Jennifer Niven
Für einen Sommer unsterblich
Aus dem Englischen
von Maren Illinger
FISCHER E-Books
Jennifer Niven wuchs in Indiana auf und lebt heute die Hälfte des Jahres in Georgia und die andere Hälfte in Los Angeles. Mit »All die verdammt perfekten Tage« und »Stell dir vor, dass ich dich liebe« hat sie überall auf der Welt die Bestsellerlisten erobert. Ihr erster Roman wurde von Netflix verfilmt.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de
Außerdem von Jennifer Niven bei FISCHER:
Stell dir vor, dass ich dich liebe
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel ›Breathless‹ bei Alfred A. Knopf, an imprint of Random House Children’s Books, a division of Penguin Random House LLC, New York
This translation published by arrangement with Random House Children’s Books, a division of Penguin Random House LLC
Text copyright © 2020 by Jennifer Niven
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© 2020 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: www.buerosued.de
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0400-4
Für Justin,
den echten Jeremiah Crew.
Ich liebe dich mehr als Worte.
Niemand,
nicht einmal ein Dichter,
hat jemals vermessen,
wie viel ein Herz fasst.
Zelda Fitzgerald
Du warst der Erste in meinem Leben. Nicht nur der erste Sex, auch wenn das ein Teil davon war, sondern der Erste, der durch alles andere hindurch in mich hineingesehen hat.
Einige Namen und Orte wurden geändert, doch die Geschichte ist wahr. Es steht alles hier, weil es eines Tages vergangen sein wird und ich nicht vergessen will, was ich erlebt habe, was ich gedacht, gefühlt habe, wer ich war. Weil ich dich nicht vergessen will.
Vor allem aber, weil ich mich nicht vergessen will.
Ich schlage die Augen auf, meine Beine sind im Bettlaken verheddert, offene Bücher liegen verkehrt herum auf dem Boden. Ohne auf die Uhr zu sehen, weiß ich, dass es spät ist. Ich springe aus dem Bett, doch ein Fuß ist noch im Laken verwickelt, und ich lande auf der Nase. Da bleibe ich eine Weile liegen. Schließe die Augen. Überlege, ob ich so tun kann, als wäre ich ohnmächtig geworden, damit Mom mich heute blaumachen lässt.
Es ist friedlich hier auf dem Boden.
Aber es riecht komisch. Ich öffne ein Auge und sehe eine bräunliche Masse vor mir in den Teppichfasern. Vielleicht einer von Dandelions Katzensnacks. Ich drehe den Kopf auf die andere Seite, und da ist es besser, doch dann höre ich von draußen eine dröhnende Hupe, und das ist mein Dad.
Ich springe auf, weil ich weiß, dass er einfach immer weiter auf die verdammte Hupe drücken wird, bis ich im Auto sitze. Ich kann eins meiner Bücher nicht finden, und auch meinen linken Schuh nicht, meine Haare sind falsch, und mein Outfit ist es auch, ich bin quasi komplett falsch in meiner Haut. Ich hätte als Französin zur Welt kommen sollen. Wenn ich Französin wäre, wäre alles richtig. Ich wäre stylisch und cool und würde auf dem Fahrrad zur Schule fahren, einem Rad mit einem Korb am Lenker. Vor allem könnte ich Fahrrad fahren. Wenn ich in Paris leben würde statt in Mary Grove, Ohio, würden meine Flats besser zu dem Rock aussehen, meine Haare wären nicht ganz so orangerot – wie diese historische Tomatensorte –, und alles an mir würde irgendwie besser zusammenpassen.
Ich stolpere ins Schlafzimmer meiner Eltern, nur in Rock und Bikini, dem schwarzen, den ich letzten Monat mit Saz gekauft habe und in dem ich den ganzen Sommer zu verbringen gedenke. Meine BHs sind alle in der Wäsche. Moms Schrank ist ordentlich, aber nicht so übersichtlich wie der von meinem Dad, der nach Farben sortiert ist, schwarz, grau, dunkelblau, weil er farbenblind ist und so nicht ständig fragen muss: »Ist das grün oder braun?«
Ich wühle auf dem oberen Regalbrett und dann in seinen Schubladen nach dem einen T-Shirt, das ich will: Nirvana, Vintage von 1993. Ich klaue ihm immer dieses Shirt, und er klaut es sich immer zurück, aber jetzt ist es nirgends zu finden.
Ich stehe in der Tür und rufe den Flur entlang, Richtung Treppe, Richtung Mom: »Wo ist Dads Nirvana-Shirt?« Ich habe beschlossen, dass ich heute das und nur das tragen will.
Ich warte zwei, drei, vier, fünf Sekunden, doch die einzige Antwort ist ein weiteres dröhnendes Hupen. Ich renne in mein Zimmer, schnappe mir das erste Top, das mir in die Finger kommt, und ziehe es über, obwohl ich es seit der neunten Klasse nicht mehr in die Schule getragen habe. Miss Piggy mit Glitzer.
An der Tür sagt Mom: »Ich hole dich ab, falls Saz dich nicht mitnehmen kann.« Meine Mutter ist eine bekannte und vielbeschäftigte Schriftstellerin – historische Romane, Sachbücher, alles, was mit Geschichte zu tun hat –, aber sie hat immer Zeit für mich. Als wir in dieses Haus gezogen sind, haben wir das Gästezimmer in ein Büro für sie verwandelt, und mein Dad hat zwei Tage lang deckenhohe Regale für ihre ganzen Nachschlagewerke eingebaut.
Irgendetwas in meinem Gesicht scheint mich zu verraten, denn sie legt mir die Hände auf die Schultern und sagt: »Hey. Es wird alles gut.«
Damit meint sie meine beste Freundin, Suzanne Bakshi (besser bekannt als Saz), und mich, dass wir immer beste Freundinnen bleiben werden, trotz Highschoolabschluss und College und allem, was danach kommt. Ich spüre, wie sich ihre ruhige, helle Energie auf mir niederlässt wie ein Vogel auf einem Baum, mir über Schultern und Arme rinnt, bis ins Blut. Das ist eine der vielen Sachen, die meine Mom am besten kann. Sie schafft es, dass alle sich besser fühlen.
Im Auto sehe ich, dass Dad sein Radiohead-T-Shirt unterm Sakko trägt, das Nirvana-Shirt muss also in der Wäsche sein. Ich mache mir eine gedankliche Notiz, es zu mopsen, wenn ich nach Hause komme, damit ich es heute Abend auf die Party anziehen kann.
Die ersten drei oder vier Minuten reden wir nicht, aber das ist normal. Im Gegensatz zu Mom sind Dad und ich keine Morgenmenschen, und auf der Fahrt zur Schule halten wir gerne das, was er ›geselliges Schweigen‹ nennt, etwas, das Saz sich zu respektieren weigert, weshalb ich morgens nie mit ihr fahre.
