Malcom McNeill

Der Wald der träumenden Geschichten

Aus dem Englischen von Sibylle Schmidt

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Malcom McNeill

Malcolm McNeil, geboren 1976 in Newcastle, England, wuchs in Glasgow und Edinburgh auf. Nach seinem Literaturwissenschafts- und Schauspielstudium trug er Post in London aus, putzte Toiletten in Berlin und arbeitete als Englischlehrer in der ganzen Welt, zuletzt in Vietnam. ›Der Wald der träumenden Geschichten‹ ist sein internationales Debüt.

Impressum

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage, auch zu E-Book-Augaben, gibt es unter www.fischerverlage.de

 

 

 

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen

des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-403157-6

Fußnoten

So wie Hexen für die Erfindung von Dingen und Lebewesen zuständig sind, die das Böse verbreiten, so erschaffen Zauberer und Zauberinnen Elemente, mit denen die Schöpfung verbessert werden kann.

Wenn die Drachen loszogen, behielten sie ihren waldigen Umhang an und sahen deshalb aus wie ein wogender Fluss aus Pflanzen. Diese zweite Haut aus Erde, Ranken, Farnen und Steinen wies auf ihr hohes Alter hin, und möglicherweise glaubten die Drachen auch, dass sie sich mit dieser Tarnung leichter an ihre Beute anschleichen könnten. Dieser uralte Instinkt war jedoch längst nicht mehr nützlich, denn die Bäume hatten – ebenso wie die Berge – das Umherwandern schon lange aufgegeben und waren in großen Wäldern sesshaft geworden.

Das Verschwinden

 

 

 

Einige Menschen stürzen ins Meer und stranden auf einsamen Inseln. Andere wandern in die Berge, wo sie frieren und sich Kleider aus Yakfell nähen. Und manche geben ihr altes Leben einfach auf und folgen dem Ruf der Straße, laufen sich die Füße wund und lassen sich von der Sonne bräunen.

Dass Menschen verschwinden, ist nichts Neues. Das haben sie immer schon getan.

Klaus Knechtling

Das Internationale Symposium

Vor nicht allzu langer Zeit verbreitete sich ein seltsames Phänomen auf der Erde, das jeder Erklärung trotzte und die Wissenschaftler vor Rätsel stellte. Schwerkraft und Elektrizität spielten keine Rolle dabei, und es hatte auch keinerlei Auswirkungen auf Wetter, Meeresspiegel oder Durchschnittstemperaturen. Die Tiere folgten weiter ihren Wegen über den Erdball, und die Pflanzen wuchsen, blühten und starben zur rechten Zeit. Die biochemischen Vorgänge, die Leben erschaffen, setzten sich fort wie seit Millionen Jahren und brachten zahllose Organismen zur Entwicklung. Und die Kontinente drifteten auseinander, getrieben von den gewaltigen Kräften in den Eingeweiden der Erde.

Beinahe die gesamte Schöpfung blieb unberührt von dem neuen Phänomen, das sich nur auf eine einzige Sache bezog.

Auf uns.

Die Krise erfasste jedes Land und wurde verglichen mit einer Seuche, die keine Grenzen kennt, oder mit einem verheerenden Waldbrand. Dabei wussten die Wissenschaftler längst,

Keiner konnte Dem Verschwinden Einhalt gebieten.

Als es zum ersten Mal auftrat, verstand noch niemand, was genau dabei vor sich ging: Zunächst entdeckte man lediglich Kleiderbündel in Gärten oder in Kammern unter Treppenabsätzen. Das gab vorerst keinen Anlass zu der Annahme, dass jemand sich in Nichts aufgelöst haben könnte – dass jemand nicht mehr existierte – dass jemand ausgelöscht worden war. So etwas war schließlich noch niemals vorgekommen.

Dann breitete sich Das Verschwinden aus – zu Anfang noch gemäßigt, doch bald zunehmend aggressiver. Binnen kurzem Verschwanden täglich Tausende, und es gab keinen Zweifel mehr daran, dass hier etwas Außergewöhnliches passierte – vor allem aus Sicht der Wissenschaftler.

Wenn ein wirklich großes Problem die Welt bedroht, legen meist alle Feinde die Waffen nieder und tun sich zusammen, um nach einer Lösung zu suchen. So war es auch im Falle Des Verschwindens. Von nah und fern kamen Wissenschaftler zu einem Internationalen Symposium nach Paris, und man stellte eine große Summe Geld bereit, um die Forschungen zu ermöglichen.

Es wurde beschlossen, das Symposium im Trocadéro-Palast unterzubringen, einem alten Museum voller archäologischer Funde, Gemälde, Skulpturen und Fossilien. Künstler und Erfinder hatten hier anno 1878 ihre Exponate bei der Weltausstellung gezeigt; das Gebäude konnte also auf eine ehrwürdige Geschichte zurückblicken, war seither aber sehr

Hunderte von Arbeitern beförderten die vielen Kostbarkeiten mit Schubkarren zum Hôtel des Invalides, wo sie verpackt und eingelagert wurden. Binnen einer Nacht wurde ein Gerüst errichtet, und hinter Plastikplanen rückte man mit Sandstrahlern dem jahrzehntealten Schmutz an den Außenwänden zu Leibe. Unterdessen richteten Ingenieure und Spezialisten in den Kellerräumen Labore ein und installierten Generatoren und Computer, während Gärtner die verödeten Hänge an der Seine neu bepflanzten und Brunnen und Teiche anlegten. Zuletzt bauten Steinmetze eine breite Terrasse aus Granitplatten und stellten am Rand goldene Statuen auf, um dem alten Gebäude wieder seinen einstigen Glanz zu verleihen.

