Gerhard Roth
Landläufiger Tod
Erweiterte Neufassung. Erste vollständige Ausgabe
FISCHER E-Books
Roman
Mit Illustrationen von Günter Brus
Gerhard Roth, 1942 in Graz geboren, lebt als freier Schriftsteller in Wien und der Südsteiermark. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Erzählungen, Essays und Theaterstücke, darunter den 1991 abgeschlossenen siebenbändigen Zyklus ›Die Archive des Schweigens‹ und den 2011 abgeschlossenen Zyklus ›Orkus‹. Für sein Werk wurde Gerhard Roth mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter der Alfred-Döblin-Preis, der Bruno-Kreisky-Preis, der Marie-Luise-Kaschnitz-Preis, der Jakob-Wassermann-Preis, der Jeanette-Schocken-Preis, der Jean-Paul-Preis, der Hoffmann-von-Fallersleben-Preis sowie der Große Österreichische Staatspreis.
Bienen durchsummen Gerhard Roths monumentalen Roman aus dem Jahr 1984, in dem Tiere, Blätter und Steine sprechen können und Flüsse über den Himmel fließen. Seine Hauptfigur ist der stumme und »verrückte« Sohn eines Imkers, der mit der Fähigkeit begabt ist, die Welt hinter der sichtbaren Welt zu sehen. »Ein großartiges Monstrum« nannte die FAZ dieses Buch im Jahr seiner Erstveröffentlichung, »ein Abenteuer«. Jetzt, 33 Jahre danach, erscheint ›Landläufiger Tod‹ zum ersten Mal in der ursprünglich vorgesehenen Fassung, erweitert und neu durchgesehen. Ein Traum- und Märchenbuch für Erwachsene. Ein großartiges Zauberkunststück der Literatur.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
© 2017 by Gerhard Roth
Die Erstfassung erschien 1984 im S. Fischer Verlag, Frankfurt
Coverabbildung: Die Imker, Kupferstich von Pieter Bruegel d. Ä./akg-images, Berlin
Covergestaltung: Hißmann, Heilmann, Hamburg
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490352-1
Wir heißen »Gelbfüßler«, da es bei uns eine Hühnergattung gibt, nach deren gelber Fußfarbe man uns nennt; als »Gscherte« bezeichnen uns aber nur Städter, ohne zu wissen, dass der Ausdruck von »Geschorener« kommt (die Bauern waren bis in das 19. Jahrhundert Leibeigene und durften als Zeichen dafür keine Haare auf dem Kopf tragen).
Oft ist darüber gerätselt worden, woher die Bezeichnung »Gelbfüßler« stammt. Ist vielleicht der gelbe Lehm daran schuld, den es bei uns allerorten gibt, oder das Maisfutter? Sind es wirklich die Hühner, nach denen man uns nennt? – Mit Sicherheit schließen wir jedoch jene Eierlieferung nach Schönbrunn aus, die man uns nachsagt. Der Kaiser habe, wie erzählt und immer wieder behauptet wird, die Sulmtaler Eier wegen der gelben Dotter geschätzt, daher sei eines Tages der Aufruf an die Landbewohner ergangen, Eier für den Monarchen zu sammeln, was sie als obrigkeitstreue und obrigkeitsgläubige Menschen umgehend befolgt haben sollen. Es hätten sich, so sagt man weiter, Kisten, Körbe, Koffer, Fässer voller Eier um den Bahnhof in Pölfing-Brunn angesammelt, die übereinandergestapelt das Stationsgebäude vollständig verdeckt hätten. Aus Wien sei ein Sonderzug gekommen, mehrere braune Waggons mit dem kaiserlichen Wappen und ein Salonwagen mit kaiserlichen Beamten, die das Verladen überwachten, mit Spazierstöcken, Zylindern, Monokeln und dicken Zigarren herumstanden und es abgelehnt hätten, Most zu trinken, der ihnen in geblümten Krügen gereicht worden sei, jedoch später mit dem auf Vulkanerde wachsenden Wein so zufrieden gewesen seien, dass man hätte befürchten müssen, in der Folge mehrere Eisenbahnzüge Welschriesling nach Wien liefern zu müssen, wenn nicht die Waggons sehr rasch beladen worden wären. Am Ende sei nicht einmal die Hälfte der Gefäße verstaut gewesen, woraufhin ein Verladearbeiter versucht habe, mehr Platz in den Fässern und Körben zu schaffen, indem er in sie hineingestiegen sei und – als handle es sich um Weintrauben – die Eier mit den Füßen zu zerstampfen begonnen habe. Diesem Beispiel seien alle Übrigen gefolgt, woraufhin man sie »Gelbfüßler« genannt habe. (Selbst der Bahnhof sei derart mit Dotter bespritzt worden, dass er seither seine gelbe Farbe besitze.)
Unsere ganze Gedankenkraft, unsere ganze Schläue, unsere geistigen Fähigkeiten sind nur auf einen Zweck gerichtet: den Besitz. Wir können stundenlang und tagelang, ja wochenlang darüber grübeln, ob wir ein Stück Vieh nicht zu billig verkauft, ein Stück Land, ein Haus nicht unter dem Preis, den wir erreichen könnten, verpachtet haben. Solche Gedanken quälen uns. Und was mit Lüscher vorgefallen war, das erfuhren wir nur nebenbei, wir haben unsere eigenen Sorgen.
