Judith O'Higgins | Fred Sellin
Meine Spuren des Todes
FISCHER E-Books
Judith O’Higgins wurde 1971 in Lippstadt geboren. Nach dem Abitur studierte sie Medizin und Musik in Münster, bevor sie nach Hamburg wechselte, ihr Studium beendete und Rechtsmedizinerin wurde. Inzwischen lebt sie mit ihrem Mann, einem Engländer, in London und ist auch dort in ihrem Beruf tätig, obduziert rund 500 Leichen pro Jahr.
Fred Sellin arbeitete als Reporter bei verschiedenen Tages- und Wochenzeitungen. Heute lebt er als Journalist und Buchautor in Hamburg.
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Covergestaltung: buxdesign, München / Die Lithografen
Coverabbildung; Patrick Ohligschläger
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402432-5
Für Dave
Und der Haifisch, der hat Zähne
Und die trägt er im Gesicht
Und Macheath, der hat ein Messer
Doch das Messer sieht man nicht
Bertolt Brecht
Die geschilderten Fälle beruhen auf wahren Begebenheiten. Aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen wurden – mit wenigen Ausnahmen – alle Personen anonymisiert, Handlungen an andere Orte verlegt und bestimmte Details, sowohl der Geschehnisse als auch der Ergebnisse meiner rechtsmedizinischen Arbeit, abgeändert.
Ich arbeitete noch nicht lange am Institut für Rechtsmedizin, keinen Monat. Es war an einem Donnerstag, kurz vor Mitternacht. Ich lag zu Hause im Bett und musste gerade eingeschlafen sein, als mich der Klingelton meines Handys aufschreckte. Dr. Jan Sperhake, ein Kollege, der schon einige Jahre Rechtsmediziner war und in dieser Nacht Bereitschaftsdienst hatte, rief an.
»Ich weiß, es ist spät, aber wenn du mitkommen willst …?«
Sofort war ich hellwach.
Ich wusste, dass es an einem echten Tatort nicht so zugeht, wie es in den meisten Krimis dargestellt wird. Das eine war Realität, das andere Fiktion – wie oft hatte ich mir das während des Studiums anhören dürfen! Trotzdem hatte ich, seit ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut beschäftigt war, den Tag, an dem ich das erste Mal einen Tatort sehen würde, insgeheim regelrecht herbeigesehnt. Den Ort eines Verbrechens stellte ich mir spannend vor.
»Klar, gerne …«, antwortete ich schnell, darum bemüht, möglichst munter zu klingen. Und einen Wimpernschlag später hatte ich mich bereits unter meiner Decke hervorgeschwungen und stand neben dem Bett.
»Gut, dann hole ich dich ab«, sagte er. »Bin spätestens in zwanzig Minuten da.«
Genau genommen war es zwar der erste Tatort, zu dem ich mich aufmachte, aber nicht »meiner«. Wenn ich Dienst gehabt hätte und von der Polizei dorthin gerufen worden wäre – so fuhr ich lediglich als Begleitung mit, ohne selbst eine Aufgabe zu haben. Aber das war fürs erste Mal vielleicht sogar die bessere Variante.
Und noch einen Punkt sollte ich korrekterweise relativieren: Ob der Kollege und ich eine knappe halbe Stunde später tatsächlich zu einem Tatort unterwegs waren, konnten wir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht mit letzter Sicherheit wissen. Es hätte auch nur der Platz sein können, an dem der Täter sein Opfer abgelegt, nicht aber getötet hatte. Es kommt häufig genug vor, dass Tatort und Fundort nicht identisch sind; was die Aufklärung eines Falls für gewöhnlich nicht einfacher macht. Die Ermittlungen bei einem Kapitalverbrechen nicht dort beginnen zu können, wo die Tat geschah – und vermutlich auch die meisten Spuren zu finden wären –, kann man sich ungefähr so vorstellen, als würde man versuchen, ein Buch zu lesen, von dem die ersten fünfzig Seiten fehlen. Da kommt man auch schlecht in die Handlung rein – falls es einem überhaupt gelingt.
