöglicht hatte, auf einen der höchsten Posten im europäischen Machtapparat zu gelangen.
Henry verstand, dass die Unterhaltung beendet war, stand auf und verabschiedete sich von Zachary Bidermann, der dazu übergegangen war, einen Bericht mit Anmerkungen zu versehen, und seine Anwesenheit bereits vergessen hatte.
Als Henry das Büro verließ, nutzte Frau Singer, die Sekretärin, den Moment sogleich, um zu ihrem Chef hineinzugehen. Sie war eine nüchtern wirkende Frau, die sich stets militärisch aufrecht hielt und heute einen engen Hosenanzug aus dunkelblauem Stretch trug. Nun nahm sie ihre Position, hinter dem Schreibtisch, rechts von ihrem Chef, ein und wartete reglos, bis er ihre Anwesenheit bemerkte.
»Ja, Singer?«
Sie ließ die Unterschriftenmappe vor ihn hingleiten.
»Danke, Singer.«
Er nannte sie stets Singer, als wäre er ein Soldat, der einen Waffenbruder anspricht, denn in seinen Augen war Singer keine Frau. Ihre Figur war flach, so dass kein Risiko bestand, dass sie ihn von seinen Aufgaben ablenkte, indem sie etwa beim Vorbeugen ein ansprechendes Dekolleté sehen ließ, Beine entblößte, die seine Blicke anzogen, oder mit einem Po herumwackelte, der ihn reizen würde hineinzukneifen. Ihr kurzgeschnittenes, glanzloses graues Haar, ihr schlaffes Gesicht, der bittere Zug um die Lippen, der erloschene Teint sowie die Tatsache, dass sie keinen Geruch verströmte, all das machte Singer zu einem funktionalen Wesen, das ihm seit zwanzig Jahren von Posten zu Posten folgte. Wann immer er von ihr sprach, pflegte Zachary Bidermann auszurufen: »Singer ist perfekt!«. Und dass er recht hatte, zeigte sich darin, dass Rose dasselbe sagte.
Nachdem er die unzähligen Schriftstücke unterzeichnet hatte, erkundigte er sich nach seinen Terminen.
»Sie empfangen heute Vormittag fünf Personen«, erklärte Singer. »Herrn Moretti von der Europäischen Zentralbank. Herrn Karopoulos, den Referatsleiter des griechischen Finanzministers. Herrn Lazarevich von Lazarevich Finances. Harry Palmer von der Financial Times. Und Frau Klügger von der Stiftung Hoffnung.«
»Sehr schön. Wir werden jedem von ihnen eine halbe Stunde widmen. Da es sich bei dem letzten Termin um eine weniger wichtige Angelegenheit handelt, werde ich schneller zum Punkt kommen. Aber, Singer, Sie dürfen auf keinen Fall in eine der Unterredungen hineinplatzen, Sie warten, bis ich Sie rufe.«
»Selbstverständlich.«
Diese Ermahnung wiederholte er Tag für Tag, und die Leute, allen voran Frau Singer, sahen darin einen Ausdruck des Respekts, den der große Mann den Personen, die ihn aufsuchten, entgegenbrachte.
Zwei Stunden lang entfaltete er vor seinen Besuchern seine intellektuellen Fähigkeiten. Zuerst lauschte er wie ein regloses Krokodil, das seiner Beute auflauert; dann schnaubte er und stellte ein paar Fragen, bevor er anschließend zu einer brillanten, redegewandten, stichhaltigen Reflexion ansetzte, die kein Gesprächspartner zu unterbrechen wagte, zunächst, weil Zachary Bidermann schnell und mit leiser Stimme sprach, und darüber hinaus, weil jeder sich seiner eigenen geistigen Unterlegenheit bewusst wurde. Diese Begegnungen endeten stets auf die gleiche Weise: Zachary Bidermann nahm sich eine unbeschriebene Karte, kritzelte ein paar Namen darauf und versah sie mit Telefonnummern, die er stets, ohne zu überlegen, auswendig wusste – wie ein Arzt, der sich die Liste der Symptome anhört, eine Diagnose stellt und daraufhin ein Rezept ausstellt.
Um fünf vor elf, als der vierte Besucher gegangen war, überkam ihn eine unkontrollierbare Nervosität. Hunger vielleicht? Da er sich nicht mehr konzentrieren konnte, streckte er den Oberkörper ins Vorzimmer, wo Frau Singer hinter ihrem Schreibtisch thronte, und kündigte an, seiner Frau einen Besuch abstatten zu wollen.
Ein hinter einem chinesischen Lackmöbel verborgener Fahrstuhl beförderte ihn in die obere Etage.
»Oh, mein Schatz, das ist aber eine schöne Überraschung!«, rief Rose.
In Wirklichkeit konnte von einer Überraschung nicht die Rede sein, da Zachary Bidermann jeden Morgen um Punkt elf Uhr für einen kleinen Imbiss in Roses Privatzimmern auftauchte; aber beide vermittelten einander gegenseitig den Eindruck, dass es sich um eine spontane Laune handelte.
»Entschuldige, dass ich einfach so unangemeldet bei dir hereinschneie.«
Während niemand, nicht einmal Rose, es wagte, Zachary Bidermanns Büro aufzusuchen, ohne vorher anzurufen, ging er überall ein und aus, wie es ihm gefiel. Rose gewöhnte sich daran in der Meinung, dass die jederzeitige Verfügbarkeit zu ihrer Rolle als liebende Ehefrau dazugehörte, und in dem Wissen, dass dieses »unangemeldete Hereinschneien« auf jeden Fall immer um elf Uhr stattfand.