Bewegt sich etwas Ungewohntes auf dem Hof, auf der Straße, in der Wiese, auf den Äckern, fällt es uns sofort auf. Wir beachten unsere Tiere nicht, sofern sie sich in gewohnter Weise verhalten. Wissen wir sie auf der Wiese vor dem Fenster, so schließen wir sie in die Landschaft mit ein. Taucht aber irgendetwas auf (ein Mensch, ein Tier, ein Fahrzeug), das nicht angekündigt ist oder zum Hof gehört, so spüren wir es instinktiv im Voraus. Wir fragen uns gar nicht, weshalb wir den Kopf heben und die Ohren spitzen. Jede Veränderung fassen wir als Grund zur Vorsicht auf.
Was mich an ihm anzieht, ist seine Neugierde. Er ist von seiner Neugierde getrieben. Sein Denken ist widersprüchlich und kompliziert, mit einem Wort, er ist nicht berechenbar. Manchmal nachsichtig und gutmütig, kann er bei einer anderen Gelegenheit streng und voller Verachtung sein. Er ergreift nicht immer die Partei des Schwächeren, seine Vorstellungen von Recht entspringen häufiger seinen Launen. Wenn er auch nicht selten langmütig zuhört, so ist er doch eher ungeduldig. Langweilt ihn jemand mit seiner Ausführlichkeit oder Umständlichkeit, schneidet er ihm bald das Wort ab. Gegen Begriffsstutzigkeit ist er allergisch, sofern sie nicht aus tiefer Armseligkeit kommt. Feststellungen dieser Art könnte ich noch eine Menge treffen, jedoch scheint mir das wesentliche Merkmal seine Umgänglichkeit zu sein. Er ist kein Mensch, der dem Alleinsein etwas abgewinnen kann. Es ist ihm keine Gesellschaft zu minder. Trinkt er, dann passt er sich jeder Gesellschaft an. Es liegt ihm auch dann daran, von ihr anerkannt zu werden. Vor allem aber spricht er selbst gerne. Ich weiß nicht, warum wir Freunde sind, vielleicht aus Gewohnheit. Natürlich ist er nicht ausschließlich mit mir zusammen, mir aber genügt seine Gesellschaft. Dass er sich mit mir abgibt, hat mit Sicherheit keinen Grund, der im Mitleid zu suchen wäre (auch fühlt er sich mir nicht durch die gemeinsamen Schuljahre im Internat verpflichtet); meine Gesellschaft ist ihm jedenfalls lieber als keine, aber es würde ihn auch nicht stören, wenn ich mit anderen seiner Freunde zusammen wäre. Er würde mich überall gleich behandeln. Ich will nicht vergessen, dass er häufig großsprecherisch ist: Von seinem Studium und seinen Unternehmungen spricht er immer nur in den höchsten Tönen, er nimmt aber auch Niederlagen hin, ohne zu klagen. Manchmal hält er sich mit dem Nebensächlichsten auf, obwohl er eher zur Großzügigkeit neigt. Und noch etwas: Er ist in einem größeren Ausmaß gewissenlos als andere. Mit einer Handbewegung setzt er sich auch über berechtigte Vorhaltungen hinweg. Über seine Fehler denkt er wohl nur im Geheimen nach. Und seine Betriebsamkeit benutzt er, um sich zu betäuben. Es gibt nichts, was er lustlos macht. Sobald er lustlos wird, bricht er jede Sache in Kürze ab und geht zu einer anderen über. Dabei macht es ihm nichts aus, wenn man hinter seinem Rücken über ihn herzieht. Manchmal scheint er sich das gerade zu wünschen. Er verzeiht schnell, liebt es jedoch, denjenigen, der jemandem Unrecht getan hat, festzunageln. (Er hat nämlich die unangenehme Eigenschaft, bohren zu können, ja er kann sich regelrecht in etwas hineinbohren, um plötzlich aufzuhören und zu etwas anderem überzugehen.) Und vor allem ist er genusssüchtig. Er betrinkt sich gerne, liebt Frauen und gutes Essen. Ich kenne niemanden, der so schnell Sympathien gewinnen kann wie er, obwohl er es oft darauf anzulegen scheint, sie sich zu verscherzen. Mit einem Wort, er ist ein widersprüchlicher Mensch.
Die Zimmer meiner beiden Cousins sind mit Zeitungsbildern von Sportlern und Filmschauspielern geschmückt; ein Fernsehapparat, Tisch, Betten, Schränke, Teppiche aus Stoffresten bilden die Einrichtung.
Eine Kuh kostete dreihundert Schilling. Eine Magd verdiente fünfzehn Schilling im Monat (bei freiem Quartier und Verpflegung), ein Knecht zwanzig Schilling, während ein Taglöhner je nach Arbeit ein bis zwei Schilling bezahlt bekam. Hatte er um vier Uhr früh mit dem Mähen begonnen und bis zum Einbruch der Dunkelheit gearbeitet, gab man ihm mehr, war jedoch nur der Kukuruz – der Mais – abzubrechen, so bezahlte man weniger.
