Gerhard Roth
Orkus
Reise zu den Toten
Fischer e-books
Gerhard Roth, 1942 in Graz geboren, lebt als freier Schriftsteller in Wien und der Südsteiermark. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke, darunter den 1991 abgeschlossenen siebenbändigen Zyklus »Die Archive des Schweigens«. Seitdem erschienen die Romane »Der See«, »Der Plan«, »Der Berg«, »Der Strom« und »Das Labyrinth«, der autobiographische Band »Das Alphabet der Zeit« sowie die literarischen Essays über Wien »Die Stadt« – ein zweiter Zyklus, der im Frühjahr 2011 mit dem Band »Orkus« abgeschlossen wurde.
32 Jahre lang hat Gerhard Roth an seinen beiden Romanzyklen »Die Archive des Schweigens« und »Orkus« gearbeitet – ein einzigartiger Kosmos der Literatur und des Denkens, der neben klassischen Romanen auch dokumentarische und essayistische Bände umfasst.
Der Band »Orkus« ist der Schlussstein dieser monumentalen Arbeit und nicht überbietbarer Endpunkt: ein autobiographischer Roman, in dem das Leben des Autors mit dem seiner Figuren auf faszinierende Weise verschmilzt. »Orkus« ist die Essenz eines Schriftstellerlebens: ein Buch über das Wesen des Menschen, die Wahrnehmung der Welt, die Suche nach einer anderen Wirklichkeit. Eine lange Reise zu den Toten und der grandiose Versuch, das Leben zu verstehen, ohne es zu zerstören.
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg / Imke Schuppenhauer
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
© 2011 by Gerhard Roth
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-401324-4
Eben noch hatte eine Papierschnitzelmaschine weiße und schwarze Flocken aus Buchstaben in mein Gehirn geschneit, die sich zu seltsamen Erinnerungsbildern zusammenfügten, als habe sie ein magischer Wirbelwind geordnet. Plötzlich aber hatten sich die Partikel wieder in ein Geflimmer verwandelt, das einem schnell zurückspulenden Film glich, den ich jedoch auf der Leinwand meiner Vorstellungskraft nicht entziffern konnte, da ich durch die Geschwindigkeit, mit der er rückwärts ablief, nur »hell-dunkel« und »Bewegung« zu unterscheiden vermochte: Wolken von Licht- und Schattenplankton, von Elektronen, mikroskopischen Bildchen, die im Zeitraffer abgespielt wurden und die allmählich von mir als Erythrozyten, Zellen und Synapsen erkannt wurden, als Muskelfasern, Hautschuppen, Kapillaren, welche langsam Farbe annahmen und jetzt in Zeitlupe vor meinen Augen erschienen und schließlich ganz zum Stillstand kamen … Ich saß als Medizinstudent vor dem Mikroskop und starrte im histologischen Praktikum – das Lehrbuch vor mir aufgeschlagen – auf das Präparat (graue Gehirnzellen) und prägte mir ihre Form ein …
Heute betrachte ich diese Biographien, die ich damals gelesen habe, wie die Identitätsausweise aus meiner Universitätszeit – das Studienbuch, die zerfledderte Straßenbahnmonatskarte, den abgelaufenen und überstempelten Pass – oder wie Gegenstände aus meiner Schreibtischlade, die die Zeit überdauert haben: den alten Haustorschlüssel, die Pelikanfüllfeder, die Schwarzweißfotografien meiner Familie, den gläsernen Briefbeschwerer, das rote Schweizer Messer. Mein Ich, das ich damals war, ist hingegen verschwunden.
Während ich dies festhalte, kapituliere ich vor dem alten Problem der Linearität des Schreibens gegenüber der Gleichzeitigkeit, aus der die Wirklichkeit besteht, und dem zeitlichen Chaos in meinem Kopf, das die wunderbare Anarchie des Gesprächs hervorbringt.
Pasolini selbst hatte zu seinem Film gesagt: »Die Mächtigen sind immer Sadisten, und wer Macht erdulden muss, dessen Körper wird zur Sache, zur Ware.«
wasserlösliches Anilin
Als Erwachsener erfuhr ich, dass es die Sonate für zwei Klaviere in D-Dur, Köchelverzeichnis 448 von Mozart war.
mit riesigen Händen, großem Gesicht und Teilen, die beim Kauen und Sprechen die Kieferbewegungen steuern – ein Zwerg mit einem Kopf und Händen wie von Elephantiasis befallen.
Ich versuchte damals unter dem Eindruck von Frazers »Der goldene Zweig« etwas zu schreiben, das das Unbewusste in meinem Kopf zum Vorschein bringen sollte. Angeregt durch das Kapitel »Das Töten des göttlichen Tieres«, Paragraph 1 »Das Töten des heiligen Bussards«, wollte ich mich den Prozessen in meinem Kopf stellen, die die Lektüre ausgelöst hatte. Erst zwanzig Jahre später gelang es mir – ich lebte in diesem Winter weitgehend alleine in einem verschneiten Haus auf dem Land –, das Projekt zu verwirklichen.
Dante beschreibt die Hölle als einen Trichter, der an ein antikes Amphitheater erinnert. Der Trichter hat sich beim Sturz Luzifers aus dem Kristallhimmel in den Mittelpunkt der Erde gebildet. Gleichzeitig wurde der Läuterungsberg auf der südlichen Erdhalbkugel aus dem Weltmeer herausgetrieben. Der Höllentrichter, über dem sich die Erde wieder geschlossen hat, besteht aus neun konzentrischen Terrassen, die steil zueinander abstürzen, den Kreisen. Am obersten Teil befindet sich die Vorhölle, die von den Seelen der »Feigherzigen« bevölkert ist. Sie müssen nackt hinter einer Fahne herlaufen, auf der Flucht vor Wespen und Mücken, die sie blutig stechen. Es ist die Strafe dafür, dass sie »ohne Schand’ und ohne Lob« gelebt haben. Darunter fließt der Fluss Acheron, der Fluss der »Freudlosigkeit«, hinter dem sich der Limbus, der erste Höllenkreis, erstreckt. Dort halten sich die Ungetauften auf. Im zweiten Höllenkreis, an dessen Eingang der Totenrichter Minos seines Amtes waltet, ziehen – in einem ewigen Wirbelsturm – die Seelen, die sich »der Fleischeslust« hingegeben haben, umher. Im dritten Kreis begegnet Dante den von Cerberus, dem Höllenhund, gepeinigten und zerfleischten Schlemmern, die bei Schnee und Regen im Schlamm liegen, während im vierten Höllenkreis Geizige und Verschwender sich gegenseitig ihre Schuld vorhalten und schwere Lasten schleppen müssen. Der fünfte Höllenkreis besteht aus dem stinkenden Sumpf des Styx, darin die Zornigen, Neidischen, Hochmütigen und Verdrossenen schmachten. Im sechsten Höllenkreis leiden die Ketzer und die Trägen in glühenden Steinsärgen. Der siebente ist in drei Ringe unterteilt. Im ersten büßen in einem kochenden Blutsee und von Kentauren bedroht die Frevler »wider den Nächsten«. Im zweiten Ring halten sich die Selbstmörder, die Frevler wider sich selbst und die »tollen Vergeuder« auf. Die Selbstmörder sind in Bäume verwandelt worden und werden von Harpyen gequält, die Vergeuder indessen von einer Meute rasender Hunde. Der dritte Ring wird von den Gotteslästerern, den Sodomiten und Wucherern bevölkert, auf die ein ewiger Flammenregen fällt. Die Gotteslästerer müssen auf glühendem Sand liegen, während die Sodomiten rastlos darüber hinwegwandern.
