Tanya Stewner
Liliane Susewind
So springt man nicht mit Pferden um
Mit Bildern von Eva Schöffmann-Davidov
FISCHER E-Books
Tanya Stewner wurde 1974 im Bergischen Land geboren und begann bereits mit zehn Jahren, Geschichten zu schreiben. Sie studierte in Düsseldorf, Wuppertal und London und widmet sich inzwischen ganz der Schriftstellerei. Die Autorin lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Wuppertal.
Ihre Trilogie über die Elfe Hummelbi hat unzählige Fans, und ihre Kinderbuchserie über die Tier-Dolmetscherin Liliane Susewind ist ein Welterfolg.
Bei Fischer sind bisher zehn ›Lilli‹-Bände erschienen, weitere sind in Vorbereitung. ›So springt man nicht mit Pferden um‹ ist der fünfte Band der Reihe.
Eva Schöffmann-Davidov, geboren 1973, hat schon als Kind alles gezeichnet, was ihr vor den Pinsel kam. Nach dem Abitur besuchte sie die Freie Kunstwerkstatt in München und studierte anschließend Graphik-Design in Augsburg. Bis heute hat sie mit großem Erfolg über 300 Bücher, vorwiegend für Kinder- und Jugendbuchverlage, illustriert. Sie lebt, liebt und arbeitet in München.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden sich auf www.blubberfisch.de und www.fischerverlage.de
Lilli, die Pferdeflüsterin
Lilli lernt reiten! Sie kann gar nicht genug davon bekommen. Doch Lilli merkt schnell, dass die Besitzerinnen des Reiterhofs Geldsorgen haben. Außerdem ist das Springpferd Storm eigenartig feindselig und nervös. Zum Glück kann Lilli das verzweifelte Wiehern des Hengstes verstehen! Storm wird von seinem Trainer mit brutalen Methoden gequält. Für den Hof ist jede Hoffnung dahin, wenn Storm keine Turniere mehr gewinnt. Wie kann Lilli dem Pferd helfen, wieder Freude am Springen zu finden?
Im fünften Band der beliebten Bestsellerreihe beweist Liliane Susewind, dass sie wirklich eine Freundin zum Pferdestehlen ist.
Jeder Band eine abgeschlossene Geschichte
Mehr Informationen, viele Spiele und Rätsel rund um »Liliane Susewind« und ihre Abenteuer gibt es hier: www.liliane-susewind.de
›Liliane Susewind – So springt man nicht mit Pferden um‹ ist auch als Argon Hörbuch im Handel erhältlich, mit einem »Lilli-Song« der Autorin.
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Die Originalausgabe erschien 2009 im Hardcover-Programm der Fischer Schatzinsel
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2009
Covergestaltung: bilekjaeger, Stuttgart
Coverabbildung: Eva Schöffmann-Davidov
Nach den Regeln der neuen Rechtschreibung
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401780-8
Lilli stand vor dem Spiegel und versuchte, ihre widerspenstigen rostroten Locken glattzukämmen. An diesem Morgen erinnerte ihr Haar wieder einmal an einen wild gewordenen Wischmopp. Und das, obwohl heute nach sechs Wochen Sommerferien die Schule wieder anfing und Lilli zur Abwechslung gern einmal hübsch ausgesehen hätte.
»Wohin gehen wir denn?«, bellte Lillis kleiner weißer Hund Bonsai und wedelte erwartungsvoll mit dem Schwanz.
Lilli zupfte an einer besonders aufmüpfigen Strähne herum. »Ich gehe in die Schule«, erwiderte sie.
»Ohne mich?« Bonsai ließ die zotteligen Ohren hängen.
»Ja, tut mir leid.« Lilli blickte ihren Hund, der seit mehr als drei Jahren ihr treuer Begleiter war, entschuldigend an. Dass sie ihn verstehen konnte, war für sie das Selbstverständlichste von der Welt. Denn Lilli hatte eine besondere Gabe: Sie konnte mit Tieren sprechen.