Die Eröffnungsveranstaltung des ISVVV – des Internationalen Symposiums zur Vorbeugung und Verhinderung des Verschwindens, wie man die Organisation betitelt hatte – war ein großer Tag für die Menschheit: ein Tag der Hoffnung und der Tatkraft. Der Palast wirkte so glanzvoll wie das Lächeln eines Helden und präsentierte seine Flaggen so stolz wie Orden. Doktoren und Professoren schritten gewichtig durch die Gärten und zeigten sich bemüht, Weisheit und Entschlossenheit auszustrahlen. Als sie die Terrasse erreichten, begann eine Kapelle zu spielen, und die Menschenmassen jubelten. Das sind die besten Köpfe der Menschheit, verkündeten Trompeten und Trommeln. Jene Männer und Frauen würden dem mysteriösen Verschwinden Einhalt gebieten, das die menschliche Rasse auszulöschen drohte – mit den Mitteln der Wissenschaft.

Doch schließlich brach die Dämmerung herein, und die Menge begann sich enttäuscht zu zerstreuen. Fähnchen blieben auf der Straße liegen, Banner wurden in Mülltonnen geworfen, und Bars und Cafés füllten sich wieder.

Wie lange würde es dauern, um Das Verschwinden zu beenden? Diese Frage lag allen auf den Lippen. Sechs Wochen? Sechs Monate? Ein Jahr?

»Wir kennen die Länge der Strecke nicht, die vor uns liegt«, sagte der Leitende Sucher in seiner Rede. »Wir wissen nicht, ob unsere Forschungsarbeit leicht oder schwer sein wird. Wir müssen geduldig sein und sollten keine übertriebenen Hoffnungen haben.«

Und so wartete die Welt gespannt auf erste Ergebnisse.

 

Unterdessen setzte sich Das Verschwinden unvermindert fort. In jedem Land Verschwanden Menschen ohne jegliche Vorwarnung. Möglicherweise erahnten die meisten ihr nahendes Schicksal, denn viele begaben sich wie sterbende Elefanten an abgeschiedene Orte, so dass es für Das Verschwinden selten Zeugen gab.

Dann und wann kam es jedoch vor, dass Menschen in überfüllten Zügen oder in vollbesetzten Konferenzsälen Verschwanden – in einigen Fällen sogar live im Fernsehen. So

Selbstverständlich gab es zahllose Theorien über Das Verschwinden, doch niemand schenkte ihnen Glauben. Alle warteten auf die Ergebnisse Der Sucher. Nur sie würden dieses Rätsel lösen können.

Doch aus Tagen wurden Wochen und aus Wochen Monate, und die Türen des Symposiums blieben nach wie vor geschlossen. Während dieser Phase entstand ein neuer beängstigender Gedanke – dass man womöglich nichts tun könnte gegen Das Verschwinden; dass es sich so lange fortsetzen würde, bis am Ende niemand mehr übrig wäre. Nur ein einziger Punkt gab Anlass zur Hoffnung, eine kleine Absonderlichkeit in der Geschichte dieses Phänomens.

Kinder Verschwanden nicht.

Das Verschwinden schien etwas an Kindern nicht leiden oder nicht berühren zu können.

Doch niemand wusste, was es war.

 

Im Sturm der Entrüstung, der dieser Offenbarung folgte, machte ein bislang unbekannter Mann von sich reden – ein Wissenschaftler namens Courtz, der neue Leitende Sucher. Seine Antrittsrede weckte wieder Hoffnung in den Herzen der verängstigten Menschen. Den militärisch akkurat gestutzten Schnurrbart des Professors, sein glatt zurückgekämmtes graues Haar und seine leuchtend blauen Augen, funkelnd wie erlesen geschliffene Saphire, empfand man als tröstlich. Der Mann strahlte etwas Geordnetes und Verlässliches aus, wie das Urteil eines Richters oder eine gelöste Gleichung. Schon nach der Hälfte seiner Rede hatte Courtz sein Publikum in Bann gezogen.

Er endete mit dem Appell, sich der Untersuchung Des Verschwindens ungestört widmen zu dürfen. Seine Mitarbeiter, verkündete er, würden allmonatlich eine Pressekonferenz abhalten, um die Welt auf dem Laufenden zu halten.

Die Leute, gefesselt vom beruhigenden Klang der Stimme des Professors, achteten nicht mehr auf die Bedeutung seiner Worte und applaudierten frenetisch, als Courtz der Menge lächelnd zuwinkte wie ein Monarch aus alter Zeit, bevor er sich in den Trocadéro-Palast zurückzog.

Dieser erste öffentliche Auftritt war gleichzeitig auch sein letzter; danach wurde Courtz nicht mehr gesehen.

Etwa zu dieser Zeit tauchte das Licht auf. Niemand konnte mit Bestimmtheit sagen, wann es zum ersten Mal bemerkt wurde, doch da war es auf einmal, im obersten Fenster des Trocadéro, wo es auch dann noch brannte, wenn alle anderen längst erloschen waren. Dieses Symbol der Hoffnung tröstete die besorgten Menschen in aller Welt. Und wenn die Kinder von Paris aus ihren Albträumen von leeren Häusern erwachten, nahmen ihre Eltern sie in die Arme, trugen sie zum Fenster und deuteten über die Dächer zum Trocadéro-Palast.

Da sitzt er, sagten sie. Da sitzt er und arbeitet fleißig.

Eines Tages wird er Das Verschwinden erklären.

Eines Tages ganz bald!

 

 

Boris klopfte auf die Lampe, die gerade mit einem Knall erloschen war. Dann schraubte er die Birne heraus und hielt sie hoch, um den defekten Glühdraht zu inspizieren. Seine schwieligen Ingenieurshände waren unempfindlich gegen das heiße Glas.