Sie schenkte ihm Tee ein und stellte mehrere Teller vor ihn hin, die mit verschiedenen Sorten Gebäck und Süßigkeiten garniert waren. Sie aßen und unterhielten sich dabei – er griff mit beiden Händen zu und schaufelte, wie ein hungriger Riese, alles in sich hinein, während sie, stets besorgt um ihre Linie, minutenlang an einer Dattel herumknabberte.
Sie besprachen das aktuelle politische Geschehen, die angespannte Situation im Mittleren Osten. Rose, die Politikwissenschaft studiert hatte, interessierte sich leidenschaftlich für internationale Beziehungen; so widmeten sich die beiden scharfen Analysen, mit denen sie die hohe Qualität ihrer Kenntnisse unter Beweis stellten, und jeder versuchte, den anderen mit einem vergessenen Detail, einer völlig neuen Sichtweise zu überraschen. Sie liebten diese Plaudereien als einen Wettbewerb frei von Rivalität.
Sie vermieden es tunlichst, in ihren Unterhaltungen über Privates zu sprechen, lieber hielten sie sich an allgemeine Themenbereiche: So sprachen sie nie über Roses Kinder von ihren früheren Ehemännern und genauso wenig über Zacharys Kinder mit seinen früheren Ehefrauen, sondern diskutierten stattdessen lieber miteinander wie zwei Politikstudenten, losgelöst von familiären Problemen und häuslichen Ärgernissen. Das Wohlergehen dieser noch jungen Verbindung zweier Menschen um die sechzig beruhte darauf, dass sie ihre früheren Ehen mitsamt deren Folgen aus ihrem Gedächtnis verbannt hatten.
Mittendrin in einer Erörterung über den Gazastreifen kommentierte Zachary den Geschmack einer Mandelmakrone:
»Hmm, die schmeckt ja himmlisch!«
»Welche? Die schwarze? Die ist mit Lakritz.«
Er verschlang gleich noch eine weitere.
»Woher kommen die?«
»Aus Paris, von Ladurée.«
»Und diese Waffeln hier?«
»Aus Lille, von Merck.«
»Und diese Pralinen?«
»Aus Zürich, mein Schatz, was glaubst du denn! Die sind von Sprüngli.«
»Dein Tisch ist so reich gedeckt wie das Lager beim Zoll.«
Rose kicherte. Ihre Welt war ein Potpourri aus erlesenen Dingen. Egal ob es um Lebensmittel, Weine, Möbel, Kleidung oder Blumen ging, sie kaufte stets das Beste, ohne sich um den Preis zu scheren. Ihr Adressbuch war randvoll mit den allerbesten Empfehlungen: Der beste Innenausstatter, der beste Rahmenmacher, der beste Parkettleger, der beste Steuerberater, der beste Masseur, der beste Zahnarzt, der beste Kardiologe, der beste Urologe, das beste Reisebüro, die beste Wahrsagerin. Da sie wusste, dass der Aufenthalt ganz oben meist kurz und gefahrvoll war, frischte sie die Liste häufig auf und war von dieser Aufgabe sehr in Anspruch genommen. Rose war eine überaus rationale Frau mit einem Talent, nach außen hin oberflächlich zu wirken. Man hätte auch sagen können, sie frönte mit großer Ernsthaftigkeit den belanglosen Dingen; die einzige Tochter eines reichen Industriellen widmete sich der Inneneinrichtung ihres Hauses mit der gleichen Sorgfalt, mit der sie Arbeitslosenkurven oder die Spannungen zwischen Israel und Palästina analysierte.
»Wahrlich, alles, was ich bei dir geboten bekomme, ist mit Abstand das Appetitlichste, das ich kenne«, verkündete er und liebkoste ihre Wange.
Sie verstand, wie die Geste gemeint war, und setzte sich sogleich, ohne zu zögern, auf Zacharys Knie.
Er zog sie an sich, bekam glänzende Augen, rieb seine Nase an ihrer, und sie spürte, dass er Lust hatte, Liebe zu machen.
Sie wand sich auf seinem Schoß hin und her, um ihn weiter anzufachen.
»Böser Junge!«, flüsterte sie.
Er drückte seinen Mund auf ihren, und es folgte ein ausdauernder, fordernder Zungenkuss, der nach buttrigem Lakritz schmeckte.
Als er sich von ihr losmachte, murmelte er:
»Ich muss zu einem Termin.«
»Schade …«
»Keine Angst, dein Warten soll belohnt werden.«
»Ich weiß«, flüsterte sie mit geschlossenen Lidern. »Beruhige dich im Fahrstuhl ein wenig, Zachary, damit du deinen nächsten Gast nicht in Verlegenheit bringst.«
Beide lachten, und Zachary Bidermann zog sich zurück.