Wir verließen Hamburg, fuhren nach Schleswig-Holstein. Unser Ziel war ein Dorf, von dem ich bis zu dieser Nacht nicht einmal wusste, dass es überhaupt existierte. Ich glaube nicht, dass man es mir anmerkte, aber mir war ganz schön mulmig zumute. Ich hatte schon eine stattliche Zahl an Leichen gesehen, darunter verweste und auch schlimm zugerichtete. Aber die lagen dann immer auf einem Sektionstisch, in steriler Umgebung, herausgerissen aus dem Kontext der Tat. Und das, nahm ich an, sei etwas völlig anderes. Man hatte zwar trotzdem die Leiche eines Menschen vor sich, aber irgendwie depersonifiziert, reduziert auf den Körper, den es zu obduzieren galt. Das machte es auf eine bestimmte Weise abstrakt und half einem, die andere Seite auszublenden, das Emotionale, das Schicksal, das sich hinter dem Todesfall verbarg.
Diesen Spagat, eins vom anderen zu trennen, sollte man in unserem Beruf unbedingt hinbekommen, zum eigenen Schutz. Ich wüsste nicht, wie man es sonst auf Dauer ertragen könnte. Vielleicht hatte ich Glück gehabt, bei mir funktionierte es von Anfang an, ohne dass ich mir irgendwelche Psychotricks antrainieren musste. Zumindest so lange, bis die Sache mit Chris passierte. Aber das lag damals noch weit in der Zukunft.
Das Haus, das wir in dem Dorf ansteuerten, schien das letzte zu sein in einer Straße, die jetzt verlassen dalag und mit einer Wendeschleife endete, direkt vor einem Waldstück. Die Bäume dahinter standen so dicht, dass sie wie eine dunkle Mauer wirkten, die in die Höhe ragte. Weit und breit keine Straßenlaterne.
Es hatte zu regnen begonnen. Der Wind peitschte dicke Tropfen gegen die Frontscheibe. Ich spürte, wie mein Herz pochte. Eine Mischung aus Aufregung und Anspannung. Was erwartete mich in dem Haus? Die Ungewissheit setzte mir zu, obwohl ich mir das am liebsten nicht eingestanden hätte. Ich war noch nie wegen einer Leiche aus den Latschen gekippt, und einige hatten wirklich keinen schönen Anblick geboten. Warum machte ich mir Sorgen, dass es diesmal anders sein könnte?
Dann erkannten wir vor uns zwei Streifenwagen, die links am Fahrbahnrand parkten. Hier musste es sein. Jan, mein Kollege, stellte den Motor ab. Ich öffnete die Beifahrertür, lehnte mich noch einmal im Sitz zurück, atmete tief durch, dann stieg ich aus.
Das Haus stand mit der Giebelseite zur Straße. Um den Eingang zu finden, mussten wir einmal halb um das Gebäude herum. Erst da erkannten wir, dass es ein Reihenhaus war. Trotz seiner zwei Geschosse wirkte es neben den hohen Bäumen wie geduckt. Ich zählte fünf Eingänge, am zweiten erwartete uns ein Schutzpolizist.
Auf dem Fliesenboden im Flur die ersten Blutspuren. Wir balancierten um sie herum, erreichten die nächste Tür. Dahinter befand sich eine offene Küche, die linkerhand ins Wohnzimmer überging. Auch hier Blutantragungen auf dem Boden. Wie Wegmarkierungen führten sie uns direkt zur Leiche. Eine junge Frau, sie lag rücklings auf der Couch – vollkommen nackt. Ihr Körper war so zierlich, dass man ihn fast für den eines magersüchtigen Teenagers hätte halten können.