Ich starre aus dem Fenster auf die tiefhängenden schwarzen Wolken, die sich wie eine Trauergesellschaft in Richtung College schleppen, wo Dad in der Verwaltung arbeitet. Eigentlich ist kein Regen angesagt, aber es sieht nach Regen aus, und ich mache mir Sorgen um Trent Dugans Party. Normalerweise verbringe ich die Wochenenden mit Saz, wir fahren durch die Stadt und suchen nach einer Beschäftigung, aber diesmal soll es anders werden. Die letzte große Party vor dem Abschluss und so.
Dad saust an der Highschool vorbei, über die Main Street Bridge, nach Downtown Mary Grove, etwa zehn Blocks Geschäfte zu beiden Seiten der rot gepflasterten Straßen, besser bekannt als die Promenade. Mit jaulendem Motor fährt er bis zum westlichen Ende, wo die Straße in einen Platz mit Kopfsteinpflaster und Springbrunnen übergeht. Er steigt aus und joggt in den Joy Ann Cake Shop, während ich Saz ein Foto vom Schild über der Tür schicke: Wer ist dein Lieblingsmensch?
Eine Sekunde später antwortet sie: Du natürlich.
Kurz darauf kommt Dad zurück zum Auto und schwingt die Arme in einem Siegestanz über dem Kopf, eine weiße Papiertüte in der Hand. Er steigt ein, knallt die Tür zu und wirft mir die Tüte zu, in der sich das Übliche befindet – ein Schoko-Cupcake für Saz und ein Pfund Marmeladen-Cookies für Dad und mich, die wir auf dem Weg zur Highschool verputzen. Unser geheimes Morgenritual, seit ich zwölf bin.
Während ich mampfe, starre ich in den wolkenverhangenen Himmel. »Es könnte regnen.«
Dad sagt: »Es wird nicht regnen«, genau so, wie er einmal gesagt hat: »Er wird dich nicht schlagen«, als Damian Green in der dritten Klasse gedroht hat, mir eine aufs Maul zu hauen, weil ich ihn nicht abschreiben lassen wollte. Er wird dich nicht schlagen – das bedeutete irgendwie, dass Dad wenn nötig persönlich in der Schule aufkreuzen und es verhindern würde, weil niemand sich mit seiner Tochter anlegen durfte, auch kein Achtjähriger.
»Vielleicht doch«, sage ich, nur um sie noch einmal zu hören, die Sicherheit in seiner Stimme. Sie erinnert mich daran, wie ich fünf, sechs, sieben Jahre alt war und auf seinen Schultern durch die Welt ritt.
Er sagt: »Es wird nicht regnen.«
Nach der ersten Stunde, Kreatives Schreiben, hält mein Lehrer Mr. Russo mich zurück und sagt: »Wenn du wirklich schreiben willst, und ich glaube, das willst du, dann musst du alles aus dir herausholen, damit wir fühlen können, was du fühlst. Du scheinst immer etwas zurückzuhalten, Claudine.«
Er sagt auch ein paar gute Sachen, aber ich werde mich nur daran erinnern, dass er glaubt, ich hätte keine Gefühle. Schon komisch, dass die schlechten Dinge immer hängenbleiben, während die guten so leicht verlorengehen. Ich verlasse den Klassenraum und sage mir, dass der Kerl nicht die geringste Ahnung hat. Er weiß nicht, dass ich schon an meinem ersten Roman arbeite, dass ich eines Tages eine berühmte Schriftstellerin sein werde und dass Mom mich bei ihren Recherchen helfen lässt, seit ich zehn bin, dem Jahr, in dem ich begonnen habe, selbst zu schreiben. Er weiß nicht, dass ich wirklich alles aus mir heraushole.
Auf dem Weg zur dritten Stunde fängt mich Shane Waller, der Typ, mit dem ich seit fast zwei Monaten was laufen habe, bei den Schließfächern ab und fragt: »Soll ich dich um zehn zu Trents Party abholen?«
Shane riecht gut und kann ziemlich witzig sein, wenn er will, was – neben meinen überschäumenden Hormonen – die Hauptgründe sind, warum ich mit ihm zusammen bin.
Ich erwidere: »Ich fahre mit Saz. Wir sehen uns da.«
Das ist Shane nur recht, denn seit ich 15 bin, lässt mein Dad alle Jungs, die mich abholen wollen, draußen warten, sogar im tiefsten Winter. Weil er selbst mal in diesem Alter war und genau weiß, woran Jungs im Teenager-Alter denken. Und weil er will, dass sie wissen, dass er weiß, woran sie denken.
Shane sagt: »Dann bis später, Süße.«
Und ich, um mir und Mr. Russo und allen anderen auf der Mary Grove High zu beweisen, dass ich sehr wohl ein fühlender Mensch bin, tue etwas, was ich sonst nie tue – ich küsse ihn, mitten auf dem Gang in der Schule.
Als wir uns voneinander lösen, beugt er sich vor, und ich spüre seinen Atem in meinem Ohr. »Ich kann’s kaum erwarten.«
Ich weiß, dass er denkt – hofft –, dass wir Sex haben werden. So wie er schon seit zwei Monaten hofft, dass ich endlich beschließe, meine Jungfräulichkeit aufzugeben und ›an ihn zu verlieren‹. (Seine Worte, nicht meine. Als würde meine Jungfräulichkeit ihm irgendwie gehören.)
Das sage ich beim Mittagessen zu Saz, und die lacht ihr dröhnendes, verrücktes Lachen mit zurückgeworfenem Kopf und schwingenden dunklen Haaren und prostet mir ironisch mit der Wasserflasche zu. »Na, dann viel Glück, Shane!« Denn wir wissen beide, dass es nur einen Jungen in Mary Grove, Ohio, gibt, mit dem ich mein erstes Mal erleben will, und es ist nicht Shane Waller. Obwohl ich mir gerne einrede, dass er eines Tages vielleicht etwas so wahnsinnig Witziges sagt, dass ich es mir anders überlege und doch noch mit ihm schlafe. Nur weil ich nicht glaube, dass Shane der Richtige ist, heißt das nicht, dass ich nicht wollte, er wäre es.
Die Kurzfassung dieser Gedanken spreche ich laut aus: »Man kann nie wissen. Seine Witze sind verdammt gut.«
Saz sagt: »Seine Witze sind okay.« Sie türmt ihr Haar – schwer und glatt und der Fluch ihrer Existenz – auf ihren Kopf und hält es dort fest. Sie lässt es sich immer kurzschneiden und dann wieder wachsen, schneiden und wachsen.
