Abril Zamora
Élite: Tödliche Geheimnisse
Aus dem Spanischen von Sonja Fehling
FISCHER E-Books
ABRIL ZAMORA ist eine spanische transsexuelle Schauspielerin, Drehbuchautorin und Regisseurin. Nach einer langen Karriere in Film, Theater und Fernsehen hat sie für ihre Interpretation von Luna in der Serie »Vis a vis«, mit der sie die LGTBQ + Realität sichtbar gemacht hat, große Popularität erlangt. Sie ist Drehbuchautorin der Netflix-Serie »Élite« sowie der dazugehörigen Romane.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de
Der erste Roman einer Trilogie, die auf der Netflix-Serie »Élite« basiert.
Paula leidet unter einer Liebe, über die sie mit niemandem sprechen darf. Janine, das Mädchen mit Konfektionsgröße 40, hat ein gefährliches Geheimnis. Ihr von Sex besessener Freund Gorka beginnt, etwas mehr für die falsche Person zu empfinden. Sitzenbleiber Mario, der zu gerne andere mobbt, wird plötzlich selbst erpresst. Melena versteckt hinter einer Fassade von Glamour eine traurige Familiengeschichte.
Doch dann haben sie ganz andere Probleme: Ihre Mitschülerin Marina treibt nach einer Party tot im Pool, und der Polizei wird ein mysteriöses Tagebuch zugespielt, in dem voller Hass über die Ermordete geschrieben wird. Alles deutet darauf hin, dass der Verfasser in ihre Klasse geht ... Hat einer der fünf etwas mit Marinas Tod zu tun?
Deutsche Erstausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
© Abril Zamora, 2019
© Netflix, Inc., 2019
Covergestaltung: Norbert Blommel, MT-Vreden,
nach dem Cover der spanischen Originalausgabe von Pixel and Pixel
Coverabbildung: © Netflix, Inc. 2019
Lektorat: Lisa Blaser
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0388-5
Marinas Gesicht war regungslos. Man bildete sich ein, den Hauch eines Lächelns zu erkennen oder vielleicht auch Gleichgültigkeit, aber tatsächlich spiegelte ihre Miene keinerlei Emotionen wider. Wenn man auf grausame Weise stirbt – in diesem Fall, weil einem der Schädel mit einem schweren Gegenstand eingeschlagen wurde –, sollte man meinen, dass der letzte Gesichtsausdruck der von Entsetzen oder Überraschung wäre, doch das Letzte, was Marina der Nachwelt hinterließ, bevor der Reißverschluss des Leichensacks sie für immer verbarg, war … nichts. Absolut nichts.
Sie lieferte keinen Hinweis, dafür eine Menge Fragen. Gab es nur einen Täter oder mehrere? Nichts war klar, und es gab kaum etwas, an das man sich klammern konnte, um Licht ins Dunkel zu bringen.
Kurze Zeit später allerdings landete etwas auf dem Schreibtisch der zuständigen Kommissarin: ein rosafarbenes Tagebuch aus billigem Pappkarton, wahrscheinlich auf irgendeinem orientalischen Basar gekauft. Der Einband mit Regenbogen und zwei sich umarmenden Kätzchen verriet ganz und gar nicht, dass sich auf den Seiten dahinter so viel Hass verbarg.
»Was ist das?«, fragte die Kommissarin die Polizistin, die ihr das Buch gebracht hatte und nun abwartend vor ihr stand. Die junge Frau sah das Buch an, als handelte es sich dabei um einen schlechten Scherz.
»Das wurde hier im Kommissariat im Briefkasten für Anregungen und Wünsche hinterlassen. Anonym. Ohne Umschlag und Absender.«
Die Kommissarin richtete den Blick auf das Tagebuch, öffnete es und musste nur zwei Seiten überfliegen, um herauszufinden, dass es sich bei dem Ganzen um eine Hassschrift gegen Marina handelte: fünfundvierzig rosafarbene Seiten voller Beleidigungen, Verachtung und durchgestrichenen Sätzen.
Darin würden sie sicher irgendwas entdecken. Und sie mussten unbedingt den Verfasser des Tagebuchs finden. Wenn sie ihn oder sie erwischten, konnten sie vielleicht den Mord an Marina aufklären …
Paula konnte es nicht glauben: Der Kellner des La Cabaña kam tatsächlich in ihre Klasse. Sicher, sie wusste, dass die Schule San Esteban eingestürzt war, trotzdem hatte sie nicht damit gerechnet, dass einige der Schüler von dort auf die Las Encinas geschickt werden würden. Sie konnte nichts dagegen tun – und sie fühlte sich auch ein wenig schlecht deswegen –, aber irgendwie freute sie sich über den Einsturz der Schule – schließlich hatte der zur Folge, dass Samuel nun ein ganzes Jahr lang in ihre Schule gehen würde. Ein Jahr, in dem Paula sämtliche Tricks anwenden würde (wobei sie noch nicht mal selbst wusste, welche das sein könnten), damit er sie beachtete. Samuel. Sein Name war das Einzige, was sie von ihm wusste.
Er heißt Samuel. Mehr weiß ich nicht über ihn: nur seinen Namen. Samuel. Okay, ich weiß, wo er wohnt. So was tut man eigentlich nicht, aber einmal habe ich ihn bis zu seinem Haus verfolgt – ohne Hintergedanken, ehrlich, aber ich konnte einfach nicht anders. Wenn man total in jemanden verknallt ist, mit dem man sonst gar nichts zu tun hat, muss man sich eben etwas einfallen lassen, um an ihn ranzukommen und mehr über ihn zu erfahren. Wir haben ja keine gemeinsamen Freunde und auch sonst keine Verbindung zueinander – und wahrscheinlich kommen wir auch aus total verschiedenen Welten –, aber ich kann nicht anders: Da sind halt diese Gefühle, wenn er im La Cabaña an meinen Tisch kommt, um meine Hamburger-Bestellung aufzunehmen.
Was mir am besten an ihm gefällt? Keine Ahnung … Vielleicht seine Stupsnase. Sein süßes Lächeln. Okay, und sein Kinn und seine dichten, dunklen Wimpern … Na schön, mir gefällt alles an ihm. Aber am meisten wohl sein Gesicht. Er sieht aus, als könne er keiner Fliege was zuleide tun. Ich weiß, dass er seine Familie finanziell unterstützt, und das finde ich total süß von ihm … Gott, ich bin so bescheuert. Nein, nicht wirklich. Ich bin nur gerade nicht zurechnungsfähig, weil ich verliebt bin, aber sonst bin ich eigentlich nicht so naiv. Echt nicht.