Der achte Höllenkreis, in den Dante und Vergil auf dem Rücken des Drachen Geryon segeln, trägt die Bezeichnung »Malebolge«, »Graben«, und ist wiederum in zehn »Bolgen« eingeteilt, darin sind die Betrüger, die Kuppler und Verführer gefangen, die von Teufeln vorwärtsgepeitscht werden, waten die Schmeichler und Dirnen im Kot, werden jene, welche sich der Simonie, des Handels mit Sakramenten und anderen geistlichen Dingen schuldig gemacht haben, mit dem Kopf nach unten in Röhren gesteckt und mit Feuer gepeinigt, wandeln Wahrsager und Zauberer mit verdrehten Köpfen, leiden all jene, die öffentliche Ämter verschachert haben, in siedendem Pech, müssen Heuchler vergoldete Kutten aus Blei tragen und falsche Ratgeber ein Flammenkleid, werden Diebe, die sich gegenseitig die Gestalt stehlen, in Schlangen verwandelt und umgekehrt, werden Zwietrachtstifter mit dem Schwert verstümmelt und Fälscher und Falschmünzer mit ekelerregenden Krankheiten bestraft.
Im neunten Höllenkreis stecken die Verräter im Eis, im ersten der vier Teile, der »Cainia« (nach Kain), die Verräter an den eigenen Verwandten, im zweiten, der »Antenora« (nach dem Verräter Trojas, Antenor), die Verräter am Vaterland, im dritten, der »Tolemäa-Grube« (nach dem Verrat des ägyptischen Königs Ptolemäus an Pompejus), die Verräter an Gastfreunden und im vierten, der »Giudecca« (die »Judenhölle«), die Verräter an den Wohltätern.
Ich hatte damals schon das für mein Medizinstudium vorgesehene Physik-Rigorosum abgelegt und konnte ihm daher folgen, und der Wortlaut tauchte vielleicht deshalb in meiner Erinnerung auf, weil ich im Rechenzentrum Graz einen Techniker kennengelernt hatte, der wie ich Gerhard Roth hieß und ein ausgebildeter Physiker war. Er liebte es, luzide physikalisch-philosophische Erklärungen abzugeben, die er gerne mit Sarkasmus würzte, und eines seiner Spezialgebiete war die Thermodynamik gewesen.
Ebenso erwartungsvoll stand ich 1999 vor Freuds Haus in 20 Maresfield Gardens, das er nach seiner Emigration in London bewohnt hatte und das inzwischen auch ein Museum geworden war. Ich erinnere mich, wie ich dort an der Behandlungscouch, die mit einem Perserteppich bedeckt war, vor dem orientalischen Wandbehang stand und die Ornamente bestaunte, in die ich mich so weit verlor, dass mir alles um mich herum unwirklich erschien. Ich dachte an die Märchen aus »Tausend und eine Nacht« und hoffte, ich würde mich im nächsten Augenblick mit den Zauberteppichen und der Zaubercouch mitsamt dem Zauber-Wandbehang in die Lüfte erheben. Auch die wunderbaren archäologischen Figuren, der von Freud entworfene, eigenwillige Stuhl, der einer archaischen sitzenden Figur gleicht, und die alten Bilder an den Wänden suggerierten mir, mich in der Behausung eines großen Magiers zu befinden.
Beschreibungen der Hölle. Raul Hilberg: »Die Vernichtung der europäischen Juden«, drei Bände, Raul Hilberg: »Täter, Opfer, Zuschauer«, Raul Hilberg: »Unerbetene Erinnerung. Der Weg eines Holocaust-Forschers«. Gerhard Schoenberner: »Der gelbe Stern. Die Judenverfolgung in Europa 1933–1945«. Hannah Arendt: »Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen«. Gustave M. Gilbert: »Nürnberger Tagebuch. Gespräche der Angeklagten mit dem Gerichtspsychologen«. Joe J. Heydecker und Johannes Leeb: »Der Nürnberger Prozess«, zwei Bände. Jean Claude Pressac: »Die Krematorien von Auschwitz. Die Technik des Massenmordes«. Hans Maršálek: »Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen«.
Anne Frank: »Tagebuch«. Ana Novac: »Die schönen Tage meiner Jugend«. Primo Levi: »Ist das ein Mensch?«, »Atempause« und »Das periodische System«. Imre Kertész: »Roman eines Schicksallosen«. H. G. Adler: »Theresienstadt 1941–45. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft«. »Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen des Rudolf Heß, hrsg. v. Martin Broszat«. Charlotte Beradt: »Das dritte Reich des Traums«. Viktor Klemperer: »Ich will Zeugnis ablegen … Tagebücher 1933–1945«. J. L. Borges: »Deutsches Requiem«. Zoran-Mušič-Kataloge: Albertina 1992, Schömerhaus 1999. Dokumentarfilm: Claude Lanzmann: »Shoa«, 1985, 503 Min. Spielfilm: Ernst Lubitsch: »Sein oder Nichtsein«.
Ich las nach der Beendigung meines Romanzyklus »Die Archive des Schweigens«, Tolstoi habe kurz vor seinem Tod erklärt, dass er nicht an einen Gott glaube, der die Welt erschaffen habe, sondern an einen, der im Bewusstsein der Menschen lebe. Ich verstand sofort, dass er nur das Unbewusste gemeint haben konnte, nur kannte man diesen Begriff zu seiner Zeit noch nicht. Und es fiel mir ein, dass Gott und Teufel, das Religiöse schlechthin, nichts anderes waren als das Unbewusste mit seinen Untiefen. Im Nationalsozialismus, überlegte ich, hatte sich das Bewusstsein in den Dienst des Unbewussten gestellt – der Nationalsozialismus, so meine Hypothese, war eine Ideologie gewesen, bei der das Bewusste der beredte und verräterische Anwalt des Unbewussten gewesen war. Im Unterschied zum Religiösen, das zwar einem ähnlichen Mechanismus unterliegt, aber auf das Jenseits reflektiert, hatte der Nationalsozialismus Himmel und Hölle auf die Erde verlegt – wobei der Himmel eine obskure Phantasie blieb, die Hölle aber Wirklichkeit wurde. Eines der Merkmale dieser beiden Ideologien des Unbewussten, die das Bewusstsein in ihren Dienst nehmen, ist die Vereinigung von Pathos, Ritual und Ordnung unter dem Zwang eines selbsterzeugten Verfolgungswahns. Diese vier Elemente,: Pathos, Ritual, Ordnung und Paranoia, finden sich in allem, was der Nationalsozialismus und die katholische Kirche zu dieser Zeit repräsentierten.
Aus den Zeitungen erfuhr ich später, dass er 2004 gestorben war.