Wir müssen unsere Hunde, seit bei uns Fälle von Tollwut aufgetreten sind, in die Häuser sperren, sie anketten oder mit einem Maulkorb versehen, ansonsten würden sie erschossen; als Jäger hätte ich die Pflicht, es zu tun, obwohl es nicht meinem Wunsch entspricht. Es ist jedoch die einzige Möglichkeit (so hat man uns aus der Landeshauptstadt wissen lassen), die Epidemie in Grenzen zu halten und die Menschen vor Schaden zu bewahren.
in Slowenien.
Auch Wanzen waren keine Seltenheit (sie nisteten in Sofas und Matratzen und zerbissen uns), und schon als Schulkinder hatten wir Läuse, die wir oft nicht mehr loswurden. Nach manchen Arbeiten, die wir gemeinsam ausführten, suchten wir uns gewohnheitsmäßig gegenseitig nach Flöhen ab.
»Trotz allem lebe ich manchmal lieber in meiner Erinnerung als in der Gegenwart, denn wenn auch die Knechte in den Ställen schliefen und die Kinder auf den Tennen im Winter mit vor das Gesicht gezogenen Decken (an denen am Morgen dort, wo sie durch die Atemluft feucht geworden waren, Eiszapfen hingen), so waren wir uns doch näher als heute«, ergänzt meine Tante später.
Es sind fremde Wörter und Sätze, die wir dann sprechen. Und nur dadurch, dass wir diese fremden Ideen, diese fremden Witze und Gedankengänge immer und immer wieder bei jeder Gelegenheit wiederholen, werden sie die unseren … (Wir können über den gleichen Witz tausendmal auf die gleiche Weise lachen, als hörten wir ihn zum ersten Mal, ja, wir fühlen uns dadurch, dass wir ihn aufs Neue hören, in unserem Lachen bestätigt und lachen umso lieber. Auch Rätsel stellen wir uns gerne, obwohl oder gerade weil wir wissen, dass jeder die Lösung kennt. Und ohne den Fragesteller zu unterbrechen, hören wir ihm zu und geben hierauf lachend die Antwort. Unsere Freude ist noch größer, wenn jemand die Lösung eines Rätsels oder einen Witz vergessen hat, und steigert sich, sobald wir einen Fremden unter uns haben.)
Wir sind im Grunde unseres Herzens für die Strenge. Wir haben nichts dagegen, wenn man uns Verantwortung abnimmt, uns Verbote auferlegt, solange uns gleichzeitig die Lebenssorgen abgenommen werden. Wir bewundern es, wenn mit unerbittlicher Hartnäckigkeit die Ordnung aufrechterhalten wird; verbietet man uns den Mund, so haben wir insgeheim Achtung vor dem Unterdrücker.
»Von einem Hügel aus habe ich es durch ein angerußtes Fensterglas verfolgt, wie sich der Mond als schwarze Scheibe vor die Sonne schob, wie die Erde sich verdunkelte, und gleichzeitig betroffen wahrgenommen, dass Stille sich über die Landschaft legte« (da die Dorfbewohner ihre Arbeit liegengelassen und schweigend durch geschwärzte Gläser zum Himmel hinaufgestarrt hätten, bis ein schmaler Streifen Licht sichtbar geworden sei, worauf mit einem Schlag die Geräusche unter freudigen Ausrufen wieder eingesetzt hätten, wie sie ein anderes Mal erklärte). Im Nachhinein erst sei den meisten aufgefallen, dass die Katzen sich verkrochen und die Hunde gewinselt hätten und das Vieh im Stall unruhig geworden sei. (Ihr Vater habe seither mehrere alte Zeitungen, die entweder Sonnenfinsternisse ankündigten oder schilderten, verwahrt. Immer wieder hatte meine Tante die alten Zeitungen herausgenommen und von neuem gelesen, auch ihr Vater habe sich manchmal im Winter an die gesammelten Artikel erinnert, eine Brille mit runden Gläsern aufgesetzt – von der man überzeugt gewesen sei, dass er durch sie nichts gesehen habe – und vorgegeben, die Berichte zu studieren, tatsächlich aber sei er des Lesens nicht kundig gewesen, sondern habe die Artikel Wort für Wort auswendig gekonnt, nachdem sie der Lehrer ihm des Öfteren vorgelesen hatte.)