Woher ich weiß, dass ich verliebt bin? Na, das ist ganz einfach zu beantworten: Verliebt zu sein ist eine körperliche Reaktion – eine chemische Verbindung, ein Naturtrieb. Ich reagiere körperlich auf ihn. Und ich kann noch so sehr versuchen, das zu kontrollieren: Sobald er mir entgegenkommt, wird mein Mund ganz trocken, mir zittern die Knie, und ich kann ihm nicht in die Augen schauen. Morgens beim Aufwachen denke ich an Samuel, und wenn ich ins Bett gehe auch. Ich kann nicht einschlafen, ohne von ihm zu phantasieren, wenigstens kurz. Nein, nichts Versautes, zumindest nicht immer. Ich stelle mir alles Mögliche vor. Ganz normale Sachen. Dass wir zusammen in einen Freizeitpark gehen und Riesenrad fahren zum Beispiel; oder zusammengekuschelt auf meinem Sofa liegen und er einschläft, während wir irgendeine Serie auf Netflix schauen, weil er so erschöpft von der Arbeit ist. Oder ich stelle ihn mir an einem Sonntagmorgen in Jogginghose vor, mit nacktem Oberkörper. Und wie er mich anlacht. In meiner Phantasie lacht er immer. Ich glaube, Samuel hat kein einfaches Leben, trotzdem lächelt er immer, und das finde ich toll. Okay, er erinnert mich auch an Harry Potter, und den hab ich schon immer angehimmelt, aber das erzähle ich besser niemandem hier – auf der Las Encinas verwenden die Leute jede Kleinigkeit gegen dich, mit der sie sich über dich lustig machen können. Ich schätze, das ist wohl normal, wenn man es bis ganz nach oben schaffen will: Es kommen immer die am weitesten, die möglichst viele Menschen schikanieren.
Die Leute halten uns alle für Kinder aus gutem Hause, wohlerzogen oder zumindest höflich, aber das ist weit gefehlt … Ich bin zwar ein liebes, nettes Mädchen und nicht eingebildet, aber Gott, man kann ja auch nicht immer nur nett sein … Ich habe lange, blonde Haare und sehe so aus wie meine Oma in jungen Jahren. Sie war Schauspielerin, hat in mehreren Kinofilmen mitgespielt. Warum ich dann nicht beliebt bin? Tja, ganz einfach, das hat was mit Blut zu tun. Nein, ich hab niemanden umgebracht, nicht dass ich wüsste. Aber in der neunten Klasse habe ich zum ersten Mal meine Periode bekommen, den reinsten Blutschwall, mitten in der Mathestunde. Eigentlich wollte ich aufstehen und auf die Toilette gehen, aber das hätte auch nichts genutzt. In dem Moment fand ich es furchtbar, dass unsere Schuluniformen für die Mädchen aus einem Rock bestehen; hätte ich eine gescheite Hose angehabt, hätte ich das Ganze besser vertuschen können. So haben natürlich alle über mich gelacht … Gut, kann sein, dass meine hysterische Reaktion etwas übertrieben war, aber es war auch so, dass die Mädchen in meiner Klasse schon länger ihre Tage bekamen und ich nicht.
Ich hab mal gelesen, dass Mädchen, die eine schlechte Beziehung zu ihrem Vater haben, ihre Periode früher bekommen, weil der Körper sie dadurch stärkt und eher zur Frau macht, aber mein Vater ist ein lieber Mensch, der mich immer nur beschützt hat … Vielleicht habe ich deshalb erst so spät meine Tage bekommen. Jedenfalls nennen mich seitdem alle Carrie, wegen des ganzen Blutes und so. Das verfolgt mich. Worauf wollte ich damit jetzt hinaus? Ach ja: den Grund, warum ich nicht beliebt bin. Aber eigentlich hat mich das nie belastet, und es ist sogar viel besser so. Wenn ich zu den beliebten Mädchen gehören würde, könnte ich mich nicht heimlich an Samuel heranmachen, und die Anonymität gibt mir Selbstvertrauen. So riskiere ich nichts und werde auch nicht bloßgestellt …
Was Paula allerdings nicht bemerkte, war, dass Samuel – kaum dass er die Klasse betreten hatte – ein Auge auf Marina warf, der Schwester von Guzmán. Und warum? Hm, vielleicht weil Marina ihn als Erste anlächelte oder auch weil Paula zu weit hinten saß und hinter der Lockenmähne der anderen quasi nicht sichtbar war für den Kellner. Es war wohl purer Zufall.
Aber Vorsicht: Dass Paula nicht beliebt war, hieß nicht, dass sie keine Freunde hatte, ganz und gar nicht. Wenn man die Fotos in einem Jahrbuch betrachtet, ist es normal, dass man sich zuerst auf die Leute konzentriert, die am meisten hervorstechen. Und so ist es auch normal, dass der Blick zunächst auf Carla, Lu, Guzmán, Polo und Ander fällt … Schaut man jedoch genauer hin – daneben oder auf die Reihe dahinter –, sieht man auch den Rest der Schüler, und die sind nicht weniger interessant. Das Ganze hat auch nichts mit dem Aussehen zu tun, sondern damit, dass eine charismatischere Gruppe von Schülern die anderen überstrahlt.
Paula ist tatsächlich sehr hübsch, hat eine wunderschöne Figur und eine blonde Wallemähne, nur ist sie zu gehemmt im Umgang mit Menschen, um sich auf der Beliebtheitsskala von Las Encinas bis ganz nach oben zu katapultieren.
Gorka zum Beispiel hat Segelohren – ein Grund für viel Spott –, aber was er nicht weiß, ist, dass seine Ohren in einigen Jahren eine Reihe von Mädchen um den Verstand bringen werden, denn manchmal verleiht uns genau das, was uns von anderen unterscheidet, Persönlichkeit und sogar Sexappeal – und genau das tun seine Ohren, auch wenn seine Mitschüler das derzeit noch nicht sehen können. Er ist auch nicht besonders groß, aber er quält sich jeden Tag mit Bauchmuskeltraining ab. Das posaunt er nicht rum, allerdings zieht er bei jeder möglichen Gelegenheit sein T-Shirt hoch.
Janine ist nett, liebenswert und eloquent, aber sie hat Größe 40 (40, unfassbar!), und das führt dazu, dass sie nicht in die Königsklasse der Schule passt.