Noa Noa bedeutet »duftendes Land«
Frankreich hat diese Versuche erst 1996, also nach meinem Gespräch mit Sonnenberg, eingestellt.
dt. Die Rückkehr der Erinnerung
dt. Besondere Angelegenheiten
Sah im Botticelli-Buch auch ein »Vorblatt zur Divina Commedia« um 1420 von Bartolomeo Fruosino. Große Ähnlichkeit mit dem Fresko von di Cione, nur sind die Grausamkeiten noch detailgenauer ausgeführt.
Sonnenberg nannte das »Haus der Künstler« und den Hügel, auf dem das Landessonderkrankenhaus Gugging angesiedelt war, den »Stillen Ozean«.
»Jetzt steigen zu der düstern Welt wir nieder«,
Begann zu mir ganz totenbleich der Dichter,
»Ich selber geh’ voraus, du wirst mir folgen!«
Und ich, der seiner Farbe inne worden,
Sprach: »Wie komm ich hinab, wenn du erschauderst,
Der du mich sonst ermutigt, wenn ich zagte?«
Und er zu mir: »Es malt die Angst der Seelen
Dort unten wohl mir des Erbarmens Züge
Aufs Angesicht, wo Furcht du glaubst zu lesen.
Wohlan denn; fort! Uns treibt des Weges Länge!«
Dante, Die Göttliche Komödie
Die Hölle, Vierter Gesang
»Sonst wollte ich zeigen, wie sich an das Ende der Anfang knüpft, wie nämlich der Eros mit dem Tode in einem geheimen Zusammenhange steht, vermöge dessen der Orkus (…) also nicht nur der Nehmende, sondern auch der Gebende und der Tod das große Réservoir des Lebens ist. Daher also, daher, aus dem Orkus, kommt alles, und dort ist schon jedes gewesen, das jetzt Leben hat …«
Arthur Schopenhauer, Aphorismen zur Lebensweisheit
[1]
Ich war dreißig Jahre alt, als ich entdeckte, dass mein Leben eintönig und flach geworden war. Es wies nicht mehr die Dichte, den Schrecken, die Verzweiflung auf wie in meinen früheren Jahren, die ich fast vergessen hatte: In meiner Erinnerung bestanden sie aus düsteren Wolkenbildern, Blutflecken auf zerfleddertem Verbandsmull, aus Mauern, von denen Verputz abbröckelt, Fischschuppen, Kanälen voll Scheiße, Hühnerfedern, Tintenklecksen, gelben Bleistiften, entzündetem Zahnfleisch, Stille nach der Angst, erfundenen Ameisen, rostiger Luft, blühenden Briefmarken, aus bleichen Spermien, Erbrochenem, den Träumen von Embryos, gehäkelten Hakenkreuzen, den Rillen von Schellacks, aus von Adern durchzogenen Augäpfeln, aus obszönen Heiligenbildchen, vergifteten Buchstaben, der Sprache von Molekülen, der Urzeit der Farben, Waschbecken voller Ziffern, aus Mosaiken aufgespießter Insekten, orthopädischen Schuheinlagen, zerrissenen Fotografien, verstreuten Kinderliedern, Landkarten des Nonsens, dem Vaterunser der Küchenkredenz, aus verwesenden Kanarienvögeln, glucksenden Flaschenbürsten, Knochenpulver, Amok laufenden Eisverkäufern, Betten aus Gusseisen, der Einsamkeit des Hinterhauses, unerwarteten Geistesblitzen, künstlichen Würmern, aus der Moral der Tyrannen, kränkelnden Tagen und tanzenden Buchstaben, aus nächtlichen Gewässern, sprechenden Teppichen, dem Zischen des Bügeleisens, aus Reisen in den Handlinien, aus finsterem Zorn und schwebenden Walen, aus Sporen, Papierflugzeugen und Gemüsegärten, aus Dreier-Zigaretten und pfeifenden Zügen, aus schmutzigen Kragen, aus Katzen, aus Vegetariern, den Giftspinnen der Lügen, Gebissen in Trinkgläsern, aus Schweißflecken, Verstopfung, Provinzpolitikern, hölzernen Aborten, Requisiten der Eitelkeit, Gaunern, klatschenden Ehepaaren, Fieberblasen, Kapiteln der Gemeinheit und abstrakten Gemälden von Gefühlen, aus Qualen, Salz und Altären, Monstranzen, Pfingstrosen und Wundsalben, kalligraphischen Schulheften, Schachfiguren, Ellipsen, hektischen Trickfilmen, Wassergras, kindlichen Märtyrern, Echos von Stimmen, fröhlichen Gliederschmerzen, aus Küssen, die nach Seeigeln schmeckten, spitzen Kieselsteinen, schlaflosen Spiegeln, aus monotonen Würfelspielen, aus Schlachthöfen der Armut, aus stummen Telegrammen und einer endlosen Flut unzusammenhängender Bilder, Sätze, Geräusche und Gerüche.
Mein Gehirn war zu einer Müllhalde der Erinnerungen geworden, die sich transformierten, miteinander verbanden oder in Luft auflösten. Manchmal zogen Gerüche über die versickernde Welt, es roch nach dem Kampfer der Schulhefte, dem Weihrauch der Blätter, dem Naphthalin von Vogelkot, dem Persil der Kuckucksuhren, es roch nach saurem Fisch, sobald der Donauwalzer im Radio spielte, nach Tod beim Flug der Vögel, nach Bensdorpschokolade am 1. Mai, nach Malz im Frühling, es roch nach Notenschlüsseln in den Schulferien, und es stank nach nassen Hunden am Morgen, nach verbrannter Milch während der Beichte und nach Mäusekot am Geburtstag, es roch nach Bilderbüchern, als Omi starb, nach Karies beim »Mensch ärgere dich nicht!«-Spiel, nach Schaukelpferden in der Schule, nach Straßenbahn, wenn wir die Zeitung aufschlugen, und nach Kork, sobald wir das Haus betraten.
Aber die Buchstaben, die nach Jod rochen, die Vokale, Konsonanten, die Verben und Substantive, die Adjektive und Pronomen hatten sich verflüchtigt, die Sätze, Beistriche, Ruf- und Fragezeichen, die Strichpunkte und Doppelpunkte waren ebenso verschwunden wie Mutters Nähmaschine, die Teller mit der Buchstabensuppe, die Urinflecken mitsamt den Unterhosen, das Stethoskop meines Vaters, die Vogelmotive mit der Blumenvase, der Asthmainhalator, der Gugelhupf und die sozialdemokratische »Neue Zeit«. Meine Erinnerung an die Kindheit war wie eine Litfaßsäule, die von den bunten Schnipseln abgerissener Plakate übersät ist und wie im Traum in der Luft schwebt, umspült von Gerüchen. Aber da war noch etwas, das ich aus der Vergangenheit kannte und das den Zerfallsprozess überdauert hatte: meine Neugierde auf das Unglück.