Der Kopf der Frau war nach links gedreht, das Gesicht zeigte zur Wand. Von ihren Armen sah man kaum etwas, sie waren an den Handgelenken hinter dem Rücken gefesselt. Das linke Bein lag ausgestreckt auf der Couch, das rechte war leicht abgewinkelt, der Unterschenkel hing herunter, so dass der Fuß den Boden berührte.
Ich blieb in einer Ecke des Zimmers stehen und beobachtete, was Jan machte. Dabei war ich so konzentriert, dass ich gar nicht dazu kam, darüber nachzudenken, wie die ganze Situation auf mich wirkte. Ob es mich belastete, eine Leiche in ihrem privaten Umfeld zu sehen? Zumal inmitten all der Spuren, die unmissverständlich darauf hindeuteten, dass die Frau gewaltsam zu Tode gekommen war?
Es war wie eine Lehrstunde, nur viel intensiver. Gebannt und mit allen Sinnen sog ich auf, was sich vor meinen Augen abspielte. Womit waren die Kriminalbeamten beschäftigt? Worüber tauschten sie sich aus, untereinander, aber auch mit meinem Kollegen? Wie verhielt man sich als Rechtsmediziner an einem Tatort? Was hatte man zu tun, und in welcher Reihenfolge erledigte man diese Aufgaben sinnvollerweise? Und so weiter. Natürlich wusste ich, wie es in den Lehrbüchern stand. Die Frage war, ob es sich vor Ort genauso umsetzen ließ.
Selbst scheinbare Nebensächlichkeiten prägte ich mir ein. Etwa dass Jan die Erkenntnisse, die er bei der Leichenbesichtigung gewann, nicht in ein Diktiergerät sprach, sondern auf einer Kladde notierte. Ebenso die Ergebnisse der ersten Untersuchungen, die er anstellte, um etwas zum möglichen Todeszeitpunkt zu erfahren. So habe ich es mir dann auch angewöhnt. Dagegen benutze ich im Sektionssaal ein Diktiergerät, allerdings nur bei der äußeren Leichenschau. Bei der inneren, der eigentlichen Obduktion, macht sich das schlecht, da hat man – im wahrsten Sinne – beide Hände voll zu tun. Zwischendurch notiere ich mir einiges, aber das meiste merke ich mir auch so. Erst hinterher greife ich dann wieder zum Diktiergerät.
Dass wir es hier mit einem Tatort zu tun hatten, daran bestand nun kein Zweifel mehr. Das gesamte Haus galt als Tatort. Wie es im Obergeschoss aussah, weiß ich nicht, da kamen wir nicht hin. Aber in der Küche war ein Stuhl umgestürzt, und auf dem Boden im Wohnzimmer lagen wild verstreut mehrere Kleidungsstücke. Der Größe nach dürften sie dem Opfer gehört haben, was angesichts der Tatsache, dass es unbekleidet gefunden wurde, nahelag – und sich später auch bestätigen sollte.
Mitten in der Unordnung fand sich ein Slip, zerrissen in mehrere Stücke. Offenbar hatte sich die Wut des Täters daran besonders entladen. Ob vor der Tat oder danach – das würde man wohl nur erfahren, wenn es der Täter verriet.
Die Kriminalbeamten hatten bereits einiges über den Tathergang in Erfahrung gebracht. Vor allem dank eines Rentners, der mit seiner Frau und zwei Katzen einen Eingang weiter wohnte. Er hatte gegen zwanzig Uhr die Polizei alarmiert. Dass sich die jungen Leute nebenan gestritten hatten, war für das Ehepaar nichts Ungewöhnliches gewesen. Das sei häufiger vorgekommen, meinte der Mann, zuletzt beinahe täglich. Die junge Frau habe ihnen leidgetan, anscheinend wurde sie von diesem Unhold – so nannte er ihn – manchmal sogar verprügelt. Erst letztens hätten sie sie beim Einkaufen im Supermarkt gesehen, furchtbar zugerichtet sei ihr Gesicht gewesen, wie nach einem schlimmen Boxkampf: die Lippe dick geschwollen, die Wange unter ihrem linken Auge blutunterlaufen und dunkelviolett verfärbt. Und sie habe die ganze Zeit zu Boden geschaut, als wollte sie verhindern, dass jemand sie erkennt und anspricht.
