Remo H. Largo

Das passende Leben

Was unsere Individualität ausmacht
und wie wir sie leben können

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Remo H. Largo

Remo H. Largo, geboren 1943 in Winterthur, studierte Medizin an der Universität Zürich und Entwicklungspädiatrie an der University of California, Los Angeles. Seit 1978 leitete er die Abteilung »Wachstum und Entwicklung« an der Universitäts-Kinderklinik Zürich. Die Zürcher Longitudinalstudien, die er dort verantwortete, sind international einzigartig und gehören zu den umfassendsten Studien in der Entwicklungsforschung. Er ist Autor zahlreicher wissenschaftlicher Arbeiten und Bestseller, die sich mit der menschlichen Entwicklung befassen. Remo H. Largos Bücher (u.a. ›Babyjahre‹, ›Schülerjahre‹, ›Jugendjahre‹) gelten als Klassiker der Erziehungsliteratur.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

»Entschiedener als der Schweizer Entwicklungsforscher und Kinderarzt Remo H. Largo in seinem neuen Buch kann man kaum gegen den Strom schwimmen.« Manuela Lenzen, Frankfurter Allgemeine Zeitung

»Klug, gelassen und aufschlussreich.« Myself

 

((Lebe ich wirklich das Leben, das zu mir passt?

Das Lebenswerk des bekannten Entwicklungsforschers und Bestsellerautors (»Babyjahre«) Remo H. Largo – das befreiende Buch gegen Leistungsdruck, Selbstoptimierung und Wachstumswahn.

Jeder wünscht sich ein erfülltes Leben. Doch so simpel es scheint, so schwer ist es, im Einklang mit sich und anderen zu leben. Meist gilt es, fremdbestimmt Erwartungen zu erfüllen. Remo H. Largo zieht die Summe seiner jahrzehntelangen Forschungen und Erkenntnisse und zeigt uns, welche Bedürfnisse und Kompetenzen unsere Individualität formen, wie wir unsere Stärken, Begabungen, aber auch unsere Schwächen leben können und was das »passende Leben« ausmacht.))

Impressum

ISBN 978-3-10-490361-3

Endnoten

Darwin 1988.

Mayr 2003.

Röhrlich 2012.

Mendel 1866.

Mayr 2003.

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Prechtl 1964.

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Olson 2007.

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Sameroff, Chandler 1975.

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Pan, Ke-Sheng 2011.

Fölsing 1993.

Seksik 2014.

Mai 2013.

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Van Wieringen 1986.

Eveleth, Tanner 1976.

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Marshall, Tanner 1986.

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Sundet et al. 2004.

Kanaya et al. 2003.

Teasdale, Owen 2005.

Sundet et al. 2004.

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Wilson 1983.

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Levy et al. 1997.

Coradi et al. 2005; Kronig 2002, 2007.

30000 Jahre Kunst 2015.

Schulte-Markwort 2015.

Zaroff et al. 2015.

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McKone et al. 2009.

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Singer 1999, 2004.

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Csíkszentmihályi 2014.

Neubauer, Stern 2007.

Dornes 1981.

Nelson 2007, Nelson et al. 2014.

Baltes, Mayer 2001.

Gardner 1985.

Darwin 2016.

Nesselrode, Cattell 1966.

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Watzlawick et al. 1974.

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Eibl-Eibesfeldt 1974.

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Perner, Wimmer 1985, Slomkowsk, Dunn 1996.

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Griffin, Langlois 2006.

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Sennett 2008.

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Höffe 2004.

Descartes 1641.

Damasio 2007.

Gigerenzer 2007.

Libet 1999.

Möllers 2015.

Renz-Polster 2014.

Pinker 2013.

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Postman 1988.

Tomasello 2010.

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Schulte-Markwort 2016.

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Buber 2008.

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Varela et al. 1974; Maturana, Varela 2009.

Antonovsky 1979; Hurrelmann 2006.

Chess, Thomas 1984.

Iglowstein et al. 2003.

Largo, Cszernin 2011, 2014.

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Largo, Beglinger 2009; Largo 2012, 2013.

Largo, Czernin 2011.

Largo, Czernin 2014.

Werner 1971, 1989.

Caplan 1989; Haines 1989.