Solange ich denken kann, zog mich das Unglück an – der Tod, der Selbstmord, das Verbrechen, der Hass, der Wahnsinn. Was diese Eigenschaft betrifft, bin ich nie erwachsen geworden, denn ich gebe noch immer meiner Neugierde nach und erschrecke dabei wie eh und je, ohne dass ich davon lassen kann. Im Unglück sehe ich das eigentliche Leben. Ich durchforschte schon in meiner Jugend die Biographien von Malern und Dichtern, Komponisten und Philosophen nach Unglücksfällen, las später bereits aus Gewohnheit zuerst die Abschnitte über deren Krankheiten und Tod, und je mehr sie gelitten hatten, desto wahrhaftiger erschienen mir nachträglich ihre Existenz und ihre Kunst. Ich hielt das Leben für eine Irrfahrt in den Schmerz, an den Rand des Todes und des Wahnsinns.[2] In den Romanen und Erzählungen, die ich als Student las, suchte ich die Rebellion, das Aufbegehren – die in meinem eigenen Leben fehlten –, überhaupt alles Fehlende: Beischlaf und Unabhängigkeit, Spiritualität und urbane Abenteuerlichkeit, mit einem Wort die Intensität der Daseinserfahrung. Ich war auch auf der Suche nach Einsamkeit und Leiden und einem anderen Blick auf die Welt, nach der Auflösung gewohnter Zusammenhänge und dem Fremden – und vor allem nach meiner eigenen Sprache.
Bald schon bekam ich die zweibändige, in grobes gelbes Leinen gebundene Ausgabe der Briefe von Vincent van Gogh in die Hände und fasste bei der Lektüre den Entschluss, unabhängig von meinem Alltag ein zweites Leben zu führen. Nach außen würde ich unauffällig bleiben, aber mein wahres Ich würde ich im Geheimen, in meinen Gedanken ausleben, auf der Suche nach dem Wahn, die zugleich auch eine Suche nach dem verlorenen Paradies ist. Van Gogh, begriff ich erst später, beschrieb und malte nicht, was der Wahn ihm eingab, sondern seine Suche nach dem Paradies, die ihn in die Umnachtung führte. Was ich in den Briefen las, war mir unbekannt, aber nicht fremd – jeder Satz, jede Beobachtung erschien mir im Gegenteil wie eine Bestätigung dessen, was ich nicht gewusst, aber geahnt hatte.[3] Van Gogh, erschien es mir damals, hatte das Unglück gesucht, oder es hatte ihn gefunden, weil er es begehrt hatte, um auf der Erde das Paradiesische zu entdecken und mehr und mehr vom Leben zu spüren – so viel er nur ertragen konnte. Wer phantasiert in seiner Kindheit und Jugend nicht dramatische Wendungen herbei, in denen das Unglück zu Glück wird? Wer begeistert sich nicht daran, wenn seine Verzweiflung zu Hass wird? Selbst das eigene Sterben vermittelt in der Vorstellung eine – wenn auch verzerrte – Intensität von Lebenserfahrung, die der monotone Alltag verweigert.
Viele Jahre später sah ich im Ägyptischen Museum in Kairo auf einen Sarg, auf dessen Bodenbrettern ein Wegeplan für die verstorbene Seele gemalt war, der ihr zur Orientierung im Jenseits dienen sollte, ein buntes, naives Gemälde, das meinen jugendlichen Gedanken ähnelte wie die Zeichnungen und Gemälde, die Wörter und Sätze in van Goghs Briefen.
Van Gogh ist ein Künstler, der den Zauber des Alltäglichen zum Vorschein bringt. Noch im Gewöhnlichsten macht er einen Funken der Schöpfung sichtbar. Gerade dort, begriff ich, wo man zur Erklärung seiner Bilder den Wahn zu Hilfe nahm: in der Darstellung des Sternenhimmels, der Felder, der Zypressen, ja sogar der Möbel in einem Zimmer. Vor allem aber mit der Farbe Gelb brachte er das verborgene Leben der Atome und Moleküle in den Dingen und Pflanzen zum Vorschein, die innere, für das Auge unsichtbare Bewegung im Festen, seine pulsierende Struktur, seine fortlaufende Veränderung in der Zeit. Van Goghs Bilder sind wie stehende Fische in durchsichtigem Gewässer oder mit offenen Augen träumende Menschen. Damals dachte ich, dass nur ein Wahnsinniger, ein Selbstmörder, ein Verfolgter die Welt so sehen und verstehen könne. Ich wünschte mir, wenn ich in den beiden Briefbänden las und die Abbildungen betrachtete, dass die Wände meines Zimmers atmeten und ihre Farbe mit jedem Luftholen veränderten oder dass sich die Anatomie von Mensch, Tier und Pflanze und die physiologischen Abläufe in ihrem Inneren vor meinen Augen entfalteten und ich die unsichtbare Wirklichkeit zusammen mit der sichtbaren erkennen könnte. Ich stellte mir eine eigene irrationale Welt vor, keine phantastische, sondern eine, die ihre Geheimnisse offenbarte. Nach meiner Rigorosumsprüfung in Physik dachte ich an den »Eddington’schen Tisch«, der für den Wissenschaftler aus beweglichen Molekülen und Atomen bestand. Und nachdem ich das menschliche Gehirn studiert hatte, versuchte ich – wenn ich mit jemandem sprach – mir den Denkprozess in allen Einzelheiten vorzustellen, und ich grübelte darüber nach, wie sich meine Erinnerungen veränderten oder aus meinem Gedächtnis verschwanden, als seien sie fotografische Bilder, die dem Sonnenlicht ausgesetzt, oder Tonbänder, die mit einem Magneten in Berührung gekommen waren. Doch ging es mir nicht um wissenschaftliches Verständnis, sondern um eine poetische Zusammenschau verschiedener Sichtweisen, die den Dingen und Lebewesen erst ihre Geheimnisse und Einzigartigkeit verlieh. Es waren Ahnungen, keine Gewissheiten, mit denen ich mich beschäftigte. Van Goghs Bildern wohnte etwas Religiöses inne, sie schienen zu beweisen, dass die Schöpfung etwas Heiliges war, das sich dem Verstand nicht offenbarte. Er unterschied nicht zwischen Wichtigem und Nebensächlichem, nicht zwischen Schönem und Hässlichem, sondern vermittelte die Magie, die dem Nebensächlichen, dem Unauffälligen, dem Banalen innewohnt. Das traf mich, wie man sagt, mitten ins Herz und weckte etwas in mir, das ich schon gewusst, aber noch nicht gedacht hatte. Das Flimmern der Welt war mir zwar schon durch die Bilder der Impressionisten bekannt gewesen – vor allem durch Monet –, aber niemand hat es so existentiell und gleichzeitig rätselhaft gemalt wie van Gogh. Besonders faszinierten mich seine Aufenthalte in den Irrenhäusern von Auvers und Saint-Rémy, und ich empfand eine geheime Sehnsucht nach dem Wahn und der Gedankenfreiheit der Irren, von der ich bald schon wusste, dass es sie nicht gab und dass die Originalität, die mir auffiel, das Ergebnis innerer Zwänge war. Auch wenn ich mit den Jahren mehr und mehr Einblick in das Leben von Geisteskranken gewann, so gab und gibt es doch immer noch Momente der vorbehaltlosen Bewunderung, auch wenn ich sie mir nicht mehr eingestehen mag. Diese romantische Vorstellung war und ist der Antrieb für mein nie nachlassendes Interesse an ihnen, und es war mir oft, als würde ich einen tiefen Blick in das eigene Unbewusste werfen und nicht in das von sogenannten Narren. Das Unbewusste der Patienten, denke ich mir, hat durch einen krankhaften Prozess die Oberhand über ihr Bewusstsein gewonnen, so dass sie mit offenen Augen traumwandeln wie die von van Gogh Portraitierten oder er selbst auf seinen Bildern. Wenn ich glaubte, einen Blick in das Unbewusste zu werfen, hatte ich auch das Gefühl, im nächsten Moment Gedanken lesen zu können – ein weiterer durchaus lächerlicher Irrtum, den ich nur festhalte, um Einblick in meine eigenen Gedanken zu geben. So wie man in Gesellschaft einer Hauskatze oder eines Hundes, der sein Dasein mit einem teilt, immer wieder das Gefühl hat, diese würden sogleich zu sprechen anfangen, so nahe wähnte ich mich auch dem Zeitpunkt, endlich die Gedanken von Menschen lesen zu können. Natürlich war es ein Glaube, den mir mein Verstand verbat, doch gab es Augenblicke, in denen ich schon vorher wusste, was mir ein Mensch später sagen würde oder wie sich eine Situation weiterentwickelte. Das nahm ich immer mit einem Gefühl der Irritation wahr.