Zwar seien durch das Erdbeben Teller klirrend von den Wandbrettern gefallen, fügt sie hinzu, seien Eier in der Tischlade zerbrochen, Gläser und Krüge auf dem Fußboden zersplittert, zwar hätten die Häuser gewackelt, so dass die Bewohner auf die Straße ins Freie stürzten (denn es sei das letzte Abendlicht im März gewesen und sie hätten noch nicht so lange im Freien gearbeitet), zwar hätten sie hierauf für kurze Augenblicke die Landschaft schaukeln gesehen, als hätten sie sich auf einem riesigen Schiff befunden, das auf den grollenden Horizont zugeschwommen sei, zwar hätten sie trotz aller Anzeichen nicht begriffen, was geschehen sei (was den eigentlichen Schrecken ausgemacht hätte. Erst im Nachhinein, als die Ruhe wieder eingetreten sei, hätten sie die richtige Erklärung gefunden), zwar seien sie minutenlang verwirrt gewesen und hätten nur staunen können und ungläubig, wie Träumende, Risse in den weißen Wänden, Glas- und Porzellanscherben sowie das zapfenförmige Uhrgewicht auf dem Küchenboden entdeckt, zwar hätten sie erst später die Geräusche der zerspringenden Gegenstände mit einer Art innerem Ohr wahrgenommen (das ihnen bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt gewesen sei), so dass sie erst nach Tagen festgestellt hätten, dass sie die Teller, Gläser und Krüge im Augenblick, als es geschehen sei, lautlos hatten zur Erde stürzen gesehen, zwar hätten sie wie abwesend die Scherben aufgekehrt, die zerbrochenen Eier aussortiert und den Uhrzapfen wieder an der Kette befestigt, trotzdem aber hätten sie nachträglich gelacht, wenn sie vom Erdbeben gesprochen hätten, sich an den Schilderungen erheitert, die einander durchwegs geglichen hätten, und lange danach habe es genügt, das Wort »Erdbeben« auszusprechen, um Hochzeits- oder Tischgesellschaften und Schulklassen in einen Zustand unbändigen Lachens zu versetzen. Sogar über Überschwemmungen hätten sie nur gelacht, obwohl diese in Saggau große Schäden angerichtet hätten (jetzt ist der Fluss begradigt), obwohl das Wasser bei starken Regengüssen nachts lautlos in die Wohn- und Schlafräume gedrungen sei, die Möbel umspült und Unrat mit sich geführt habe, obwohl es manchmal so hoch gestiegen sei, dass kleinere Möbelstücke weggeschwemmt worden seien, bis die Bewohner erwacht seien und Alarm geschlagen hätten, obwohl sie gleichzeitig unter großer Mühe die Tiere in Sicherheit hätten bringen und das kostbare Gerät retten müssen, obwohl totes Getier, Abfall und Morast in ihre Häuser und Höfe geschwemmt worden seien und nach der Überflutung noch tagelang, ja sogar wochenlang der Gestank des Flusses die Häuser und Ställe verpestet habe …
Denn auf Brände sind wir vorbereitet, auf Brände machen wir uns gefasst. Unheimlich ist es, wenn das Feuer wütet, die Tiere vor Entsetzen brüllen, Dachstühle mit Gepolter einstürzen, Mauern auseinanderbrechen, schwarzer Rauch aus Fenstern, Türen, Dächern quillt und die Flammen brausen, knistern und Funken versprühen, das Geräusch des Windes verstärken oder knackend trockenes Holz befallen.
Vor zehn Jahren fielen im August taubeneigroße Hagelkörner vom Himmel, durchschlugen die Ziegel der Dächer und Holzabdeckungen und töteten einen Menschen, der sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte. Wir nahmen die Eisstücke in die Hand, um sie zu wiegen, und sahen dabei wunderbare Kristalle, die in ihnen eingeschlossen waren (gleich vergrößerten Schneeflocken), aber wir warfen die Hagelschloßen sogleich wieder zu Boden und verwünschten sie.
Noch heute ist »Partisan« bei uns ein Schimpfwort, während so mancher »ehemalige« Nationalsozialist mit seiner Gesinnung prahlt.
»Du musst dir vorstellen, zu Hause hatten wir noch nicht einmal eine Straße. (Ein Motorradfahrer, der sich in unser Gebiet verirrte, blieb im Morast stecken, dass wir ihn mit dem Ochsenkarren nach Pölfing-Brunn bringen mussten. Wir kannten keinen elektrischen Strom, nähten, strickten, arbeiteten an langen Wintern im Petroleumlicht, erst Jahre nach unserer Hochzeit wurde der Bau der Straße begonnen, und erst weitere Jahre später wurden wir an das Stromnetz angeschlossen.) Ich aber war mit deinem Onkel auf dem Schneeberg, wo noch nie jemand aus unserem Dorf gewesen war und lange niemand hinkommen würde.«
Wären seine Gedanken sichtbar wie Himmelserscheinungen, wie würden wir uns wohl verhalten? Und wie würden wir miteinander sprechen? Ich stelle mir vor, wie es auf seine Gedanken hin zu regnen beginnt oder in welchen Farbtönen sich der Horizont seines Kopfes verfärbt.
kleines Haus
Hier fehlen einige Zeilen des Textes.
Alpenrispengras.
da man den halben Berg für die Ziegelgewinnung abgetragen hat
Verdauungsstoffe
Karl v. Frisch: »Über Bienen«
Die Archive des Schweigens
Band 3
Alle Personen und Geschichten sind aus der Luft gegriffen
Wenn der Zirkus kommt, fahre ich zur Abendvorstellung nach Wies. Natürlich versuche ich, in Begleitung meines Freundes zu sein, ohne den ein Gespräch nicht zustande käme, da ich stumm bin. Mein Freund ist so alt wie ich, studiert in Graz Jus und ist wegen der langen Semesterferien und der zahlreichen kirchlichen Feiertage häufig bei uns.
Wir trinken im kleinen und schäbigen Café an der Bundesstraße Bier, und mein Freund unterhält sich mit einem Zirkusarbeiter, der uns beim Abschied verspricht, vor dem Eingang auf uns zu warten.