Und dann ist da noch María Elena, besser bekannt als Melena. Warum Melena? Das ist eine andere Geschichte. Melena ist die Tochter eines international bekannten Models, das Mitte der Neunziger sogar zur Miss Spanien gewählt wurde. Sie ist zwar nicht genauso schön und hat auch nicht so eine gute Figur wie ihre Mutter, sieht aber auch nicht schlecht aus. In der zehnten Klasse hatte Melena viel Stress und entwickelte eine Angststörung, die zu Alopecia areata führte – so etwas Ähnlichem wie stressbedingtem Haarausfall, der vereinzelt kahle Stellen am Kopf hinterlässt. Stellt euch vor, der Mond hätte Haare. Und jetzt stellt euch vor, er würde seine Haare verlieren und überall darunter würden seine Krater zum Vorschein kommen. Genauso sah der Kopf des armen Mädchens aus. Sie war halb kahl, und ihre Mitschüler – fies, wie sie waren – fassten ihren Namen zu Melena zusammen, was auf Spanisch Mähne heißt. Der Haarausfall war zwar schnell wieder vorbei, und ihr Haar wuchs wieder – sie hatte dann einen Kurzhaarschnitt wie Demi Moore in Ghost, und die Leute vergaßen den Vorfall –, doch der Spitzname blieb, und niemand nennt sie mehr bei ihrem richtigen Namen. Tatsächlich dreht sie sich nicht einmal mehr um, wenn jemand sie Elena oder María Elena ruft. Normalerweise beachtete sie niemand, aber heute, zu Beginn des Schuljahres, steht Melena plötzlich im Zentrum der Aufmerksamkeit, weil sie noch nicht in der Klasse aufgetaucht ist und ihre Freunde den ganzen Sommer über nichts von ihr gehört haben.
Gorka hatte schon damit gerechnet, dass ihre Abwesenheit Fragen aufwerfen würde.
O Mann, ich hab echt einen Haufen Geschichten und Sachen über Melena gehört. Diese bescheuerten Leute. Menschen sind echt zum Kotzen und setzen irgendwelche Gerüchte in die Welt. Scheiße, es tut echt weh, dass sie den ganzen Sommer über nicht mal angerufen hat, schließlich hat sie immer gesagt, dass ich ihr bester Freund bin. Ja, das hat sie, und deinen besten Freund lässt du nicht den ganzen Sommer über links liegen. Wobei ich sagen muss, eigentlich hab ich sie gar nicht vermisst, weil ich so eine geile Zeit bei meiner Tante hatte, im Pool und in der Surfschule, aber egal … Wenn ich sie nun hätte erreichen wollen, weil irgendwas passiert ist oder ich ihr irgendwas Dringendes erzählen will, hätte ich echt Pech gehabt … Definitiv.
Was so über sie geredet wird? Alles Mögliche. Absolut ALLES. Dass sie nach London abgehauen ist, um abzutreiben, weil sie irgendeinen älteren Typen kennengelernt hat, der sie geschwängert hat. Dass sie nach Kolumbien geflogen ist, um sich größere Titten machen oder Fett absaugen zu lassen, oder was weiß ich für einen Scheiß. Ich weiß nur, dass das alles nicht stimmt, weil sie das überhaupt nicht nötig hat. Ich hab sie schon x-mal im Bikini gesehen. Ansonsten hab ich noch gehört, wie einige Frauen aus dem Viertel gesagt haben, dass sie sicher ihre Mutter auf deren Weltreise begleitet. Ja, ist klar … Oder dass ihr alle Haare ausgefallen sind und sie eine Glatze bekommen hat so wie Charles Xavier – ja, der von den X-Men, der Typ im Rollstuhl – und dass sie deswegen das Haus nicht mehr verlassen will … Also, ganz ehrlich, ich habe keine Ahnung, aber ich hoffe, dass sie es mir noch erzählt. Das wäre nur fair, oder? Tatsächlich hab ich mir unsere letzte Begegnung mehrmals durch den Kopf gehen lassen. Ich glaube, das war bei ihr zu Hause in der Garage: Wir haben uns besoffen, aber es ist nichts Besonderes passiert. Wir haben uns weder gestritten noch sonst irgendwas gemacht, weswegen wir uns jetzt aus dem Weg gehen müssten. Ganz im Gegenteil: Wir haben über die guten alten Zeiten geredet, uns Geschichten aus unserer Kindergartenzeit erzählt und über Pokémon gesprochen, verdammt, als wären wir erst zehn … Ich fand immer Glumanda am besten und sie Pummeluff.
Während die anderen über sie redeten, saß Melena in der dunkelgrauen Luxuskarosse ihrer Mutter auf der Rückbank. Der Chauffeur parkte schon seit einer ganzen Weile vor dem Tor der Las Encinas, aber Melena wollte nicht aussteigen und blieb ganz gelassen sitzen. Sie zündete sich erneut ihren Joint an und warf dem Fahrer durch den Rückspiegel einen warnenden Blick zu. Sie sagte nichts, starrte ihn einfach nur drohend an. »Wenn Sie meiner Mutter irgendwas hiervon erzählen, sorge ich dafür, dass sie Sie rausschmeißt, das schwöre ich Ihnen, Sie verdammter Pisser.« Nein, sie war nicht kriminell oder so was – sie liebte es einfach, Macht über andere zu haben, und gerade war sie auch nicht besonders gut drauf. Die getönten Scheiben schützten sie vor den Blicken ihrer Mitschüler, die wie eine Herde dummer Schafe das neue Schuljahr begannen.
Melena zog ein letztes Mal an ihrem Joint, atmete einmal tief durch und öffnete die Autotür. Dann stieg sie aus und zog ihren Pferdeschwanz straff, während sie auf den herrschaftlichen Eingang der Schule zuschritt. Eigentlich war sie keine Heuchlerin, trotzdem setzte sie ein strahlendes Lächeln auf, und ihre Wangen röteten sich sogar ganz leicht, als sei sie unter ihrer blassen Fassade eine kerngesunde junge Frau. So ging sie zu Carla hinüber, zu der auch Lu hinzustieß, und fragte die beiden, wie ihr Sommer gewesen sei. Ihre Mitschülerinnen erwiderten ihr Lächeln und beantworteten höflich ihre Fragen. Ob sie Freundinnen waren? Hm … Früher ja, doch im Laufe der zehnten Klasse hatte sich ihre Freundschaft genauso schnell verflüchtigt wie Melenas Haare. Sicher, ihre Haare waren inzwischen wieder nachgewachsen, doch ihre Beziehung zu den anderen war nicht mehr die gleiche. Natürlich tuschelten die beiden beliebtesten Mädchen der Schule über sie, wenn sie vorbeiging, aber auch eher oberflächlich, so nach dem Motto »Schau mal, was ist denn mit der?«. Ansonsten war Melena einfach nicht wichtig genug, um viel Atemluft an sie zu verschwenden. Nicht mehr jedenfalls.
Natürlich begrüßte Melena auch Janine, Gorka und Paula, als sie das Klassenzimmer betrat, benahm sich dabei jedoch irgendwie anders als sonst – dass sie nur die Hand zum Gruß hob und dabei schief lächelte, passte einfach nicht zu ihr. Immerhin hatte sie ihre Freunde die ganzen Sommerferien nicht gesehen! Doch es blieb keine Zeit, zu ihr rüberzugehen und sie danach zu fragen: Der Lehrer kam in die Klasse und machte die Gelegenheit zunichte.