»Das Frühstück ist fertig!«, drang die Stimme von Lillis Vater herauf, und Lilli machte sich auf den Weg nach unten in die Küche. Dort war ihr Vater gerade damit beschäftigt, Brötchen aus dem Ofen zu holen. »Hallo Schatz!«, rief er. Ihre Mutter saß versteckt hinter der Zeitung und grummelte: »Morgen.« Lillis Oma, die ebenfalls bei ihnen lebte, gab ihrer Enkelin einen Begrüßungskuss auf die Nasenspitze. Lillis Vater stellte währenddessen eine Vase mit roten Dahlien, die er offenbar gerade im Garten gepflückt hatte, auf den Tisch. »Die Blumen lassen allesamt die Köpfe hängen«, stellte er besorgt fest. »Der Sommer war einfach zu heiß und es hat zu wenig geregnet. Die Natur und alle Pflanzen haben enorm darunter gelitten.«
Lilli setzte sich an den Tisch und legte die Hände um die Stängel, um den halbvertrockneten Blumen ein bisschen zu helfen. Die Dahlien waren allerdings ein schwerer Fall – ihre Köpfe hingen weiterhin traurig nach unten.
Ihr Vater beobachtete Lilli, seufzte und wechselte das Thema. »Ist Jesahja auch aufgestanden?«
Noch bevor Lilli antworten konnte, kam Jesahja schon hereinspaziert. Er war frisch geduscht und sah wie immer umwerfend aus. Sein dunkles Haar glänzte, da es noch feucht war, und seine schönen braunen Augen blitzten Lilli an. Lilli grinste und verspürte einen gewissen Stolz darauf, dass der hübscheste Junge der Schule ihr bester Freund war. Jesahja wohnte zurzeit sogar bei ihnen! Er war vorübergehend in das Zimmer neben Lillis eingezogen, da seine Eltern sich auf Geschäftsreise in China befanden.
Jesahja begrüßte nun alle und wollte sich gerade an den Frühstückstisch setzen, da sprang eine orange getigerte Katze auf seinen Stuhl. Mit miesepetrigem Gesicht blickte sie Jesahja an und maunzte: »Sie möchten doch wohl nicht etwa Ihre morgendliche Nahrungsaufnahme beginnen, ohne sich zuvor um meine Beköstigung gekümmert zu haben?« Gereizt schlug ihr Schwanz auf den Stuhl. »Ist es denn so schwierig, sich einzuprägen, an wen stets zuerst gedacht werden sollte?«
Die Katze gehörte Jesahja und wohnte momentan ebenfalls bei den Susewinds. Obwohl sie sich prächtig mit Bonsai verstand, war es manchmal gar nicht so leicht, die kleine Lady im Haus zu haben. Denn diese Katze war etwas ganz Besonderes. Sie betrachtete sich selbst als die »Crème de la crème der Schnurrherrschaften von Welt«, und deshalb trug sie den vornehmen Namen Frau von Schmidt.
Lilli übersetzte Jesahja nun, was die Katze verlangte, denn er verstand das Tier natürlich nicht. Er hatte lediglich ein Maunzen gehört. Jesahja kannte Frau von Schmidt aber so gut, dass er ahnte, worüber sie sich beschwerte. Bevor Lilli zu Ende übersetzt hatte, holte er schon eine Dose Katzenfutter aus dem Schrank. Frau von Schmidt sprang leichtfüßig vom Stuhl, strich um seine Beine und beobachtete, was er tat. »Nein, nicht diese Dose!«, zeterte sie gleich darauf. »Danach ist mir heute gar nicht. Mir wäre eher nach Mäusebraten.«
»Was hat sie zu meckern?« Jesahja schaute Lilli fragend an. »Will sie etwa schon wieder Mäusebraten?«
Lilli nickte und konnte sich ein Lachen kaum verkneifen. Frau von Schmidt hatte diesen Wunsch schon öfter geäußert. Aber da es kein Katzenfutter mit Mäusefleisch gab, hatte die getigerte Dame ihren Willen ausnahmsweise nicht durchsetzen können. Vor ein paar Tagen war Lillis Vater jedoch auf die Idee gekommen, der Katze einfach einmal Bonsais Hundefutter anzubieten. Dies hatten sie getan, und Frau von Schmidt war von der Mahlzeit, die sie für Mäusebraten hielt, außerordentlich begeistert gewesen.