»Wäre es denn so schlimm, wenn ich mit Shane mein erstes Mal hätte?«
Unsere Freundin Alannis Vega-Torres lässt sich auf den freien Stuhl neben mir fallen. »Ja, wäre es.« Sie fischt eine Limo und einen Proteinriegel aus ihrer Tasche und wirft Saz ein Haargummi zu. »Übrigens zählt es nicht, wenn das Jungfernhäutchen nicht reißt. Ich habe beim ersten Mal ganze Eimer vollgeblutet.«
»Das stimmt nicht«, widerspreche ich. »Das Jungfernhäutchen reißt überhaupt nicht. Das ist ein Mythos. Nicht jede blutet, und außerdem hat nicht mal jede ein Jungfernhäutchen. Sei nicht so heteronormativ. Jungfräulichkeit ist nur ein beschissenes soziales Konstrukt des Patriarchats.«
Saz hebt die Hand, und ich gebe ihr High five. Doch so sehr ich auch daran glaube, zu 100 Prozent sogar, lechze ich danach, Sex zu haben. Am besten sofort.
Unsere Freundin Mara Choi nimmt den Platz gegenüber von Alannis in Beschlag. Ihre Strickjacke ist falsch geknöpft, und gerade purzeln Tampons und Lipgloss aus ihrem Rucksack, weil sie – wenn nicht gerade ihre strenge koreanische Großmutter in der Nähe ist – ein wandelndes Chaos ist. Sie verschwindet unterm Tisch, um die verlorenen Sachen wieder einzusammeln, und sagt von dort unten: »Wusstet ihr schon, dass man Jungfernhäutchen im Internet bestellen kann? Es gibt einen Jungfrauen-Shop, der angeblich in fünf Minuten die Jungfräulichkeit wiederherstellen kann.« Sie taucht wieder auf, schnappt sich ihr Handy und googelt los.
»Was für ein Schwachsinn!« Saz schaut mich an und verdreht die Augen, nach dem Motto: Die beiden!
Mein Blick antwortet: Ich weiß, während Mara anfängt, den Text von der Seite des Jungfrauen-Shops vorzulesen. »Hier steht, dass sie hautverträgliche rote Farbe verwenden, die exakt wie menschliches Blut aussieht. Oh, und sie sind ›das Original und Marktführer für künstliche Jungfernhäutchen‹!«
Saz sagt: »Ich weiß nicht, ob ich mich damit rühmen würde.«
Alannis sagt: »Da ist noch gar nichts. Ich hab irgendwo gelesen, dass Mädchen in China 700 Dollar zahlen, um sich ihre Jungfernhäutchen chirurgisch wiederherstellen zu lassen.«
Ich höre auf zu kauen, weil ich, so sexbesessen ich auch bin, die Vorstellung, dass Jungfräulichkeit einen Preis hat, gelinde gesagt verrückt finde. Ich sage: »Das ganze Konzept ist total von gestern. Als gäbe es nur Sex mit Penis und Vagina. Etwa 20 Prozent der Amerikaner bezeichnen sich als nicht straight, also warum dreht sich immer noch alles um das erste Mal einer Frau mit einem Mann? Und warum ist es überhaupt so ein Riesending, ob ein Mädchen noch Jungfrau ist? Wenn ein Junge sein erstes Mal hat, drehen doch auch nicht alle durch. Da heißt es nur: ›Schlag ein, jetzt bist du ein Mann!‹ Die raufen sich bestimmt nicht die Haare und bestellen sich im Netz Ersatzteile!«
Saz prustet. Ich bin richtig in Fahrt.
»Und noch was. Habt ihr schon mal darüber nachgedacht, wie die Leute über Jungfräulichkeit reden? Als wäre es was, das jemand anderem zusteht? Jemand ›nimmt‹ sie, und plötzlich gehört sie ihm. Als würden wir sie weggeben, als würde sie uns nicht selbst gehören. Sie hat ihre Jungfräulichkeit verloren. Sie hat sie aufgegeben. Und umgekehrt: Ihr die Jungfräulichkeit nehmen. Sie entjungfern. Deflorieren –«
»Deflorieren?« Mara starrt mich über ihr Handy hinweg an. »Wer bitte sagt deflorieren?«
»Jungfrauen.« Alannis zieht ihre perfekt nachgezogenen Augenbrauen hoch. Alannis Gyalene Catalina Vega-Torres hat seit der neunten Klasse Sex.
»Warum siehst du nur mich an?« Ich zeige auf Saz, meine treue Komplizin. Als wir zehn Jahre alt waren, haben wir uns geschworen, jeden Meilenstein unseres Lebens gleichzeitig zu begehen – natürlich auch den ersten Sex –, um uns nicht gegenseitig zurückzulassen. Das war unsere Art sicherzugehen, dass wir uns immer an erste Stelle setzen und niemanden zwischen uns kommen lassen würden. Alannis tätschelt mir den Arm, als wäre ich ein ahnungsloses Kind.
Maras Gesicht steckt schon wieder in ihrem Handy. »›Für nur 30 Dollar drehen Sie die Uhr zurück und holen das große Kawumm zurück ins Schlafzimmer!‹«
Das war’s. Wir lachen uns kaputt.
Saz kreischt: »Auf das große Kawumm im Schlafzimmer!«, und wir stoßen mit unseren Flaschen und Dosen an.
Und dann vergessen wir alle künstlichen Jungfernhäutchen und starren Kristin McNish hinterher, die wie eine perfekt getimte Werbung vom Gesundheitsamt durch die Cafeteria marschiert, mit gerecktem Kinn und einer unverkennbaren Wölbung in der Körpermitte.
Zu Hause wühle ich im Wäschehaufen, aber das Nirvana-Shirt ist immer noch verschollen. Dafür finde ich ein schwarzes Minikleid auf dem Boden meines Zimmers und beschließe, Dads Ramones-Shirt darüber zu ziehen.
Zum Abendessen bestellen Mom und ich Pizza, weil Dad noch eine Veranstaltung bei der Arbeit hat und er der Koch der Familie ist. Seine Spezialität sind aufwendige Menüs mit passender Musik und Wein. Saz liebt es, bei uns zu essen, weil es fast immer ein Erlebnis ist, ich dagegen liebe es, bei ihr zu essen. Die Bakshis essen grundsätzlich auf den Barhockern in der Küche oder vorm Fernseher – bestelltes Essen, Fast Food oder Maccaroni & Cheese aus der Fertigmischung von Kraft, die besten der Welt, die ich zu Hause nie bekomme, wenn ich sie mir nicht selber mache. Mein Dad weigert sich, Speisen zuzubereiten, denen man ein orangefarbenes Pulver hinzufügen muss.
Als ich die Tür öffne, steht der Pizzabote draußen, den Saz den ›Fiesen Jake‹ nennt, obwohl er Matthew heißt und überhaupt nicht fies ist, und ich hauche »Oh, hallo«, so verführerisch ich kann.
Er sagt nur: »Gingerale war aus, deshalb hab ich Sprite mitgebracht.«
Später an diesem Abend liege ich auf Trent Dugans Heuboden unter Shane Waller, versunken in die Hitze seiner Haut und den Geruch seines Nackens, meine Sinne aufs äußerste gespannt. Ich denke: Vielleicht ist es das. Vielleicht verliere ich sie genau hier, genau jetzt.