Als der Pausengong ertönte und damit das Ende der ersten Stunde verkündete, stand Melena auf und verließ das Klassenzimmer in Richtung Klo. Gorka zögerte nicht lange, sprang ebenfalls auf und hastete ihr hinterher. Auf der Hälfte des Flurs holte er sie ein.
»Was ist denn eigentlich los, verdammt nochmal?«, rief er schon aus einigen Metern Entfernung, als sie gerade in der Mädchentoilette verschwinden wollte.
»Bitte?«, fragte sie.
»Was ich dir getan habe, will ich wissen. Du hast mich den ganzen beschissenen Sommer lang ignoriert. Keine Nachricht, nicht mal bei Instagram. Du hast nicht eins meiner Fotos kommentiert. Hab ich irgendwas verbrochen?«
»Gorka, ich hab’s echt nicht nötig, mich vor dir zu rechtfertigen. Ich war halt viel unterwegs …«, versuchte Melena sich herauszureden.
»Und da hattest du nirgends Empfang, oder was?«, ließ Gorka sich nicht abwimmeln.
»Darf ich jetzt aufs Klo gehen? Ich muss nämlich dringend pinkeln, und ich hab keinen Bock, zu spät zur zweiten Stunde zu kommen, okay? Wir reden später.«
Sie gab ihm gar nicht erst die Möglichkeit zu antworten, sondern flüchtete sich auf die Toilette. Gorka blieb seine Antwort im Halse stecken, er drehte sich um und kehrte – ärgerlich vor sich hingrummelnd – in die Klasse zurück.
In Wahrheit musste Melena gar nicht pinkeln – sie wollte einfach nur allein sein, ohne ständig lächeln oder freundlich zu den anderen sein zu müssen. Ihr ging es nicht gut, und eigentlich wäre sie lieber woanders gewesen. Zumindest an diesem Tag. Sie spritzte sich Wasser ins Gesicht, fuhr sich mit der nassen Hand über den Nacken und betrachtete sich anschließend im Spiegel. Kopfschüttelnd sah sie sich an, dann setzte sie erneut ihre strahlende Fassade auf und verließ die Toilette.
Christian, einer der Schüler aus der eingestürzten Schule, lief nackt durch den Gang – und das alles nur, weil irgendjemand, der das offensichtlich witzig fand, seine Klamotten versteckt hatte, während er nach dem Sport unter der Dusche gestanden hatte. Ein kleines Begrüßungsritual für diejenigen, die nicht ins Raster passten – zumindest nicht in den Augen der populären Schüler, die hier das Sagen hatten.
Während der junge Mann im Adamskostüm durch den unteren Flur rannte, fing Gorka Paula ab – eigentlich ohne besonderen Grund; er wollte sie nur fragen, ob sie zusammen auf die Party gehen würden, die Marina am kommenden Wochenende gab und zu der sie die ganze Klasse eingeladen hatte. Allerdings war Gorka ungewöhnlich nervös und geriet mehrmals ins Stottern, was in Paula eine ganze Reihe von Fragen aufwarf, doch die verkniff sie sich. Stattdessen antwortete sie lächelnd: »Klar gehen wir da zusammen hin, Gorka.«
»Super.«
»Super«, bestätigte sie und lächelte ihn erneut an. »Wahrscheinlich kommt Janine auch mit.«
Gorka schluckte und lockerte den Knoten seiner Krawatte ein wenig. »Ach so, klar.« Unbewusst kaute er an der Innenseite seiner Wange herum und kratzte sich am Hinterkopf. »Ich meinte eigentlich, ob wir in einem Auto fahren und so … Keine Ahnung, um halt zusammen zu fahren … Oder so was …«
Die Schulglocke rettete ihn. Buchstäblich. Sie schrillte, und alle gingen in ihre Klassen zurück, so dass der Flur leer war.
Einigen unter ihnen – Janine zum Beispiel – sollte es an diesem Tag allerdings nicht mehr gelingen, auch nur einen einzigen Satz zu Papier zu bringen. Stattdessen saß sie auf ihrem Stuhl, schaute aus dem Fenster und wiederholte in ihren Gedanken immer wieder, dass sie es einfach nicht fassen könne …
Ich kann es einfach nicht fassen. Dass Marina mich zu ihrer Party eingeladen hat, ist echt der Wahnsinn … Okay, sie hat alle eingeladen, die ganze Klasse, aber ich war nie mit ihr befreundet. Ich glaube, wir haben keine drei Worte miteinander gewechselt … So ist das wohl, wenn man neureich ist – dass sich die, die schon immer Geld hatten, eher selten mit einem abgeben. Meine Eltern haben halt im Lotto gewonnen. So ist das nun mal. Deswegen haben wir so viel Kohle. Wir haben weder hart dafür geschuftet noch sonst irgendwas gemacht. Mein Vater hat seinen Job als Bäcker gekündigt, und wir sind hierhergezogen. Meine Eltern haben mich auf die Las Encinas geschickt, damit ich später mal meine eigene Kohle verdiene und nicht auf den zufälligen Gewinn bei einem Glücksspiel angewiesen bin. Auf jeden Fall habe ich abgesehen von Gorka und Paula keine Freunde, brauche ich aber auch nicht. Ich komme ganz gut allein klar mit meinen Mangas und Animes, und ich mache mein eigenes Ding … Ich muss mir die Zeit nicht mit sinnlosen Gesprächen oder blöden Lästereien vertreiben. Echt nicht. Trotzdem fällt mir auf, dass ich seit Marinas Einladung irgendwie das Gefühl habe … dazuzugehören. Dass ich doch normal bin.
Wobei: Normal zu sein ist nicht gerade mein Problem. Das bin ich eh. Sehr normal. »Normal« ist eigentlich eine Bezeichnung, die mich echt aufregt, aber was soll ich sagen? Ich hab mich in der Klasse so oft wie eine Außenseiterin gefühlt, teilweise sogar diskriminiert, und jetzt, wo mich jemand wie Marina, ein Mädchen, das so … so cool ist, zu ihrer Party einlädt, fühle ich mich doch irgendwie als Teil der Gruppe, und das beruhigt mich. Das Problem ist nur: ICH HABE KEINE AHNUNG, WAS ICH ANZIEHEN SOLL, VERDAMMT! Klar, ich kann vorher mit meiner Mum shoppen gehen, aber ich hab einfach nicht so eine Figur wie Paula, Carla oder Marina, die anziehen können, was sie wollen, und immer toll aussehen. Ich dagegen bin breit gebaut. Ich bin nicht dick oder so was – wobei die mich an der Kasse schon ein paarmal komisch angesehen haben. Aber so was verunsichert mich nicht … Echt nicht. ICH SCHWÖRE. Mir wird bewusst, dass ich ein bisschen neidisch auf die Mädchen in meiner Klasse bin, die in jedem Klamottenladen einkaufen können. Wusstet ihr, dass es in der Stadt Geschäfte gibt, die nur Sachen bis Größe 36 haben? Das ist echt traurig, und ich glaube, das führt dazu, dass viele Mädchen irgendwelche Essstörungen entwickeln. Aber ich nicht. Ich esse einfach gerne. Klar wäre es mir lieber, das wäre anders, aber ich genieße es nun mal, und wenn man sechzehn ist, gibt es echt nicht viele – eigentlich sogar nur extrem wenige – Sachen, die man im Leben noch genießen kann, das steht fest. Und deswegen denke ich gar nicht daran, mir das Essen vermiesen zu lassen.