Rose räkelte und streckte sich. Mit ihrem Ehemann erlebte sie eine zweite Jugend, oder vielmehr ihre Jugend, denn die erste war die eines braven, zu schüchternen Mädchens gewesen. Heute, mit sechzig, verfügte sie endlich über einen Körper, und auf diesen Körper war Zachary ganz versessen, so sehr, dass er ihm täglich die Ehre erwies, manchmal sogar mehrmals. Sie wusste, dass er um neunzehn Uhr von der Kommission zurückkehren und sich dann auf sie stürzen würde. Sogar so ungestüm, dass sie ein paar blaue Flecken und Narben davongetragen hatte, die sie als Trophäen ihrer sexuellen Anziehungskraft betrachtete. Und vielleicht würden sie in der Nacht noch weitermachen, wer weiß? Welche von ihren Freundinnen konnte das behaupten? Welche von ihnen wurde so oft und so leidenschaftlich von ihrem Mann in Anspruch genommen? Ihre beiden früheren Ehemänner hatten sie nicht so sehr begehrt. Keiner der beiden. Nein, sie war aufgeblüht wie nie zuvor, und das verlieh ihr die sinnliche Ausstrahlung einer glücklichen Frau.
Zurück in seinem Büro, stellte Zachary Bidermann fest, dass er – nun mit vollem Bauch – nicht mehr so nervös war, aber sein Herz schlug immer noch zu schnell, und eine unbestimmte Angst beherrschte ihn. Er nahm den Hörer des Haustelefons ab.
»Der nächste Besucher, Singer?«
»Frau Klügger, von der Stiftung Hoffnung.«
»Warnen Sie sie bitte schon mal vor, dass ich nur zehn Minuten für sie habe. Um elf Uhr bringt der Fahrer mich zur Kommission.«
»Ja, gut. Ich sage ihr Bescheid.«
Zachary Bidermann trat ans Fenster und blickte auf den Place d’Arezzo, wo auf dem am nächsten stehenden Baum zwei Sittiche einander mit flatternden Flügeln jagten. Zwei Männchen, die sich um ein Weibchen stritten, das sich weigerte, eine Wahl zu treffen, und in gespielter Unentschlossenheit darauf zu warten schien, dass die beiden es unter sich ausmachten.
»Kleine Schlampe«, sagte er so leise, dass nur er es hören konnte.
»Frau Klügger!«, verkündete hinter ihm Singers Stimme feierlich.
Zachary Bidermann blickte auf die große Frau im schwarzen, engen Witwenkostüm, die nun vor der Tür stand, die Singer gerade hinter ihr zumachte.
Er musterte sie, deutete mit den Augen ein Lächeln an und forderte sie mit tiefer Stimme auf:
»Kommen Sie näher.«
Die Frau machte auf ihren sehr hohen Schuhen ein paar Schritte nach vorn und bewegte dabei die Hüften derart, dass das Bild der Witwe sich augenblicklich in Luft auflöste. Zachary Bidermann seufzte: »Hat man Ihnen Bescheid gegeben? Ich habe nur sieben Minuten Zeit.«
»Das hängt ganz von Ihnen ab«, entgegnete sie.
»Wenn Sie etwas von Ihrem Beruf verstehen, reichen mir sieben Minuten vollkommen aus.«
Er setzte sich hin und knöpfte seine Hose auf. Die Pseudo-Witwe kniete sich vor ihn hin und nahm sich seiner professionell und mit großer Fingerfertigkeit an.
Nach sechs Minuten stieß Zachary Bidermann einen ekstatischen Seufzer aus, richtete sich wieder her und bedankte sich bei ihr mit einem Augenzwinkern.
»Danke sehr.«
»Zu Ihren Diensten.«
»Frau Simon wird das Restliche regeln.«
»Wie vereinbart.«
Er brachte sie zur Tür und verabschiedete sich ausgesucht förmlich von ihr, um Singer zu täuschen, dann begab er sich wieder hinter seinen Schreibtisch.
Seine Angst, die Müdigkeit, die Anspannung, all das war von ihm abgefallen. Er fühlte sich topfit, bereit zum Angriff. Puh, jetzt hinderte ihn nichts mehr daran, seinen Tag im vorgesehenen Rhythmus fortzusetzen.
»Drei Minuten, ich habe noch drei Minuten Zeit«, summte er fröhlich, »drei Minuten, bis ich zum Berlaymont muss.«
Er nahm seine private Post vom Tisch und beschäftigte sich damit. Auf zwei Einladungen folgte ein Umschlag, der sich von den anderen unterschied, da er hellgelb war. Darin befand sich ein gefaltetes Papier, auf dem stand:
»Ich wollte Dir nur sagen, dass ich Dich liebe.« Unterzeichnet: »Du weißt schon, wer.«
Zornig griff er sich mit beiden Händen an den Kopf. Welcher Idiot schickte ihm so etwas? Welche seiner Affären mochte hinter dieser dummen Nachricht stecken? Sinead? Virginie? Oxana? Carmen? Genug! Er beschloss, sich in Zukunft mit keiner Frau mehr öfter als einmal zu treffen! Irgendwann wird jede Frau anhänglich, entwickelt »Gefühle«, versinkt im Kitsch, jener klebrigen, stinkenden Masse, die einen nicht mehr loslässt.
Er griff nach einem Feuerzeug und verbrannte das Papier.
»Es leben die Ehefrauen, und es leben die Nutten! Das sind die einzigen Frauen, die sich im Griff haben.«
Der Sex war so gut gewesen, dass sie ihn dafür hasste.
Sein hochgewachsener Körper, die sich deutlich abzeichnenden Muskeln am Po und an den Schultern, seine glatte, braune Haut, die nach reifen Feigen duftete, die schmalen Hüften, die kräftigen Oberschenkel, seine kräftigen, aber dennoch feingliedrigen Hände, sein makelloser, wohlgeformter Hals, alles zog sie an, alles machte sie ärgerlich, wütend. Faustina wollte sich auf ihn werfen, ihn davon abhalten, sich auszuruhen, ihn besiegen.