Das junge Paar hatte erst wenige Monate in dem Haus gewohnt und zu den Nachbarn bisher immer Distanz gehalten. Man wusste kaum etwas über die zwei. Irgendjemand habe mal erzählt, sie sei Rumänin und er Russe, aber das stimmte nur zur Hälfte. In Wirklichkeit stammten die Eltern von beiden aus Rumänien. Sie waren Banater Schwaben, also Rumänien-Deutsche, und Anfang der neunziger Jahre aus Temewar, einer recht großen Stadt im Westen des Landes, in die Bundesrepublik gekommen.
Das wusste die Polizei so genau, weil es über den jungen Mann eine Akte gab. Genauer gesagt gab es mehrere Akten, einen ganzen Stapel, verteilt auf verschiedene Kommissariate bei mehreren Polizeibehörden. Er war in den letzten Jahren wiederholt straffällig geworden und hatte deswegen auch einige Zeit im Gefängnis zugebracht. Einbruch, Drogenhandel, Fahren ohne Führerschein, Diebstahl, gefährliche Körperverletzung – eine beachtliche Liste, vor allem dafür, dass er gerade mal dreiundzwanzig Jahre alt war.
Auch der Tod der jungen Frau schien auf sein Konto zu gehen. Der Streit sei diesmal lauter gewesen als üblich, gab der Nachbar zu Protokoll. Doch gerade als er die Polizei verständigen wollte, sei nebenan Stille eingekehrt, urplötzlich, von einem Zeigerschlag auf den nächsten. Seine Frau und er hätten noch kurz überlegt: Vielleicht hatten sie sich ja geirrt, und das Geschrei war aus einem Fernseher gekommen, den jemand zu laut aufgedreht und dann auf einmal ausgestellt hatte. Daraufhin hatte der Rentner den Hörer wieder weggelegt und war vors Haus gegangen, um nebenan durchs Fenster zu spähen. Wie ein aufgescheuchtes Huhn sei der junge Mann durchs Wohnzimmer getapert, immer hin und her, als hätte er nicht gewusst, wohin mit sich. Ob die Frau da schon auf der Couch lag, in dem Zustand wie jetzt, konnte er nicht sagen. Dieser Teil des Zimmers war von seiner Position aus nicht einzusehen gewesen.
Der Rentner war in seine Wohnung zurückgegangen, und fast hätte er es dabei belassen. Doch kurz darauf hörte er, wie nebenan eine Tür krachend ins Schloss fiel. Und dann huschte eine Gestalt hastig an seinem Küchenfenster vorbei – offenbar der junge Nachbar. Irgendwie habe ihm die Sache keine Ruhe gelassen, meinte der Zeuge, also habe er doch zum Telefon gegriffen und die 110 gewählt.
Die Polizisten, die dann die Leiche der jungen Frau fanden, schienen in Sachen Tötungsdelikte nicht sonderlich erfahren. Nachdem sie am Tatort eingetroffen waren, hatte eine ihrer ersten Handlungen darin bestanden, das Fenster zu schließen, das im Wohnzimmer offenstand. Es sei sehr zugig gewesen, rechtfertigten sich die Beamten hinterher. Dass sie dadurch die Raumtemperatur veränderten, die rasch um fünf, sechs Grad anstieg, und damit auch den Abkühlungsprozess der Leiche beeinflusste, der für die Ermittlung des Todeszeitpunkts nicht unerheblich war, scheint ihnen nicht in den Sinn gekommen zu sein. Dabei dürfte das so ziemlich in jedem Handbuch stehen, das es zum Thema Todesermittlungen gibt.