Was mir allerdings noch ein bisschen Angst macht, wenn ich an Marinas Party denke, ist, dass dort definitiv viel Alkohol getrunken wird, und ich muss ein Geheimnis für mich behalten, ein ziemlich wichtiges Geheimnis. Sehr wichtig. Ich hab versprochen, es niemandem zu erzählen, aber ich denke die gaaaaanze Zeit daran und ich weiß, sobald ich meinen ersten Jägermeister getrunken habe, fange ich an, es auszuplaudern, und das will ich nicht. Echt nicht. Ich würde gerne, aber ich kann es nicht. Ich darf es nicht. Also schweige ich. Zumindest versuche ich es. WAS SOLL ICH BLOSS ANZIEHEN? Ich sterbe. Ich hasse meine Klamotten. Grrr!
Omar, der Marokkaner, der Melena mit Joints belieferte, stellte sein Fahrrad auf dem Platz ab. Melena, die noch ihre Schuluniform anhatte, wartete schon auf ihn. Wie immer redeten sie nur ganz kurz miteinander. Omar war kein besonders gesprächiger Mensch, und das Leben seiner Kunden interessierte ihn nicht. Er beschränkte sich darauf, die Frage »Wie viel?« zu stellen, den Stoff loszuwerden und die Kohle einzukassieren. Als Drogenhändler für Jugendliche vermied man es besser, irgendwelche Verbindungen zu den Kunden herzustellen, und das kam auch Melena sehr entgegen, denn dieses Jahr war sie wie die Büchse der Pandora: eine Büchse voller dunkler Geheimnisse, die bis jetzt allerdings fest verschlossen war.
»Ich dachte, du hättest damit aufgehört«, sagte Omar, während er die zwanzig Euro für das Haschisch entgegennahm.
»Hab ich auch«, antwortete sie wenig interessiert.
»Hast du keinen Unterricht?«
»Doch, schon …«
»Aber du schwänzt, oder was?«
»Und bei dir so?«, entgegnete sie angriffslustig.
»Nichts, was dich was angeht.«
Bei diesem letzten Satz hob er die Augenbrauen. Dann kniff er seine fast schwarzen Augen zusammen, um ein wenig geheimnisvoller auszusehen, bestieg sein Fahrrad und radelte den Berg weiter hinauf.
Was war mit Melena passiert? Wieso sah sie so wütend aus? Wieso erzählte sie niemandem etwas? Und warum tat sie vor den anderen so, als wäre alles in Ordnung, obwohl es ziemlich offensichtlich war, dass über ihrem Kopf eine dunkle Wolke schwebte, in der sich nicht nur Blitze befanden, sondern auch Hagel und alles, was es sonst noch so an schlechtem Wetter gab.
Sie kam viel zu spät zum Unterricht und tischte dem Lehrer die Ausrede auf, dass sie eine Reifenpanne gehabt hätte. Lächelnd entschuldigte sie sich für ihr Zuspätkommen und sah dem Lehrer dabei direkt in die Augen. Mathe fand sie zwar furchtbar, aber Lügen war ihr Lieblingsfach. Darin hatte sie genügend Übung, weil sie es oft genug tat, vor allem zu Hause vor ihrer Mutter. Mittlerweile hatte sie ihre Technik perfektioniert, da sich ihre Mutter nicht so leicht etwas vormachen ließ. Ihre Mutter … Man konnte sagen, die beiden hatten eine ziemlich komplizierte Beziehung zueinander.
Meine Mutter hasst mich. Ihr wäre es lieber, sie hätte mich in Mexiko abgetrieben. Sie wollte mich nicht und hat mich zu einem ziemlich unpassenden Zeitpunkt bekommen, als ihre Karriere gerade so richtig vorwärtsging. Als berühmtes Model, das auch noch die Miss-Spanien-Wahl gewonnen hat, ist es sicher nicht leicht, die Karriere aufzugeben, weil man schwanger ist. Aber das war sie nun mal. Jung, wunderschön, mit guten Genen ausgestattet und schon so erfolgreich, dass sie es auf die wichtigsten Laufstege dieser Welt geschafft hatte. Meine Mutter hasst mich, weil sie wegen mir Schwangerschaftsstreifen hat, wie sie immer wieder betont – und weil sich ihr Gesicht nach der Geburt verändert hat. Sie sagt ständig, die höllischen Schmerzen, die sie erleiden musste, als sie mich mit meinen fast fünf Kilo auf die Welt gebracht hat, und der Dammriss hätten dazu geführt, dass sich für immer ein wütender Ausdruck in ihr Gesicht eingebrannt habe und sie nie wieder schön und anmutig aussehen werde. Meine Mutter hasst mich. Das weiß ich, aber das sagt sie nur indirekt, wenn sie wütend ist oder ich sie belogen habe, was ungefähr drei- bis viermal am Tag vorkommt. Sie denkt, ich würde es nicht bemerken, aber ihre mit Hyaluronsäure aufgespritzten Lippen formen jedes Mal ein stummes »Ich hasse dich«, wenn wir streiten. Doch das ist mir egal, weil ich sie genauso hasse. Ich hasse ihre Fotos, auf denen ihre kilometerlangen Beine abgebildet sind. Ich hasse ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart, und in der Zukunft würde ich sie am liebsten nie wiedersehen.
An meinem achtzehnten Geburtstag haue ich ab. Klar, ich weiß noch nicht, was ich aus meinem Leben machen will, aber irgendwie wird es schon weitergehen – was passieren soll, passiert sowieso. Auf jeden Fall werde ich nicht bei meiner bescheuerten Mutter bleiben. Ja, ich bezeichne sie als bescheuert, aber das sage ich ihr auch ins Gesicht, weil ich es nicht mag, schlecht über jemanden hinter dessen Rücken zu reden. Sie hasst mich, ich hasse sie, und wir müssen uns irgendwie ertragen, aber das gelingt uns nicht besonders gut. Nichts gelingt uns besonders gut. Ich falle immer in Mathe durch und sie als Mutter. Ich bin gut im Lügen und sie darin, innerhalb von fünf Minuten besoffen zu sein. Ich schätze, das liegt daran, dass sie ihre Pillen mit Rum-Cola einnimmt, denn obwohl sie eigentlich total versnobt ist, hat sie auch eine prollige Seite: Die Mütter der anderen Schüler auf der Las Encinas trinken nur edlen Rotwein, den sie sich zu egal welchem Anlass gönnen und der wahrscheinlich ein Vermögen kostet. Meine Mutter dagegen beweist, wie vulgär sie ist, indem sie den billigsten Rum aus dem Supermarkt in sich reinschüttet. Und trotzdem sieht das Dreckstück immer noch erstaunlich gut aus, und manchmal bewundere ich sie sogar irgendwie, wenn sie auf High Heels und in ihrem Morgenmantel aus chinesischer Seide wie ein Geist durchs Haus läuft – Treppe rauf, Treppe runter –, ohne dabei zu stolpern. Vielleicht rutschst du ja eines Tages aus und brichst dir den Hals. Wobei ich mir sicher bin, dass du mich in deinem Testament nicht mal mit einem Cent bedacht hast. Warum nicht? Weil du mich hasst und mich das nicht kratzt. Warum nicht? Tja, weil ich dich genauso hasse.