Jesahja schüttelte nun den Kopf. »Es ist nicht gesund für Katzen, wenn sie zu oft Hundefutter fressen!«
Lilli wusste, dass er recht hatte. Sie räusperte sich und sagte zu Frau von Schmidt: »Bitte, Madame, würden Sie gütigerweise in Erwägung ziehen, Ihr normales Futter zu verzehren?« Lilli versuchte im Gespräch mit der Katze stets, sich so gewählt wie möglich auszudrücken. »Das würde ich Ihnen sehr empfehlen. Ihr Fell scheint durch Ihr gewöhnliches Mahl nämlich enorm an Leuchtkraft zu gewinnen«, fügte sie hinzu und brachte es kaum fertig, dabei ein ernstes Gesicht zu machen, denn Jesahja brach gerade in Gelächter aus.
»Oh, tatsächlich?«, miaute die Katze und strich sich entzückt mit der Pfote über ihren hübschen, orangefarbenen Pelz. »Nun, in diesem Falle würde ich meine übliche Beköstigung ausnahmsweise akzeptieren.«
Lilli übersetzte, und Jesahja füllte Frau von Schmidts Napf kichernd mit Katzenfutter. Als Bonsai das sah, tapste er näher und kläffte: »Kannst du mir auch was von Schmidtis Essen geben? Ich will auch leuchten!«
Lilli musste lachen. Kaum hatte sie gelacht, richteten die Dahlien in der Vase wie von Geisterhand die Köpfe auf.
»Na, also!«, rief Lillis Oma. »Geht doch!«
»Sehr schön, Schatz«, lobte auch Lillis Vater. Inzwischen war es für alle in der Familie etwas ganz Normales, dass Lilli nicht nur mit Tieren sprechen konnte, sondern auch eine besondere Wirkung auf Pflanzen hatte. Blumen, Sträucher oder Bäume begannen durch Lillis Anwesenheit oder eine Berührung von ihr zu wachsen oder zu blühen – und der Effekt verstärkte sich um ein Vielfaches, wenn Lilli lachte.
Alle frühstückten nun ausgiebig. Frau von Schmidt beglückwünschte Bonsai während des Fressens zu seinem »fürstlichen Mäusebraten« und vermutete, dass dieser bestimmt äußerst schmackhaft sei. Leise fügte sie hinzu: »Wie es scheint, verhilft er jedoch zu keinerlei Leuchtkraft. Wirklich schade für Sie.« Selbstzufrieden reckte sie die Nase in die Höhe.
Bonsai reagierte nicht auf ihre Bemerkung. Das lag daran, dass Hundisch und Katzisch völlig unterschiedliche Sprachen waren und Bonsai Frau von Schmidt ohne Lillis Übersetzung nicht verstand. Lilli schwieg allerdings, da sie sich in diesem Fall lieber nicht weiter einmischen wollte.
Schließlich machten Lilli und Jesahja sich auf den Weg zur Schule. Lilli merkte, dass sie nervös war. Sechs Wochen lang waren sie nicht dort gewesen! Als sie vor dem Schulgebäude ankamen, stürzten gleich einige Jungs auf Jesahja zu und begrüßten ihn lautstark. Sie waren, so wie Jesahja, eine Klasse über Lilli und scherzten und lachten in rauem Ton. Während Jesahja nun mit ihnen sprach, wirkte er viel schroffer als sonst, und plötzlich fühlte Lilli sich fehl am Platz. Wohl oder übel beschloss sie, sich nach irgendjemandem aus ihrer eigenen Klasse umzusehen. Doch kaum hatte sie sich umgedreht, rief Jesahja ihr nach: »Wir sehen uns in der Pause!«
Seine Freunde verstummten und musterten Lilli. Natürlich wussten sie, dass Jesahja mit Lilli befreundet war, aber über einen solch »uncoolen« Spruch schienen sie sich dennoch zu wundern. Jesahja machte das offensichtlich nichts aus. Verschmitzt lächelte er Lilli an.
