Steve Tasane
Junge ohne Namen
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
FISCHER E-Books
Steve Tasane wurde in Leeds, England, geboren und einem breiteren Publikum zunächst durch seine Slam-Poetry bekannt, mit der er u.a. auf dem Glastonbury-Festival auftrat. »Junge ohne Namen« ist sein erstes Jugendbuch, das der Sohn eines Flüchtlings vor allem aus seiner Erfahrung einer zerrütteten Kindheit heraus schrieb. Das damalige Gefühl des Ausgeschlossenseins teilt er mit seinem Protagonisten.
Weitere Informationen finden sich auf www.fischerverlage.de
So nennen sie uns – Kind A, Kind E, Kind I usw. Weil wir nicht nachweisen können, wie wir richtig heißen. Ich bin Kind I.
I hat weder Familie noch Papiere, das Einzige, was er hat, ist ein Buchstabe, I – so wird er genannt. Er lebt in einem Camp für Flüchtlinge, und als minderjähriger unbegleiteter Flüchtling gehört er zu jenen, deren Zukunft am unsichersten ist. Doch die Kinder halten zusammen, und jeder Tag ist eine Zukunft für sich. Und I hofft. Auf einen neuen Namen oder sogar – einen Platz im Leben.
Steve Tasane erzählt die Geschichte von I ohne jeden Kitsch und Sentimentalität. I ist kein Opfer, er ist ein zehnjähriger Junge voller kindlichem Optimismus, welcher angesichts des großen Leids, das ihm widerfährt, den Leser gleichermaßen berührt wie aufrüttelt.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel ›Child I‹ bei Faber & Faber Limited, London
Text © Steve Tasane, 2018
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Karin Dahlhaus, MT Vreden
Graphik: freepik.com
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-5155-8
Heute ist der Schlamm trocken und verkrustet und weht in meine Augen. Heute habe ich auch Geburtstag. Ich glaube, ich habe heute Geburtstag. Ich habe einen der Erwachsenen nach dem Datum gefragt. »Ist heute der dritte Juli?«, habe ich gefragt. »So in etwa«, haben sie gesagt. Der dritte Juli ist mein Geburtstag. Ich glaube jedenfalls, dass es mein Geburtstag ist. Ich bin mir ganz sicher, dass es so ist. Ich werde zehn. Ich bin zehn. Bestimmt.
Es gab so vieles, das ich mir einprägen musste, und die Zeit richtig zu messen ist so schwierig.
Aber meinen Geburtstag vergesse ich nicht. Ich kann mich nicht an den Geburtstag meiner Mama oder meines Papas erinnern – aber ich erinnere mich an ihre Namen, ihre vollen Namen.
Ich weiß auch die Namen meiner Schwestern noch, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich auch noch weiß, wann sie Geburtstag haben. Ich erinnere mich an meine Schwestern und an zu Hause. Unser eigenes Zuhause.
Ich weiß noch, dass mein Onkel mir Geld in die Tasche steckte, bevor er mich in das Boot voller Fremder hob. Als ich einschlief, war das Geld in meiner Tasche, und als ich wieder aufwachte, war das Geld weg.
Auch meine Schwestern und meine Mama und mein Papa sind weg. Aber daran mag ich jetzt nicht denken.
Auch nicht daran, wie mich der Mann mit einem Messer bedrohte und mein Gepäck raubte. Mein Gepäck, mit meinem Handy … meinem Handy und meinen Papieren.
Mein Handy mit all den Fotos von meinen Schwestern, von Mama und Papa und meinen Freunden und deren Nummern – mit Videos, Playlisten, mit all den lustigen Sachen in meinem Leben.
Und die Papiere – Papiere, die allen bewiesen hätten, dass heute mein Geburtstag ist, die die vollen Namen meiner Mama und meines Papas enthalten hätten, den Namen unseres Dorfes und alles über mich, meine Geschichte, all die Sachen, die ich langsam vergesse.
Das ist der Grund dafür, dass hier niemand weiß, wann ich Geburtstag habe. Deshalb bekomme ich keine Geschenke.
Wenn mir jemand eine Glückwunschkarte geben würde, dann würde ich sie den Wachen zeigen und sagen: He, schaut mal! Glaubt ihr mir jetzt? Mein Name! Mein Alter! Hier auf meiner Glückwunschkarte! Der Beweis!
Aus genau diesem Grund möchte ich euch meine Geschichte erzählen, denn die Wachen sagen, alles, was geschieht, muss dokumentiert werden.
Aber ich werde nicht die Geschichte meines früheren Lebens erzählen. Ich werde die Geschichte meines jetzigen Lebens erzählen, hier im Lager, angefangen mit dem heutigen Tag.
Meinem zehnten Geburtstag.