Und dann kam der Tag der Party. Der Beginn des neuen Halbjahrs gab den Schülern den perfekten Anlass, mal wieder so richtig abzufeiern und sich volllaufen zu lassen. Nichts half besser, um den Kopf frei zu bekommen. Gorka war genervt, weil Melena sich immer noch komisch benahm und er stattdessen sah, wie ihre Freundschaft zu Lu und Carla jeden Tag enger wurde. In Wirklichkeit war das bestimmt nicht so, aber Melena bemühte sich sichtlich darum, zu den beiden dazuzugehören. Die drei kicherten ständig im Unterricht – total albern, aber diese hübschen, reichen Mädchen hatten nun mal keine großen Probleme im Leben und konnten es sich leisten, unbekümmert zu sein.
Janine hatte für die Party ein figurbetontes Kleid ausgewählt. Zwar hatte Paula sie darauf hingewiesen, dass es zu eng säße, aber Janine hatte sich darauf gefreut, es zu tragen. Auf jeden Fall stand ihr die Farbe Lila gut, und selbst wenn sie in dem Kleid ein wenig wie die Wurst in der Pelle aussehen mochte – das Make-up-Tutorial, das sie sich auf YouTube angesehen hatte, verfehlte seine Wirkung nicht, und so sah sie einfach toll aus. Vielleicht wie eine Wurst, aber trotzdem toll. Wie eine hübsche Blutwurst mit roten Lippen – dank Yves Saint Laurent.
Gorka, der die beiden Mädels abholte, war wirklich beeindruckt, die zwei so … so … so zu sehen halt. Paula war einfach bildschön in ihrem rosa Kleid und ihrer Lederjacke, die den ansonsten eher braven Look aufpeppte. Sie war von Natur aus hübsch und brauchte nicht viel, um aus der Gruppe der anderen Mädchen herauszustechen. Außerdem hatte sie noch ihr Haar als Joker, mit dem sie selbst noch dann perfekt aussah, wenn sie einmal durch den Wind gegangen war – auf eine ordentlich-wilde Art.
»Wow«, brachte Gorka stammelnd hervor.
»Wau macht ein Hund«, antwortete Janine in dem Versuch, einen Witz zu machen, den allerdings nur sie lustig fand.
»Können wir los?«
Die drei stiegen in den Wagen von Gorkas Vater ein und fuhren zu Marinas Party.
»Krass!« Mit offenem Mund betrachtete Janine ihre Umgebung.
Wenn man dieses Haus betrat, war es, als würde plötzlich alles wie in Zeitlupe ablaufen. Alles war so wunderschön, dass die Welt sich extra langsam zu drehen schien, damit man all die kleinen, wichtigen Details wahrnehmen konnte.
Wahnsinn. Der Garten war in ein angenehmes Licht getaucht, verströmt durch Lichterketten mit winzigen Glühbirnen, die sonst zu Weihnachten benutzt wurden und jetzt auf eine coole Art die Terrassen überdachten, und oberhalb des Ganzen thronten große Buchstaben, die sich zum Namen der jungen Gastgeberin zusammensetzten. Ihre Party diente der »Einführung in die Gesellschaft«. Böse Zungen behaupteten, dieses Theater werde nur veranstaltet, damit die jungen Leute dieser Gesellschaftsschicht sich ein bisschen besser kennenlernten, miteinander flirteten und Beziehungen knüpften – sozusagen um den Samen für spätere standesgemäße Ehen zu säen.
Janine wusste davon nichts, weil sie erst seit kurzem zu dieser Schicht gehörte, aber für die anderen war es ein offenes Geheimnis.
Mit seinem großen, athletischen Körper, dem markanten Kinn und einem Erscheinungsbild, das nicht im Geringsten dem eines jungen Mannes ähnelte, wirkte Mario schon wie ein gestandener Mann und ganz und gar nicht wie jemand, der gerade erst achtzehn war. Er gehörte zu den Typen, die in Discos niemals ihren Ausweis vorzeigen mussten, und das nicht, weil er dem Türsteher Geld zusteckte – obwohl er genug davon hatte: Sein Vater war der multimillionenschwere Erfinder der App AparcaCar, mit deren Hilfe man überall einen freien Parkplatz finden konnte –, sondern weil er einfach schon immer ein bisschen älter ausgesehen hatte als der Durchschnitt in seiner Altersgruppe. Das galt allerdings lediglich für sein Äußeres – charakterlich benahm er sich immer noch wie ein verwöhntes Kind. Ein Kind mit Stil und Eleganz und stets gestylten Haaren – alles Attribute, die er strategisch einzusetzen wusste. Mario befand sich in seinem letzten Jahr auf der Las Encinas, und was ihm die Natur an optischen Vorzügen mitgegeben hatte, schien sie ihm in puncto Lerneifer wieder abgezogen zu haben. Seine Noten waren ziemlich schlecht, aber da die Lehrer großzügig mehrere Augen zugedrückt hatten, war er erst einmal sitzengeblieben. Würde man jemanden auf der Las Encinas nach diesem Schüler fragen, bekäme man sicher folgende Antwort:
Mario wird von uns allen »Der Verführer« genannt. Er hat zwar nie Bock zu lernen, aber der Mistkerl besteht trotzdem jedes Mal. Außerdem klebt jede Woche ein anderes Mädel an ihm. Es hält sich das Gerücht, dass er seine Jungfräulichkeit schon mit zwölf verloren hat und zwar durch eine Lehrerin … Zumindest hat man mir das erzählt, aber ich glaube nicht, dass das stimmt. Die Lehrerinnen hier sind echt alle uralt, und Mario kommt mir nicht wie der Typ vor, der auf MILFs steht. Im Gegenteil: Er benimmt sich genauso wie die anderen Typen in seinem Alter, steht immer bei den angesagtesten Clubs auf der Gästeliste, ist auf jeder coolen Party anzutreffen und hat hundertzwanzigtausend Follower bei Instagram. Mag sein, dass er die gekauft hat, aber er hat sie – und das, obwohl er keine besonders originellen Bilder postet. Hier, schaut her, was für tolle Bauchmuskeln ich habe und was für einen geilen Gesichtsausdruck – und meine Hashtags sind alle auf Englisch. Aber Mario gefällt das. Ihm gefällt alles.