Gendlin 1981.

http://docplayer.net/23992056-In-america-manufacturing-the-mythand-the-reality-of-michael-j-hicks-phd-srikant-devaraj-ms-mba-pmp-june-2015-ball-state-university.html.

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Thomas Straubhaar (2017).

Global Wealth Report: https://www.allianz.com/v_1411376188000/media/economic_research/publications/specials/de/AGWR14d.pdf.

Picketty 2014.

Taxjustice: https://de.wikipedia.org/wiki/Tax_Justice_Network.

Ulijaszek et al. 1998.

Eva, Johanna und Kathrin

Jana und Remo

Aròn und Miguel

Brigitt

Hermann Hesse, 1928

Unsere Individualität solidarisch leben

»Jeder Mensch ist einzigartig. Seine Individualität zu leben macht den Sinn des Lebens aus«

»Entwickle dich zu dem einmaligen, unverwechselbaren, unaustauschbaren Menschen, der in dir angelegt ist.«

 

Pindar, 518442 vor Christus

Ich liebe es, Menschen jeden Alters zu beobachten, beispielsweise im Sommer auf dem Münsterplatz in der Zürcher Altstadt. Da herrscht ein ständiges Gewusel von flanierenden Touristen, eiligen Geschäftsleuten, Einheimischen, die Neuigkeiten austauschen, und spielenden Kindern. Mich fasziniert die Vielfalt der Gesichter und Gestalten, die unterschiedliche Art, wie Kinder, junge und ältere Erwachsene miteinander umgehen. Wie mannigfaltig ist doch ihre Körpersprache, etwa wenn die Großen einander begrüßen und die Kleinen hintereinander herjagen. Und wie verschieden ist das Interesse bei den Touristen an der altehrwürdigen Fraumünster-Kirche und den Auslagen der Geschäfte. Es wird mir nie langweilig zuzuschauen. Ich kann mir sicher sein, dass niemals zwei Menschen über den Platz gehen, die sich in Gestalt und Verhalten vollkommen gleichen. Denn ich weiß, dass jeder der fast acht Milliarden Menschen, die gegenwärtig auf der Erde leben, ein einzigartiges Wesen ist. Und diese Vielfalt ist

Bereits im Alter von zwei Jahren beginnen wir, uns als eigenständiges Wesen zu begreifen. In den folgenden Jahren werden wir fähig, uns in die Emotionen, Gedanken und Handlungsweisen anderer Menschen einzufühlen und hineinzudenken. Dabei machen wir die Erfahrung: Jeder Mensch hat seine individuellen Eigenschaften, Begabungen und Vorstellungen. Spätestens im frühen Schulalter fangen wir an, uns mit anderen Menschen zu vergleichen, und bleiben ein Leben lang bei diesem Verhalten. Als Erwachsene messen wir uns mit unseren Mitmenschen, etwa bezüglich Aussehen, beruflicher und sozialer Stellung oder Leistung und Einkommen. Wir freuen uns an unseren Stärken und leiden an unseren Schwächen. Wir fragen uns, wie wir von den anderen Menschen wahrgenommen werden. Und wir werden immer wieder aufs Neue auf uns selbst zurückgeworfen: Was müssen wir an uns als »gegeben« akzeptieren, und was können wir verändern, wenn wir uns noch etwas mehr anstrengen? Mit den Jahren müssen wir dann einsehen: Es gibt keinen Königsweg, der uns aufzuzeigen vermag, wie wir das Leben am besten bewältigen können, obwohl uns unzählige Ratgeber genau das vollmundig versprechen. So kann auch dieses Buch keinen »Königsweg« anbieten. Es versucht vielmehr, die Individualität des Menschen und sein vielfältiges Bemühen, in dieser Welt zu bestehen, dem Leser und der Leserin näherzubringen. Denn wir tun uns immer noch schwer mit der Individualität. Wir denken und handeln, als ob wir alle gleich wären, alle die gleichen Bedürfnisse hätten und alle das Gleiche leisten könnten. Dem ist aber ganz und gar nicht so. Sein Wesen in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben, dafür gibt es keine allgemeingültigen Regeln. Es ist eine

Nicht nur die eigene Individualität zu leben ist eine Herausforderung, sondern auch mit der Vielfalt und Andersartigkeit der Mitmenschen umzugehen. Stellen wir uns vor, wir wären alle gleich, gleich groß und schwer, gleich in unserem Aussehen, wären mit den gleichen Gefühlen und Begabungen geboren und hätten die gleichen Bedürfnisse. Das Leben wäre ziemlich eintönig, aber wir hätten einige Probleme nicht, die uns die Vielfalt in Familie, Schule und Gesellschaft bereitet. Doch ohne Vielfalt gäbe es weder den Menschen noch alle anderen Lebewesen. Vielfalt und Individualität sind Grundvoraussetzungen alles Lebens.