Das Zelt ist hinter dem neuen Rüsthaus der Feuerwehr neben der Friedhofsmauer aufgestellt. Noch bevor ich es sehe, erblicke ich es in den Pfützen, denn ich bin mit gesenktem Kopf gegangen.
»Du kannst sicher sein«, sagt mein Freund, »wir werden uns amüsieren. Amüsiert uns nicht die Großartigkeit, dann amüsiert uns die Armseligkeit. So oder so ist es dasselbe.« Er erwartet nicht, dass ich ihm antworte. Nur wenn ich auf ihn zornig bin oder meine Meinung allzu sehr von seiner abweicht, stoße ich einen Laut aus oder schüttle heftig den Kopf und schreibe auf ein Stück Papier (das ich immer bei mir habe), was mich bewegt.
Die meisten Zuschauer kommen mit Traktoren, in deren Anhängern Frauen, Kinder, Verwandte und Nachbarn hocken, die kleinen Berge und Hügel herunter, fahren stumm durch die Ortschaft bis zum Zirkus und treten dort flüsternd oder raunend in das große Zelt oder gehen mit Verwunderungsrufen von einem zum anderen Käfig der Tierschau.
Wir müssen häufig an den Straßenrand treten, um den Fahrzeugen auszuweichen.
Entlang der Straße, die schwarz und von Reifenspuren durchfurcht ist, wuchert Unkraut. Über die Gräber im Friedhof schauen wir auf den gelben Kirchturm mit der runden Uhr und dem zwiebelförmigen Dach.
Nach der Vorstellung erzählt uns der Zirkusdirektor, dass er durch Begräbnisse, die gleichzeitig mit der Nachmittagsvorstellung stattfänden, des Öfteren gestört würde. Er ist ein kleiner, untersetzter Mann mit einer gebrochenen Nase, einem dunklen Schnurrbart, langen, nach hinten gekämmten Haaren und einem breiten Gesicht. Besonders das Glockenläuten vom Kirchturm und die Trauermärsche der Musikkapellen seien ärgerlich, manchmal aber auch die Grabrede eines Vereinsobmannes oder Pfarrers und das laute Gebet der Trauergäste. Er wiederum könne sich denken, fährt er fort, dass seine über Lautsprecher verstärkte, von Schallplatten kommende Zirkusmusik oder seine eigenen Ansagen über das Mikrophon und das darauf folgende Gelächter, aber auch der Applaus des Publikums bei einem Begräbnis beanstandet würden. Solche Zusammentreffen ließen sich jedoch nicht vermeiden. Er könne wegen eines Begräbnisses nicht die Nachmittagsvorstellung absagen, und die Angehörigen des Toten könnten wegen des Zirkus nicht die Beerdigung verschieben. Er sei ohnedies geschickt und nehme auf alle Zwischenfälle, soweit es ihm möglich sei, Rücksicht.
(Da ich dem Ablauf der Ereignisse vorgegriffen habe, möchte ich gleich auf die Eigenart, mit der der Zirkusdirektor seine Gedanken vorbrachte, eingehen.)
Der Schankraum im Wirtshaus ist dunkel, und wir sind mit den Tierwärtern die letzten Gäste. Stets blickt der Zirkusdirektor zuerst meinen Freund und dann mich an und richtet nach unserem Gesichtsausdruck seine Erzählweise ein; er wird eindringlicher, wenn unser Interesse nachlässt, gelingt es ihm trotzdem nicht, uns zu fesseln, wechselt er das Thema. Andererseits wiederholt er Sätze oder lässt sich mit dem Fortführen der Geschichte Zeit, sobald er bemerkt, dass wir ihm aufmerksam folgen; er lehnt sich zurück, stellt eine Frage und wischt sich mit dem Handrücken über den Schnurrbart. Nie verliert er die Beherrschung, weder wird er von Erinnerungen gerührt, noch überkommen ihn Nachdenklichkeit oder Freude. Er lacht nur aus Lust, uns mit seinen Geschichten im Ungewissen zu lassen, während er das Ende längst kennt. Zumeist beginnt er mit einer Frage:
»Der Bauer, auf dessen Wiese ich mein Zelt aufstellen wollte«, fragt er, »ist vor meinem Eintreffen plötzlich gestorben. Was habe ich gemacht?«
Oder: »Meine Pythonschlange ist, weil die elektrische Wärmelampe ausfiel, verendet – raten Sie, was ich getan habe.«
Oder: »Die Gendarmen haben mir das Aufstellen von Zirkusplakaten ohne behördliche Genehmigung verboten, was war zu tun?«
Eine andere Frage: »Zwei Zirkusarbeiter sind plötzlich verschwunden, wie sollte ich rechtzeitig das Zelt aufstellen?«
Und: »Jemand aus dem Publikum will meine Zauberkunststücke stören, da er meine Tricks durchschaut hat, und meldet sich als Versuchsperson. Was hätten Sie an meiner Stelle gemacht?«
Schließlich: »Die Fliege, wie in der Sprache der Schausteller ein Zuschauer genannt wird, der einem Artisten nach vorheriger Abmachung bei einem Kunststück behilflich ist, meldet sich bei der betreffenden Nummer nicht – und jetzt?«
Für die Antworten meines Freundes (mir wäre ohnedies nichts eingefallen), die der Zirkusdirektor jedes Mal abwartet, indem er seitlich zu Boden blickt, hat er nur ein kurzes Kopfschütteln übrig, dann erklärt er rasch, was er unternommen hat, um meinem Freund nicht die Möglichkeit einer zweiten Antwort zu geben (denn er würde es nicht ertragen, wenn jemand anderer auf dieselben Gedanken käme wie er). Übrigens machte er jedes Mal das Einfachste und Naheliegendste, während mein Freund stets an das Entfernteste und Komplizierteste dachte.