Das war seine letzte Glühbirne gewesen. Er trug die Lampe bereits seit Wochen durch seine kleine Wohnung, manövrierte das Verlängerungskabel zwischen Kartons und Aktenstapeln hindurch ins Badezimmer, wo er sein hohlwangiges Gesicht im Spiegel betrachtete, und in die Küche, wo er sich seine kärglichen Mahlzeiten zubereitete. Die Läden in seiner Wohngegend waren nachts geschlossen, und am Tage wagte er sich nicht hinaus. Gegen jedes Gesetz der Physik hatte er gehofft, dass dieses Licht niemals erlöschen würde.

»Und nun ist es passiert«, murmelte er vor sich hin – es waren die ersten Worte, die er seit drei Tagen gesprochen hatte.

Boris stemmte sich hoch, tappte im Dunkeln durch seine Wohnung und kehrte kurz darauf mit der Glühbirne aus dem Hausflur zurück. Doch anstatt zu versuchen, die Lampe wieder einzuschalten und sich seiner Arbeit zuzuwenden, starrte er aus dem Fenster auf die nächtlichen Straßen von Paris.

Die Fenster des Trocadéro in der Ferne waren dunkel – bis auf eines. In jenem Raum rang sein einstiger Mentor, Professor

Doch vielleicht war das ja genug.

 

Von allen Wissenschaftlern der Welt war Boris dem Geheimnis um Das Verschwinden am nächsten gekommen. Doch das wusste er nicht. Hätte man es ihm gesagt, so hätte er es nicht geglaubt. Selbst wenn plötzlich ein sonderbares Männlein aus dem Schrank gesprungen wäre und ihm ins Ohr geraunt hätte »Du hast es bald geschafft, Bursche, bleib dran!«, hätte Boris daran gezweifelt. Immer wieder fürchtete er, dass er nur seine Zeit verschwendete und die Ursache Des Verschwindens niemals ergründen würde.

Doch Boris besaß etwas, worüber Die Sucher nicht verfügten. Etwas, das kostbarer war als Symposien, Fördergelder und

Nacht für Nacht studierte er seine Akten und Notizen, seine Fotografien und Videos, und versuchte Ähnlichkeiten in den unterschiedlichen Fällen Des Verschwindens zu entdecken. In seinem Kopf liefen all die Filme ab, die er über Verschwundene Menschen gesammelt hatte. Es hatte seine Richtigkeit, fand er, dass Menschen Verschwanden – genau wie es richtig war, dass sie starben, wenn sie zu alt und zu müde wurden. Diese Richtigkeit war schmerzlich, doch Boris fand, dass einem Naturgesetz Genüge getan wurde, wenn ein Mensch Verschwand. Gewiss, Das Verschwinden war traurig, aber war es erstaunlich? Diese Auffassung der Welt konnte Boris nicht teilen. Das Verschwinden war natürlich höchst merkwürdig, aber auf eine Art, die ihn vor Verlangen erschaudern ließ. Einem Verlangen, das es nicht darauf anlegte, dieses Phänomen aufzuklären oder ihm ein Ende zu setzen – es war ein anderes Gefühl (vielleicht sogar das Verlangen, selbst zu Verschwinden).

Solcherlei Gedanken hätte man beim Symposium, wo mit kalter Nüchternheit vorgegangen wurde und jegliche Phantasterei verpönt war, nicht geduldet. Courtz und seine Sucher wollten sich Dem Verschwinden mit rein wissenschaftlichen Methoden nähern. Boris dagegen glaubte, dass man einen anderen Ansatz finden müsse. Denn seiner Auffassung nach war Das Verschwinden nicht analytisch begreifbar, vielmehr hatte es etwas zutiefst Menschliches, ja Poetisches an sich. Er reagierte auf Das Verschwinden nicht als Wissenschaftler, der ein bislang unbekanntes Phänomen untersuchen musste,

Nun jedenfalls traten ihre Folgen zutage.

 

Boris zündete sich eine Zigarette an und starrte weiter hinunter auf die Stadt. Soweit er sehen konnte, gab es nur eine einzige Lücke im System Des Verschwindens, einen winzigen Spalt, durch den er hoffte, sich Einblick verschaffen zu können. Wieder und wieder kehrte er zu diesem Anhaltspunkt zurück, doch bislang hatte er ihn nicht zu deuten vermocht.

Kinder Verschwanden nicht.

Und das verwirrte ihn.

»Vielleicht werden Kinder irgendwann Dem Verschwinden Einhalt gebieten«, murmelte Boris. »Kinder – und nicht Männer wie ich.«

Als er zum ersten Mal von Dem Verschwinden gehört hatte, war ihm diese Frage sofort in den Sinn gekommen, aber er hatte sie nie zu Papier gebracht. Und wie sie nun da vor ihm stand, erschien sie ihm alberner denn je und kein bisschen sinnvoller als die unbeholfenen Vermutungen der Wissenschaftler im Fernsehen.

Märchen?

Geschichten, wie sein Vater sie ihm erzählt hatte.

Er radierte die Frage schnell aus und beobachtete dann weiter das Geschehen auf der Straße.

Doch nun, nachdem er das Geschriebene gelöscht hatte, stellten sich keine Gedanken, Ideen und Erinnerungen mehr ein – nur eine tiefe Traurigkeit, die das Wesen Des Verschwindens wahrhaftiger zu erfassen schien, als alle Worte es vermochten.

Boris rührte sich nicht, bis seine Armbanduhr piepte.

Es war Zeit für das Treffen.

Schwerfällig erhob er sich, zog seine zerknitterte schwarze Jacke an, steckte Münzen, Schlüssel, Streichhölzer, Zigaretten, Bleistifte und Papier ein und verließ seine Wohnung.

Doch obwohl er die Frage ausradiert hatte, lauerte sie weiterhin in seinem Kopf.

 

Und wenn es nun alles mit Dem Wald zu tun hat?