Wie vielfältig die Menschen sind und welche Schwierigkeiten uns diese Vielfalt bereitet, war die nachhaltigste Erfahrung, die ich in meiner vierzigjährigen Tätigkeit als Wissenschaftler und klinisch tätiger Entwicklungspädiater gemacht habe. Ich hatte das Privileg, ein großangelegtes Forschungsprojekt, das 1954 am Kinderspital Zürich begonnen wurde, von 1974 bis 2005 fortzuführen. In den Zürcher Longitudinalstudien haben wir mehr als 700 normal entwickelte Kinder von der Geburt bis ins Erwachsenenalter in zwei aufeinanderfolgenden Generationen begleitet und den Entwicklungsverlauf jedes einzelnen Kindes in Bereichen wie Motorik und Sprache dokumentiert. Unsere Motivation, solche äußerst aufwendigen Studien durchzuführen, war die Überzeugung: Nur wenn wir die Vielfalt und die Gesetzmäßigkeiten der normalen Entwicklung ausreichend gut kennen, können wir den individuellen Bedürfnissen und Fähigkeiten der Kinder gerecht werden und sie in ihrer Entwicklung als Eltern, Therapeuten und Lehrkräfte wirksam unterstützen. Und es stellte sich bei der Auswertung der Daten aus den verschiedenen Entwicklungsbereichen tatsächlich heraus, dass es keine Fähigkeit, kein Verhalten und keine körperliche und psychische Eigenschaft gibt, die bei allen Kindern gleich

Wir Menschen haben also alle ganz unterschiedliche Voraussetzungen, um die kleinen und großen Herausforderungen des Lebens zu bewältigen. Beispielsweise Luca, der mit seinen Eltern in meine Sprechstunde kam. Er fühlte sich als Versager, weil er im Alter von neun Jahren immer noch nicht lesen konnte. Er spürte schmerzlich, dass er die Erwartungen der Eltern und der Lehrerin nicht zu erfüllen vermochte. Luca war in seinem Wohlbefinden erheblich beeinträchtigt und reagierte darauf mit Unkonzentriertheit und motorischer Unruhe. Ich habe im Laufe meiner Tätigkeit Tausende von Kindern wie Luca erlebt, die uns zugewiesen wurden, weil sie von der »Norm« abwichen. Sie litten an unterschiedlichsten Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten wie nächtlichem Erwachen, motorischer Ungeschicklichkeit oder sozialem Rückzug. Der oftmals unausgesprochene Auftrag der Eltern und Lehrer an uns bestand darin, die Kinder durch Förderung in die »Norm« zu bringen, was – wie uns die langjährige Erfahrung gelehrt hat – nicht gelingen kann. Wir sahen das eigentliche Problem der Kinder darin, dass sie, weil sie den Normvorstellungen nicht entsprachen, nicht »sie selbst« sein durften. So versuchten wir,

Die eigene Individualität zu leben bleibt auch im Erwachsenenalter eine ständige Herausforderung. So ist beispielsweise eine Bankangestellte ebenso wie der Schüler Luca in ihrem Wohlbefinden beeinträchtigt, wenn sie die Leistungen am Arbeitsplatz nicht erbringen kann, die sie von sich selbst erwartet und die ihre Vorgesetzten und Mitarbeiter von ihr verlangen. Sie fühlt sich überfordert, gerät in einen Erschöpfungszustand und leidet schlimmstenfalls irgendwann an einem Burn-out-Syndrom. Eine Verbesserung ihres Wohlbefindens kann zumeist nicht dadurch erreicht werden, dass man ihre Leistung, wie es häufig geschieht, etwa durch eine Fortbildung zu steigern versucht. Es gilt vielmehr, ihre individuellen Begabungen zu respektieren und die Arbeitsanforderungen mit ihrer Leistungsfähigkeit möglichst in Einklang zu bringen. Dasselbe Passungsproblem stellt sich bei Unterforderung ein, kann doch das Gefühl, die erbrachten Leistungen seien unbefriedigend, ja sinnlos, das Wohlbefinden eines Menschen ebenfalls erheblich beeinträchtigen.