Ich war fest davon überzeugt, dass die Dinge – wie in van Goghs Bildern – lebten, aber ich erfuhr die Bestätigung meiner These nur in Ansätzen. Selbstverständlich hielt ich mich nicht für verrückt, ich vermutete allerdings, dass die meisten Menschen diese Eigenschaft besaßen, aber unterdrückten, weil sie Angst davor hatten. Erst während meiner Erkrankung an Depressionen im Alter von fünfzig Jahren erfuhr ich die lang gesuchte und erahnte Welt selbst und das Grauen, das damit verbunden ist. Ich lag ausgestreckt auf meinem Bett – jeder noch so unbedeutende Gedanke kostete mich Mühe und erschöpfte mich. In meinem Zustand der Trostlosigkeit und bald auch der Hoffnungslosigkeit erschien mir alles leer und sinnlos. Aber die Falten meiner Decke, bildete ich mir ein, die Maserung des Parkettbodens, das Muster der Tapeten, meine Fingernägel hatten plötzlich eine Bedeutung, die ich vergeblich zu enträtseln suchte. Der Gedanke, dass diese Dinge auch anders sein könnten, als sie offensichtlich waren, bestürzte mich damals, denn er war mit dem Verlust der Selbstverständlichkeit verbunden. Die gesuchte Bedeutung bezog ich allerdings nicht auf mich, sondern ich erfuhr, dass es Zusammenhänge gab, die ich nicht begriff, und bildete mir ein, dass mich die Dingwelt deshalb verhöhnte. Durch das angelehnte Fenster drang ein aufdringlicher Küchengeruch in das Zimmer und verband sich mit dem Schuh, den ich zwischen zwei Sesselbeinen erblickte, der Spiegelung des Raums in der weißen Kugellampe über meinem Kopf, einem Stapel Bücher auf dem Tisch, von denen ich nur die Rücken sah, verband sich mit dem Gasheizkörper, dem Titelblatt des Magazins »Der Spiegel«, das mir vorkam wie eine Nachricht der Außenwelt, und einigen Seiten meines Manuskriptes, an dem ich gearbeitet hatte und von dem ein Schriftwirbel ausging, der gleich darauf in sich zusammenbrach – ein Massengrab der Wörter und Sätze, wie ich dachte. Ich bewegte meinen Kopf nicht und glotzte immer nur die gleichen Dinge an, die sich nicht veränderten, aber etwas bedeuteten, das mir lange verschlossen blieb, bis ich begriff, dass sie mein Ende verkündeten. Es war eine nüchterne Erkenntnis, ohne Schrecken, ohne Gefühle – ich würde zu einem Ding werden, wenn ich es nicht schon war. Und wirklich war mein Kopf so müde, dass ich meinen Körper nicht mehr spürte, obwohl ich meine Beine, den Brustkorb unter dem Hemd und meine Hände sah, die aber nicht zu mir gehörten. Ich dachte an Selbstmord, nicht um die Qual zu beenden, sondern weil es das Naheliegende war. Ich verwarf aber jede Methode, die mir einfiel, weil sie mit Anstrengung verbunden war, vermutlich auch, weil ich nicht den Mut aufbrachte, es zu tun. Van Gogh hatte in einem solchen Augenblick zur Pistole gegriffen, nehme ich an, aber ich bin nicht davon überzeugt, dass er den Tod suchte, sondern dass er – neben seinen existentiellen Problemen, die ihm ausweglos erschienen – vielleicht verwirrt war über die Zusammenhänge der Dinge, die er beim Malen entdeckt hatte, erschrocken und voller Zweifel über das, was er auf der Leinwand vor sich sah, über die Offenbarungen seines Unbewussten, das er nicht kannte, obwohl er sich ihm anvertraut hatte. Er hatte, vermutete ich, sich in den Kopf geschossen wie ein Kind, das mit einer Pistole spielt und neugierig ist, was geschieht, wenn es abdrückt. Zumindest aber, dachte ich weiter, war ebenso viel Neugierde und eine Form von Spiel dabei gewesen wie der dringliche Wunsch zu sterben. Die Sucht, das wahre Leben zu spüren, das verlorene Paradies zu entdecken, hatte ihn immer auswegloser in das Elend geführt. Aber wie stand es mit mir selbst? Ich spürte ja keine Verzweiflung, nur Kraftlosigkeit. Wie mein Körper zu einem Ding geworden war, war auch mein Denken langsam abgestorben und dinghafter geworden, dem Augenblick verhaftet, als sei ich ein Nussknacker aus Holz. Ich lag jetzt wirklich wie ein Ding in einer Spielzeuglade. Später verstand ich, wie so oft in meinem Leben, dass die Märchenwelt nur eine schlafende, vergessene Welt ist, die allmählich durch die Wissenschaft bestätigt wird: In der Mathematik und Physik, den Forschungen der Psychiatrie, der Pharmakologie und Biologie erwacht diese Märchenwelt und gewinnt eine neue Bedeutung, auch wenn die Begriffe, mit denen man sie beschreibt, andere geworden sind.
Ich hörte damals aber keine Tiere sprechen, sondern war in ein Objekt verwandelt und musste die banale Last der Sinnlosigkeit erfahren. Als ich wieder zu mir kam, nach Wochen und Monaten, in denen ich alles nur als Mühe empfunden hatte, selbst die geringsten und alltäglichsten Handgriffe, zweifelte ich daran, ob das, was ich erlebt hatte, überhaupt Wirklichkeit gewesen war. Andererseits war ich nicht mehr der, der ich vorher gewesen war, denn das Wissen um den Abgrund, der sich hinter meinem Rücken aufgetan hatte und in den ich fast gestürzt war, ließ mich von da an mitunter auch in Momenten der Freude die Bewegungslosigkeit und Einsamkeit spüren, denen ich ausgesetzt gewesen war. Nur zögernd konnte ich mich dazu entschließen, meine Erlebnisse als etwas zu betrachten, das zu meinem Leben gehörte, und sie schließlich als Daseinserfahrung aufzufassen, die ich nachträglich nicht missen wollte.
