Françoise Hauser

Japan für die Hosentasche

Was Reiseführer verschweigen

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Françoise Hauser

Françoise Hauser hat Ostasienwissenschaften und Geographie in Erlangen, Nanjing (VR China) und Tainan (Taiwan) studiert. Als freie Journalistin mit Asien-Schwerpunkt schreibt sie seit mehr als 15 Jahren regelmäßig für diverse Magazine und Zeitungen wie inAsien, Asia Bridge, Die Welt, Touristik Aktuell, Business Traveller, Spiegel Online, Focus Online, Clever Reisen, Momentum, Diners Club Magazine u.a. und ist auch als Buchautorin und Trainerin für interkulturelle und journalistische Themen tätig. 2012 hat sie den Japanese Language Proficiency Test (JLPT) Level 4 abgelegt.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: Geviert, Grafik & Typografie, München

 

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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-403721-9

Fußnoten

Sie wird in manchen Publikationen der nordamerikanischen, in anderen der eurasischen Platte zugeordnet. Neuerdings gilt sie hier und da auch als eigene Platte.

www.tokyoimmigration.jp/eng/kika.html

Einleitung

Auf vielen Reisen, beruflich und privat, in billigen Absteigen und unglaublich luxuriösen Hotels, auf abgelegenen Bergpfaden und in den Hochhausschluchten von Tōkyō und Ōsaka, bei meinen teils deutschen, teils japanischen Verwandten vor Ort, habe ich Japan aus tausend verschiedenen Blickwinkeln kennengelernt. Und bei jeder Reise präsentieren mir die Japaner zuverlässig neue Seiten ihrer Kultur. Logisch, dass sich dabei Fragen ergeben: Warum sind die Tempel über und über mit Aufklebern bedeckt? Und wie bitte schafft man es, sie auf rund sechs Metern Höhe anzubringen? Wieso essen Menschen freiwillig giftigen Kugelfisch? Warum stellen sich manche Japaner volle Wasserflaschen rund ums Haus? Stimmt es, dass Ausländer die Japaner sowieso nie wirklich verstehen können? Und gibt es die berühmt-berüchtigten Automaten mit gebrauchten Unterhosen wirklich? (Für alle, die es nicht abwarten können: Die Antwort finden Sie auf Seite 234.)

Genau um solche Fragen, schrägen Details und unbekannten Hintergründe geht es in diesem Buch. Einen Anspruch auf Vollständigkeit hat meine Sammlung nicht, denn ich bin mir fast sicher: Bei der nächsten Reise werden mir die Japaner einen neuen Packen Rätsel aufgeben – ein guter Grund, sich wieder auf Japan zu freuen.

Zur Aussprache:

In diesem Buch wurde die Kunrei-Umschrift verwendet, wie sie auch in Japan üblich ist. Auf schmerzhafte Eindeutschungen, wie beispielsweise die Verwandlung von Tōkyō zu Tokio oder Kyōtō zu Kioto, habe ich bewusst verzichtet.

Eine wackelige Angelegenheit: Japans Geographie

Japan? Da denken die meisten Menschen an Hochhausschluchten und die Menschenmengen der Tōkyōter Innenstadt. Hier deshalb ein paar überraschende Eckdaten:

Fläche 378000 km²

Anteil Flachland: 11 %

Anteil Bergland: 75 % der Fläche, größtenteils bewaldet

Anteil Waldfläche: 67 % (im internationalen Vergleich steht Japan damit an 13. Stelle)