Mehrmals pro Tag standen wir in der Forschung und klinischen Arbeit vor der Frage: Warum fühlt sich das eine Kind wohl und entwickelt sich gut, während ein anderes in seinem Wohlbefinden beeinträchtigt ist und Auffälligkeiten in seiner Entwicklung aufweist?

Fragen zur Einzigartigkeit des Menschen und dem Zusammenwirken von Mensch und Umwelt haben mich seit der Pubertät beschäftigt. Im Alter von 13 Jahren musste ich acht Wochen lang das Bett hüten und verschlang in dieser Zeit Leo Tolstois »Krieg und Frieden« und Fjodor Dostojewskijs »Schuld und Sühne«. Die einfühlsame und lebensnahe Darstellung unterschiedlichster menschlicher Charaktere und der Dramen, die sich zwischen ihnen abspielten, faszinierte mich derart, dass ich mich – wieder genesen – durch die ganze auf Deutsch erhältliche russische Literatur las. Seither haben mich Fragen danach, warum die Menschen so verschieden sind, was ihr Leben bestimmt und was das Wesen des Menschen ausmacht, nie mehr losgelassen. Von meinem Medizinstudium an der Universität Zürich, das ich 1963 begann, erhoffte ich mir ein vertieftes Verständnis vom Menschen. Doch ich machte eine merkwürdige Erfahrung: Ich lernte eine immense Anzahl körperlicher und psychischer Phänomene aller Art kennen, aber mein Fragenkatalog nahm nicht ab, sondern zu, und eine tiefere Einsicht in das Wesen des Menschen wollte sich nicht einstellen. Auf der Suche nach einem ganzheitlichen Menschenbild setzte ich mich in den Jahrzehnten darauf mit den unterschiedlichsten

Im Verlauf von 40 Jahren fügten sich meine Erfahrungen in Klinik und Forschung und die Erkenntnisse aus verschiedenen Fachgebieten, etwa der Genetik und der Soziologie, nach und nach wie Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammen. Ich nannte es das Fit-Prinzip. Es besagt: Jeder Mensch strebt danach, mit seinen individuellen Bedürfnissen und Begabungen in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben. Das Fit-Prinzip beruht auf einer ganzheitlichen Sichtweise, die die Vielfalt unter den Menschen, die Einzigartigkeit jedes Einzelnen und das Zusammenwirken von Individuum und Umwelt als Grundlage der menschlichen Existenz versteht.

Wie gut gelingt es den Menschen, ihre Individualität in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben? Das Ringen um ein passendes Leben überfordert immer mehr Menschen. Die Kinder sollen die oftmals übertriebenen Erwartungen der Eltern erfüllen und leiden in der Schule unter einem unerträglichen Leistungsdruck. Den Erwachsenen machen der Spagat zwischen Familie und Arbeit und die wachsenden Anforderungen der Wirtschaft zu schaffen. Alte Menschen, insbesondere wenn sie in Alters- und Pflegeheimen leben, leiden unter fehlender Geborgenheit und sozialer Vereinsamung. Menschen jeden Alters fühlen sich immer mehr fremdbestimmt und können immer weniger ein Leben führen, das ihren individuellen Bedürfnissen und Begabungen entspricht. Im Kleinen kann das Fit-Prinzip den Menschen helfen, zu ihrer Individualität zurückzufinden. Im Großen kann das Prinzip

 

Da in diesem Buch ein großer Bogen von den Anfängen der Evolution bis in unsere Zeit geschlagen wird, soll die nachfolgende kurze Übersicht über seine zehn Teile den Leser und die Leserin an den inneren Zusammenhang heranführen, der zwischen so unterschiedlichen Themen wie Evolutionsbiologie, Anlage und Umwelt, Entwicklung des Menschen und dem Fit-Prinzip besteht.