Das liebe ich so daran, mit jemandem rumzumachen. Die Möglichkeit, dass er der Richtige sein könnte. Scheinwerfer an. Musik an. Liebe regnet auf uns herab … Nicht, dass ich viel Erfahrung hätte, schon gar nicht im Vergleich zu Alannis. Ich habe ein paarmal einem Typen offiziell einen runtergeholt, drei oder vier mäßig erfolgreiche Blowjobs gegeben, fünfeinhalb Orgasmen gehabt – die, die ich mir selbst verschafft habe, nicht mitgezählt – und mit drei Jungs rumgemacht, einschließlich diesem.
Shane küsst mich, und seine Hände sind überall – Oh ja, denke ich, genau da. Das ist gut. Die Küsse sind nur für mich, denn Shane, wie die meisten Jungs auf der Mary Grove High, interessiert sich mehr für das, was nicht Küssen ist. Sein Ziel ist es immer, in meine Unterhose zu kommen. Ich weiß das, und er weiß das, und er wird mich eine Weile küssen, um dahin zu kommen. Und ich werde ihn lassen, weil er ziemlich gut darin ist, und außerdem küsse ich gern.
Dann packt er mich regelrecht, aber es ist nicht schlecht, weil er so offensichtlich scharf auf mich ist, dass ich fast schon selbst scharf auf mich werde.
Ich denke: Lieber nicht zu weit, sogar als ich ihm helfe, meinen Reißverschluss zu öffnen. Dann küssen wir uns wieder, fester und fester, bis ich das Gefühl habe, dass er gleich meine Zunge einatmet und meinen Mund und mein ganzes Gesicht, und in dem Moment will ich das auch, weil es sich gut anfühlt, wie mein Körper sich an seinen presst, ich will noch mehr spüren. Ich fühle mich mitgerissen und mächtig zugleich. Worauf wartest du?
Shanes Zunge ist in meinem Ohr, aber ich kann immer noch die Musik draußen hören. Gelächter. Jemand ruft etwas. Erst denke ich: Oh Gott, ja, aber dann ist seine Zunge ein bisschen zu nass, und mein Ohr fühlt sich an wie nach dem Schwimmen. Ich will ihn wegschieben und seine Spucke abwischen, doch da sagt er: »Oh Mann, du bist so heiß!«
Ich bin nicht gerade dafür bekannt, heiß zu sein, deshalb küsse ich ihn weiter. Aber ich komme irgendwie nicht darüber weg, dass wir in einer Scheune sind. Erst denke ich: Ist doch eigentlich ganz sexy und Oh, sieh dich an, aber dann glaube ich nicht mehr so recht daran. Ich stelle mir vor, dass ich mich Shane Waller hier in dieser Scheune hingebe, aber von allen Versionen, wie ich mir mein erstes Mal ausgemalt habe, hat kein einziges in einer Scheune stattgefunden.
Er zieht an meiner Unterwäsche und vertreibt meine Gedanken. Hier sind nur Shane und ich, quasi nackt auf diesem ganzen Stroh, das sich in meine Haut bohrt wie spitze kleine Bleistifte. Komisch, bis eben habe ich das Stroh gar nicht bemerkt, weil mich das Gefühl von meiner Haut an Shanes Haut so gefesselt hat, das kleine Feuerwerk zwischen unseren Körpern, das den ganzen Heuboden in Brand zu setzen droht. Es ist nicht das erste Mal, dass ich mit Shane Waller quasi nackt bin, aber es ist das erste Mal in einer Scheune. Ich fühle mich betrunken, obwohl ich es nicht bin, und irgendwo im Hinterkopf sorge ich mich, dass ich, wenn ich schon unter diesen Umständen angeturnt bin – piksendes Stroh, johlende, betrunkene Mitschüler –, auf dem College vermutlich mit zu vielen Jungs schlafen werde. Weil es einfach so einen Spaß macht, selbst wenn man nicht verliebt ist. Manchmal geht es einfach nur um einen Mund oder Augen oder Hände oder wie sie alle zusammenarbeiten. Manchmal ist das genug.
Shanes Hände wandern nach unten, und der denkende, vernünftige Teil von mir – der, der sich für einen Jungen namens Wyatt Jones aufhebt – lehnt sich im Stroh zurück, gerade weit genug, um auf Abstand zu gehen, obwohl der körperliche Teil von mir weitermacht. Ich versuche, mich wieder in ihm zu verlieren, aber ich spüre nur noch eine Million Strohspitzen im Rücken, das Feuerwerk erlischt knisternd, und alles, was zurückbleibt, ist Brandgeruch.
Plötzlich ist da etwas Hartes und Feuchtes an meinem Schenkel, und ich rutsche etwas höher, damit er es nicht in mich reinsteckt.
»Claude …«
Seine Stimme klingt lallend, als wäre er nicht richtig da, und mein Name klingt wie Clod, was ich hasse. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich nie vorhatte, mit ihm Sex zu haben. So endet es immer – er kommt in der Luft oder in seinem Shirt oder auf sich selbst oder auf mein Bein.
Saz behauptet, dass ich mich in meiner Jungfräulichkeit so sicher fühle wie Rapunzel in ihrem Turm. Dass ich mein Haar eine Weile hinunterlasse und mich darüber freue, wie schön es in der Sonne glänzt, bevor ich es wieder außer Reichweite ziehe. Und vielleicht stimmt das wirklich, nicht nur, weil ich mich für Wyatt Jones aufhebe, sondern weil mein Leben so sicher ist und Saz und ich beste Freundinnen sind und ich meine Eltern wirklich mag und niemandem etwas beweisen muss. Es ist mein Körper, und ich kann damit tun, was ich will.
Shane starrt mich an, seine Augen rollen, sein Atem geht schneller und schneller, und er bumst mein Bein wie ein Hund. Sein Gesicht ist halb erleuchtet von einem Splitter des Mondes, der durch den Türspalt fällt. Ich muss zugeben: Er sieht ziemlich gut aus, und er riecht gut. Und aus irgendeinem Grund scheint er auf mich zu stehen. Er muss denken, ich wäre noch immer bei der Sache. Ich habe nicht gesagt, dass er aufhören soll, oder ihn weggeschoben. Bis er etwas zu weit nach oben rutscht, und ich sage: »Immer langsam, Cowboy.«
Entweder wird er seinen Freunden erzählen, dass ich ihn hinhalte, oder dass wir es getan haben. Ich wünschte, ich könnte ihm erklären, dass es mir nicht ums Hinhalten oder ums Tun geht, sondern um die Möglichkeit. Um das Beinahe. Um das Vielleicht heute, das Möglicherweise ist er der Richtige. Ich würde gern sagen: Für ein paar Minuten mache ich dich größer, als du bist, und ich mache mich größer, als ich bin, und zusammen sind wir größer als diese Scheune, weil wir all dieses Beinahe und Vielleicht und Möglicherweise sind.