Lilli konnte nicht anders als ebenso »uncool« zurückzustrahlen. Sie war froh, einen Freund wie Jesahja zu haben. Denn sie wusste nur allzu gut, wie es war, allein zu sein. Sie erinnerte sich noch genau, wie sie vor ein paar Monaten neu in diese Schule gekommen war und wie sich anfangs niemand mit ihr hatte anfreunden wollen. Schuld daran waren vor allem Trixi Korks und ihre Clique gewesen, die ihr vom ersten Tag an schlimm zugesetzt hatten. Niemand aus der Klasse hatte sich mit den Mädchen anlegen und Lilli beistehen wollen. Inzwischen gab es die Clique allerdings nicht mehr, und Trixi stand ohne ihre Freundinnen da. In den Sommerferien hatte Lilli dann herausgefunden, dass Trixi und ihre Schwester Trina von ihrer Mutter misshandelt wurden. Das Jugendamt hatte daraufhin dafür gesorgt, dass die beiden zu ihrer Oma zogen, wo sie es besser haben sollten. Lilli fragte sich nun, ob Trixi überhaupt noch in ihrer Klasse war …
Im nächsten Augenblick wurde ihre Frage schon beantwortet: Trixi kam über die Straße auf sie zu! Lilli wappnete sich innerlich. Bisher waren Begegnungen mit Trixi immer alles andere als angenehm gewesen. Aber sie sah verändert aus. Ihr Gesichtsausdruck, der normalerweise angestrengt und verbissen wirkte, schien weicher – als sei ihr ein schlimm entzündeter Zahn gezogen worden. Trixi ging wortlos an Lilli vorüber und ignorierte sie.
Es klingelte. Fünf vor acht! Lilli wollte gerade das Schulgebäude betreten, da rief jemand: »Kuckuck!« Lilli drehte sich um. Da stand Bonsai!
»Was machst du denn hier?«, stieß sie verdutzt hervor.
Bonsai wedelte mit dem Schwanz. »Ich bin mitgekommen … damit ich auch hier bin«, antwortete er.
Lilli kniete sich neben ihn. »Aber du kannst nicht mit in die Schule kommen!«
»Doch! War ganz leicht! Immer dem Lilliduft nach …«
»Hunde gehen nicht in die Schule.« Lilli schüttelte den Kopf. »Bitte lauf wieder nach Hause, Bonsai.«
»Muss ich?« Der weiße Mischling ließ den Kopf hängen. »Wirklich?« Als Lilli ihn streng ansah, schnuffte er: »Okay« und setzte sich unwillig in Bewegung.
Lilli blickte ihm kopfschüttelnd nach, dann eilte sie ins Schulgebäude. In ihrem Klassenraum herrschte chaotisches Durcheinander. Alle Schüler schienen gleichzeitig zu reden und sich gegenseitig zu erzählen, wie sie die Ferien verbracht hatten. Lilli wurde mit vielen »Hallos« gegrüßt, denn mittlerweile war sie keine Außenseiterin mehr, sondern hatte einige Freunde gefunden.
Da betrat der Lehrer, Herr Gümnich, das Klassenzimmer. Schlagartig wurde es still im Raum. Das lag aber nicht am Lehrer, sondern an dem braunhaarigen Mädchen, das mit Herrn Gümnich hereinkam. Eine neue Schülerin! Lilli beugte sich gespannt vor und betrachtete das Mädchen. Sie hatte ein kleines, unscheinbares Gesicht und trug eine Brille. Ihr braunes Haar war schulterlang und beneidenswert glatt. Ihre Jacke sah alt und abgewetzt aus, genau wie ihre blauen Halbschuhe.