»Du schläfst doch gar nicht, oder?«, murmelte sie gereizt.
Eigentlich hätte sie nach einer solchen Nacht tiefe Befriedigung empfinden müssen, stattdessen zitterte sie vor Wut. Nachdem er von ihr abgelassen hatte, fühlte sie sich auf ihren Körper reduziert, als wäre sie nur noch eine gekränkte, erregte, angespannte Schleimhaut, die nach mehr verlangte. War das möglich, dass man trank und der Durst davon nur noch schlimmer wurde? Wie oft bin ich gekommen?
Sie konnte nicht mehr zählen, wie viele Höhepunkte ihre Sinne in dieser Nacht erlebt hatten. Sie beide hatten sich ohne Pause ineinander versenkt, ihren Empfindungen vollkommen ausgeliefert, und waren immer wieder nur kurz eingeschlafen, nicht, um sich zu erholen, sondern eher, um die Ekstase zu verlängern. Ohne recht zu wissen, warum, musste sie an ihre Mutter denken, ihre ehrbare Mutter, der sie nichts von ihren Taten erzählen würde, ihre traurige Mutter, die solche Freuden nie erfahren hatte. »Arme Mama …«
Sie rieb über ihre Unterschenkel, schalt sich innerlich eine Sünderin und war gleichzeitig stolz darauf. Ja, heute Nacht war sie nur ein Körper gewesen, ein Frauenkörper, der sich von einem Mann besitzen lässt, ein Körper, der frohlockte und der nie genug bekam.
Der Schuft hat aus mir eine Schlampe gemacht. Sie warf einen kurzen, zärtlichen Blick auf den schlafenden Mann.
Nuancierte Gefühle waren Faustina fremd. Egal ob es um ihre Mitmenschen oder um sie selbst ging, sie sprang zwischen den Extremen hin und her. Je nach Stimmung wurde eine Freundin als »hilfsbereiter Engel« oder als »egoistisches Monster ohne jede Moral« bezeichnet. Ihre Mutter war mal »ihr allerbestes Mamilein« oder »diese herzlose Spießerin, die der Zufall der Geburt mir aufs Auge gedrückt hat«. Was die Männer anging, so waren sie in einem Moment schön, im nächsten hässlich, eben noch anbetungswürdig, kurz darauf abscheulich, knauserig, aufmerksam, lässig, ehrlich, Betrüger, unfähig, einer Fliege was zuleide zu tun, Psychopathen, es entweder wert, »bis ans Ende meines Lebens mit ihnen zusammenzubleiben«, oder sie musste sie »sofort aus meinem Gedächtnis streichen«. Sich selbst betrachtete sie, je nach Stimmung, mal als reine Intellektuelle, der Kultur über alles geht, mal als Hure, die sich in ihren niederen Instinkten suhlt.
Jedes differenziertere Urteil hätte sie gelangweilt. Nachdenklichkeit war ihre Sache nicht; Denken nahm ihr zu viel Zeit in Anspruch. Besser, man verließ sich gleich auf seine Gefühle … Ihre Auffassungen änderten sich so schnell wie ihre Launen, und jede neue Empfindung löste einen Redeschwall bei ihr aus.
Sie sah die Welt in Schwarzweiß und sah sich als gespalten an: Wenn sie ihre Bücher liegenließ, um sich in die Arme ihres Liebhabers zu flüchten, dann streifte sie eine ihrer Persönlichkeiten ab, um eine andere zu werden; das Verhalten, das sie anschließend an den Tag legte, war keine Fortführung ihres vorherigen Verhaltens, sondern vielmehr ein Dementi. Faustina gefiel sich darin, sich nicht als ausgeglichenen, sondern als gespaltenen Charakter anzusehen.
»Los, hör auf, so zu tun, als ob du schläfst«, sagte sie noch einmal.
Er reagierte nicht.
Als sie sich hinabbeugte, um sein Gesicht zu sehen, stellte sie fest, dass seine Züge völlig reglos waren; schlimmer: Seine langen Wimpern, die schwarzen, dichten, geschwungenen Wimpern, die jede Frau so entzückend fand, bewegten sich nicht.
Diese Gleichgültigkeit fasste sie als Beleidigung auf.
Ich kann ihn nicht mehr ertragen.
Natürlich war ihr bewusst, dass sie sich etwas vormachte und dass sie nur wütend war, weil er von ihr abgelassen hatte. Sie fand es abscheulich, nach nur einer Nacht so abhängig von ihm zu sein.
»Macho!«
Sie stieß einen tiefen Seufzer aus, der zugleich »Dreckskerl« und »hach, welch Glück, eine Frau zu sein« bedeutete.
Sie zögerte. Vielleicht sollte sie den Augenblick lieber nicht zerstören … Auf der anderen Seite konnte sie nicht untätig bleiben, sie musste irgendwas tun, egal was, das Warten wurde ihr zur Qual. Warten, worauf überhaupt? Darauf, dass der Gute sich endlich zu Ende erholt hatte? Darauf, dass sie ihrerseits einnickte? Durch die zurückgezogenen Vorhänge konnte sie sehen, dass die Sonne bereits aufging; in der Ferne verkündeten die Papageien und Sittiche des Platzes den Langschläfern, dass der Tag anbrach.
Sie betrachtete ihren Liebhaber und beschloss, ihn mit einem Fußtritt aus dem Bett zu befördern. Dann überlegte sie es sich anders. Würde er verstehen, warum sie ihn so grob behandelte? Verstand sie es selbst?