Meine Geschichte geht so …
Meine Freunde L und E hocken im Schlamm und sammeln Brotreste auf. L rollt die Reste zu kleinen Kugeln, fügt Krümel hinzu, während sie weiterkriecht, sie rollt und rollt und steckt die Brotkugeln dann in eine Plastiktüte, die an ihrem Handgelenk hängt.
E hat auch eine Plastiktüte am Handgelenk, steckt sich aber fast alle Krümel, die er findet, in den Mund, und die Kugeln, die er rollt, halten nicht zusammen. Er ist furchtbar ungeschickt.
E trägt eine Hose aus der Kleiderspende. Sie ist ihm viel zu weit, und er hat die Hosenbeine umgekrempelt, damit sie nicht durch den Schlamm schleifen. In dieser Hose wirkt er noch kleiner, und er ist sowieso schon sehr klein. Seine Schwester L ist aus ihren Kleidern herausgewachsen, die Ärmel ihres Pullovers sind viel zu kurz. L und E sehen komisch aus, wie sie da im Schlamm hocken, sie zu groß und er zu klein.
Anfangs glaube ich, dass sie braune Brotkrumen aufsammeln, aber im Näherkommen sehe ich, dass das Brot das schlammige Wasser aufgesogen hat wie Bratensoße.
»Will jemand spielen?«, frage ich.
E springt auf. »Iiich!«
»Wir essen gerade«, sagt L. »Schau mal«, sagt sie. »Schau dir das viele Essen an.«
»Im Ernst?«, sage ich.
»Als der Laster mit den Hilfslieferungen kam«, erzählt L, »sind alle losgestürmt wie die Verrückten und haben sich das ganze Brot geschnappt. Alles war weg, bevor E und ich auch nur in die Nähe kommen konnten. Aber schau mal …« – sie schwenkt ihre Hände über den Schlamm – »… sie haben jede Menge vergeudet. Sie haben massenweise Brotkrümel fallen lassen, die einfach liegengeblieben sind. Das ist ein Schatz.«
»Und was spielen wir?«, will E von mir wissen und stopft sich Krümel in den Mund.
»Nicht gleich alle essen.« L rügt ihren kleinen Bruder mit einem Ts-ts-ts. »Dann hast du später keine mehr.«
»Ich weiß, wo es Äpfel gibt«, sage ich.
Sie reißt den Kopf hoch. »Was?«
»Äpfel!«, wiederhole ich. »Saftige Äpfel. Aber nur für Geheimagenten.«
»Also nicht für Kinder«, sagt L und senkt den Blick.
Heute ist sie mürrisch.
»Ich mache nur Spaß«, sagte ich. »Aber es gibt tatsächlich Äpfel.«
»Ich bin ein Geheimagent«, sagt E. »Bekomme ich einen Apfel?«
»Ich bin der oberste Geheimagent«, sage ich.
»Ich bin der oberste Geheimagent«, sagt E.
»Ihr könnt nicht beide der oberste Geheimagent sein«, meint L. »Und wenn es hier überhaupt einen Geheimagenten gibt, dann bin ich ein Geheimagent.«
»Blödsinn«, sagt E. »Du kannst kein Geheimagent sein, denn Geheimagenten sind Männer.«
»Und ihr seid kleine Jungs«, sagt L. »Ich bin die Älteste, wenn also jemand ein Geheimagent ist, dann ich. Außerdem bin ich die Anführerin.«
Du bist auch nur ein kleines Kind, denke ich. Du bist nicht viel älter als ich. Und ich bin erst zehn.
»Trotzdem weißt du nicht, wo die Äpfel sind«, sage ich.
»Dann zeig’s mir«, sagt sie, »und ich beschütze uns.«
L will uns beschützen?
E hebt einen Zweig auf. »Ich habe eine Waffe«, sagt er. »Das ist ein Gewehr.«
Ich nehme die Tüte von E und hänge die Schlaufen so über meine Ohren, dass die Tüte in meinem Nacken hängt. »Und ich habe einen Tarnmantel. Los, gehen wir.«
Also brechen wir auf, um nach den Äpfeln zu suchen, L, E und ich.
»Geheimagenten haben keinen Tarnmantel«, sagt L. »Du denkst an Zauberer.«
»Dieser Zauberer ist gerade zum Geheimdienst gegangen«, sage ich. »Bist du eine Hexe?«
Sie antwortet nicht. Sie packt E beim Kragen und gibt mir gleichzeitig einen so kräftigen Stoß, dass ich in einen Busch falle und mir den Arm zerkratze.
»Was soll das?«, will ich von ihr wissen.
»Pst.«
Ich spähe durch das Laub und sehe einen Wachmann. Er hat ein echtes Gewehr dabei, und er ist vor uns auf dem Weg stehengeblieben. L drückt E tief auf den Boden und legt ihm einen Finger auf den Mund, damit er keinen Mucks von sich gibt.