 

Boris zündete sich eine Zigarette an und wartete. Seine Glieder fühlten sich bleiern an vor Erschöpfung. Im Spiegel hinter den dunkel glitzernden Flaschen erkannte er sich selbst kaum wieder: hängende Schultern, bleiches Gesicht, glühendrot leuchtender Punkt an seinem Mund – ein wirrhaariger Nikodemus am nächtlichen Berg.

Falls es mir gelingt, Dem Verschwinden Einhalt zu gebieten – werde ich jemals wieder schlafen und meines Lebens froh werden wie andere Menschen?, dachte er.

Sein Spiegelbild betrachtete ihn spöttisch, ohne zu antworten.

Müßig blickte Boris auf einen anderen Teil des Spiegels und bemerkte einen reglosen Schatten neben der Eingangstür. Erst nach einigen Momenten wurde ihm bewusst, was das bedeutete: Dort stand jemand und beobachtete ihn.

Er drehte sich um. Wenn es die Frau war, die er hier treffen wollte, war sie so lautlos hereingekommen, dass weder er noch der Barmann sie gehört hatten.

»Mrs Jeffers?«, fragte Boris und verengte die Augen, um die Gestalt genauer erkennen zu können.

»Wer sonst, mitten in der Nacht?«

Die Gestalt trat einen Schritt vor, und das Licht fiel auf

»Sorgen Sie dafür, dass dieses Licht verschwindet, ja?«

»Licht?« Boris blickte um sich. »Sie meinen die Kerzen?«

»Die Kerzen können bleiben. Ich meine das Licht vom Zigarettenautomaten. Und den Kühlschränken. Und diese groteske Eiffelturmlampe neben der Kasse.«

»Aber … weshalb?«

»Das wissen Sie doch.«

»Ach ja?«

»Sagen Sie ihm, er soll mehr Kerzen anzünden, wenn Sie sich vor der Dunkelheit fürchten.«

Boris winkte den Barmann zu sich und übermittelte ihm die Anweisung der alten Dame.

»So ist es besser«, sagte Mrs Jeffers zufrieden, als nach und nach Kerzen in Flaschen auf dem Tresen aufflackerten. »Jetzt können wir zum Geschäftlichen kommen.«

Boris betrachtete ihr Spiegelbild, während sie sich auf dem Hocker neben ihm niederließ. Mrs Jeffers war etwa so alt, wie er angesichts ihrer altmodisch anmutenden Handschrift geschätzt hatte. Ihr silbergraues Haar thronte in einem schlangenförmigen Turm auf ihrem Kopf, auf wundersame Weise zusammengehalten von einer einzigen quer hindurchgesteckten Silbernadel. An ihren Ohrläppchen baumelten schwere silberne Ohrringe. Ihr Gesicht war lang und hager und mit einem weichen Altersflaum bedeckt, und die Augen, die ihn mit bohrendem Blick betrachteten, erinnerten Boris an einen

Mrs Jeffers lehnte den Schirm an ihren Barhocker. »Ich weiß gar nicht mehr, wann ich zuletzt noch so spät auf war«, sagte sie. »Sie mögen vermutlich die Nacht in den Städten – durch die Straßen wandern, mit hochgeschlagenem Kragen und Mördermiene.«

»Mögen das nicht alle?«, murmelte Boris. Ihre muntere, taghelle Stimme zerrte ihm bereits an den Nerven.

»Ich nicht. Für mich gibt es kaum etwas Schlimmeres.« Sie klopfte auf die Bar. »Hallo! J’aimerais du Whiskey. Aber für Sie ist noch lange nicht Schlafenszeit, wie?«

»Nein«, antwortete Boris, erstaunt über die direkte Frage. »Oder doch. Für mich gab es seit zwei Tagen keine Schlafenszeit.«

»Was hält Sie wach? Ungeheuer unter dem Bett?«

»Es gibt keine Ungeheuer unter dem Bett.«

»Sind Sie da ganz sicher?«

»Ich habe es überprüft.«

»Sie mussten das überprüfen? Das gefällt mir, hehe, das ist gut. Merci, mein lieber Junge.« Der Barmann zog sich mit einem gewisperten de rien zurück, und die alte Dame nippte an

Einige Zuckerkristalle lagen auf dem Tresen neben Boris’ Kaffeetasse. Er begann sie mit dem Daumennagel zu zerdrücken und stellte sich vor, wie er Mrs Jeffers schilderte, was geschah, sobald er sich schlafen legte. Dass ihm sofort jemand von Den Verschwundenen in den Sinn kam, sobald er die Augen schloss. Dass er über diese Person nachdenken musste – wer sie gewesen war, wie sie gelebt hatte, wen sie zurückgelassen hatte. Dass ihm dann immer irgendein Detail fehlte – das Alter des Verschwundenen oder etwas anderes. Was ihn so sehr quälte, dass er aufstehen und seine Unterlagen nach dieser fehlenden Information durchsuchen musste. Er stellte sich vor, wie er Mrs Jeffers berichtete, dass er sich danach wieder hinlegte, jedoch immer wieder von derselben Frage heimgesucht wurde, die seine Seele in den Tiefen erzittern ließ und den Schlaf endgültig vertrieb.

Warum hatte er sich an diese Person und nicht an eine andere erinnert?

Weshalb nicht an den alten Mann, der vor sechs Monaten in der Umkleidekabine eines städtischen Schwimmbads in Dresden Verschwand und von dem lediglich Schwimmbrille, Badehose, Gebiss, eine Hüftprothese und ein Metallstück zurückblieben, das sich dann als Granatsplitter aus seinem Körper erwies? Wie war sein Name gleich wieder gewesen? Peter soundso. Laskau? Lasker?