Sobald er sich rührt, schmeiße ich ihn raus.
Dany rollte sich auf den Rücken und tastete mit geschlossenen Augen nach ihr, und als er sie gefunden hatte, zog er sie schnurrend an sich.
Sobald seine Hände über ihre Hüften glitten, war sie besänftigt und schmiegte sich zahm an seinen Körper, presste ihre Hüfte gegen seinen Waschbrettbauch und erwiderte sein genüssliches Brummen.
Worte waren überflüssig. Nach wenigen Berührungen und Bewegungen war der Funke der Leidenschaft wieder entfacht, das Verlangen erfasste sie. Als sie an ihrem Po Danys Erektion spürte, rieb sie sich an ihm, um ihm zu signalisieren, dass sie einverstanden war.
Schweigend und mit geschlossenen Augen fingen sie erneut an, sich zu lieben.
Obwohl beide eigentlich müde und erschöpft waren, gewann ihr Liebesspiel durch das Schweigen und das Nicht-Hinschauen die nötige Würze zurück: Den Partner nicht anzusehen zwang dazu, ihn mit den Fingern zu erkunden, mit der Brust, der Haut, dem Geschlecht – es war eine Mischung aus Erneuern und Erinnern; dass sie sich nur über ihre Atemzüge und vereinzelte Laute aus der Kehle austauschten, half ihnen, ihr Menschsein hinter sich zu lassen und zu Tieren zu werden, zu bloßen Körpern, zu Organen, die dem Instinkt gehorchten.
Als die außergewöhnliche Begegnung vorüber war, entschied Faustina: Sie würde den ganzen Tag liegen bleiben.
Dany sprang energiegeladen aus dem Bett.
»So, jetzt wird aber nicht mehr getrödelt, ich hab heute Termine im Justizpalast.«
Verwundert sah sie ihm zu, wie er sich auf seine Uhr stürzte und seine verstreuten Klamotten einsammelte und dabei unverschämt gut aussah.
»Du solltest so hingehen.«
»Was meinst du?«
»Nackt.«
Er dreht sich zu ihr um und lächelte sie an, während er den Verschluss seiner Uhr zumachte. Sie fügte hinzu:
»Nackt mit deiner Uhr, sonst nichts. Der Erfolg wäre dir sicher.«
»Bei den Verbrechern, meinst du?«
Sie nutzte den Umstand, dass er gerade in ihrer Nähe stand, und hängte sich an seinen Hals.
»Bei den Verbrechern ganz sicher.«
Sie zwang ihm einen Kuss auf. Erfreut ließ er sie gewähren, aber sie spürte, dass er sich trotzdem gerne anziehen wollte. Sie bedrängte ihn nicht, war aber verunsichert, wollte etwas Gemeines zu ihm sagen, ihr fiel aber nichts ein.
Er ging ins Bad und stellte die Dusche an.
»Duschst du mit deiner Uhr?«
»Erstens ist die wasserfest, und zweitens erinnert sie mich daran, dass ich gleich zu einem anderen Teil meines Lebens übergehe: meiner Arbeit.«
Faustina dachte: Der Teil, in dem ich nicht vorkomme. Sogleich ärgerte sie sich über ihren Gedanken. Was für ein Quatsch! So würde eine sentimentale, dumme Gans reagieren. Eine enttäuschte, eifersüchtige und verknallte Frau. Dabei war sie doch nicht eifersüchtig. Und verknallt schon gar nicht.
Wir hatten Sex, und mehr nicht. Es war gut. Okay, es war sogar sehr gut. Aber mehr nicht.
Sie stand auf und betrachtete ihn unter der Dusche. Sie liebte es, Männern beim Duschen zuzusehen, die nasse Haut, die Tropfen darauf, wie sie ihren Körper abrieben; sie stahl ihnen einen intimen Moment. Dany war gerade dabei, mit kräftigen, sorgfältigen Bewegungen seine Geschlechtsorgane einzuseifen.
Als er sah, dass sie ihn beobachtete, verkündete er stolz:
»Du siehst, ich pflege ihn gut.«
»Solltest du auch.«
Sie stellte sich die nächste Nacht vor, die sie mit ihm verbringen würde, spürte eine Ungeduld in der Brust, die sie zu vereinnahmen drohte, und sagte schließlich mit überheblichem Blick zu ihm:
»Schließlich bist du komplett schwanzgesteuert.«
Er lachte geschmeichelt auf und erwiderte:
»Und was bist du dann?«
Sie verzog das Gesicht, so sehr missfiel ihr diese Bemerkung.
Faustina hatte bereits mit ihrer Verwandlung begonnen. Sie verabschiedete sich von der sinnlichen Frau, die sich über Stunden diesem Mann hingegeben hatte, und war bereits wieder der Ansicht, was in der zurückliegenden Nacht geschehen war, sei allein seine Schuld: Wenn sie sich wie eine heiße Bacchantin aufgeführt hatte, so war er dafür verantwortlich zu machen. Zugegeben, es war nicht gegen ihren Willen geschehen … aber dennoch, er hatte sie zu Handlungen getrieben, die sie von sich aus nicht begangen hätte.
Dann wanderten Faustinas Gedanken in eine andere Richtung, und sie dachte darüber nach, was sie heute zu erledigen hatte. Mehrere Romane lesen – beziehungsweise deren Zusammenfassungen. Ein paar Journalisten anrufen. Und ein paar Verleger in Paris. Sich in ihre Buchhaltung vertiefen.