Der Frau des verstorbenen Bauern, auf dessen Anwesen er sein Zelt aufstellen wollte, habe er mit einem Kranz einen Besuch abgestattet, worauf sie ihm die Wiese für die gewünschte Zeit »um ein Spottgeld« vermietet habe.
Die erfrorene Pythonschlange wiederum habe er im Gebüsch hinter dem Zirkuszelt versteckt und in der nächsten Vorstellung bekanntgegeben, dass sie entflohen sei. Auch habe er die Zuschauer gebeten, ihm bei der Suche behilflich zu sein, was diese mit großem Eifer getan hätten. Nachdem das Reptil gefunden worden sei, habe er erklärt, es sei erfroren, weil es aus dem geheizten Käfig entwichen sei. Das habe ihm – wie er es nannte – »Propaganda« eingebracht. Auf die Frage eines »Provinzjournalisten« – hier gebe es eine Reihe merkwürdiger, aber von den Bewohnern häufig gelesener Zeitungen wie die »Weststeirische Rundschau«, das »Neue Land«, die »Sonntagspost«, den »Fortschrittlichen Landwirt«, die »Landwirtschaftlichen Mitteilungen« sowie Fachzeitschriften für Jäger, Fischer und Bienenzüchter (die auch mein Vater bezieht) und natürlich verschiedene Pfarrblätter, Kirchenzeitungen und Gemeindenachrichten, über die er nicht lächle, sondern die er zu benutzen trachte (die meisten, so behauptet er, ohne dabei ein Triumphgefühl verbergen zu können, seien stolz darauf, dass er sie verständige oder ihnen Eintrittskarten mit der Bitte um eine Ankündigung schicke) – auf die Frage eines »Provinzjournalisten« also, welchen Wert die Schlange gehabt habe (»Was glauben Sie, habe ich zur Antwort gegeben, als er mich gefragt hat, welchen Wert eine Pythonschlange besitzt?«) –, habe er erwidert: Für ihn sei das Tier mehr wert als ein »Mercedes«, dadurch hätte er die Phantasie des späteren Lesers angeregt, sich vorzustellen, welchen tatsächlichen Wert eine Pythonschlange habe. Es sei allgemein bekannt, was ein »Mercedes« koste, also könne man sich leicht ausrechnen, welcher Preis für das Reptil bezahlt werden müsse. (Natürlich koste es nicht so viel wie ein »Mercedes«, er habe jedoch ohnedies nur behauptet, dass es für ihn denselben Wert darstellte.)
Den Gendarmen wiederum, die ihm das Plakatieren verbieten wollten, habe er eine größere Anzahl von Eintrittskarten geschenkt, worauf die Tafeln hätten stehenbleiben dürfen. Und was die verschwundenen Zirkusarbeiter betreffe, so nehme er auf der Fahrt zum nächsten Ort, in dem Vorstellungen geplant seien, stets Anhalter mit. Den Anhaltern gebe er Geld mit der Aufforderung, zum Friseur zu gehen, denn zumeist seien Autostopper, die von einem Zirkus mitgenommen werden wollten, verkommen und ungepflegt. Er kümmere sich jedoch nicht darum, ob die Betreffenden wirklich einen Friseur aufsuchten. Dieses Verhalten leuchte ihnen gleichzeitig ein und verblüffe sie. Sie glaubten, Dankbarkeit zeigen zu müssen, und böten – als Nächstliegendes – an, ihm beim Aufstellen des Zeltes behilflich zu sein. So komme ihn, den Zirkusdirektor, die Arbeit billiger, als wenn er Hilfskräfte bezahlen müsse. Auch fragte er absichtlich nie nach der Vergangenheit der Gelegenheitsarbeiter, denn Herumstreunende, die zum Zirkus wollten, seien zumeist Irre oder Vorbestrafte.