Oder weshalb erinnerte er sich nicht an die Mutter, die im Dämmerlicht des Reptilienhauses im Glasgower Zoo

Weshalb erinnerte Boris sich nicht an die zwei Jungen, mit denen er selbst gesprochen hatte? Beide hatten weder erschüttert noch verstört gewirkt, als er mit seinem Notizbuch in der Hand vor ihnen gestanden und mit ihnen geredet hatte; sie hatten einfach weiter Karambolage mit Lastern gespielt. Doch Boris hatte gespürt, wie in ihnen ein furchtbarer Abgrund entstand, der sich nie wieder schließen würde.

Wie lauteten die Namen der Jungen?

Ein paar Tage lang hatte er sie nicht vergessen können. Später hatte er nur noch die Laster in Erinnerung.

Und dann, stellte Boris sich vor, würde er Mrs Jeffers erzählen, sei er erneut in die Falle gegangen und habe wieder aufstehen müssen, um alle Fälle aufs Neue durchzugehen, einen nach dem anderen. Sie alle anzuschauen, war besonders wichtig, würde er ihr sagen. Denn am meisten machte ihm der Gedanke Angst, dass er jemanden vergessen könnte. Doch die Aktenstapel sind riesig, würde er ihr sagen, und dass es ihn irgendwann schließlich immer aus der Wohnung treibe und er rauchend durch die Straßen wandere, mit hochgeschlagenem Kragen und Mördermiene (sie musste ihn gesehen haben!), und dass er dabei versuche, den Scharen von Verschwundenen zu entkommen, die ihn stumm verfolgten, damit sie nicht vergessen würden.

Die Tür des Cafés klappte auf, und ein Stapel druckfrischer Zeitungen landete mit einem Klatschen auf dem Boden.

Boris blinzelte und kam wieder zu sich. Dem Gesicht der

»Ich hatte erwartet, dass Sie so sein würden«, sagte sie jetzt und berührte seinen Arm. »Nun, da ich Sie sehe und Ihnen zuhöre, begreife ich so vieles. Sie sind ein gütiger Mann und haben sich Das Verschwinden sehr zu Herzen genommen.«

Boris spürte, wie ihm absurderweise Tränen in die Augen stiegen, und er wischte sie mit seinen rauen Fingerspitzen weg; falls die alte Dame es sah, ließ sie es sich nicht anmerken.

»Vielleicht möchten Sie mir jetzt erklären, warum Sie mich treffen wollten«, murmelte Boris etwas gereizt. »Und vor allem, weshalb Sie nicht mit dem Symposium sprechen wollen.«

Mrs Jeffers lächelte und drehte einen der Silberringe an ihrem Finger; er glitzerte, als sie ihn berührte.

»Oh, meine kleine Geschichte möchte man nicht den Naturwissenschaftlern überlassen. Sie ist besser geeignet für jemanden … der aus beiden Welten stammt, wenn Sie wissen, was ich meine.«

»Es gibt nur eine Welt.«

»Haben Sie das auch überprüft?«

»Nicht nötig. Das weiß ich.«

Mrs Jeffers schnalzte ärgerlich mit der Zunge. »Sagen Sie so etwas nicht. Dieser Satz kommt nicht aus Ihrem Herzen. Professor Courtz könnte so etwas sagen. Aber nicht Sie.«

»Woher wollen Sie das wissen? Der Mann lebt so zurückgezogen wie ein Eremit. Ich übrigens auch.«

»Wie denn?«

»Besteht nur aus Platinen und Formeln. Dem wäre es lieber, wenn Worte Zahlen wären und Ideen Gleichungen. Sie sind anders. Sie haben etwas von einem Hexenkessel an sich. Etwas von Magiern Geschaffenes. Nur jemand mit Ihrem Geist wird Das Verschwinden aufklären – nicht jemand wie Courtz. Wissen Sie das denn nicht?«

»Ich kenne ihn jedenfalls. Courtz war in einem Forschungsinstitut in Moskau mein Vorgesetzter. Hat mich regelmäßig beim Schachspielen geschlagen. Hinterher musste ich immer Eislaufen gehen.«

»Warum das?«

»Vielleicht, um das Gefühl für meine eigene Wendigkeit wiederzufinden«, antwortete Boris unbeteiligt. »Jedenfalls gehe ich davon aus, dass Courtz sich kaum verändert hat. Manchmal weiß man viel über Menschen, obwohl man sie eigentlich kaum kennt.«

»Sie würden sich wundern, mein lieber Junge, was ich alles weiß. Gemessen an mir sind Courtz und Sie Neandertaler, die mit Felsbrocken herumspielen. Wenn ich Ihnen erzählte, was ich weiß, würden Ihnen die Haare zu Berge stehen. Und Ihr Gehirn würde sich in Wackelpudding verwandeln.«

»Wissen Sie, wie man Das Verschwinden beenden kann?«

»Ich weiß jedenfalls, wie es begann.«

»Das ist doch gar nichts. Das weiß sogar Pierre. Pierre, les Disparitions, elles ont commencé comment? Wie hat Das Verschwinden angefangen?«

»Sehen Sie?«, sagte Boris. »Durch die Engländer. Jeder hat eine Meinung. Und was ist so besonders an der Ihren?«

»Wer spricht denn hier von Meinungen? Ich habe mir das nicht ausgedacht. Ich habe es gesehen.«

»Wir müssen korrekt deuten, was wir sehen.«

»Manchmal gibt es nur eine Deutung.«

Boris runzelte die Stirn und drückte seine Zigarette aus.

»Nun gut«, sagte er und senkte den Blick. »Sie haben den ganzen weiten Weg von London auf sich genommen. Wenn Sie mir etwas zu sagen haben, dann tun Sie es. Ansonsten würde ich vorschlagen, dass wir beide zu Bett gehen.«

Die alte Dame zögerte, und das erweckte Boris’ Interesse. Im Gegensatz zu allen anderen war sie sich ihrer Theorie offenbar nicht ganz sicher. Sie hatte sich also kritisch damit auseinandergesetzt und sie dennoch nicht abschütteln können. Solche Denker erweckten Boris’ Respekt.