Fast zwei Stunden nahmen die Leichenbesichtigung und die Untersuchungen zur Feststellung des Todeszeitpunkts in Anspruch. Es gab kaum eine Stelle am Körper der jungen Frau, die keine Zeichen von stumpfer, äußerer Gewalteinwirkung aufwies. Am Oberkörper, auf dem Rücken, an den Armen und Beinen – überall Schürfwunden und Hautunterblutungen, einige frisch, andere schon älter. Der linke Oberarm war dazu noch auf unnatürliche Weise verbogen – ein offener Bruch. Die zwei Teile des geborstenen Knochens standen fast im rechten Winkel zueinander. Einige der Knochenspitzen hatten sich durch die Haut gebohrt.
Das Gesicht hatte ebenfalls böse etwas abbekommen, es war regelrecht entstellt. Die linke Gesichtspartie war stark angeschwollen und ums Auge herum zusätzlich von einem kräftigen Monokelhämatom gezeichnet. Dieser ringförmige Bluterguss, der wie ein blaues Auge aussah, nur schlimmer, konnte ein Hinweis für einen Schädelbasisbruch sein. Ob der hier vorlag, würde man allerdings erst bei der Obduktion herausfinden.
Unklar war auch, wie man die Spuren im Genitalbereich des Opfers zu deuten hatte. Am Anus haftete Blut, und er wirkte gedehnt, als sei er penetriert worden. Wobei das nur eine Möglichkeit war, die man in Betracht ziehen musste. Der Spannungszustand der Muskulatur kann nach dem Tod auch so erschlaffen. Ein klaffender Anus hat somit nicht zwangsläufig etwas zu bedeuten. Das Blut am Anus schien nicht aus einer Wunde in diesem Bereich zu stammen. Es sah eher aus wie eine Kontaktspur. So nennt man es, wenn Blut von woanders an eine bestimmte Stelle gelangt, beispielsweise indem eine blutende Wunde mit der Hand berührt wird, ein Teil des Blutes daran haften bleibt und an die Stelle übertragen wird, die man mit der Hand als Nächstes anfasst. Das mochte auch in diesem Fall so gewesen sein. Allerdings musste man sich fragen, ob die anderen Befunde nicht dennoch dafür sprachen, dass eine anale Vergewaltigung stattgefunden hatte.
Den Beamten der Spurensicherung war ungefähr einen Meter neben der Couch ein silbrig glänzender Fleck auf dem Boden aufgefallen. Das konnte gut Sperma sein. Doch die Flüssigkeit war bereits eingetrocknet. Sprach das für oder gegen die Vergewaltigungstheorie? Wie lange dauerte es, bis ein paar Tropfen Sperma eingetrocknet waren? Konnte der Fleck auch schon einige Tage alt sein? Und war es überhaupt Sperma?
Aber noch wichtiger war, festzustellen, ob sich in der Scheide und im After Spermaspuren befanden. Dafür nahm Jan Abstriche, auch aus der Mundhöhle, das gehört zum Standardprogramm. Die Wattetupfer, die er dafür verwendete, würden später im Labor untersucht werden.
Und noch ein Rätsel gab uns die Leiche auf: Obwohl gefesselt, fanden sich zwischen den Fingern beider Hände Haare, die farblich mit dem Kopfhaar der Frau identisch waren: blond, mit einem leicht orangefarbenen Ton. Auch die Länge stimmte überein. Sollte sie sich die Haare selbst ausgerissen haben? Doch warum? Und vor allem wann? Das wäre nur möglich gewesen, bevor sie gefesselt worden war. Vielleicht hatte sie sich gegen Schläge schützen wollen, dabei die Unterarme in Abwehrhaltung vors Gesicht genommen und die Hände ins Haare gekrallt. Oder hatte sie einfach nur versucht, sich auf diese Weise der Fesselung zu entziehen?