Nord-Süd-Ausdehnung: 3000 km

Zahl der Inseln: 6852

Zahl der bewohnten Inseln: 421

Bevölkerungsdichte Tōkyō: 5751 Menschen/km²

Bevölkerungsdichte Hokkaidō: 72 Menschen/km²

Bärenpopulation: 15000 Schwarzbären auf Honshū, 2000 Braunbären auf Hokkaidō

Affenpopulation: ca. 100000

Anzahl der Vulkane: ca. 240, davon aktiv: 110

Japan, das Land der Inseln

Der Blick auf die Karte täuscht: Auf den ersten Blick scheint das Land aus vier großen Inseln zu bestehen, dazu kommen ein paar kleinere Punkte und natürlich Okinawa. In der Tat machen die vier großen Inseln Honshū, Hokkaidō, Shikoku und Kyūshū 97 % der Landesfläche aus. Die restlichen 3 % liegen zum Teil recht weit entfernt. So gehört zur Hauptstadt Tōkyō nicht nur das Territorium auf Honshū, sondern auch die Izu-Inseln sowie die Ogasawara-Inseln. Letztere liegen tausend Kilometer entfernt im Pazifik und sind nur einmal die Woche per fünfundzwanzigstündiger Bootsfahrt zu erreichen.

Die Frage, wie viele Inseln es insgesamt sind, ist ohnehin gar nicht so einfach zu beantworten und eine reine Definitionssache: Ein großer Teil dieser kleinen Inselchen ist nur wenige Meter groß und daher auch unbewohnt. Die japanische Küstenwache zählt alles mit einer Küstenlinie von mehr als 100 Metern als Insel und kommt so auf genau 6852 Inseln inklusive der vier Kurilen-Inseln, die seit dem Zweiten Weltkrieg zu Russland gehören, aber von Japan beansprucht werden.

Bebaut – und doch leer …

Nicht alle japanischen Inseln sind bewohnt. Zum einen, weil manche einfach zu klein sind, andere über kein Süßwasser verfügen. Besonders interessant sind jedoch die verlassenen Inseln:

Hashima (Gunkanjima): einmal Schaudern, bitte

Spätestens seit dem James-Bond-Film »Skyfall« kennt sie jeder: Die verlassene Insel Hashima (端島) mit ihren Industrieruinen war der ideale Ort, einen Bösewicht zu verstecken. Im echten Leben war die Insel nicht einmal hundert Jahre lang bewohnt. 1890 kaufte die Firma Mitsubishi das karge Eiland vor der Küste von Nagasaki und begann mit dem unterseeischen Abbau von Kohle. Da die Löhne im Vergleich zum Festland recht gut waren, hatten die Betreiber keine Probleme, Arbeitskräfte zu finden, wohl aber, diese samt Familien unterzubringen. Die vier Hektar große Insel wurde sogar auf 6,3 Hektar erweitert.

1917 entstand auf Hashima das erste mehrstöckige Betongebäude Japans, gleichzeitig wurde die Insel auch unterirdisch genutzt. Zu Spitzenzeiten lebten 5200 Menschen in diesem verschachtelten Labyrinth aus Wohnhäusern, Verwaltungsgebäuden, Schulen, Tempeln und Schreinen, sogar ein Schwimmbad und ein Kino gab es. Für die japanischen Bewohner war das Leben vergleichsweise gut. Während des Zweiten Weltkriegs wurden auf Hashima jedoch auch Tausende von koreanischen und chinesischen Zwangsarbeitern verheizt – 1300 von ihnen starben in den Minen. Als Hashima auf die Vorschlagsliste für das UNESCO-Weltkulturerbe gesetzt wurde, war man in Korea und China verständlicherweise wenig begeistert, denn dort steht die Insel nicht für Fortschritt, sondern für die Qualen der Verschleppten.

1974 war schlagartig Schluss mit dem Hashima-Boom: Erdöl hatte die Kohle verdrängt, so dass Mitsubishi den Abbau einstellte, mangels alternativer Arbeitsmöglichkeiten war die Insel innerhalb weniger Tage verlassen. Bizarrerweise ließen die meisten Bewohner einfach alles stehen und liegen, so dass in den Wohnungen bis heute die Möbel verrotten und Bücher verschimmeln. »Zutritt verboten«, hieß es die nächsten 35 Jahre aus Sicherheitsgründen, seit 2009 gibt es jedoch wieder organisierte Touren zur Geisterinsel.