Es war nur ein kurzer Satz, den Mrs Jeffers Boris nun ins Ohr flüsterte. Dann wartete sie seine Reaktion ab.

Er kratzte sich an der Wange, um seine Enttäuschung zu überspielen. Warum ließ er sich eigentlich auf solche Treffen ein? Sie liefen doch immer gleich ab. Irgendeine wirre Geschichte. Eine absonderliche Phantasie, entstanden im Hirn einer einsamen Seele. Unerklärte Phänomene wie Das Verschwinden waren wie leere Tafeln, auf die Menschen ihre eigenen Bedürfnisse und Ängste projizieren konnten.

»Das Verschwinden begann also durch einen kleinen

»Ja«, sagte Mrs Jeffers ernst und nickte. Dann fügte sie hastig hinzu: »Ich behaupte nicht, dass er es mit Absicht gemacht hat. Er wusste ja nicht, was er tat – er hatte gerade erst Laufen gelernt.«

»Tut mir leid«, erwiderte Boris, »aber etwas Alberneres ist mir noch nie zu Ohren gekommen. Das ist wirklich vollkommen absurd.«

»Jetzt benehmen Sie sich schon wieder wie Courtz. Warum wollen Sie unbedingt jemand sein, der Sie gar nicht sind?«

Bevor er sich selbst bremsen konnte, schaute Boris auf. Sein Spiegelbild sah priesterhafter aus denn je, und ein dünner Rauchfaden quoll aus seinem Mundwinkel.

Interessante Frage, nicht wahr? Willst du sie nicht beantworten?, fragte es höhnisch.

Boris erwog einen Moment, den schweren Kristallaschenbecher in den Spiegel zu schleudern. Doch sein eigenes Abbild zersplittern zu sehen, war keine verlockende Aussicht.

»Courtz hin oder her«, sagte er deshalb nur. »Die Theorie ist vollkommen abwegig.«

»Ach ja? Was haben Sie denn über Das Verschwinden in Erfahrung gebracht, dass Sie so überzeugt sein können?«

Boris legte überrascht den Kopf schief. In gewisser Weise hatte Mrs Jeffers recht – doch gerade als er sich entschloss, das zuzugeben, wendete draußen ein Auto. Der Strahl eines Scheinwerfers erleuchtete die Bar und traf auf das Gesicht der alten Dame. Sie zuckte zusammen und hob schützend die

Der Augenblick war nur flüchtig, aber Boris hatte etwas gesehen, das ihn zutiefst verstörte. Er warf einen raschen Blick auf den Barmann, doch der befestigte ungerührt die Zeitungen in den Bambusklemmen, ohne eine Reaktion zu zeigen.

Es musste Einbildung gewesen sein.

Einbildung? Wir müssen korrekt deuten, was wir sehen! Deine Worte! Deine Worte!

Boris atmete tief ein, griff nach einer Zigarette und zerbrach mehrere Streichhölzer bei dem Versuch, sie anzuzünden. Es war schon zu spät: Panik erfasste ihn. Er ließ die Zigarette los und legte die Hände flach auf die Bar, um nicht vom Hocker zu kippen. Irgendwo in weiter Ferne hörte er die alte Dame sprechen. Ob alles in Ordnung sei? Er sei ja plötzlich so bleich geworden. Wobei er allerdings auch vorher schon recht blass gewesen sei. Ungesund sehe er aus, plapperte sie, er sollte Vitamine nehmen.

»Alles … in Ordnung … ich hatte nur gedacht … bitte reden Sie weiter … erzählen Sie mir …«, stotterte Boris.

Er senkte den Kopf und versuchte ruhig und regelmäßig zu atmen. Dabei fiel sein Blick auf den zusammengeklappten Golfschirm. Boris starrte darauf, denn sich ganz und gar auf eine Sache zu konzentrieren, war der einzige Weg, um ES zu verhindern.

Die Spaltung.

Das Zerbrechen in mehr als einen.

Zuerst funktionierte es. Der Schirm war ein Werbegeschenk

Sie hatte ihn zusammengeklappt.

Das bedeutete … er war zuvor geöffnet gewesen.

Boris’ Herz begann zu pochen, und ein Schwächegefühl erfasste ihn.

Es hat aber gar nicht geregnet.

Sie war also in einer klaren Nacht mit einem geöffneten Regenschirm unterwegs gewesen.

Warum?

Das weißt du doch.

Boris spürte, wie er innerlich einbrach und sich aufzulösen begann. Er wusste es tatsächlich. Hatte es von Anfang an gewusst, aber nicht zugeben wollen. Und nun erhob sich die Antwort in seinem Kopf so monumental und erschreckend wie ein Seeungeheuer, das aus tausend Klaftern Tiefe aufsteigt und aus dem Wasser bricht.

 

Und wenn es nun alles mit Dem Wald zu tun hat?

 

Sein Geist begann zu zerfallen. Er spannte die Schultern an und versuchte sich mit aller Willenskraft dagegen zu wehren.

Es war ausgeschlossen.

Lächerlich. Unmöglich.

Und er würde es beweisen.

Pierre bewegte sich gleichmütig zu der Messingtafel mit dem Schalter, der den dunkel glitzernden Kronleuchter über ihnen erleuchten würde. Die alte Dame bemerkte nichts von alledem und sprach weiter, aber Boris verstand kein einziges Wort und starrte sie wie gelähmt an.

… Beschreibung deß Lebens eines seltzamen Vaganten, genant Melchior Sternfels von Fuchshaim, wo und welcher gestalt Er nemlich in diese Welt kommen …

Was redete sie da?

Einen Moment hatte Boris das Gefühl, über seinem Stuhl zu schweben, losgelöst von jeglicher Wahrnehmung.