Den Zuschauer schließlich, der »auf meine Kosten«, wie er sich ausdrückte, beabsichtigte, seine Zauberkunststücke zu stören, und dem seine Tricks und versteckten Handgriffe durch mehrmaligen Besuch der Vorstellungen bekannt seien, beschimpfe er mit zwar flüsternder, aber scharfer Stimme; er scheue auch nicht davor zurück, ihm ins Ohr zu spucken, und gebe ihm sodann Befehle. Eine »Versuchsperson« sei – um ein Beispiel anzuführen – zu seiner Taschendiebnummer mit leeren Hosensäcken und ohne Uhr in die Manege gekommen, so dass es nichts zu stehlen gegeben hätte. Dies habe er sofort erkannt, sie auf einem Stuhl Platz nehmen lassen und beschimpft. Im Scheinwerferlicht, wenn plötzlich das Publikum um sie sitze, gehorchten die Menschen aufgrund der neuen Situation automatisch. Auch die Übelsten hätten schließlich widerspruchslos seine Anweisungen befolgt. Da es nichts zu entwenden gegeben habe, habe er die »Versuchsperson« stattdessen hypnotisiert. Zumeist verwende er beim Hypnotisieren ein oder zwei Fliegen (also Besucher, mit denen er sich im Vorhinein abgesprochen habe). In Fällen, in denen er rasch handeln müsse, sei er jedoch gezwungen, auf Fliegen zu verzichten. Umso besser müsse dann die Ansage gelingen. Sie habe so gehalten zu sein, dass das Publikum schon in den Bann der kommenden Ereignisse gezogen werde. Sei sie geschickt vorgetragen, würde jeder Hypnotiseur, der nur einigermaßen Bescheid wüsste, Erfolg haben. Die »Versuchsperson« würde nämlich die Befehle, ohne zu zögern, ausführen, aus Angst, ansonsten wirklich hypnotisiert zu werden. Auch wenn ihm das eine oder andere Vorhaben misslinge, sei es nicht weiter schlimm, denn dies würde nur »Mundpropaganda« für den Zirkus zur Folge haben. (Die Leute merkten sich nämlich den Vorfall und erzählten ihn weiter, was das Wichtigste sei.) Bei dem Zuschauer, der mit leeren Hosensäcken auf die Bühne gekommen sei, sei ihm geistesgegenwärtig die Ansage, die er beim Hypnotisieren verwende, eingefallen, und schließlich sei es ihm auch gelungen, dem Burschen seinen Willen aufzuzwingen. (Wie die Ansage für das Hypnotisieren lautet, verschwieg uns der Zirkusdirektor.)
Und zuletzt erklärt er uns auch, was er unternehme, wenn eine Fliege sich nicht, wie abgesprochen, im Zuschauerraum befinde. Dann, so belehrt der Zirkusdirektor mit erhobenem Zeigefinger und hochgezogenen Brauen meinen Freund – mich beachtet er wegen meines Schweigens nicht, dessen Ursache ihm ja unbekannt ist –, suche er sich im Publikum einen Menschen aus, der einen ungeschickten Eindruck erwecke. Mit der Unbeholfenheit jenes Menschen, über die er sich lustig mache, lenke er die Anwesenden ab, und im Falle, dass der tölpelhafte Mensch tatsächlich nicht in der Lage sei, auf die gewünschte Weise mitzuspielen, frage er die Zuschauer, ob sich nicht ein Gewandterer zur Verfügung stellen könne. Dieser (den er sorgfältig aus den sich Anbietenden auswähle) sei dann stets bis zur Unterwürfigkeit bemüht, zum Gelingen des Kunststückes beizutragen, da er ja seine Geschicklichkeit unter Beweis stellen wolle.
So redete mit uns der Zirkusdirektor, indem er vom Hundertsten ins Tausendste kam; er aß (nur) Eis und trocknete sich den Schweiß ab. Meinen Freund sprach er des Öfteren mit »Sie als gebildeter Mensch …« an. Die Bewohner jedoch bezeichnete er als »Gelbfüßler« und »Gscherte« (worüber mein Freund laut auflachte).[1]
Als wir das Zirkusgelände betraten, entdeckte uns der Arbeiter aus dem Café und lud uns, obwohl wir unsere Eintrittskarten bereits gelöst hatten und in den Händen hielten, ein, die Vorstellung zu besuchen. Rasch fügte er hinzu, dass er in Wirklichkeit Tigerdompteur sei, er studiere jedoch seine Nummer erst ein und dürfe im Augenblick daher nicht auftreten. Wir sind durch die weiß und blau gestrichene eiserne Absperrung über eine Holzbrücke, die unter einen von brennenden Glühbirnen geschmückten Girlandenbogen führte, gegangen und stehen mit dem Rücken zum Zelt. Die Eintretenden halten vor den Plakaten an, auf denen Dompteure in blauen Uniformen mit brennenden Reifen in den Händen zu sehen sind, springende Löwen und Tiger, Clownsgesichter, als Maharadschas verkleidete Zauberkünstler sowie Krokodile mit weit aufgerissenen Rachen.
»Wir haben keine Krokodile«, sagte der Zirkusarbeiter, »Sie verstehen: Die Plakate hängen wir nur auf, um die Dorfbewohner neugierig zu machen.«
Der Zirkusdirektor ergänzte später voll Stolz, es handle sich um italienische Plakate, auf die er nur den Namen seines Unternehmens drucken lasse. Er bestelle sie in großen Mengen und hänge sie überall auf, um Publikum »anzulocken« und es »in die richtige Stimmung zu versetzen«, so dass es förmlich darauf warte, an der Nase herumgeführt zu werden. Würde bei der Vorstellung dann »der Schwindel« ausbleiben, würden die Zuschauer sich sogar betrogen vorkommen.