Es hatte kaum eine Sekunde gedauert, schon war die Pressesprecherin eines Literaturverlags wiedergeboren worden. Sie trug noch ihren Bademantel und überlegte einen Moment lang. Sollte sie gleich zu ihren Pflichten übergehen? Oder sich erst noch ein wenig in der Küche zu schaffen machen? Ein Tablett mit dampfendem Kaffee, Toast, cremiger Butter, Marmelade und gekochtem Ei, das sah vielleicht zu sehr nach schmachtender, verliebter Frau aus, nach anhänglichem Weibchen, das unbedingt erreichen möchte, dass der Mann wiederkommt.
»Ach, soll er sich doch um sich selbst kümmern. Er kann ja im Justizpalast einen widerlichen Espresso runterkippen, schön schwarz, schön bitter. Pech gehabt.«
Doch im selben Augenblick merkte sie, dass sie Hunger hatte und dass sie selbst den köstlichen Kaffee, den zu kochen sie imstande war, mit Genuss trinken würde.
»Gut, ich koche ihn ja für mich, nicht für ihn.«
Nachdem sie ihre Bedenken losgeworden war, ging sie in die Küche, machte Frühstück und tat dabei so, als ob sie gar nicht merken würde, dass sie den Tisch für zwei deckte.
Als Dany wieder auftauchte, frisch, im seidenen Anzug, mit weißem Hemd und Krawatte, rief er:
»Hmmm … das riecht aber gut.«
Er freute sich über die leckeren Sachen und den hübsch gedeckten Tisch.
»Eine perfekte Hausfrau bist du also auch noch!«
Er setzte sich und ließ sich sein Frühstück schmecken.
Sie konnte nicht umhin, auf seine Finger zu starren und sich, während er aß, mit den Dingen zu identifizieren, die davon berührt wurden; sie blickte auf seinen Mund und wurde zu dem Croissant, das er gerade verschlang; sie beobachtete seinen Adamsapfel, während er schluckte, und stellte sich vor, sie wäre der Kaffee, den er trank.
Erschreckt über ihre dummen Gedanken, setzte sie sich zurecht und fragte ihn über seine Arbeit als Rechtsanwalt aus. Er gab bereitwillig Auskunft, vor allem über den Fall Mehdi Martin, ein Triebtäter, der ihn berühmt gemacht hatte, aber sie merkte ihm an, dass er daran gewöhnt war, ausführlich darüber zu reden, und ihr nichts erzählte, was er nicht schon unzählige Male anderen erzählt hatte.
Der Typ nervt mich! Zugegeben, im Bett stellte er sich ziemlich geschickt an, aber abgesehen davon, finde ich ihn doch komplett uninteressant. Diese Feststellung beruhigte sie.
Dany blickte auf seine Uhr, fürchtete, zu seinem ersten Termin zu spät zu kommen, und hechtete zur Tür.
Sie seufzte vor Erleichterung, ihn gleich los zu sein, und beschloss, sitzen zu bleiben und in Ruhe aufzuessen.
»Sehen wir uns also bald wieder?«, fragte er, als er noch einmal zu ihr kam, um ihr einen Kuss zu geben.
»Ach, sehen wir uns wieder?«, gab sie zurück und entzog sich ihm. Er wirkte etwas verunsichert.
»Ja … Willst du nicht? Ich möchte das jedenfalls gern.«
»Ach ja?«
»Du nicht?«
»Ich weiß nicht.«
»Faustina, letzte Nacht, du und ich, das war …«
»Das war?«
»Das war toll, genial, großartig, wunderbar.«
»Na immerhin …«
Ihre Stimme hatte pikiert geklungen, als sei sie eine niedere Angestellte, deren Verdienste endlich Anerkennung finden.
Da drückte er ihr seine heißen Lippen auf und gab ihr einen langen, fordernden Kuss. Sie bebte und spürte, wie sie von neuem die Kontrolle verlor.
Er riss sich aus der Umarmung los und musste erst mal Luft holen.
»Ich ruf dich nachher an.«
»Okay«, murmelte sie.
Er ging und warf die Tür hinter sich ins Schloss.
Als sie allein war, schaltete Faustina das Radio ein. Sie wusste schon, wie es mit Dany weitergehen würde: so wie mit den anderen auch! Sie würden sich wiedersehen, versuchen, die Magie der ersten Nacht noch einmal zu erleben, es würde ihnen nicht gelingen oder nur zum Preis von kräftezehrenden Wochenenden, und eines Tages würden sie aufhören, sich zu treffen, und als Vorwand die Arbeit vorschieben. Wie lange es wohl diesmal dauern würde? Zwei Monate … Drei, wenn es sich hinzog … Du weißt sehr gut, Mädchen, dass das Beste schon hinter dir liegt. Von jetzt an wird es angenehm sein, manchmal weniger und bald nur noch ermüdend.
Sie ging durch ihre Wohnung und fand im Flur einen Umschlag. Sie hob ihn auf und öffnete ihn. Es war eine kurze Mitteilung ohne Unterschrift:
»Ich wollte Dir nur sagen, dass ich Dich liebe. Du weißt schon, wer.«
Vor Aufregung wurde sie ganz schwach. Sie lehnte sich an die Wand und rief voller Rührung:
»Was bin ich nur für eine Idiotin! Er liebt mich, und ich halte ihn davon ab, es mir zu sagen. Er liebt mich, und ich behandle ihn wie ein Sexspielzeug. Mein armer Dany, du hast kein Glück, dass du an so eine verkorkste Person wie mich geraten bist. Ach, Dany …«
Und dann – eine Geste, die sie wenige Minuten zuvor noch grotesk gefunden hätte – fiel sie auf die Knie, führte den Umschlag zum Mund und küsste ihn mehrmals überschwänglich.