Teil I Der biologische und soziokulturelle Werdegang des Menschen

»Der Mensch ist mit allen Lebewesen dieser Erde verwandt«

Vieles in unserem eigenen Leben können wir nur begreifen, wenn wir uns vergegenwärtigen, was in der Vergangenheit mit uns geschehen ist. So hilft uns auch der Blick zurück auf die ferne Herkunft der Menschheit, unser (heutiges) Wesen besser zu verstehen.

Im Alten Testament, im Ersten Buch Mose, erfahren wir in der Schöpfungsgeschichte, wie der Mensch an einem einzigen Tag erschaffen wurde. Die neuesten Erkenntnisse der Anthropologie, Evolutionsbiologie und der Genetik haben zu einer anderen, aber nicht weniger wunderbaren Einsicht geführt. Wir Menschen sind im Verlauf von 450 Millionen Jahren aus dem unablässigen Zusammenwirken unzähliger Lebewesen und deren Umwelt hervorgegangen. Wir teilen mit allen Lebewesen dieser Erde einen gemeinsamen Ursprung und sind demnach – wenn auch in unterschiedlichem Ausmaß – mit Insekten, Reptilien und Säugetieren, ja selbst mit Algen, Palmen und Obstbäumen genetisch verwandt. Die Verantwortung für die Umwelt ist uns gewissermaßen ins Erbgut hineingeschrieben.

Seit 450 Millionen Jahren streben sämtliche Lebewesen danach, sich

Der Wandel des Erbgutes, die Vielfalt unter den Menschen und das Streben nach Übereinstimmung mit der Umwelt sind nicht nur Grundelemente der Evolution, sondern auch der menschlichen Existenz. Das Erbgut wird bei jeder Zeugung eines Kindes neu zusammengestellt. Jeder der fast acht Milliarden Menschen ist daher ein Unikat. Und jeder Mensch versucht sein Leben lang, sich auf die vielfältigen Anforderungen der Umwelt so einzustellen, dass er seine Bedürfnisse möglichst gut befriedigen kann. Dieses Bemühen, in Übereinstimmung mit der Umwelt zu leben, ist das Herzstück des Fit-Prinzips.

Der moderne Mensch hat als einziges Lebewesen einen unwiderstehlichen Drang entwickelt, seine Fähigkeiten und sein Wissen immer mehr auszuweiten und damit die Umwelt nicht nur bestmöglich zu verstehen, sondern auch immer stärker zu nutzen und schließlich zu beherrschen. Das Bemühen um eine Übereinstimmung mit der Umwelt ist in eine Dominanz über die Umwelt umgeschlagen. Der wissenschaftliche, technologische und wirtschaftliche Fortschritt hat sich in den vergangenen 200 Jahren exponentiell beschleunigt. In den letzten Jahrzehnten hat es weitaus mehr Innovationen gegeben als in der gesamten Menschheitsgeschichte zuvor – mit erfreulichen Errungenschaften, aber zunehmend auch mit bedrohlichen Folgen für die Umwelt und für uns selbst. So leben wir nicht mehr – wie unsere Vorfahren während 200000 Jahren – in kleinräumigen Lebensgemeinschaften, sondern in einer anonymen Massengesellschaft.

Fragen, die uns beschäftigen werden, sind:

Teil II Über das Zusammenwirken von Anlage und Umwelt

»Was die Anlage zustande bringt, vermag die Umwelt nicht zu leisten – und umgekehrt«

Was für die Evolution im Großen gilt, trifft im Kleinen auch auf unsere eigene Entwicklung zu. Unser Leben besteht von der Geburt bis ins hohe Alter aus einem ständigen Zusammenwirken von Anlage und Umwelt. Und so fragen wir uns: Was also ist in unserem Wesen angelegt beziehungsweise angeboren und was erworben? Diese Frage treibt nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Laien um. Roger Federer ist einer der erfolgreichsten Tennisspieler aller Zeiten. Warum ist er bei 20 Grand-Slam-Turnieren als Sieger hervorgegangen? Weil er mit einem außerordentlichen Talent gesegnet ist, weil er sehr viel trainiert hat oder weil sich Begabung und Trainingseifer ideal ergänzt haben? Wenn Eltern besonders empathisch und fürsorglich mit ihren Kindern umgehen, liegt ihrem Verhalten dann eine hohe angeborene soziale Kompetenz zugrunde, oder sind sie als Kinder zu einem fürsorglichen Verhalten erzogen worden? Wenn Jugendliche einen dicken Harry-Potter-Band in einer Woche verschlingen, während manche ihrer Schulkameraden selbst eine kurze Notiz in einer Boulevardzeitung nur mit Mühe entziffern können – ist das so, weil ihre Lesekompetenzen so verschieden angelegt sind, oder liegt es daran, dass Elternhaus