Der Zirkusdirektor meint, dass er uns empfänglich für Illusionen machen müsse. Aber ich widerspreche ihm. Ich nehme das Papier aus der Tasche und schreibe: »Nicht wir sind stumpf – wir sind es gerade, die sich in Träume stürzen, unser Leben ist ein einziger Wachtraum. Nur weil wir die Bereitschaft haben zu träumen, weil wir die Eigenschaft besitzen, in Träumen zu leben, nur darum können Sie Ihre Geschäfte machen.« Ich schiebe dem Direktor das Papier hin, und als er es nicht beachtet, nimmt es mein Freund und zeigt es ihm.
»Kannst du nicht sprechen!«, fährt mich der Direktor an. Ich sage nichts. Der Direktor wendet sich meinem Freund zu, streckt kurz die Zunge heraus und verdreht die Augen, um anzudeuten, ich sei schwachsinnig. Vor Wut steigen mir Tränen in die Augen, warum liest er nicht, was ich aufgeschrieben habe?
»Er ist in Ordnung«, sagt mein Freund, und ich hasse ihn in diesem Augenblick. In Ordnung! In Ordnung! Was will er damit ausdrücken? Dass ich so bin wie er, wie alle? Und hat er nicht bemerkt, dass der Direktor mich duzt?
Mein Freund, der mich kennt, weiß, wie mir zumute ist, und fängt mich zu loben an.
»Erst durch einen Unfall in unserem Sägewerk« (er meint das Sägewerk seines Vaters) »hat mein Freund seine Stimme verloren … sehen Sie die Narbe an seinem Hals … wir haben gemeinsam das Gymnasium besucht, müssen Sie wissen …« – Nachdem ich mit der Faust auf den Tisch geschlagen habe, hört er zu reden auf, und ich gehe auf die Toilette hinaus. Als ich zurückkomme, bemerke ich, dass der Zirkusdirektor über mich Bescheid weiß. Ich lasse mir jedoch nichts anmerken, nehme einen Schluck Bier aus meinem Glas und zünde mir eine Zigarette an.
»Vergessen Sie nicht, dass ich seit dreißig Jahren einen Wanderzirkus betreibe«, sagt der Direktor unvermittelt (und natürlich fällt mir auf, dass er nun per Sie mit mir spricht), »ich muss also wissen, wovon die Menschen träumen. Glauben Sie mir, sie träumen nur Träume, die ihnen vorgeträumt werden. Ich träume ihnen einen Traum vor, und sie träumen mit. Alle Träume, die diese Menschen träumen, sind längst erdachte, längst gelebte Träume. Was Sie als Absolvent eines Gymnasiums nicht überraschen wird: Die Menschen lieben die Wiederholung. Durch sie erst fühlen sie sich bestätigt, während sie das Neue, das wirklich Neue stets abstößt. Mit nichts können Sie größeren Schrecken oder größere Wut erzeugen als mit Neuem. Die Menschen wollen sich bestätigt fühlen und wiedererkennen. Im Geläufigen eben fühlen sie sich wohl … Nur eine einzige Vorstellung anzusehen und sich keine Gedanken darüber zu machen, was im Zirkus geschieht, auf welche Weise die Artisten leben, ist der wirkliche Traum. Der wahre Traum ist die Illusion, die Illusion von Zeitlosigkeit, Besitz, Macht. Die Menschen würden erschrecken, wenn die Illusion sich als Wirklichkeit herausstellen würde.«
Als ich daraufhin schreibe, er benutze die Menschen, antwortet er, ohne eine äußere Regung zu zeigen, er sei zwar auch ein Menschenverächter (»Das Leben hat mich dazu gemacht, wie Sie sich denken können.«), andererseits möge ich berücksichtigen, dass er Irren und Verbrechern Arbeit gebe.
Darauf will ich nicht weiter eingehen. Ich schreibe nur, dass die Gründe, aus denen er Irre und Verbrecher beschäftige, mit den Folgen nichts zu tun hätten, und er erwidert: »Am liebsten würde auch ich Ihnen schriftlich antworten, hahaha, Herr … ich weiß nicht einmal Ihren Namen.«
»Lindner«, antwortet mein Freund, und ich bin neuerlich wütend auf ihn.
»Herr Lindner. Ich könnte Bücher schreiben, glauben Sie mir, aber es fehlt mir an Zeit. Beurteilen Sie mich nach den Tatsachen und nicht nach den Absichten, die Sie mir unterstellen. Ich kann mich ja selbst nur nach Tatsachen richten, von den Absichten will ich gar nichts wissen, verstehen Sie?« Meinen Einwand, den ich in fliegender Eile und unter dem Gelächter und den spöttischen Bemerkungen des Zirkusdirektors niederschreibe, »dass man Tatsachen und Absichten kennen müsse, um zu einem Urteil zu kommen«, liest er laut vor, fragt: »Was heißt das?« Und als er auf diese Weise endlich die Aufmerksamkeit aller gewonnen hat, ruft er unter allgemeinem Gelächter: »Dieser Herr ist ein Philosoph und schreibt Traktate.« Aber mit unerwarteter Plötzlichkeit macht er ein ernstes Gesicht, wodurch auch das Gelächter der Übrigen verebbt, und beantwortet mein Schreiben mit einem Redefluss, bei dem er wieder vom Hundertsten ins Tausendste kommt und der ihn von unserem Gesprächsthema abbringt.