In der Mitte eines Bettes lagen zwei Körper, so eng aneinandergeschmiegt und symmetrisch wie zwei Gabeln in einer Besteckschublade.
Sie schlief, er nicht.
Baptiste lag mit geöffneten Augen da und spürte Joséphines beruhigende Wärme, während sein Bewusstsein von einem kurzen Traum zum nächsten sprang.
Im Dämmerzustand bewegte er sich unkontrolliert zwischen mehreren Welten hin und her. In manchen Augenblicken spürte er sehr wohl, dass er zu Hause war und sich an seine Frau schmiegte, in anderen wanderte er einen Strand entlang mit strahlend hellem Sand, wo bedrohliche Gestalten hinter den Büschen lauerten, um ihn in eine Falle zu locken; dann wiederum sah er sich auf seinem Schreibtischstuhl sitzen und den Text verfassen, dessen Abgabetermin näher rückte … Wie ein Auto, das die Spuren wechselt, warf ihn sein Bewusstsein von einer Welt in die andere, daneben liegende, eben war er noch am Ufer, dann beugte er sich wieder über die Seite, die er füllen musste, dann lag er wieder zwischen den Laken; diese Wechsel gingen so schnell vonstatten, dass die Grenzen der Landschaften durchlässig wurden: Schon betraten die Feinde das Schlafzimmer, schon riss Joséphine ihm spöttisch lachend seinen Artikel aus der Hand.
Baptiste setzte sich auf. Er schüttelte den Kopf, um die Gedanken zu verscheuchen, es ärgerte ihn, dass so viele Ängste an ihm nagten: Jeden Tag, sobald er nur einmal kurz nicht aufpasste, meldete sich die Angst.
Joséphines sanfte Gestalt lag ruhig auf dem weichen Moiré, ihre langen Beine, die zarten Schultern. Ihr Gesicht war ausdruckslos, die langen Wimpern regten sich nicht. Offenbar befand sie sich gerade in einer traumlosen Phase des Schlafs. Die Glückliche …
Baptiste gähnte.
Er beneidete Joséphine um ihre Gelassenheit. Obwohl jeder, der ihn kannte, ihn als einen in sich ruhenden Menschen beschreiben würde, und obwohl er der Meinung war, mittlerweile zu einer gemäßigten Weisheit gelangt zu sein, weckte seine Grübelei lebhafte Dämonen auf, Ängstlichkeit machte sich in seiner Schädelhöhle breit. War seine scheinbare Gelassenheit nichts als Schein? War der Frieden, den er errungen hatte, nur oberflächlich? …
Er schlüpfte vorsichtig aus dem Bett, um Joséphine nicht zu stören, betrachtete ihren entspannten Körper und beglückwünschte sich dazu, sein Leben mit einer solchen Frau teilen zu dürfen, dann wusch er sich rasch, zog eine Boxershorts und ein Hemd über und setzte sich an seinen Schreibtisch. Es mochte lächerlich erscheinen, aber ungewaschen oder nackt war er nicht in der Lage zu arbeiten! Obwohl er niemandem gehorchen musste, keinen Vorgesetzten hatte, arbeiten konnte, wann er wollte, gab es einen dumpfen Zwang, der ihn dazu trieb, sich vorzubereiten und anzukleiden, ja sogar zu parfümieren, bevor er in seinem Sessel Platz nahm wie ein Angestellter, der sich auf den Weg in eine Behörde machte.
Er schaltete seinen Computer ein und öffnete das Dokument »Treue«, in dem er drei kryptische, mickrige, uninspirierte Sätze notiert hatte.
Dieses Thema »Treue« bereitete ihm Schwierigkeiten, weil es schien, als müsse man sich unweigerlich für eine Seite entscheiden: Entweder man war dafür, oder man war dagegen. War das nicht trist? Entweder man stimmte mit den vertrauten Litaneien über die Ehe überein, schloss sich der religiösen und sozialen Ideologie, kurz, der herrschenden Ordnung an; oder aber man wies sie im Namen der Freiheit von sich. These und Antithese errichteten gemeinsam ein Gefängnis. Irgendwo zwischen Konformismus und Nonkonformismus musste es doch Raum für jemanden wie ihn geben, allein er fand ihn nicht.
Er drehte sich herum, um auf den Platz zu blicken, von dem das Geschrei der tropischen Vögel herüberschallte. Ob diese gefiederten Geschöpfe sich auch derlei Fragen stellten?
Überrascht stellte Baptiste fest, dass er nichts über das Verhalten von Papageien und Sittichen wusste. Wie hielten diese Tiere es mit der Treue? Begnügte sich das Männchen mit einem Weibchen, oder hatte es, je nach Möglichkeit, Jahreszeit, spontanen Impulsen, wechselnde Partnerinnen? Sollte es nicht möglich sein, sich darüber einmal schlauzumachen und mit den Ergebnissen vielleicht ein paar Seiten zu füllen?