Und dann legte Pierre den Schalter um.

Mrs Jeffers zuckte zusammen, als sei eine Bombe explodiert. Ihr Whiskyglas flog gegen den Spiegel, und ein Splitter bohrte sich in Boris’ Wange. Dann herrschte nur noch Chaos: Schreie, umstürzende Hocker, zerbrechende Flaschen. Mrs Jeffers war überall zugleich, raste umher wie ein Tier, das in Flammen stand. Dann kam sie auf ihn zugeschossen.

»Ausschalten … Idiot!«, kreischte sie und packte ihn am Kragen. Ihr Gesicht schrumpelte zischend direkt vor seinen Augen. Ihre Zähne fielen aus, und ihre Augen rollten wie weiße Kugeln in den Höhlen umher.

Es war nur noch eine Frage von Sekunden.

Boris fing sie auf und brüllte: »PIERRE! La lumière! Das Licht!«

Der Barmann stand reglos da, schüttelte nur den Kopf und

»Pierre! Vite! Vite! Mach schnell!«

»Vite? Comment-ça, vite? Schnell? Wie? Was?«, schrie Pierre unvermittelt und warf die Arme in die Luft.

»La lumière, pour l’amour de Dieu! Éteins-la! Das Licht, um Gottes willen! Mach es aus!«

Der Barmann starrte ihn verständnislos an. Dann hastete er zu der Messsingplatte und riss den Schalter herum.

klick

Nichts geschah.

klickklickklickklickklick

»PIERRE

»Pétart! Ça ne marche plus! Verflucht – es funktioniert nicht mehr!«

Boris hechtete über den Tresen, stieß den Barmann beiseite und drosch mit der Faust auf die Messingplatte; so heftig, dass sie hinter einer Staubwolke in der Wand verschwand. Das Licht flackerte, ging aber nicht aus.

Fluchend fuhr er herum.

Mrs Jeffers tastete sich am Tresen entlang und zerfiel wimmernd vor seinen Augen. Ihre Haare hatten sich in eine klebrige tropfende Masse verwandelt, und mit lautem Krachen wie von Knallfröschen knickte ihr Rückgrat Wirbel um Wirbel ein, bis ihr Kopf nach unten hing. Die Gesichtshaut schrumpfte weiter, und es roch widerwärtig nach verbranntem Fett. Nach und nach verebbten die Schreie zu einem grauenvollen jämmerlichen Winseln.

Boris starrte fassungslos auf die Lichtkaskade und presste die Fäuste an die Schläfen.

Alles, was sein Vater ihm erzählt hatte, entsprach also der Wahrheit. Dies war der Beweis.

Mrs Jeffers fuhr herum, den Mund gespenstisch aufgerissen. »Iii – dioten«, ächzte sie. Dann öffnete sich ihr Mund immer weiter, ihr Gesicht schien sich von ihrem Kopf zu schälen wie ein Strumpf, und sie brach in sich zusammen – ein Skelett, ein Haufen Knochen.

Boris flankte über den Tresen, packte einen Barhocker und zerschmetterte den Kronleuchter. Mit lautem Krachen erlosch das Licht, und ein Regen von Kristallsplittern fiel auf ihn herab. Rasch sank Boris neben der Kreatur auf die Knie, voller Angst, dass es zu spät sein könnte. Mrs Jeffers’ Atem war flach und abgehackt, doch sie hauchte ein einziges Wort.

Er verstand es nicht.

Noch einmal? Sagen Sie es noch einmal!

Kerze!

Schnell griff er nach einer der herumliegenden Kerzen, zündete sie an, stellte sie neben die Kreatur. Berührte hilflos das, was von ihren Schultern übrig war.

Nach einer Weile schob sie seine Hände weg.

Boris lehnte sich mit dem Rücken an die Bar, blieb sitzen

Aus einer dunklen Ecke, verborgen durch Rauch und Schatten, beobachtete ihn ein anderer Boris mit düsterem, wissendem Blick.

Beinahe hättest du eine vom Waldvolk getötet …, raunte er ihm zu.

Und er hatte recht.

Doch Boris wusste nun zwei Dinge, die er zuvor nicht gewusst hatte.

Er wusste, warum die alte Dame zu ihm gekommen war.

Und er wusste, dass wahrhaftig alles mit Dem Wald zu tun hatte.

Der Kobold aus der Waisenanstalt

Der kleine Junge, mit dem Das Verschwinden begonnen hatte, war inzwischen zwei Jahre alt. Er lebte in London bei einem Mann namens Forbes, der im Schlachthof am Fleischhäcksler arbeitete, und einer Frau namens Alice, die früher Grußkarten entworfen hatte.

Die beiden wussten nicht, dass der Junge Das Verschwinden verursacht hatte, und auch er selbst ahnte nichts davon. Was jedoch nicht heißen soll, dass er nicht immer wieder Misstrauen erregt hätte – wer ihn zu Gesicht bekam, misstraute ihm unwillkürlich. In der Anstalt für verwaiste und ausgesetzte Kinder im Stadtteil Surbiton, wo er zuerst gelandet war, hatte man ihm daher auch sofort alle möglichen erstaunlichen Dinge unterstellt. Bereits am Tag seines Eintreffens in der Waisenanstalt sorgte der Kleine für Aufsehen. Normalerweise gab es zu jedem Neuzugang Unterlagen – Polizeiakten oder Berichte von Sozialarbeitern –, doch dieses Kind traf ohne jegliche Information, ohne jegliche Vorgeschichte ein.