Ich beschreibe, fällt mir auf, nicht meine Suche nach dem Wahn, sondern meine lebenslange Kindheit, meine lebenslange Angst, meine zweite und unsichtbare Existenz, neben der sichtbaren. Das Lesen vor allem, aber auch das Kino, die Musik, Oper und Schauspiel beschäftigten mich ebenso wie mein Dasein in der sogenannten Wirklichkeit. Ich spaltete mich auf, lebte manchmal beide Ichs zugleich, das äußere und das innere, die Fassade und das, wie ich mir sagte, Eigentliche, das Ich und das Ich selbst – alles in allem nichts Ungewöhnliches. Das Ich in meinem Kopf lebte wie in einer Luftblase unter der Eisdecke eines dunklen Flusses. Der Sauerstoff war begrenzt, und es würde nur eine Frage der Zeit sein, bis auch ich zu Eis werden würde. Viel zu spät erkannte ich, dass es das größte Verhängnis ist, Erwartungen zu erfüllen und gleichzeitig zu hoffen, dass man seinem Schicksal entkommt.
Ich wollte vor allem die Zeit ausschalten, sie aus meinem Gedächtnis verbannen oder wenigstens sie zertrümmern, sie in die entgegengesetzte Richtung abspulen oder sie stillstehen lassen. Das gelang mir am besten beim Schreiben. Ich verwendete dafür ein fest gebundenes schwarzes Heft mit der Aufschrift »Abrechnungsbuch«, dessen Seiten wie ein Vokabelheft in drei Spalten unterteilt waren, die von roten Längsstrichen gebildet wurden. Es gehörte eigentlich meiner Mutter, aber sie hatte keine Verwendung dafür gehabt. Die Kolonnen waren für Soll, Haben und den Saldo vorgesehen, und ich dachte sofort: »Saldo mortale«, tödlicher Saldo, denn mir graut vor allem, was mit Buchhaltung zusammenhängt. Die Ähnlichkeit mit einem Vokabelheft und die Vorstellung einer Abrechnung, bei der es um jede Zahl ging, suggerierten mir, dass es auch beim Schreiben um jedes Wort ging, und ich wusste inzwischen, dass die Wörter ein Eigenleben führen. Ich fing beispielsweise mit dem Wort »GELB« an, weil mein Blick gerade auf die zweibändige Ausgabe der Briefe Vincent van Goghs fiel, und suchte dann nach einem Wort, das mit GELB in keinem Zusammenhang stand, wie STUNDE, und anschließend noch etwas, das von STUNDE unabhängig war, wie ADJEKTIVE: »Die gelbe Stunde der Adjektive.« Oder ich schrieb einfach Wörter auf, die mir durch den Kopf gingen: Schuhe, Aster, Migräne, Hund, Februar, Stalin, Münze, Kirschen, Suizid, Hochzeit, Urin, Parabel, Sarg, Landkarte, Melanzani, Nephritis, Hitze, Tapete, Buchstabe. Aus diesen Wörtern versuchte ich dann einen Text zu machen. Oft waren es auch nur Bezeichnungen von Gegenständen, die ich gerade im Zimmer oder durch das Fenster sah: Schirm, Fahrrad, Hut, Bett, Fotoapparat, Messer, Vorhang, Hamsun, Hunger. Doch beschreibe ich damit die Höhepunkte meines damaligen Alltags, nicht die langen Perioden der sogenannten Normalität, die ich erst jetzt, im Alter, zu schätzen gelernt habe, damals aber als Qual empfand. Einzig die Sexualität interessierte mich am Erwachsenenleben, alles andere war mir gleichgültig oder zuwider. Ich war nur ein unbedeutender, winziger Fisch in einem riesigen Schwarm, dessen Bewegung ich angestrengt mitmachte und der sich bemühte, sich nichts anmerken zu lassen, ja, den Eindruck erweckte, zu denen zu gehören, die die Richtung vorgaben. Ich wurde zu einem raffinierten und ebenso verlogenen Täuscher meiner Umwelt, einem Schauspieler des Alltags und wusste schließlich selbst nicht mehr, wann ich jemandem etwas vorgaukelte und wann ich bei mir selbst war. Schließlich wurden sogar meine Rolle ich selbst und ich selbst meine Rolle. Bruchlos integrierte ich beide Welten, meine Kopfwelt und meine Alltagswelt, in einen Bewusstseinsstrom, der zumeist ein Bewusstlosigkeitsstrom war oder eine ebenso elende wie vollkommen vorgeführte Schmierenkomödie. Ich war der, den ich gerade darstellte, und stellte gerade den dar, der ich war, ohne es aber wirklich zu sein. Meine Verlogenheit war so vollkommen, dass ich sie nicht mehr als Verlogenheit wahrnahm. Nur wenn ich vom Alltag verletzt wurde, wenn ich seelischen Schmerz oder Scham empfand, spürte ich, welche Kunstfigur ich war und dass ich Marionettenspieler und Marionette in einem war. Das bedeutet aber nicht, dass ich nicht glücklich sein konnte oder ohne Freude war, ich begreife erst jetzt, dass mein ganzes Leben und vermutlich auch das von anderen Menschen voller Widersprüche ist und dass in Widersprüchen zu leben ein möglicher Ausweg aus Bedrängnis ist. Mein zweites Leben hielt ich so geheim, dass ich es vor mir selbst verbarg, und oft genug war es mit Schuldgefühlen verbunden, weil ich mich verpflichtet glaubte, mein Medizinstudium abzuschließen und Geld zu verdienen. Ich schwankte zwischen Selbstverachtung und Selbstüberschätzung, weil ich nicht mehr wusste, was ich eigentlich wirklich wollte. In solchen Momenten der Unsicherheit und eines Gefühls der Ausweglosigkeit las ich am intensivsten. Ich stürzte mich kopflos in die zweite Welt, die voller geistiger Abenteuer war. Ich entdeckte damals, glaube ich, T. S. Eliots »The Waste Land«, Ezra Pounds »Pisaner Cantos« und beschäftigte mich mit James Joyce’ »Ulysses«. Die Werke dieser Autoren erschlossen sich mir sofort und vollständig über das Nichtverstehen, und ich musste erhebliche Mühe aufwenden, um ausdrücken zu können, was ich von den Büchern begriffen und in ihnen entdeckt hätte, ähnlich einem Musikliebhaber, der nichts von Kompositionslehre versteht, der nicht einmal Noten lesen kann, dem sich aber trotzdem eine Symphonie, ein Streichquartett, eine Oper erschließen. Ich suchte begierig nach weiteren Büchern, die ich mit meinem Denken nur schwer dechiffrieren konnte, so kam ich auf die »Göttliche Komödie« Dantes, die »Ilias« und die »Odyssee« Homers, auf Mallarmé, Laurence Sternes »Tristram Shandy« und später auf Konrad Bayers »Der sechste Sinn«, H. C. Artmanns »ein lilienweißer brief aus lincolnshire« und Oswald Wieners »die verbesserung von mitteleuropa«.