Er fing an zu recherchieren, hörte aber schon nach kurzer Zeit wieder damit auf. Wozu? Ganz gleich, ob Treue nun biologisch begründbar war oder nicht, man konnte sich das tierische Verhalten nicht zum Vorbild nehmen, weil der Mensch nun mal nicht mehr in einer natürlichen, vom Instinkt beherrschten Welt lebte.
»Treue …« Er schob seinen Stuhl zurück. War er treu?
Er war es geworden. Obwohl er Joséphine fünfzehn Jahre zuvor verkündet hatte, dass er ein derart blödsinniges Gebot niemals befolgen und sich nicht kastrieren lassen würde, dass er weiterhin die Freiheit haben wollte, einem spontanen Begehren nachzugeben, hatte er mit den unzähligen Affären aufgehört, küsste nur noch Joséphine, schlief nur noch neben Joséphine und außer ihr mit keiner anderen Frau und war damit glücklich.
Warum?
»Aus Bequemlichkeit!«
Er lachte auf. Dann fiel ihm ein, dass er sich gerade selbst zitiert hatte. In einem seiner Stücke rief eine Figur: »Fünfzehn Jahre, das ist doch keine Liebe mehr, das ist Faulheit.« Bei den Aufführungen hatte er bestürzt festgestellt, dass er der Einzige war, den dieser Ausspruch zum Lachen brachte – er hasste solche Entdeckungen, überführten sie ihn doch, der er unbedingt für die Zuschauer schreiben wollte, des Egoismus.
Zugegeben, ein bisschen Faulheit lag in seiner Treue. Das Spiel der Verführung forderte Zeit und Energie – sobald er ahnte, dass die Gelegenheit bestand, mit einer Frau einen Flirt zu beginnen, musste er auch bereits an den Berg von Pflichten denken, den das mit sich brachte: Hinreißende kleine Nachrichten waren zu verfassen, es musste telefoniert werden, Hotelzimmer mussten gebucht werden, die jeweilige Geliebte des Augenblicks musste zum Essen eingeladen werden, man musste mit ihr ausgehen, Joséphine gegenüber glaubwürdige Ausreden erfinden; ja, es galt, zu verschleiern, zu umgarnen, zu verbergen, sich etwas auszudenken. Nicht der Umstand, dass die Lüge unaufrichtig war, störte ihn, sondern, dass das Lügen so anstrengend war.
Und wofür der ganze Aufwand? Vergängliche Freuden. Für eine komplizierte Geschichte, die irgendwann enden würde, weil er Joséphine liebte und sie nicht verlassen wollte. In Wirklichkeit war ihm einfach der Heißhunger abhandengekommen. Deshalb enthielt er sich. Es war schon lange her, dass er sich zuletzt so stark zu einem schönen Wesen hingezogen gefühlt hatte, dass er dafür sogar sein Verhalten geändert hatte. Wenn sein Begehren einmal aufflammte, dann war es nur von kurzer Dauer und blieb ohne Konsequenzen.
Unterm Strich hatte er Joséphine nur dreimal betrogen. Drei Ehebrüche, die allesamt in den ersten beiden Jahren ihres Zusammenlebens stattgefunden hatten. Seit dreizehn Jahren hatte er nichts mehr in der Richtung getan. Damals hatte er zeigen wollen, dass er sich der Wahl, die er getroffen hatte, nicht unterwerfen wollte: Der junge Ehemann hatte sich, nachdem er sich vertraglich zur Monogamie verpflichtet hatte, beweisen wollen, dass er unabhängig blieb. Wahrscheinlich, weil er durch sein vorheriges, äußerst freizügiges Leben noch daran gewöhnt war. Mittlerweile war er ein perfekter Ehemann geworden und rührte außer Joséphine keine mehr an.
Er reckte und streckte sich, bis seine Muskeln zu zittern anfingen. Dem zwanzigjährigen Baptiste hätte es nicht gefallen, dem vierzigjährigen Baptiste zu begegnen: Er hätte ihn schlaff und konventionell gefunden. Im Gegenzug hätte der Baptiste von vierzig Jahren dem Zwanzigjährigen erklärt, dass er nicht mehr mit der ganzen Stadt schlafen musste, weil er mittlerweile schöpferisch tätig war.
Er klickte auf den Ordner, der sein Tagebuch enthielt, das er mit komplizierten Maßnahmen gegen fremde Zugriffe gesichert hatte. In diesem geheimen Dokument dachte er gern über die Gründe für seine Berufung nach. Mit zwei Klicks hatte er den Text gefunden, auf den er sich gerade in Gedanken bezogen hatte:
Ich habe in meinem Leben zwei Existenzen geführt, eine sexuelle und eine literarische. Beide aber haben demselben Zweck gedient: der Erforschung meiner Mitmenschen. Immer ging es dabei um eine romanhafte Erkundung: in sexueller Hinsicht mit meinem Körper oder in literarischer Hinsicht mit Hilfe meiner Feder.
So habe ich in meinen jungen Jahren ein sexuelles Leben geführt. Zwar hatte ich, als ich volljährig wurde, bereits den Ehrgeiz zu schreiben, aber es gelang mir damals noch nicht, kaum, dass ich es mal schaffte, eine komplette Seite zu füllen; überdies kam mir das Ergebnis, wenn ich es anschließend las, immer ziemlich belanglos vor. Hätten mich nicht ein paar vielversprechendere Textschnipsel hier und da davon abgehalten, und hätte ich darüber hinaus nicht ›Auf der Suche nach der verlorenen Zeit‹ ›Suche‹ als