Ihren Namen »Hashima« (Grenzinsel) hat die Insel ihrer Lage zu verdanken, denn von der Küste aus ist sie der letzte sichtbare Außenposten des Landes. Oft wird sie auch Gunkanjima (Kriegsschiffinsel) genannt, denn mit ihrer ovalen Form und den hohen Aufbauten könnte man sie von weitem für ein Schiff halten.

Ōkunoshima: zum Streicheln schön

Wenn es so etwas gibt wie eine Osterhasen-Insel, dann ist es diese. Tausende von Hasen hoppeln hier zutraulich über die 1,2 Quadratkilometer große Insel Ōkunoshima (大久野島) in der Seto-Inlandsee nahe Hiroshima, menschliche Bewohner gibt es jedoch keine. Was auf den ersten Blick recht kuschelig wirkt, verbirgt eine düstere Geschichte: Von 1929 bis 1945 produzierte die japanische Armee hier heimlich chemische Waffen, vor allem Giftgas. Die Hasen der Insel sind wahrscheinlich die Nachfahren der Tiere, an denen die Giftgase getestet wurden. Ob es die amerikanischen Soldaten waren, die die Hasen freiließen, oder die Arbeiter der Giftgasfabrik, lässt sich heute nicht mehr nachvollziehen. Einer anderen Theorie nach sollen es Schulkinder auf einem Klassenausflug gewesen sein, die die Hasen mitbrachten. Seither haben sie sich jedenfalls ordentlich vermehrt.

Gajajima: danke für den Fisch

Im Vergleich zu den genannten verlassenen Inseln ist Gajajima (臥蛇島) geradezu unspektakulär. Die kleine Insel gehört zu den Tokara-Inseln südlich von Kyūshū und war bis in die 1970er Jahre besiedelt, als die letzten Bewohner Gajajima aus wirtschaftlichen Gründen verließen: Der Thunfischfang war einfach nicht mehr ergiebig genug. Geblieben sind allerdings verwilderte Hausziegen, die nun recht glücklich und ungestört über die Insel springen.

Tsurushima: die Märtyrerinsel

Einige verfallene Steingebäude, eine Anlegestelle und ein Brunnen – mehr ist nicht mehr übrig von der ehemaligen Strafgefangenenkolonie auf Tsurushima (鶴島) in der Seto-Inlandsee. Während der letzten Christenverfolgung zu Beginn der Meiji-Ära 1867 wurden hier 117 japanische Christen gefangen gehalten. Als das Religionsverbot schließlich 1873 aufgehoben wurde, durften auch die überlebenden Insassen die Insel verlassen – seither ist sie unbesiedelt.

Miyakejima: kein Luftkurort

Miyakejima (三宅島) ist noch nicht oder nur zeitweise verlassen – es wäre jedoch wenig verwunderlich, wenn sie es eines Tages ganz wäre. 2300 Menschen leben auf der Insel 180 Kilometer von Tōkyō entfernt, am Fuße des Vulkans Oyama. Alle 20 Jahre bricht er im Durchschnitt aus – und auch jetzt macht er immer wieder Anstalten dazu. Problematisch sind jedoch nicht nur die Lavamassen, sondern die Gase, die der Vulkan absondert – 42000 Tonnen Schwefeldioxid am Tag! Im September 2000 wurde die Insel nach einigen Eruptionen und Erdbeben vollständig evakuiert, viele Bewohner kehrten jedoch schon 2005 wieder zurück. Seit Jahrzehnten sind die Menschen auf Miyakejima verpflichtet, ständig eine Gasmaske mit sich zu tragen – für den Notfall. Besuchern, vor allem solchen mit Lungenproblemen, empfiehlt die Inselregierung, sich vor dem Besuch ärztlich untersuchen zu lassen. Die Gasmasken gibt es praktischerweise gleich am Kiosk an der Anlegestelle zu kaufen.

Wo kann man unbewohnte Inseln kaufen?