Fragen über Fragen, und das sollten längst nicht die letzten bleiben. Doch zunächst hatte ich selbst ein kleines Problem zu lösen. Unser Einsatz am Tatort näherte sich gerade dem Ende, als ich auf einmal ein zutiefst menschliches Bedürfnis verspürte. Offenbar hatte ich es schon eine ganze Weile unterdrückt, unbewusst, weil ich nichts verpassen wollte. Aber nun duldete es keinen Aufschub mehr. Auf jeden Fall hätte die Rückfahrt nach Hamburg viel zu lange gedauert. Die Toilette im Badezimmer konnte ich aber auch nicht benutzen, galt ja alles als Tatort, und damit war es erst mal Hoheitsgebiet der Spurensicherung.
Da fiel mir ein, dass es neben dem Haus eine Wiese gab. Erst dahinter fing der Wald an. Und falls ich es bei unserer Ankunft in der Dunkelheit richtig erkannt hatte, standen auf dieser Wiese einige Büsche. Das war die Lösung. Dachte ich.
Vielleicht sollte ich erwähnen, dass die Polizei inzwischen mit Hochdruck nach dem jungen Mann fahndete. Aufgrund der Schilderungen des Nachbarn galt er als dringend tatverdächtig. Da er kein eigenes Auto besaß und auch schlecht eins auf der Straße hätte anhalten können – um diese Zeit schien sich ohnehin niemand in diese Gegend zu verirren –, war es gut möglich, dass er sich noch irgendwo in der Nähe versteckt hielt.
Ich könnte nicht einmal sagen, ob ich das Motorengeräusch des Hubschraubers gleich wahrnahm, oder zu sehr damit beschäftigt war, möglichst schnell ein geeignetes Plätzchen zu finden, wo ich mich hinhocken konnte. Spätestens aber in dem Moment, als der Lichtkegel eines Suchscheinwerfers wie ein riesiger illuminierter Finger von oben über das Areal streifte, hoffte ich nur noch, dass das Blätterdach über mir dicht genug sein würde. Aber da hatte er mich schon erwischt.
Es mag höchstens vier oder fünf Sekunden gedauert haben, bis der »Finger« weiterschwenkte. Doch in der verräterischen Pose, die ich so schnell ja nicht verändern konnte, kam es mir vor, als sei ich eine Stunde intensivster Festbeleuchtung ausgesetzt gewesen. Wenigstens schien der Hubschrauberbesatzung die Zeit – und wohl auch die Intensität des Lichts, das so grell war, dass ich automatisch meine Augen schloss – genügt zu haben, um zweifelsfrei zu erkennen, dass ich nicht derjenige war, nach dem sie suchten.
Als der Spuk vorüber war und sich um mich herum wieder Dunkelheit ausgebreitet hatte, schoss mir ein anderer Gedanke in den Kopf, der nicht gerade zu meiner Beruhigung beitrug: Was, wenn der junge Mann unter einem der anderen Büsche hockte, vielleicht direkt hinter mir, nur besser getarnt? Und wie würde er regieren, wenn er sich durch die Suchmannschaften in die Enge getrieben fühlte? Aber da ging meine Phantasie wohl ein bisschen mit mir durch. Wie sich später herausstellte, war er zu diesem Zeitpunkt längst über alle Berge.
Die Leiche der Frau wurde noch in derselben Nacht ins nächstgelegene Kreiskrankenhaus transportiert und dort am folgenden Tag in der Pathologie obduziert. Allerdings nicht von einem Pathologen, wie manch einer denken könnte, da die Begriffe Pathologie und Rechtsmedizin häufig synonym gebraucht werden, in Filmen und in Büchern, aber auch in den Medien – was es nicht richtiger macht. Zu dieser fälschlichen Gleichsetzung kommt es, glaube ich, vor allem durch die unvollständige Übersetzung der angloamerikanischen Bezeichnung für Rechtsmedizin: forensic pathology. Das Wort forensic wird oft einfach weggelassen – und pathology dann mit Pathologie gleichgesetzt.