Aber so was kann man einem Typen wie Shane nicht erklären, deshalb manövriere ich meine untere Hälfte unter ihm weg, und genau da stöhnt er und explodiert. Über die Innenseite meines Oberschenkels. Ich bekomme Panik, weil ich richtig spüren kann, wie etwas davon in mich hineintropft, drehe mich schnell zur Seite und schiebe ihn weg.
Er stöhnt wieder und sinkt ins Stroh. Ich wische mich mit seinem T-Shirt ab und rolle mir das Kleid von den Schultern, bringe alles wieder an Ort und Stelle und kann schon hören, was ich zu Saz sagen werde, die kleine Spitze nur für sie: Im Gegensatz zu den meisten unserer Mitschüler hier im Scheunendistrikt bin ich wohl einfach nicht für Scheunensex gemacht.
Ich stehe auf, und um etwas Konversation zu betreiben, sage ich: »Wusstest du, dass es im Französischen eine eigene Bezeichnung für eine männliche Jungfrau gibt? Puceau. Klingt nach dem genauen Gegenteil, oder?« Ich bin ein wandelndes Lexikon der Jungfräulichkeits-Fakten, besonders in unangenehmen Situationen, in denen mir nichts anderes einfällt.
Shane sagt im Stroh: »Weißt du, du bist wie diese Schachteln, in denen immer noch eine Schachtel drin ist. Nach jeder verdammten Schachtel kommt bei dir noch eine, und ich glaube nicht, dass irgendwer es je schafft, alle zu öffnen.« Er steht auf, zieht seine Jeans an und schlüpft in sein zerknittertes, feuchtes T-Shirt.
Er starrt auf den Fleck, und ich sage: »Sorry.«
»Scheiße, das ist mein Snoop-Dog-Shirt, Claude!« Clod.
Darauf ich: »Ich glaube, wir sollten nur Freunde sein.« Lieber zu viele Schachteln als zu wenige.
Er sagt: »Ohne Scheiß«, und lässt mich stehen.
Ich stöbere Saz an einem verwitterten Holztisch auf, wo sie sich mit ein paar Leuten unterhält, darunter Alannis und Mara, Yvonne Brittain-Muir, Musikerin und Gamerin, und ihre feste Freundin seit 300 Jahren, Leah Basco. In den letzten Wochen haben Saz und ich uns jedes mögliche Szenario ausgemalt, in dem Yvonne mit Leah Schluss macht und Saz ihre unsterbliche Liebe gesteht. Oder sich wenigstens bereit erklärt, mit ihr Sex zu haben.
Einer der Jungs reicht einen Joint rum, und ein anderer erzählt eine endlose Geschichte über eine College-Party, auf der er letztes Wochenende war. Leah – geisterhaft weiß im Mondlicht, lange blonde Haare mit blaugefärbten Spitzen – streckt die Hand nach Yvonne aus, und die zwei schlendern zur Scheune der Sünden, während Saz ihnen hinterherstarrt, als hätten sie gerade ihren Hund überfahren.
Ich frage: »Willst du gehen?« Obwohl es nicht mal elf ist.
»Unbedingt.«
Ich lege ihr den Arm um die Schultern, und wir stapfen übers Feld auf die lange Auffahrt zu, wo wir geparkt haben. Dabei singe ich Saz das Aufmunterungslied vor, das wir uns ausgedacht haben, als wir zehn waren. »Ice cream, ice cram, freezy, freezy. You can get over her, easy, easy.«
Eine hochgewachsene Gestalt kommt auf uns zu, und Saz versetzt mir einen Stoß in die Rippen und zischt: »Hör auf, du Verrückte, bevor dich jemand hört!«, woraufhin ich noch lauter singe. Dann tritt die Gestalt ins Mondlicht, und natürlich ist es Wyatt Jones. Augenblicklich vergesse ich Saz und Yvonne und Shane und die Schachteln und alles, was bisher geschah.
Wyatt wird bald von hier weggehen, durchs Land, durch die Welt, nach Kalifornien, zu Mädchen mit langen, wogenden Haaren und leichten Sommerkleidern. Das lässt ihn noch größer wirken und anders als wir anderen. Eigentlich wollten Saz und ich auch nach Kalifornien gehen, wo ich ihn aufspüren und kennenlernen würde, zwei Fremde in der Fremde, aneinander gebunden durch ihre unglückseligen Wurzeln im Mittleren Westen, und dann – nach und nach – zwei abgeklärte Erwachsene, die merken, dass sie füreinander bestimmt sind.
Wyatt fängt meinen Blick auf, und meine Knochen werden zu Wasser. Es geht das Gerücht um, dass er auf mich steht. Dass er mich fragen wollte, ob ich mit ihm zum Abschlussball gehe, aber zu schüchtern war. Dass er und seine drei Freunde mein Haus vor zwei Monaten nur deshalb über und über mit Klopapier bedeckt haben, weil ich ihm etwas bedeute. Bis mein Dad, der Marathonläufer, sie erwischt und durchs ganze Viertel gejagt hat. Ich wende den Blick ab und schaue zu Boden, weil die Erinnerung daran noch immer entsetzlich ist.
»Hey«, sagt er.
»Hey«, erwidere ich.
Ich zwinge mich, ihn wieder anzusehen. Tiefbraune Augen, hellbraune Haut, breite Schultern, lächelnder Mund. Obwohl meine Lippen noch von dem ganzen Geknutsche in der Scheune pochen, will ich seine Hände auf mir spüren.
»Ihr geht schon?«
»Jep.«
»Wie schade.« Er lächelt strahlend, blendend wie die Sonne, und alles andere tritt in den Hintergrund.
Sein Dad ist schwarz, seine Mom war weiß, sie ist gestorben, als er noch ein Baby war. Er kann sich nicht an sie erinnern, aber er behauptet, er habe sein Lächeln von ihr.
Er sagt etwas, aber es wird von Musik und Gelächter übertönt und irgendwem, der schreit. Wir drehen uns gleichzeitig um, es ist Kayla Rosenthal, die auf Partys immer schreit. Sie steht auf dem Holztisch und verspritzt ihren Drink wie ein Rasensprenger.
Er nickt in ihre Richtung. »Und die hat ein Stipendium für Notre Dame bekommen.«
Ich lache etwas zu laut.
»Bist du mit Waller hier?«, fragt er dann.
»Nein, aber er muss hier irgendwo unterwegs sein.« Ich wedele mit der Hand, als wollte ich sagen: Wen interessiert’s?, und hoffe, diese acht Worte beinhalten alles, was er wissen muss: Mir ist egal, wo er ist, weil ich mir nichts aus ihm mache. Ich will dich, Wyatt, nur dich.