Diverse Makler bieten in Japan unbewohnte Inseln an. Sollte Ihnen das Kleingeld in der Tasche brennen, gibt es beispielsweise unter www.aqua-styles.com/island_japan.html eine schöne Auswahl. Teils sind die Eilande schon für wenige tausend Euro zu haben. Um Gas-, Wasser- und Stromanschluss müssen sich die neuen Besitzer allerdings selbst kümmern.

Die jüngste Insel der Welt

2013 erhob sich nach einer Eruption die Insel Niijima (新島) rund tausend Kilometer südöstlich von Tōkyō aus dem Meer. Das Eiland ist damit nicht nur Japans neuester Zugang, sondern derzeit auch die jüngste Insel der Erde. Obwohl es wohl noch einige Zeit dauern wird, bis man sich sicher auf ihr aufhalten kann – bisher sprudelt noch immer Lava aus dem Krater –, ist sie seither doch enorm angewachsen. Ihr höchster Punkt misst bereits 100 Meter, und die Nachbarinsel Nishinoshima, die zu Beginn noch 500 Meter entfernt lag, hat sie sich auch schon einverleibt. Ob es bei den rund zwei Quadratkilometern Fläche bleiben wird, ist noch ungewiss. Zum einen fließt noch Lava nach, zum anderen arbeiten die Kräfte der Erosion dagegen. Für Biologen ist die neue Insel eine aufregende Möglichkeit, die Besiedlung durch Leben zu beobachten.

Warum gibt es so viele Erdbeben in Japan?

Japan ist eigentlich ein stabiles Land. Politisch, kulturell, sozial … nur tektonisch leider nicht. Rund tausendmal im Jahr wackelt die Erde. Zugegeben, viele dieser Beben sind für den Menschen kaum wahrnehmbar. Doch hier und da ruckelt es ganz ordentlich. Zuletzt am 11. März 2011, als das Tōhoku-Erdbeben, das weltweit drittstärkste, das je gemessen wurde, den Norden der Hauptinsel Honshū teils sage und schreibe um fünf Meter verschob und einen katastrophalen Tsunami auslöste. Und dies war mit Sicherheit nicht das letzte große Beben. Doch warum ist das so?

Dort, wo die japanischen Inseln aus dem Meer ragen, stoßen gleich mehrere tektonische Platten aneinander: die pazifische, die eurasische, die nordamerikanische und die philippinische Platte. Oder genauer gesagt, schiebt sich hier die ozeanische pazifische Platte pro Jahr rund acht bis zehn Zentimeter unter die leichtere, kontinentale Ochotsk-Platte[1], auf der auch Japan liegt, und bildet dabei den Japan-Tiefseegraben. Gleichzeitig stößt von Süden die philippinische Platte spitz in diese Nahtstelle und bewegt sich rund drei Zentimeter nach Norden und taucht gleichzeitig auch unter Südjapan ab. Ein kleines Bruchstück dieser Platte klemmt wahrscheinlich 35 Kilometer unterhalb Tōkyōs zwischen der eurasischen, der pazifischen und der philippinischen Platte. Im Norden dagegen reibt sich die nordamerikanische Platte an der eurasischen und der pazifischen. Ein Blick auf die Satellitenbilder bei Google Maps genügt, um dies auch als Laie mit bloßem Auge zu sehen: Wie Schweißnähte ziehen sich die Kanten der verschiedenen Platten durch den Ozean.

Problematisch ist: Dort, wo sich die Platten aneinander reiben oder abtauchen, verhaken sie sich hin und wieder. So bauen sich Spannungen auf, die sich letztlich mit einem Ruck lösen: dem Erdbeben. Natürlich ist dies eine extrem vereinfachte Darstellung. Ganz nebenbei werden bei diesen Vorgängen auch Gebirge aufgehäuft oder Meeresgräben aufgerissen. Dass hier so viel geschoben und gequetscht wird, ist also überhaupt der Grund, dass Japan existiert, denn 13 Metern Höhe, rechnet man vom Boden des Meter tiefen Tiefseegrabens aus.