Dabei sind es zwei verschiedene Fächer, die im Grunde nur eines gemeinsam haben: Sowohl Rechtsmediziner als auch Pathologen beschäftigen sich bei ihrer Arbeit unter anderem damit, Todesursachen zu ergründen. Wobei Rechtsmediziner sich schwerpunktmäßig mit nichtnatürlichen Todesursachen beschäftigen und Pathologen nur solche Fälle untersuchen, wo es von vornherein klar ist, dass es sich um einen natürlichen Tod handelt. Außerdem untersuchen Pathologen hauptsächlich Gewebe von Patienten, die noch leben, um Krankheiten zu diagnostizieren. Aber sie obduzieren eben auch Menschen, die im Krankenhaus gestorben sind – das dann gewissermaßen im Dienste der Wissenschaft und als Qualitätskontrolle. Allerdings dürfen sie das nur tun, wenn die engsten Angehörigen damit einverstanden sind oder der Verstorbene zu Lebzeiten selbst seine Einwilligung erklärt hat. Und in ganz speziellen Sonderfällen, die von Bundesland zu Bundesland anders geregelt sind.
Im Unterschied dazu sind wir Rechtsmediziner gefragt, wenn unklar ist, ob jemand eines natürlichen oder eines nicht-natürlichen Todes starb. Das ist quasi die Kernfrage unserer Arbeit. Dabei geht es nicht allein um Tötungsdelikte, auch Unfälle und Suizide zählen dazu. Alles, bei dem Gewalt oder eine andere Einwirkung durch fremde Hand – zum Beispiel Vergiften – im Spiel war. Oder zumindest im Spiel gewesen sein könnte. Häufig besteht ja erst mal nur ein Verdacht.
In diese Kategorie fallen auch medizinische Behandlungsfehler, die tödlich enden, in Krankenhäusern, in Arztpraxen oder sonst wo. Das sind Fälle, die die unterschiedlichen Aufgabenbereiche von Pathologen und Rechtsmedizinern vielleicht am besten verdeutlichen: Pathologen arbeiten für Kliniken oder andere medizinische Forschungseinrichtungen, wir bekommen unsere Aufträge von der Staatsanwaltschaft oder von einem Gericht. Taucht also der Verdacht auf, ein ärztlicher Behandlungsfehler könnte zum Tod geführt haben, kommen nicht Pathologen zum Einsatz, sondern Rechtsmediziner. Nicht anders verhält es sich bei Todesfällen in Krankenhäusern, bei denen nicht ausgeschlossen werden kann, dass sie infolge einer anderen Fremdeinwirkung – durch Pfleger, Angehörige, Mitpatienten – eingetreten sind.
Und wann immer wir zum Einsatz kommen, erschöpft sich unsere Tätigkeit nicht darin, die Todesursache zu klären. Wir versuchen ebenso herauszufinden, wann jemand sein Leben aushauchte – Stichwort: Todeszeitbestimmung –, welche Verletzung todesursächlich war, wie und womit ihm diese zugefügt wurde, ob er sich womöglich noch gewehrt hat und so weiter. Kurz gesagt: Wir suchen nach Fakten beziehungsweise Beweisen, die den Ermittlern helfen, die Umstände und den Hergang einer Tat oder eines Unfalls so exakt wie möglich rekonstruieren zu können. Das fängt mitunter damit an, überhaupt erst einmal zu erforschen, um wen es sich bei dem Toten eigentlich handelt.