Wir befinden uns dicht vor der Verwaltungszone. Nur Wachmänner dürfen diese Zone betreten.
E hebt seinen Zweig. »Soll ich ihn abknallen?«, flüstert er.
Ich frage mich, ob der Wachmann uns erschießen würde. Ich habe noch nie gehört, dass ein Wachmann auf Kinder geschossen hat. Aber sie haben Schlagstöcke. Einmal schlug mich ein Wachmann auf den Arm, als sich beim ersten Schneefall alle versammelten und um Decken baten, und der blaue Fleck wechselte eine ganze Woche täglich die Farbe. Das war wie ein Regenbogen in Zeitlupe.
Der Schlagstock des Wachmanns ist hundertmal dicker als E’s Zweig.
»Warum hast du nicht gesagt, dass die Äpfel in der Verwaltungszone sind?«, zischt L.
»Hast du allen Ernstes geglaubt, sie hängen am Baum?«, frage ich.
Dazu schweigt sie.
Der Wachmann geht vorbei, ohne zu merken, dass wir uns hinter dem Busch verstecken. E’s Tüte hängt immer noch über meinen Ohren. »Der Mantel hat uns tatsächlich unsichtbar gemacht!« Ich sehe L und E an und hob den Daumen hoch.
»Und wohin jetzt?«, fragt L.
»Zur Raucherecke.«
Die Raucherecke befindet sich vor dem Verwaltungsblock, dort rauchen die Wachmänner. Im Lager raucht niemand, nicht mal die Erwachsenen. Jeder braucht Essen und Wärme. Rauchen ist nutzlos. Aber die Wachmänner leben wie die Maden im Speck, sie wirken nie hungrig oder mager, und sie vergeuden ihre Zeit damit, an Zigaretten zu ziehen und Rauch in die Luft zu pusten.
Und sie vergeuden auch Essen. Wenn sie Essen wegwerfen können, müssen sie Berge davon haben. Ich frage mich, warum sie alles für sich behalten. Und ich frage mich, warum sie niemanden aus dem Lager lassen, damit wir selbst nach Essen suchen. Darüber denke ich oft nach.
»Graben wir einen Tunnel?«, fragt E.
»Nein«, sagt L. »Aber wir robben. Wir robben durch das hohe Gras. Auf dem Bauch. Wie Geheimagenten bei einem Überraschungsangriff, verstanden?«
»Spione«, sagt E. »Los geht’s!«
Das Gras kitzelt meine Nase.
Wir kriechen unentdeckt bis zur Raucherecke. Als Kind wird man nicht so schnell entdeckt.
»Ich bin eine Katze«, sage ich, »die sich an einen Vogel anschleicht.«
»Ich bin ein Tiger«, sagt E, »der einen Affen jagt.«
»Pst!«, sagt L. Vor uns steht ein Wachmann, der an seiner Zigarette zieht. L befürchtet, man könnte uns erwischen.
Aber ich mache mir keine Sorgen. Wenn man Kinder aus dem Lager bei Verstößen gegen die Vorschriften ertappt, verhängt man Sanktionen gegen ihre Familien. Sanktion bedeutet Strafe, dann wird man an das Ende der Warteschlange geschickt. Ich habe keine Angst, dass meine Familie bestraft wird, weil ich meine Familie verloren habe. Oder meine Familie hat mich verloren. L und E haben auch keine Familie mehr, denn sie wurde in die Luft gejagt.
Außerdem stehen wir in keiner Schlange, und deshalb kann man uns auch nicht an das Ende schicken, richtig? Wenn man uns an das Ende einer Schlange schicken würde, dann wäre das toll, sozusagen eine Belohnung.
Beim Anblick des Wachmanns bleibe ich so still, wie von L befohlen, aber nur, weil ich an den Regenbogenfleck auf meinem Arm denken muss.
Der Mann steht neben einer Mülltonne, wirft den Zigarettenstummel aber auf den Boden. Der Boden ist von Stummeln übersät.
»Ich sehe keine Äpfel«, sagt L.
»Abwarten«, sage ich.
Der Wachmann schaut sich um. Ich frage mich, ob er uns gehört hat. Aber dann dämmert mir, dass er sich nicht genau umschaut. Sein Job besteht darin, Zigaretten zu rauchen und sich träge umzugucken. Und nach dem Rauchen widmet er sich der Aufgabe des trägen Herumguckens.
Job erledigt, sagt er sich vermutlich im Stillen. Er macht kehrt und geht zum Gebäude.
»Peng!«, sagt E, der den Wachmann mit seinem Zweig in den Rücken schießt.
»Pst!«, sagt L. Aber der Wachmann geht schon durch die Tür.
»Vorbei«, sage ich zu E, der Pulverrauch von der Spitze seines Zweiges pustet.
Ich stehe auf.
»Was machst du da?«, zischt L.