Welche Bedeutung wir jeweils Anlage und Umwelt zuschreiben, ist auch für die Gesellschaft von Belang. Wie halten wir es beispielsweise mit der Chancengerechtigkeit in der Bildung? Fällt der Lernerfolg bei Schülern so unterschiedlich aus, weil ihre Begabungen so verschieden sind oder weil sie in der Schule ungleich gefördert werden? Wie schaffen wir Gerechtigkeit in der Wirtschaft, wenn die Menschen über so unterschiedliche Fähigkeiten verfügen, aber den gleichen Anforderungen genügen sollen? Schreiben wir eine große Leistungsfähigkeit einer hohen Begabung, einer guten Ausbildung oder einer vorbildlichen Arbeitshaltung zu? Was soll honoriert werden: Talent, Arbeitseinsatz oder Erfolg? Je nachdem, welche Bedeutung wir Anlage und Umwelt zuschreiben, verhalten wir uns als Eltern, Lehrer, Mitarbeiter und Bürger unterschiedlich.

Wichtige Fragen, die es zu beantworten gilt, sind:

Teil III Entwicklung zur Individualität

»Neugierde ist die treibende Kraft in der Entwicklung«

Jedes Kind rekapituliert in seiner Entwicklung eine Wegstrecke der Evolution – gewissermaßen im Schnelldurchlauf. Es wird mit einem

Wenn ein Kind zu greifen und zu sprechen, zu lesen und zu rechnen beginnt, läuft im Gehirn ein überaus komplexer Reifungsprozess ab, der nur gelingen kann, wenn das Kind die notwendigen Erfahrungen machen darf. Dafür ist es mit einer unbändigen Neugierde und einer genuinen Lernbereitschaft ausgestattet. Es kann gar nicht anders, als sich für seine Umwelt in jeder Hinsicht zu interessieren. Es will die Welt kennenlernen, um sie möglichst gut zu verstehen und sich darin zu bewähren.

Einsichten in die kindliche Entwicklung helfen nicht nur dabei, das Kind in seiner Entwicklung zu unterstützen, sie bieten auch einen wunderbaren Zugang dazu, unser eigenes Wesen besser zu begreifen: Wie wir so geworden sind, wie wir nun einmal sind. Warum einige unserer Fähigkeiten so gut ausgebildet sind und andere weit weniger. Warum wir für bestimmte Lebensbereiche ein großes Interesse und eine erstaunliche Lernbereitschaft aufbringen und für andere Bereiche kaum.

Wichtige Fragen sind:

Teil IV Grundbedürfnisse bestimmen unser Leben

»Jeder Mensch hat sein ihm eigenes Bedürfnisprofil«

Alle elementaren Bedürfnisse wie z.B. dasjenige nach Nahrung teilt der Mensch seit jeher mit höher entwickelten Tieren. Er hat in der letzten Etappe seiner evolutionären Entwicklung die Befriedigung seiner Bedürfnisse jedoch so stark weiterentwickelt, dass sie eine ganz neue Bedeutung erhalten haben. So beschaffen sich die Menschen nicht nur Nahrung, sondern kochen und würzen ihre Speisen seit vielen Jahrtausenden und zelebrieren bei Feierlichkeiten die Mahlzeiten als ein soziales Ereignis mit Gedeck, Wein und Kerzen.