Er nickt, als würde er darüber nachdenken. »Hey, Glückwunsch zum zweitbesten Abschluss.«
»Danke.«
»Heißt das, dass du auch eine Abschlussrede hältst?«
»Eine kürzere, aber ja.« Jasmine Ramundo darf zehn Minuten sprechen, ich nur fünf.
»Ich bin gespannt.« Er grinst, und dann macht er das, was meinen Magen immer einen Purzelbaum schlagen lässt – er starrt zu Boden, als sähe er dort etwas Tiefgründiges und Wichtiges. Dann blickt er wieder auf. »Bist du den Sommer über hier?«
»Ja.«
»Ich auch.«
Wir starren uns an, mein Gesicht wird immer heißer, und ich kann nur denken: Ich will mein erstes Mal mit dir erleben, Wyatt Jones. Wenn du mich jetzt fragst, ob ich mit dir in die Scheune gehe, renne ich los und bin schon nackt, wenn du zur Tür reinkommst.
Er hustet. Schaut weg. Blickt auf. Lächelt. »Na dann, bis bald.«
»Bis bald.«
Er rauscht ab, und plötzlich ist es wieder eine ganz normale Party mit ganz normalen Menschen, und ich bin einer von ihnen.
»Wir können noch bleiben, wenn du willst.«
Ich drehe mich um und schaue Saz groß an. Wo kommst du denn her? Aber obwohl ich schrecklich gern bleiben würde, sehe ich ihr Gesicht. »Auf keinen Fall.« Freundinnen haben Vorrang. Immer. Ich singe unser Lied weiter, bis wir beim Auto sind.
Etwa eine Stunde später liege ich im Bett und denke an Wyatt Jones. An alles, was ich mit ihm machen will. Mein Zimmer ist ganz von der Nacht erfüllt, und der Mond lässt alles glänzen.
Ich schließe die Augen und bin immer noch ich, liege hier in meiner gelben Gänseblümchenbettwäsche und dem kurzen dunkelblauen Pyjama, den ich zum letzten Geburtstag bekommen habe, einen Haufen Bücher um mich rum, unter denen ich mich vergrabe, seit ich lesen kann.
Ich bin also ich, aber im Moment bin ich ich mit Wyatt auf mir drauf. Wyatt Jones mit seinen Fußballerbeinen und Schwimmerschultern und Haaren, die nach Chlor und Sonne riechen. Wyatt Jones mit Augen, die brennen, wenn sie einen ansehen. Er ist über mir. Unter mir. Seine Haut an meiner Haut. Mein Mund auf seinem.
Mein Körper ist warm auf dem Laken, und meine Hand ist da, wo ich seine gerne hätte. Ich schiebe die Bücher zur Seite, und sie landen polternd auf dem Boden. Meine Nase juckt, und ich kratze sie. Ein Haar kitzelt meine Stirn, und ich puste es weg. Verdammte Scheiße.
Atmen.
Konzentrieren.
Wyatt.
Wyatt.
Da ist er wieder in all seiner nackten Pracht.
Wyatt.
Er fragt: Bist du dir sicher?
So schön er auch ist, Wyatt Jones ist berüchtigt für seine Schüchternheit. Wenn er spricht, dann mit einer sanften, kratzigen Stimme, die auf eine große Nachdenklichkeit schließen lässt. Ich habe mir im Kopf ein komplettes Innenleben für ihn zurechtgelegt, nach dem er freundlich, empathisch und sensibel ist, aber auch stark genug, um sein Mädchen – insbesondere mich – hochzuheben und aufs Bett zu werfen.
Ja, sage ich. JA.
Du bist es, Claude. Du bist es immer gewesen.
Sei still, Wyatt. Sei sofort still.
Winzige Nadelstiche verteilen sich in meinem Körper, und Wyatt verschmilzt mit dem Jungen, den ich einmal im Flugzeug gesehen habe, der mich unverwandt angestarrt hat, während er den Mittelgang entlangging. Jetzt bin ich in diesem Flugzeug, gekleidet wie eine Stewardess – eine stylische Stewardess, wie auf Langstreckenflügen. Roter Lippenstift, rote Uniform. Oder vielleicht lieber dunkelblau, das passt besser zu meinen Clownshaaren. Ich folge ihm ins Bad, und er zieht mich an sich und schließt die Tür ab und nimmt mich mit seinen großen, starken Händen und setzt mich auf das kleine Waschbecken und ich schlinge die Beine um ihn.
Gerade als er mich küsst, verwandelt er sich in den Fiesen Jake, den Pizzaboten. Wir sind in seinem alten Trans Am, und es riecht nach Pizza und Zigaretten, aber das ist mir egal, weil wir uns die Kleider vom Leib reißen, und dann wird er plötzlich zu Mr. Darcy.
Nein, Mr. Rochester. Nur dass ich nicht Jane Eyre bin, ich trage eine Art Reitkostüm, und er küsst mich bei Kerzenschein. Wir sind vor dem Kamin, und plötzlich ist da ein Bärenfell, auch wenn ich nicht weiß, warum. Steht im Buch was von einem Bärenfell? Ich starre den Bären an, und der Bär starrt zurück. Du Mörderin! Und das ist so deprimierend, dass ich das Fell schnell verschwinden lasse, jetzt liegen wir auf dem Boden, Rochester und ich, aber es ist saukalt, schließlich ist Thornfield Hall ein Landschloss in England. Rochester zieht eine Decke hervor, doch es ist zu spät, ich schicke ihn weg.
Jetzt ist es wieder Wyatt, der auf mich zu schlendert wie durch die Gänge in der Schule, sein Blick ist auf mich gerichtet, und er ist so intensiv und ernst, dass ich weiß, das ist es. Wir sind in seinem Zimmer, seine Eltern sind nicht zu Hause, und alles wird so langsam, dass ich meinen Atem hören kann, kurz und schnell, und ich fast seinen höre, als er mir in die Augen schaut und ich alles – ihn, mich, uns – darin gespiegelt sehe.
Er sagt: Claude.
Claudine?
Claudine.
Und dann fühle ich ihn. Ganz. Und ich mache mir keine Sorgen, ob ich irgendwo zu klein oder zu groß bin, weil er nicht mal sagen muss: Du bist schön. Er sagt es mir schon so.
Wyatt und ich, näher, als ich je einem Menschen gewesen bin, ich bin um ihn und in ihn geschlungen, und dann hauche ich: Ja!, und mein ganzer Körper hebt sich vom Bett. Er fliegt einfach in die Höhe und schwebt in der Luft und verschießt ein Feuerwerk in allen Farben. Ich bin eine Explosion aus Farbe und Licht, und mein ganzes Zimmer dreht sich. Eine Million Glühwürmchen wirbeln und funkeln um mich herum und halten mich.
Hier oben will ich leben, inmitten dieses tanzenden Lichtsturms. Ich will, dass er ewig anhält, doch ein Glühwürmchen nach dem anderen erlischt. Ich versuche, sie einzufangen und zu halten, doch langsam, langsam fühle ich, wie ich wieder aufs Bett sinke.