Das Buch, das ich jedoch seit meiner Kindheit las und verstand und das mir trotzdem immer ein Rätsel blieb, das ich besser und besser verstand und dessen Rätselhaftigkeit zugleich wuchs, war Herman Melvilles »Moby Dick«. An viele Bücher, die ich gelesen habe, habe ich nur noch eine bruchstückhafte Erinnerung. Bücher verblassen mit der Zeit im Kopf, es bleiben nur noch Fragmente erhalten: eine einzelne Szene, eine sprachliche Wendung, eine Beschreibung. Weniges prägte sich mir so tief ein, dass es Teil meines eigenen Lebens wurde: Malcolm Lowrys »Unter dem Vulkan«, Joseph Conrads »Herz der Finsternis«, Louis-Ferdinand Célines »Reise ans Ende der Nacht«, Günter Grass’ »Die Blechtrommel«, Gustave Flauberts Reisetagebücher, William Shakespeares »Hamlet«, »König Lear« und »Sturm«, Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« und Thomas Bernhards »Frost«, vor allem aber, wie gesagt, Herman Melvilles »Moby Dick«, die Jagd des von Rache besessenen Kapitäns Ahab auf den weißen Wal, der ihn zum Krüppel gemacht hat. Melville verwandelte Wirklichkeit in Literatur und lotete zugleich mit einer Abenteuer- und Seegeschichte das Unbewusste und die sprachlichen Möglichkeiten des Schreibens aus. Er schöpfte aus vielen Quellen, die dann in seinem Werk zu einem bewegten Meer zusammenflossen, und er brachte eigene Erfahrungen mit, fuhr er doch selbst als Matrose mehrfach auf Walfängern. 1840, als 21-Jähriger, desertierte er auf den Marquesas in Polynesien von der »Acushnet« und verfasste darüber sein erstes und erfolgreichstes Buch »Typee – der Mann, der unter Kannibalen lebte« und später die ebenfalls erfolgreiche Fortsetzung »Omoo«. In Arrowhead, als Nachbar des von ihm verehrten Nathaniel Hawthorne, schrieb er den 1851 erschienenen Roman »Moby Dick«. Er griff dabei, wie Tim Severin in »Der weiße Gott der Meere« festhält, auf den Erlebnisbericht des Ersten Maats der »Essex«, Owen Chase, zurück, der den Untergang des Walfängers im November 1820 schildert. Tausend Meilen vor der Küste von Chile hatte die Mannschaft versucht, einen Wal zu harpunieren, der jedoch das Schiff angriff und so schwer beschädigte, dass die zwanzig Mann Besatzung sich in drei Rettungsbooten in Sicherheit bringen mussten. Auf der abenteuerlichen Fahrt, die fünfzehn Mann das Leben kostete, kam es auch zu einem Fall von Kannibalismus, den Owen Chase in seinem Buch ausführlich schildert. 1842, an Bord der »Lima«, erzählte dessen 16-jähriger Sohn die Geschichte Herman Melville und gab ihm das Buch seines Vaters. 1810 war der weiße Wal vor der südchilenischen Insel Mocha zum ersten Mal gesehen worden und hatte deshalb den Namen »Mocha Dick« erhalten. Er griff im Lauf der folgenden Jahre zwei amerikanische und ein russisches Walfängerschiff an, die es auf ihn abgesehen hatten, und versenkte vor der japanischen Küste drei weitere Walfänger, außerdem zerbiss er mehrere Fangboote. Erst 1859 harpunierte ein schwedischer Walfänger vor Brasilien den berüchtigten »Mocha Dick«, er hatte ein Gewicht von hundert Tonnen und eine Länge von dreißig Metern. Sein Maul war acht Meter groß, und in seinem Rücken steckten neunzehn Harpunen. Die Farbe Weiß verlieh dem Seeungeheuer eine mythische Aura. Melville war sich dessen bewusst: Im Kapitel 42, das die Überschrift »Das Weiß des Wals« hat und das ich immer wieder gelesen habe, schreibt er: »Ist es so, dass das Weiß durch seine Unbestimmtheit die herzlose Leere und unermessliche Weite des Weltalls andeutet und uns so den Gedanken an Vernichtung wie einen Dolch in den Rücken stößt, wenn wir in die weißen Tiefen der Milchstraße blicken? Oder ist es so, dass das Weiß seinem Wesen nach nicht so sehr eine Farbe ist als vielmehr die sichtbare Abwesenheit von Farbe und zugleich die Summe aller Farben, dass deshalb eine weite Schneelandschaft dem Auge eine so öde Leere bietet, die doch voller Bedeutung ist – eine farblose Allfarbe der Gottlosigkeit, vor der wir zurückschrecken? Und wenn wir jene andere Theorie der Naturwissenschaftler bedenken, dass alle anderen Farben dieser Erde – alles stattliche oder anmutige Gepränge, die lieblichen Tönungen der Wolken und Wälder bei Sonnenuntergang fürwahr und der güldene Samt der Schmetterlinge und die Schmetterlingswangen junger Mädchen –, dass alles das nur arglistige Täuschungen sind, die den Dingen nicht wirklich innewohnen, sondern ihnen bloß von außen aufgetragen sind, so dass die ganze vergötterte Natur sich in Wahrheit anmalt wie die Hure, deren verlockende Reize nur das Leichenhaus in ihr verdecken; und wenn wir noch weiter gehen und bedenken, dass das geheimnisvolle Kosmetikum, das alle ihre Farben erzeugt – das große Prinzip des Lichts –, selbst für immer weiß und farblos bleibt, und, so es ohne Medium auf die Materie einwirkte, alles, ja sogar Tulpen und Rosen, mit seiner eigenen, leeren Blässe überzöge –, wenn wir das alles erwägen, so liegt das gichtbrüchige Universum vor uns wie ein Aussätziger, und wie ein mutwillig Reisender in Lappland, der sich weigert, farbige und färbende Augengläser zu tragen, so starrt sich der elendig Ungläubige blind, da er den Blick nicht vom endlosen weißen Leichentuche wenden kann, das alles, was er ringsum sieht, verhüllt. Und für all dies war der Albinowal das Symbol!«
Kannte, fragte ich mich, Melville Edgar Allan Poes »Arthur Gordon Pym«, der 1844 erschien? Die phantastische Reise des Titelhelden endet bekanntlich mit den chaotischen Tagebuchaufzeichnungen einer Fahrt in die Antarktis, zuletzt mit einem Boot auf dem Meer in dunkler Nacht: »Die Finsternis war immer dichter geworden«, schließt Poe, »und nur der Widerschein des Wassers auf dem weißen Riesenvorhang belebte flirrend die Meeresnacht. Viele ungeheure und gespenstisch bleiche Vögel flogen jetzt unablässig aus jenem Schleier hervor, und während sie sich den Blicken entzogen, schrillte noch ihr ewiges Teke-li! in unseren Ohren … Und jetzt rasten wir den Umarmungen des Wassersturzes entgegen, dort hin, wo sich eine Spalte auftat, um uns zu empfangen. Aber in diesem Augenblick erhob sich mitten in unserem Wege eine verhüllte, menschliche Gestalt, doch weit gewaltiger in allen Maßen als die Kinder der Erde. Und ihre Haut war von weißer Farbe, von der Farbe des leuchtendsten, blendendsten ewigen Schnees –––.«
Herman Melville dekonstruierte wie Laurence Sterne den Roman, er griff auf die Bibel, auf Homers »Odyssee« und Vergils »Aeneis«, Miltons »Das verlorene Paradies« und Thomas Hobbes’ »Leviathan« zurück (sogar auf den lächerlichen Schwulst von Cornelius Mathews Roman über prähistorische Einwohner, die ein Mastodon bis an die Meeresküste verfolgen). Er schuf einen literarischen Turm zu Babel aus verschiedenen Stilformen: etymologischen Erklärungen, einer naturwissenschaftlichen Abhandlung über Walkunde (Cetologie), Monologen, Gleichnissen, Prophezeiungen, Orakeln, Chroniken, Predigten, einem Chor der Seeleute und so weiter, und es gelang ihm, durch scheinbare Willkürlichkeit der Mittel eine ungeheure, eine kosmische Geschichte zu erzählen. Nur die Namensgebungen in seinem Roman weisen auf die universalen Zusammenhänge hin, die er in der Erzählung selbst aber penibel versteckte. Das Walfängerschiff, das zuletzt untergeht, heißt Pequod, nach einem von den Puritanern ausgerotteten Indianerstamm. Kapitän Ahab ist nach einer Figur aus dem Alten Testament benannt, dem König, der 850 v.Chr. Israel regierte und die phönizische Priesterin Isebel zur Frau nahm. Er ließ eigens für sie, da sie den Gott Baal anbetete, einen Tempel bauen, worauf der Prophet Elias das Land mit drei Jahren Dürre bestrafte. Ahab war ein Mörder, und er raubte Nabots Weinberg. Wie von Elias prophezeit, kam er bei einer Schlacht ums Leben, und Hunde leckten sein Blut vom Kampfwagen.