Sechs Grundbedürfnisse bestimmen aus der Sicht des Fit-Prinzips unser Leben. Wir haben neben der Befriedigung der körperlichen Bedürfnisse ein großes Verlangen nach Geborgenheit sowie nach sozialer Anerkennung und einer festen sozialen Stellung in der Familie, im Freundeskreis, in der Arbeitswelt und in der Gesellschaft. Erhalten wir ausreichend Geborgenheit und Anerkennung, fühlen wir uns wohl und angenommen. Werden wir jedoch ausgegrenzt, fühlen wir uns abgelehnt und sind emotional verunsichert. Zwei weitere Grundbedürfnisse bestehen darin, dass wir unsere Begabungen entfalten wollen und die Leistungen erbringen möchten, die unseren Fähigkeiten entsprechen. Dabei haben Kinder einen besonders ausgeprägten Drang, ihre Fähigkeiten zu entwickeln und sich Fertigkeiten anzueignen. Ein letztes Grundbedürfnis, das uns besonders antreibt, ist dasjenige nach existentieller Sicherheit. Ein geregeltes Einkommen und Sicherheit von Person und Eigentum sind uns sehr wichtig. Arbeitslosigkeit,

Unsere psychische und körperliche Befindlichkeit hängt davon ab, ob es uns gelingt, unsere Grundbedürfnisse ausreichend zu stillen. Dafür wenden wir all unsere Kraft und Zeit auf.

Es stellen sich uns die folgenden Fragen:

Teil V Kompetenzen, die wir entfalten wollen

»Menschen erbringen zahllose Leistungen, zu denen kein anderes Lebewesen fähig ist«

Intelligenz wird häufig mit intellektueller Leistungsfähigkeit und dem Intelligenzquotienten gleichgesetzt. Unsere geistigen Fähigkeiten gehen jedoch weit über jene intellektuellen Leistungen hinaus, die in gängigen Testverfahren erfasst werden. So gibt es motorische Begabungen, die für eine handwerkliche Tätigkeit wie das Schreinern oder für das Spielen eines Musikinstrumentes sehr wesentlich sind. Das Sozialverhalten besteht nicht nur aus zwischenmenschlichen Umgangsformen, sondern auch aus der geistigen Fähigkeit, sich in das Verhalten anderer Menschen hineindenken und -fühlen zu können.

Die folgenden Fragen werden uns beschäftigen:

Teil VI Unsere Vorstellungen und Überzeugungen

»Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das sich die Welt erklären muss, um das Leben zu bewältigen«

Vorstellungen befähigen uns zum Denken sowie zum Verstehen und Anwenden von Sprache. Beispielsweise denke ich gerade darüber nach, was für mich Vorstellungen sind, und halte meine Gedanken

Unsere Gedanken und Überzeugungen tauschen wir mit unseren Mitmenschen aus und teilen gemeinsame Vorstellungen, beispielsweise religiöser Art. Manche Wertvorstellungen übernehmen wir im Lauf des Lebens von unserer sozialen Umwelt. Sie können eine ungeheure Macht auf uns ausüben und unser Leben im hohen Maß bestimmen. So legte die katholische Kirche jahrhundertelang mit ihren Dogmen die Moral und das Beziehungsverhalten der Menschen fest. Sie verfügte über eine absolute Deutungshoheit, etwa bezüglich der Stellung von Mann und Frau und Ehe und Scheidung. Doch auch mächtige Werke verlieren ihre Bedeutung oder werden gar aufgegeben, wenn sich die Lebensbedingungen tiefgreifend verändern. Heute, nach über 200 Jahren Aufklärung, orientieren sich die Menschen immer weniger an religiösen und umso mehr an säkularen Vorstellungen, beispielsweise bei der Gleichstellung von Frau und Mann oder dem Umgang mit Homosexualität.

Wir lassen uns von unseren Vorstellungen leiten und rechtfertigen mit ihnen unser Tun im Alltag genauso wie in der Weltpolitik. Es lohnt sich daher, den Inhalt und den Einfluss unserer Vorstellungen zu hinterfragen:

Teil VII Von der Natur zur menschengemachten Umwelt

»Zum Überleben brauchen alle Lebewesen nicht irgendeine, sondern eine auf ihre Bedürfnisse abgestimmte Umwelt«

Wir machen uns seit einigen Jahrzehnten zu Recht große Sorgen um unsere Umwelt. Die CO2-Emissionen erreichten 2013 einen neuen Rekordwert von 36 Milliarden Tonnen, was schlimmstenfalls zu einer Erderwärmung um mehrere Grad noch in diesem Jahrhundert führen könnte. Die Wälder werden abgeholzt – allein zwischen 2000 und 2012 verschwand eine 1100 mal 1100200000