Irgendwann nimmt das Bett mich von Kopf bis Fuß auf, und ich werde ganz ruhig und schlaff.
Ich öffne die Augen, und das einzige Licht kommt vom Mond. Mein Körper ist jetzt schwer, so schwer, und ich spüre, wie ich in diesen blumigen Laken davongleite und denke, dass ich noch für den Kurs von Mr. Callum hätte lernen sollen und dass ich meinen linken Schuh immer noch nicht gefunden habe und dass ich nicht vergessen darf, Alannis am Montag ihren grünen Pullover zurückzugeben, und dann wandern meine Gedanken zu Shane und der Scheune und meinem nassen Oberschenkel, und was ist, wenn etwas davon in mich reingekommen ist und ich schwanger werde und ein Baby bekomme und Shane Waller heiraten und für immer in Ohio leben muss?
Das Letzte, woran ich denke, bevor ich in den Schlaf sinke, unter blumigen Laken, im dunkelblauen Pyjama, ist Wyatt, der sagt: Dann bis bald –, was die ganze Welt bedeuten kann, denn heute ist alles noch möglich.
Es ist schon fast elf, und ich bin in meinem Zimmer und telefoniere mit Saz. Wir reden über unsere Pläne für den Sommer. Vor allem über unseren Road Trip, bei dem wir den gesamten Bundesstaat Ohio erkunden wollen, bevor wir uns für immer von ihm verabschieden, oder zumindest für die nächsten vier Jahre. Wir haben uns dafür extra neue Bikinis gekauft (ich schwarz, sie rot) und Kånken-Rucksäcke (ich himmelblau, sie gelb), und Saz darf für ein oder zwei Wochen das Auto ihrer Eltern ausleihen. Sie will im Norden anfangen und ich im Süden, und wir reden und lachen durcheinander, weshalb ich das Klopfen an der Tür nicht höre.
Plötzlich geht die Tür auf, mein Dad kommt rein, und sein Gesicht sieht irgendwie komisch aus, wie er so dasteht und die Poster an der Wand betrachtet und die T-Shirts und Jeans und Kleider auf dem Boden und die Bücher überall und mich, wie ich auf einem Kleiderberg stehe wie auf dem Gipfel des Kilimandscharo, und ich lache immer noch, aber ich versuche auch, mich daran zu erinnern, wann er das letzte Mal in meinem Zimmer war, wenn überhaupt je.
In diesem Moment sollte ich argwöhnisch werden, doch das werde ich nicht. Ich sage nur: »Ich telefoniere.«
Er sagt: »Ich muss mit dir reden.«
Jetzt lache ich nicht mehr, und auch Saz nicht, die fragt: »Ist das dein Dad?«
Sie klingt genauso überrascht, wie ich es bin.
Er setzt sich auf die Bettkante, die Füße fest auf dem Boden, als könnte er jeden Moment aufspringen und wegrennen. Erst denke ich, dass Mom etwas Schreckliches zugestoßen ist. Oder dass er mir sagt, dass der Hund gestorben ist oder die Katze oder meine Großeltern. Ich wühle in meinen Erinnerungen und versuche, das letzte Mal auszugraben, als er sich so hingesetzt hat, um mit mir zu reden, aber ich kann mich an keine Gelegenheit erinnern, auch nicht vor meinem 13. Geburtstag, als er zu Mom sagte: »Ich konnte nicht mal mit Teenagern reden, als ich selbst einer war. Sie ist jetzt ganz in deiner Hand.«
Ich setze mich neben ihn, mit ein paar Zentimetern Abstand. Ich frage mich, wo Mom ist und ob sie weiß, dass er hier ist, und dann sagt er: »Deine Mom hat mich gebeten, mit dir zu reden …«
Aus irgendeinem Grund muss ich sofort an Shane und den Heuboden denken. Bitte lass sie es nicht wissen. Das ist das Schlimmste, was ich mir vorstellen kann, weil mein bisheriges Leben so ruhig und ereignislos verlaufen ist, was natürlich der Grund dafür ist, warum es keine großen Gefühle gibt, über die ich schreiben kann. Ich hatte in meinem Leben noch nicht mal Zahnschmerzen.
Mein Dad räuspert sich und beginnt, mit einer tiefen, ernsten Stimme zu sprechen, die ganz anders klingt als seine übliche Stimme. Und während er spricht, beginnt er zu weinen, was ich noch nie erlebt habe.
Ich denke: Hör auf. Nicht weinen. Du nicht. Väter weinen nicht. Was natürlich bescheuert ist, aber so ist es nun mal.
Ich glaube, ich sage: »Nicht weinen.«
Vielleicht sage ich aber auch nichts.
Weil er nämlich sagt, dass er uns nicht mehr liebt: Mom und mich.
Dass die letzten 18 Jahre meines Lebens –
die 18 Jahre, die mein gesamtes Leben ausmachen –
nicht mehr als ein richtig schlechter Scherz waren und dass er uns nie wirklich geliebt hat, keine Sekunde –
oder vielleicht doch, ganz kurz, aber dass die Liebe stirbt, wenn die Gegenstände dieser Liebe so unliebenswert sind wie Mom und ich –
und dass es leider ganz allein unsere Schuld ist, dass wir nicht mehr seine Familie sein können.
Dass wir weit weg gehen müssen, damit er uns nie wieder sehen muss, weil unsere bloße Anwesenheit ihn krank macht. Er redet immer noch, aber ich höre nicht mehr zu. Ich sehe nur, wie die Tränen in den Stoppelbart auf seinem Kinn hineinrollen und verschwinden. Wohin verschwinden sie?
»Clew«, sagt er. Mein Spitzname. Den nur er verwendet. Unser besonderer Name, der nur für uns ist, für heimliche Stopps bei der Bäckerei vor der Schule und heimliches Eis vorm Abendessen und zu schnelles Autofahren und zu gruselige Filme. Alles, wofür Mom zu sehr Mom ist, um es zu erlauben. Obwohl wir mein Leben lang Claudine und Lauren waren, Lauren und Claudine, die Llewelyn-Frauen, weil Mom nie Dads Namen angenommen hat und wir immer mehr Llewelyn als Henry waren, was im Prinzip heißt, dass wir an Zauber und Möglichkeit glauben, statt die praktische (d.h. düster realistische) Seite des Lebens zu sehen.
Währenddessen stand mein Dad abseits, hat zugeschaut und applaudiert und mitgemacht, so gut er konnte. Mein Leben lang haben alle uns geliebt, die beiden Llewelyns. Alle, so scheint es, nur er nicht.
»Clew«, sagt er wieder. »Es liegt nicht daran, dass ihr mir nichts bedeutet.« Nicht mal jetzt, während der Boden verschwindet, als ich an meinen Füßen vorbei nach unten starre und mich frage, wie ich je wieder stehen soll, bringt er es über sich, von Liebe zu sprechen. Wie in dem Satz: Es liegt nicht daran, dass ich euch nicht liebe.