Man hatte den Jungen in einem Bücherregal eines

Auch die körperliche Beschaffenheit des Neuzugangs gab den Schwestern im Waisenhaus Rätsel auf. Von Anfang an bezeichneten sie das Kind nur als »Es« und konnten es kaum erwarten, bis die vorgeschriebenen drei Monate vorbei wären und man es ins Heim auf dem Land verbringen würde. Dieses Kind war nicht nur einfach hässlich, sondern unheimlich hässlich. Statt dicker weicher Ärmchen und Beinchen hatte es dünne, harte Glieder, die eher dazu geeignet schienen, zu springen und zu graben als von Großeltern gehätschelt zu werden. Und es hatte diese sonderbare Art, einen anzustarren, mit einem enorm durchdringenden Blick, der so erwachsen wirkte, als wisse es Dinge, die es noch gar nicht wissen konnte; die Schwestern warteten beinahe darauf, dass es plötzlich Shakespeare rezitieren oder das politische Tagesgeschehen kommentieren würde.

Sein sonderbarstes Merkmal entdeckte man jedoch, nachdem das Wesen bereits in den ersten Stunden seiner Anwesenheit im Waisenhaus das Ohr einer Schwester übel zugerichtet hatte: Obwohl das Kind höchstens ein paar Tage alt sein konnte, hatte es schon zehn spitze kleine Zähne, weiß wie Perlen.

Etwas Derartiges hatte noch keine der Schwestern jemals zu Gesicht bekommen. Mit Ausnahme einer alten Deutschen namens Frau Winkler, die vor dem Krieg aus dem Bayerischen

Er will den Stollen stehlen, stand unter dem Bild.

Als Frau Winkler sich zum ersten Mal über das Bettchen des Neuzugangs beugte, sah sie sofort dieses Bild vor sich, an das sie siebzig Jahre lang nicht gedacht hatte. War dieser Kobold nun also aus dem Buch entwischt, um sie am Ende ihrer Tage heimzusuchen? Den würde sie genau im Auge behalten!

Jeden Nachmittag kamen Besucher in die Waisenanstalt, um die Kinder zu begutachten und sich eines auszusuchen. Sobald die künftigen Eltern den riesigen Schlafsaal betraten, rollte sich der Kobold auf den Bauch und starrte die Ankommenden mit seinen kohlschwarzen Augen durchdringend an. Die Paare merkten davon nichts und wanderten beglückt durch den Raum. Immer wieder bückten sie sich, um alberne Laute für die glucksenden, zappelnden Babys in den Bettchen von sich zu geben.

Früher oder später zog es sie dann immer auch in die Ecke des Kobolds – wohl weil sie spürten, dass dort etwas hauste wie in einer Höhle. Zu diesem Zeitpunkt war der Kobold immer schon ganz unruhig, hatte sich aufgesetzt und hielt seinen seltsam geformten Kopf ganz still. Frau Winkler kam es vor, als ahne er als Einziges von all den Babys, dass diese

Ein paar Minuten später kam dann stets eine Schwester in den Saal, nahm eines der anderen Babys mit und warf dem Wesen einen strafenden Blick zu.

Was hast du erwartet?

Wer sollte DICH schon mitnehmen wollen?

Und der Kobold rollte sich zur Wand und drehte sich lange Zeit nicht mehr um.

 

 

Der Heißluftballon und die Schimmelecke

Die Wand neben dem Gitterbett des Kobolds war nicht kahl wie alle anderen Wände in der Waisenanstalt, sondern mit einem Gemälde verziert, das aus einer Zeit stammte, als die Waisenanstalt noch ein Irrenhaus gewesen war. Die Insassen selbst hatten dieses Bild gemalt: Unter Anweisung eines Unterhaltungskünstlers namens Boppo der Farbclown hatte man ihnen gestattet, ihren Gefühlen an den Wänden des Speisesaals Ausdruck zu geben. Inzwischen wurde der Raum als Schlafsaal

Hätten die verwaisten Babys dieses Wandgemälde als Darstellung der realen Welt betrachtet, die sie meist noch nie zu Gesicht bekommen hatten, so hätten sie wohl angenommen, dass die Alpen, das Taj Mahal, eine städtische Hauptstraße und der Dschungel sich in direkter Nähe befänden und dass die Erde ausschließlich von bockigen, wiehernden Eseln und rotgesichtigen Polizisten bevölkert wäre, die klobige schwarze Stiefel trugen und den Eseln nachrannten. Die meisten der zukünftigen Eltern fanden das Gemälde erheiternd, doch die sensibleren unter ihnen konnten nicht umhin zu denken, dass die Esel auf dem Bild zu verstört und die Polizisten zu bedrohlich aussahen. Genau wie der Kobold richteten jene Menschen den Blick auf ein winziges Detail, geschaffen von einem Patienten mit einer alten Seele, der vielleicht auf einer Leiter gestanden hatte, während die anderen unten am Boden mit Farbe herumklecksten, und der seine unendliche Sehnsucht und Traurigkeit in einem Bild von herzzerreißender Schönheit zum Ausdruck gebracht hatte: einer Montgolfière, die am oberen Rand des Gemäldes und damit über der gemalten Welt schwebte, als wollte sie den blauen Himmel hinter sich lassen und unbekannte Gefilde erreichen – jene Gefilde, zu denen jeder Heißluftballon strebt und die er zweifellos auch erreichen würde, wären da nicht die Schwerkraft und die Gefahren des Weltalls.

Stundenlang starrte der Kobold auf diesen Ballon und die zwei nur undeutlich erkennbaren Passagiere. Sie wandten sich

Zunehmend jedoch auch angstvoll – denn der Ballon näherte sich unaufhaltsam der Schimmelecke.

Einzig Frau Winkler bemerkte die Ängste des Kobolds, und sie fragte sich, ob diese düstere Ecke womöglich ein Loch war, durch das der Kobold nächtens entfloh. Wenn Frau Winkler alleine Nachtdienst hatte, trat sie oft an sein Bett und starrte ihn argwöhnisch an. »Wer bist du?«, flüsterte sie dann. »Woher kommst du?«