Und dort stand er nun an der Theke, der populärste Schüler der Las Encinas, mit einem Glas Champagner in der Hand, umringt von einer Entourage aus jungen Männern – nicht ganz so attraktiv wie er, aber trotzdem gutaussehend – und vier bis fünf dummen, breit grinsenden Tussis.
Die Party war bereits in vollem Gange und verlief relativ normal: Ein bisschen Getanze hier, ein Zungenkuss da, das ein oder andere schmutzige Geheimnis … Würde man eine Tour durch Marinas Haus machen, würden man sehen, wie Melena sich mit Carla und deren Freund Polo unterhält; oder wie Lu, völlig untypischerweise, Nadia anspricht, die neue Schülerin mit dem Hijab. Man könnte außerdem beobachten, wie Ander, der Sohn der Direktorin und aufstrebender Tennisstar, sich volllaufen lässt, als gäbe es kein Morgen mehr; oder wie Paula, Janine und Gorka in einer Ecke einen Jägermeister nach dem anderen runterkippen – aus der Flasche, die sie selbst eingeschmuggelt haben. Klar gab es auf der Party auch guten anderen Alkohol, aber eine Party ohne Jägermeister war keine richtige Party.
Janine allerdings trank normalerweise keine Shots und hatte zu Beginn jedes Mal abgelehnt. »Nein, ich will nicht, echt nicht. Ich darf nicht, und ich will nicht. Nein, Gorka, nimm die Flasche weg. Ich will nicht, ich will nicht, ich will nicht.« Aber am Ende knickte sie doch ein. »Okay, gib her. Los.« Böser Fehler. Warum? Ganz einfach: Wenn man nichts isst, weil man unbedingt in ein zu enges Kleid passen will, und dann fünf Gläser dieses dunklen Gesöffs hintereinander trinkt, fängt man innerhalb von fünfzehn Minuten an zu schwanken, und die Welt dreht sich wie ein Kreisel um einen. Das wäre noch nicht mal so schlimm, würde das in irgendeiner Disco passieren, aber auf der Party von Marina Nunier Osuna wird das nicht unbedingt gern gesehen.
In diesem Moment kam der Song Perdona (ahora sí que sí) von Carolina Durante aus den Boxen, und Janine drehte den Verstärker laut auf, bevor sie ihre Freunde stehen ließ und auf die improvisierte Tanzfläche im Garten stürmte. Alles drehte sich, einschließlich ihr selbst. Eigentlich war Janine eine gute Tänzerin, aber nicht, wenn sie betrunken war – und in diesem Augenblick war sie das nun mal. Ziemlich sogar. Die Arme.
»Te pido perdón por no ser mejor que nadie«, gröhlte sie so laut mit, als wäre sie auf einem Konzert. Tut mir leid, dass ich auch nicht besser bin als alle anderen. Wie passend.
Das Schöne daran, dass man nicht zu den beliebten Mädchen gehört, ist unter anderem, dass man sich quasi unsichtbar durchs Leben bewegen kann. Doch Janine war nicht mehr unsichtbar – ihr Tanz zog ziemlich viel Aufmerksamkeit auf sich. Wenigstens gelang es ihr weiterhin, ihr Geheimnis für sich zu behalten, auch wenn die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, sich vehement einen Weg nach draußen bahnen wollten. Worte, die nach vorn gegen ihre Zähne stießen und die aus dem Spalt zwischen ihren Lippen hinausschlüpfen wollten, die sie jedoch immer wieder nach hinten drängte, wenn sie Luft holte. Ja, wie eine Verrückte zu tanzen ist anstrengend und kann einem den Atem nehmen. Wäre in diesem Moment eine Wahrsagerin auf die Party gekommen und hätte die Hand der jungen Frau mit der Kleidergröße 40 genommen, um darin die Zukunft zu lesen, hätte sie sicher scharf die Luft eingesogen. »Es wird ein Unglück passieren«, hätte sie gesagt, aber es gab hier nun mal keine Wahrsagerinnen – nur das markante Gesicht von Mario und seine Augen, die aus der Menge hervorstachen und … Bumm!
Janine hörte auf zu tanzen und beschloss, zu ihm zu gehen und ihn von der Gruppe von Mädels loszueisen, die ihn fast wie Bodyguards abschirmten, als sei er ein Popstar auf dem Weg zur Bühne.
»Hallo, Mario.« Mehr brauchte sie nicht zu sagen, um die Gruppe, die ihn bewachte, zum Schweigen zu bringen. Alle starrten sie an, als warteten sie darauf, dass sie noch mehr sagte, aber das tat sie nicht. Ihr Lächeln verblasste, während sich auf den Gesichtern der anderen ein Grinsen breitmachte. Ja, die lachten tatsächlich über sie.
»Mario …«
Doch er sagte nichts. Stattdessen musterte er sie nur stirnrunzelnd von oben bis unten, und die Falten brannten sich immer tiefer in seine Haut ein, bevor er den anderen lässig zuraunte: »Bah, ist die fett.« Kichernd und flüsternd wandten sich alle von der Bar ab und ließen Janine stehen. Geschockt blieb sie zurück. Sie konnte nicht fassen, was da gerade passiert war. »Bah, ist die fett« – vier Worte, die durch ihren Kopf hallten und dafür sorgten, dass sich sämtliche Organe in ihrem Körper zusammenzogen.
Bah: ein Stich in die Milz.
Ist: ein Tritt in die Nieren.
Die: ein Ziehen im Magen.
Fett: ein Faustschlag in die Lungen.
Es fiel ihr schwer zu atmen, und der Geschmack des Jägermeisters kam ihr wieder hoch, wie um sie daran zu erinnern, dass es ganz allein ihre Schuld war. Sie rannte aufs Klo, doch Lu kam ihr zuvor. Irgendjemand hatte sich auf ihren Rock übergeben, und ihr Gesichtsausdruck wirkte alles andere als freundlich.
»Besetzt, Fetti«, zischte die Mexikanerin und schlug Janine die Tür vor der Nase zu.
Janine stieß einen animalischen Laut aus, der an das Gebrüll einer Löwin erinnerte, und folgte dem Flur bis ins Wohnzimmer, das zum Glück leer war. Alle Gäste befanden sich im Garten, und ein bisschen Dämmerlicht erschien Janine gerade wie das Paradies. Erschöpft ließ sie sich aufs Sofa sinken und vergrub den Kopf in den Händen. Alles drehte sich: ihr Kopf, ihr Herz … Sie verspürte einen leichten Brechreiz und beschloss, sich hinzulegen. Irgendwie kam sie sich vor wie die Ophelia auf dem Gemälde von John Everett Millais, die halbtot im Fluss trieb. Andererseits fühlte sie sich eher so, als wäre sie aus dem vierten Stock eines Hauses gestürzt und auf dem Asphalt aufgeschlagen.