Und dann sagt er: »Ich kann gerade einfach keine Familie haben.«
Vielleicht sagt er auch nichts davon, aber das ist es, was ich höre. In dem Moment schaue ich nicht mehr seine Tränen und seinen Bart an, sondern dahin, wo früher mal der Boden war. Ich kann nur denken, dass der Boden gerade noch da war und jetzt nicht mehr. Wie es sein kann, dass man einen ganzen Tag verbringt, jeden Tag, ohne je an den Boden zu denken, weil man einfach davon ausgeht, dass er immer da sein wird. Bis er plötzlich nicht mehr da ist.
Das echte Gespräch verläuft eher so:
Dad: »Ich muss mit dir reden.«
Ich: »Okay.«
»Du darfst nicht denken, dass es eine andere gibt. Mir ist wichtig, dass du das weißt. Aber deine Mom und ich werden uns trennen, und sie hat mich gebeten, es dir zu sagen, weil es nicht ihre Idee ist, sondern meine.« Er wendet den Blick ab, als er das sagt. Und dann: »Ich kann das gerade einfach nicht. Ich kann nicht.« Gefolgt von: »Es liegt nicht an dir, und es liegt nicht an deiner Mom. Es liegt an mir. Wir wollten in deinem letzten Schuljahr noch zusammenbleiben. Wir wollten dich nicht entwurzeln. Die nächsten zwei Wochen bleiben wir noch zusammen in diesem Haus, und dann trennen wir uns.«
Als er trennen sagt, muss ich an ein Herz denken, das aufgeschnitten wird, an abgetrennte Gliedmaße.
»Aber gestern hast du mich doch zur Schule gebracht.« Was ich eigentlich sagen will, ist: Gestern war doch noch alles normal. Wir haben Marmeladen-Cookies gegessen und sind in geselligem Schweigen gefahren, und zwar schneller als alle anderen.
»Das hat sich schon eine ganze Weile in mir aufgestaut«, sagt er. »Wir haben versucht herauszufinden, was das Beste für dich und deine Mom und mich ist.«
Also hat er es gewusst, als wir über die Main Street Bridge gefahren sind. Als wir in die Stadt gefahren sind. Als wir die Cookies vor Joy Ann gegessen haben.
Plötzlich fühle ich mich außen vor. Die ganzen Jahre, auch wenn wir Claudine und Lauren, Lauren und Claudine waren, habe ich geglaubt, wir wären alle drei miteinander verheiratet, und erst jetzt geht mir auf, dass es die ganze Zeit nur die beiden waren.
»Ich möchte, dass du mit niemandem darüber redest, Clew, nicht mal mit Saz. Nicht, bevor wir alles geregelt haben. Ich weiß, du liebst Saz und ihre Eltern, aber sie sind unsere Freunde, und wir sind noch nicht so weit, dass sie es erfahren. Wir sind noch nicht so weit, dass irgendjemand es erfährt. Noch nicht.«
So benommen bin ich: Ich werde nicht wütend. Ich frage nicht mal, warum. Ich sage nicht: Du kannst mir nicht vorschreiben, mit wem ich darüber sprechen darf. Du kannst mir nicht sagen, dass die Welt untergeht, und mir dann verbieten, es jemandem zu erzählen. Ich sitze nur da, ausgehöhlt, die Hände im Schoß verkrampft, das Herz in der Brust verkrampft, die Füße ins Leere baumelnd, weil der Boden nirgends zu sehen ist.
Er sagt von sehr weit her: »Diese Stadt ist so verdammt klein – das Letzte, was wir brauchen, sind Leute, die sich über uns das Maul zerreißen, weil sie nichts Besseres zu tun haben. Ich will nicht, dass sie es dir noch schwerer machen, als es ohnehin schon ist.«
Dann höre ich nichts mehr.
Als er weg ist, kommt Mom rein und nimmt mich in den Arm. Sie sagt, dass wir reden können, wenn ich will, dass es wichtig ist, zu reden und die Gefühle rauszulassen. »Du musst die Tränen rauslassen«, sagt sie immer. »Wenn du es nicht tust, kommen sie irgendwann anders raus – vielleicht nicht als Tränen, sondern als Wut oder Schlimmeres.«
»Es ist also wahr«, sage ich.
»Es ist wahr.«
Und plötzlich ist da ein ganzer Rausch an Gefühlen in meinen Händen, meinem Herzen, jedem Teil meines Körpers, der gerade hohl und tot geworden ist, und ich krümme mich fast vor Schmerz. Ich fühle mich, als wäre eine Bombe vom Himmel in mein Zimmer gefallen, direkt auf meinen Kopf.
»Ich weiß, es kommt plötzlich. Und es ist viel. Es tut mir leid. So leid.« Sie zieht mich fester an sich.
»Dad sagt, dass ich nicht darüber reden darf.« Kurz frage ich mich, ob sie mich überhaupt hören kann, weil meine Stimme so weit entfernt klingt, als wäre sie in einem dunklen, leeren Raum ohne Fenster und Türen.
»Nicht außerhalb dieses Hauses, solange wir uns überlegen, wie wir alles regeln.«
Ich versuche, die Hoffnung zu ersticken, die bei diesen Worten in mir aufsteigt, als wäre da etwas, das noch geregelt werden kann, als wäre noch nichts entschieden.
»Wie soll ich mit Saz verreisen, wenn ich nicht darüber sprechen darf?«
»Ich bin mir nicht so sicher, ob ihr zwei verreisen könnt, Claude. Jedenfalls nicht sofort.«
»Aber wir haben es doch geplant!«
»Ich weiß, und es tut mir leid.« Ich sehe, dass sie so verloren ist wie ich. »Ganz ehrlich, ich versuche selbst, das alles zu verstehen.« Sie verstummt, und ich kann beinahe hören, wie sorgfältig sie ihre Worte wählt. »Du musst immer daran denken, dass das nichts mit dir zu tun hat. Dein Dad und ich lieben dich über alles.«
Als sie geht, lege ich mich aufs Bett. Ohne Bücherstapel. Ohne Träume von Wyatt oder Pläne für Saz’ und meinen Road Trip. Nur ich und die Frage, wo der Fußboden ist.
So liege ich sehr lange.
Das Haus ist ganz still, nur einmal höre ich das Knirschen des Garagentors und das Brummen, als Dad wegfährt. Und dann, etwas später, ein Klopfen an der Tür, mein Kater Dandelion, der rein will. Aber ich kann mich nicht bewegen. Ich bleibe liegen.
Und liegen.
Als der Vesuv ausbrach, traf es die Einwohner von Pompeij völlig unvorbereitet, aber wir wissen aus Briefen eines Überlebenden, dass es Vorzeichen gab. Rauchschwaden. Erdbeben. Wie konnte ich die Anzeichen übersehen? Wie konnte ich so ahnungslos sein?