»Hallo Kinder«, sagte Herr Gümnich. »Ihr habt eine neue Mitschülerin. Ihre Familie ist erst vor kurzem hergezogen, sie kennt also noch niemanden hier. Sie heißt Wolke Jansen.«
Einige der Schüler lachten, andere wiederholten den Namen »Wolke«, als könnten sie nicht glauben, dass das Mädchen tatsächlich so hieß. Lilli hätte sie am liebsten ausgeschimpft. Sie konnte sich vorstellen, wie Wolke sich fühlte, denn an Lillis erstem Schultag hatten die anderen Schüler über den Namen »Susewind« gelacht, und Lilli wäre vor Scham am liebsten im Erdboden versunken.
Wolke starrte nun mit hochrotem Kopf auf ihre Schuhspitzen. Da schnellte Lillis Hand in die Höhe.
Herr Gümnich schaute sie überrascht an. »Ja?«
»Wolke kann neben mir sitzen … wenn sie möchte.« Der Platz neben Lilli war frei, da Sonay, die normalerweise neben ihr saß, heute krank zu sein schien.
Wolke blickte auf und sah Lilli mit großen Augen an.
Der Lehrer lächelte und schien erleichtert zu sein. »Möchtest du neben Lilli sitzen?«, fragte er das Mädchen. Wolke nickte schüchtern. »Dann setz dich doch.«
Wolke ließ sich das nicht zweimal sagen. Sie stapfte durch den Klassenraum, schlüpfte neben Lilli auf den Stuhl und versank hinter dem Tisch. Da zischte jemand abschätzig: »Sag mal, aus welchem Jahrhundert sind denn deine Schuhe?« Es war Gloria, ein Mädchen, mit dem Lilli sich nicht sonderlich gut verstand. Gloria war früher ein Mitglied in Trixis Clique gewesen und hatte Lilli damals ebenso übel zugesetzt wie ihre beste Freundin Viktoria, die gerade über Glorias fiese Bemerkung lachte.
Lilli warf Gloria einen bösen Blick zu, aber diese schien das nicht zu bemerken. Dann begann die Schulstunde, und sie mussten sich auf den Unterricht konzentrieren. Als es zwei Stunden später zur Hofpause läutete, huschte Wolke aus dem Klassenraum und zog sich in die abgelegenste Ecke des Schulhofs zurück. Lilli wollte gerade zu Wolke hinübergehen, da hörte sie eine vertraute Stimme. »Hey Lilli!« Es war Jesahja, der auf sie zusteuerte. Im Schlepptau hatte er über ein Dutzend Jungs und Mädchen, die ihm in dichtem Abstand folgten. So war es immer in den Hofpausen. Jesahja war so beliebt, dass er ständig von einem ganzen Pulk von Fans umlagert wurde. Lilli fand es oft schade, dass sie Jesahja in der Schule selten allein sprechen konnte, aber heute störten seine Anhänger sie noch mehr als sonst.
»Ich möchte dir jemanden vorstellen«, sagte sie und zog Jesahja fort. Er war viel besser darin als sie, Gespräche zu führen, und er wusste bestimmt, wie man Wolke am besten kennenlernen konnte. Jesahjas Fans liefen ihm nach wie eine Herde Schafe. Zwei Jungs aus der Gruppe, Torben und Fabio, warfen Lilli schräge Blicke zu. Ihnen schien es gar nicht zu gefallen, dass das Mädchen mit dem roten Lockenkopf derart selbstverständlich Jesahjas Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
Als Lilli nun mit den anderen Schülern auf Wolke zustrebte, zeichnete sich im Gesicht des Mädchens Panik ab. Lilli wurde klar, dass das Ganze bedrohlich auf Wolke wirken musste. Aber nun war es zu spät, um umzudrehen.
»Das ist Jesahja«, stellte Lilli ihn in vorsichtigem Ton vor. Jesahjas Anhänger stierten Wolke neugierig an. Ihren abfälligen Mienen war anzusehen, welchen Eindruck Wolkes alte Halbschuhe und ihre abgewetzte Jacke auf sie machten.
»Hi«, sagte Jesahja und lächelte.