Ismael heißt der Erzähler im Roman, wie der Sohn Abrahams und der Magd Hagar Urbild des Ausgestoßenen, »ein Mensch wie ein Wildesel, seine Hand gegen alle, alle gegen ihn«. Als Sara, Abrahams Frau, später Isaak, den Stammvater der Israeliten, zur Welt bringt, überredet sie ihren Mann, Ismael mit Hagar in die Wüste zu schicken, wo sie aber von Gott gerettet werden. Mit Abraham errichtet Ismael später die Kaaba und wird Stammvater der zwölf Stämme der Araber. In »Moby Dick« ist Ismael ohne Vorgeschichte und Verbindung zu anderen Menschen. Sein späterer Freund, der polynesische Harpunier Quiqueg, ist eine Anspielung auf James Fenimore Coopers »Lederstrumpf«, dessen Hauptfigur Natty Bumppo mit dem Mohikaner Chingachgook befreundet ist, und der weiße Wal findet im biblischen »Leviathan« sein Gegenstück. Die Harpuniere wiederum stammen aus verschiedenen Teilen der Erde: Tashtego ist Indianer, Daggoo Afrikaner, Fedallah ein Parse und Feueranbeter, dessen 6-köpfige Mannschaft aus Malaien besteht, während die Steuermänner Starbuck, Stubb und Flask Weiße sind.
Melville befürchtete deshalb auch, dass sein Buch als »monströse Fabel betrachtet werden könnte oder – noch schlimmer und abscheulicher – als eine scheußliche und unerträgliche Allegorie«. Doch neigte er selbst zum Grübeln und vertiefte sich in metaphysische Fragen. D. H. Lawrence befand, »Moby Dick« sei eines der seltsamsten und erstaunlichsten Bücher der Welt. »Natürlich ist es ein Symbol – wofür? Ich bezweifle, dass Melville es gewusst hat«, schrieb er. Albert Camus meinte: »Das Kind wie der Weise finden darin, was sie brauchen.« Und Joseph Conrad, der wie Melville selbst Jahre auf See verbracht hatte, fand darin »keine einzige echte Zeile aus dem Seemannsleben«. Während William Faulkner und C. G. Jung es für das größte Buch der amerikanischen Literatur hielten, bemerkte der deutsche Übersetzer Friedhelm Rathjen, der Roman sei die literarische Wirrnis schlechthin. »Moby Dick« erschien zuerst in Amerika mit Hunderten Druckfehlern, war ein Misserfolg und wurde eingestampft. Melville starb als Zöllner 1891 im Alter von 72 Jahren. Sein Buch war bis zu seiner Wiederentdeckung 1920 vergessen. Alles, was man bei seinem Erscheinen kritisierte, macht heute seine ungebrochene Modernität aus. Es handelt von Angst, Hass, Gewalt und Einsamkeit, von Gefahr und Tod. »Das Böse ist die chronische Krankheit des Universums«, meinte Melville.
Marquis de Sade, Pier Paolo Pasolini
Ich las, wie andere Menschen wandern, Berge besteigen, sich in fremden Städten verirren oder von Kontinent zu Kontinent fliegen. Ich war abwechselnd ein Wanderer, ein Reisender und ein Flüchtling in einer fremden Welt. Mit wachsendem Unbehagen lernte ich »Justine«, »Juliette« und vor allem »Die 120 Tage von Sodom« des Marquis de Sade kennen, die alles, was ich an Grausamkeiten gelesen hatte oder mir ausdenken konnte, übertrafen. Und doch verließ mich dabei nie das Gefühl, tief in das Menschengehirn hineinzusehen. Ich erfuhr aus den Texten die menschliche Lust am Schänden, am Malträtieren, am Morden, am Erniedrigen, am Quälen, am Unterdrücken, und ich dachte an Hinrichtungen, Verbrennungen auf Scheiterhaufen, an Schlachtfelder, Konzentrationslager, an verwestes Fleisch, Bordelle, Kinderprostitution, an Erstickende, Schreiende, an Panik, an Folterkammern und Vergewaltigungen. Ich wusste, dass ich mich in das Universum des Bösen begeben hatte, und doch erweiterte es mein Denken. Nackte Menschen verwandelten sich in Fleisch, und die Geschlechtsteile hatten die Bedeutung von Götterstatuen angenommen, die angebetet oder geschändet wurden. Ich dachte an die Bilder von Hieronymus Bosch, die mir jetzt wie poetische Albträume vorkamen, an die Radierungen Goyas und die Höllenbilder Pieter Brueghel d.Ä., an George Grosz und Alfred Kubin. Mir war, als träumte ich die Orgien Caligulas und die Morde, die Gilles de Rais an Kindern verübte. Bis heute stößt mich die Lektüre ab, doch zugleich weiß ich, dass es die Begegnung mit der verborgenen, der anderen Seite im Menschen ist. Ich roch den unverwechselbaren Gestank von vergossenem Blut. Als ich Pasolinis Verfilmung »Salò oder die 120 Tage von Sodom« sah, fiel es mir schwer, das Dargestellte zu ertragen, obwohl ich den Ablauf der Ereignisse kannte.[4] Alle Schrecknisse sind in meinem Gedächtnis geblieben, dennoch oder vielleicht gerade darum wurde der Film für mich zusammen mit de Sades Büchern zu einem Schlüssel für die Macht der Triebe und gab mir zuletzt den Hinweis, auch mir selbst zu misstrauen.