Schritte näherten sich, aber Janine wollte nicht aufstehen. Davon abgesehen wäre es ihr sowieso schwer gefallen, sich überhaupt aufzurichten, weil sie völlig die Kontrolle über ihren Körper verloren hatte. Bis der Jemand, zu dem die Schritte gehörten, ihr unvermittelt auf den Fuß trat. Heftig. Schmerzhaft. Als Janine den Blick hob, erkannte sie zu ihrem Schrecken Mario im Halbdunkel des leeren Raums, und der sah leider nicht so aus, als würde er sich über die Begegnung mit ihr freuen.
»Bist du eigentlich total bescheuert?«, schrie er sie an. »Für wen hältst du dich, verfickte Scheiße, dass du einfach ankommst und mich vor allen anderen ansprichst, hä? Antworte mir, verdammt nochmal. Willst du, dass ich dich fertigmache, oder was? Ja, willst du das? Okay, hör zu, du dumme Kuh: Was da im Sommer zwischen uns passiert ist, bleibt unter uns, klar? Ich war besoffen, und du hast dich an mich rangeschmissen. Nüchtern hätte ich eine wie dich sicher nicht angefasst. Du gefällst mir nämlich nicht. Weil du eine fette Sau bist, und keiner, der bei klarem Verstand ist, würde freiwillig was mit dir anfangen, weil du widerlich bist. Hast du mich verstanden? DU BIST WIDERLICH! Und deshalb ist es besser für dich, wenn du den Mund hältst. Und wenn wir uns irgendwo über den Weg laufen, siehst du mich nicht an. Klar? DU SIEHST MICH NICHT AN«, wiederholte er, jede Silbe betonend, und starrte sie aus seinen blutunterlaufenen Augen an. »Scheiße, ich konnte mich ja auch nicht zurückhalten. Nein, ich musste was mit der Fetten aus der Schule anfangen … Das hier ist kein guter Rat und auch keine Drohung. Es ist ein verficktes Ultimatum, okay? Wenn du dich mir auf weniger als zehn Meter näherst, wenn du mich in der Schule ansprichst oder auch nur meinen Namen erwähnst, kriege ich das mit, und dann mache ich dich platt wie eine Fliege, hast du gehört? Wie eine verschissene Mücke. WAG ES JA NICHT, MICH ANZUSEHEN! Verdammte Scheiße!«
Janine konnte nicht antworten. Mittlerweile hatte sie sich aufgesetzt, und jetzt zitterte sie am ganzen Leib. Außerdem bekam sie kaum Luft nach diesem furchtbaren Strom von Beleidigungen, während Mario energischen Schrittes aus dem Wohnzimmer marschierte.
Janine hatte gar nicht vorgehabt, mit ihm befreundet zu sein, und noch viel weniger wollte sie eine Beziehung mit ihm, aber er war so … so … ein verdammtes Arschloch. Und jetzt saß sie allein im Halbdunkel, während ihr Geheimnis von den Wänden des Wohnzimmers widerhallte: dass sie was mit dem begehrtesten Jungen der Schule gehabt hatte. Und sie hatte sich nicht an ihn rangeschmissen. Nein. Er war zwar betrunken gewesen, aber er hatte mit allem angefangen. So ist das nun mal bei Dorffesten. Sie hatten die Ferien im selben Ort verbracht. Er war allein mit seinen Eltern gekommen und Janine allein mit ihren. Und dann hatten sie sich in der mobilen Disco getroffen, beide mit reichlich Rotwein intus, und es hatte zwischen ihnen gefunkt. Würde man ihn fragen, würde er wahrscheinlich behaupten, es sei voll der Horror gewesen. Janine dagegen …
Es war der Wahnsinn. Ich hätte nie gedacht, dass er sich ausgerechnet in mich verknallen könnte. Unter normalen Umständen hätte er das sicher auch nicht getan, aber die Sommerferien sind eben keine normalen Umstände. Ja, wir haben es tatsächlich getan – nachdem wir miteinander getanzt, gelacht und uns betrunken haben –, und es war einfach toll. Wunderschön. Eigentlich bin ich keine Romantikerin – obwohl ich Grease liebe und japanische Liebesgeschichten mit arrangierten Ehen. Aber das mit uns war wie in einer dieser Geschichten, wo ein Junge ein Mädchen kennenlernt und mehr in ihr sieht als nur ihre Figur. Er wusste nicht, dass wir auf dieselbe Schule gehen, und ich habe es ihm nicht gesagt. Was wäre wohl passiert, wenn ich es ihm gesagt hätte? Hätte er mich dann nicht mit zu sich nach Hause genommen? Vielleicht …
Als wir die Treppe hinaufgegangen sind, hat er mich an die Wand gedrückt und mich geküsst – feucht, aber zärtlich, wobei: fast auch ein bisschen rabiat. Auf jeden Fall hat er die Führung übernommen. Mit dem Pferdeschwanz habe ich aus Versehen ein Kommunionsfoto von ihm zu Boden gestoßen, und wir mussten beide lachen. Aber es war sowieso alles egal, weil wir uns so gut verstanden haben. Dann sind wir in sein Zimmer in dem Ferienhaus gegangen, was noch wie ein Kinderzimmer eingerichtet war – das war fast so, als hätten wir uns in den DeLorean aus Zurück in die Zukunft gesetzt und wären in seine Vergangenheit gereist. Ein kleines Bett mit Schublade unten drunter, voller Aufkleber, und überall Poster von Ben 10 oder den Ninja Turtles – so genau kann ich mich nicht mehr erinnern. Er hat mich aufs Bett geworfen und sein T-Shirt ausgezogen. Dann hat er sich auf mich gelegt, und dabei ist sein Kettchen auf meine Brust gefallen. Es hat sich kalt angefühlt und ist über meine Haut gestreift wie ein Pendel. Ich hab meine Bluse ausgezogen und er mir den BH, und anschließend hat er meinen Rock hochgeschoben, der dann stecken geblieben ist, und wir mussten beide so lachen. Schließlich hat er sich wieder auf mich gelegt und mich geküsst, und ab da wurde es wild: sein Mund auf meinem, seine Zunge an meiner, und plötzlich hatte er die Hand zwischen meinen Beinen. Fast hätte ich sie weggeschoben, wie bei einem Reflex, und fast hätte ich ihm gesagt, dass ich das noch nie gemacht hatte. Aber ich hab nichts von beidem getan, ihm nur gesagt, dass er die Führung übernehmen soll.