Wolke stand starr vor Schreck da. Die gaffende Schülergruppe schien sie enorm einzuschüchtern. Doch Lilli konnte sich vorstellen, was außerdem im Kopf des Mädchens vorgehen musste: Jesahja sah einfach zu gut aus. Es war nicht normal, dass ein Junge wie er einfach so auf ein Mädchen wie Wolke zukam und sie freundlich begrüßte. Lilli verwünschte die blöden Regeln, die in der Schule galten.
Wolke starrte Jesahja ängstlich an. Er lächelte noch einmal. »Bist du neu?«, fragte er.
»Ich … bin Wolke«, antwortete sie stockend.
Kaum hatte sie ihren Namen genannt, begannen einige von Jesahjas Freunden zu lachen. Lillis Rücken versteifte sich.
Jesahjas Blick wanderte zwischen den Jungs und Wolke hin und her. Dann sagte er zu dem Jungen, der am lautesten lachte: »Weißt du eigentlich, was dein Name bedeutet, Fabio?«
Fabio zuckte erstaunt die Achseln.
»Fabio ist ein italienischer Name. Dem Wortstamm nach bedeutet er: die Bohne.«
Die Umstehenden brachen in schallendes Gelächter aus.
Lilli lachte nicht mit, sondern wunderte sich wieder einmal darüber, was Jesahja alles wusste. Durch seine Hochbegabung kannte er sich sogar mit Dingen aus, von denen viele Erwachsene wahrscheinlich noch nie etwas gehört hatten.
Wolke starrte ihn weiterhin sprachlos an. Schließlich sagte Jesahja: »Also … einen schönen Tag noch.« Er warf Lilli einen ratlosen Blick zu und schlenderte davon. Der Pulk folgte ihm dicht auf den Fersen.
Lilli blieb bei Wolke stehen. Allerdings wusste sie nicht, worüber sie mit ihr reden sollte.
Wolke sah Lilli schüchtern an und schwieg ebenfalls. Verlegen zupfte sie sich ein paar einzelne Haare vom Ärmel.
»Was sind das für Haare?«, fragte Lilli, da sie sonst nichts zu sagen wusste.
»Das sind Pferdehaare«, erwiderte Wolke leise und zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Ich kriege sie nie richtig ab …«
Lilli horchte auf. »Pferdehaare?«
»Ja … ich … wir haben einen Reiterhof.«
Lillis Mund klappte auf. »Einen Reiterhof?«
Wolke lächelte scheu. »Ja.«
»Hast du ein eigenes Pferd?«
»Ja, ein Pony.« Wolkes Lächeln verbreiterte sich. »Es heißt Darling, und ich habe es schon, seit ich vier Jahre alt war. Eigentlich könnte ich inzwischen ein größeres Pferd reiten, aber ich will gar kein anderes.«
»Ich bin noch nie auf einem Pferd geritten.«
Wolke blickte Lilli forschend an, dann sah sie verlegen zu Boden. »Wenn du möchtest, kannst du mich ja mal zu Hause besuchen«, murmelte sie kaum hörbar. »Dann könntest du dir ein Pferd aussuchen und darauf reiten.«
Lilli konnte kaum fassen, was sie da hörte. »Das wäre genial!«, rief sie. »Kann Jesahja auch mitkommen?«
Wolkes Augen weiteten sich. »Der Junge von eben? Der würde doch bestimmt nicht kommen …«
»Klar würde er das! Jesahja ist mein bester Freund, und er hätte garantiert Lust zu reiten.«
»Dieser Junge ist dein bester Freund?«, fragte Wolke ungläubig und blickte zu Jesahja hinüber. Er war inzwischen von so vielen Leuten umringt, dass man ihn kaum noch sehen konnte. »Er ist wohl ziemlich beliebt …«
Lilli zog eine Grimasse. »Ja, stimmt. Aber außerhalb der Schule verfolgt ihn die Schafherde da zum Glück nicht.«
Wolke grinste, und Lilli grinste zurück.
»Von mir aus könnt ihr schon heute Nachmittag kommen«, sagte Wolke.
»Ja, gern!«, rief Lilli freudestrahlend und konnte es kaum erwarten.