Üblicherweise läuft es bei einem Todesfall so, dass derjenige, der die Leiche findet, einen Arzt ruft, der den Tod feststellt und eine Todesbescheinigung ausstellt. Oder aber die Polizei, die dann auch sofort einen Arzt hinzuzieht. Sobald dieser auf der Todesbescheinigung als Todesart »nichtnatürlich« oder »ungeklärt« vermerkt, wird die Polizei eingeschaltet, falls sie das nicht schon wurde. Die Polizei wiederum informiert den zuständigen Staatsanwalt, der ein Todesermittlungsverfahren einleitet. Und damit landet die Leiche erst einmal in der Rechtsmedizin. Das bedeutet allerdings nicht, dass sie dann auch automatisch obduziert wird.
Nach der Einlieferung erfolgt zunächst eine äußere Leichenschau. Diese nimmt der diensthabende Rechtsmediziner vor. Es sei denn, der als »nichtnatürlich« deklarierte Tod ist allzu offensichtlich. Dann kann er darauf verzichten, da sie ohnehin als Bestandteil der Obduktion durchgeführt wird. Und das ebenfalls zeitnah. Obwohl das ganze Thema bundesweit nicht einheitlich gesetzlich geregelt ist, kann man sagen, dass bei Tötungsdelikten generell darauf gedrungen wird, das Opfer schnellstmöglich zu obduzieren, ganz gleich ob tagsüber oder nachts. Einmal natürlich, weil die Beamten, die in dem Fall ermitteln, keine Zeit zu verlieren haben und dringend auf Hinweise warten, die sie bei ihren Nachforschungen voranbringen. Und zum anderen – was genauso wichtig ist –, weil es auch für uns die Arbeit nicht einfacher macht, wenn damit erst ewig gewartet wird. Zwar sind die Kühlfächer, in denen man die Leichen aufbewahrt, mit vier Grad Celsius so temperiert, dass die Zersetzungsprozesse im Körper nahezu gestoppt werden. Das verhindert jedoch nicht gänzlich, dass die Fäulnis weiter voranschreitet.
Um noch den Gedanken fortzuführen, dass nicht jeder Tote, der auf nichtnatürliche Weise ums Leben gekommen oder bei dem die Todesursache unklar ist, obduziert wird: Gelangt ein Staatsanwalt aufgrund der Ermittlungsergebnisse zu dem Schluss, dass kein Fremdverschulden vorliegt, kann er die Leiche zur Bestattung freigeben, ohne dass die Gründe für das Ableben genau erforscht werden. Gerade bei Suiziden kommt das gar nicht so selten vor. Ein klassischer Fall hierfür: Jemand hat sich auf dem Dachboden seines Hauses erhängt, auf dem Küchentisch liegt ein Abschiedsbrief, der zweifelsfrei von ihm stammt, und die Eingangstür ist von innen verschlossen.
Während meiner Zeit am Institut für Rechtsmedizin in Hamburg wurden pro Jahr durchschnittlich rund zweitausendfünfhundert äußere Leichenschauen durchgeführt – das heißt, genauso viele Leichen wurden auch angeliefert. Zur Obduktion gelangten davon aber nur zwischen fünfhundert und sechshundert. Bei allen anderen Leichen wurde das als nicht notwendig erachtet. Und diese Relation ist nicht nur für Hamburg bezeichnend.
Überhaupt wird in Deutschland so wenig obduziert wie in kaum einem anderen europäischen Land. Im Schnitt sterben bei uns jedes Jahr rund achthundertfünfzigtausend Menschen. Davon landen nur zwei bis drei Prozent auf einem Sektionstisch. In der Schweiz liegt die Rate bei etwa zwanzig Prozent. In den skandinavischen Ländern bei zwanzig bis dreißig Prozent, in Österreich sogar noch darüber. In England, wo ich seit sechs Jahren lebe, werden etwa fünfundzwanzig Prozent der Verstorbenen obduziert. Dort wird bei jedem ungeklärten oder als nichtnatürlich eingestuften Tod automatisch eine Sektion angeordnet. Auf der Insel ist das Todesbescheinigungs- und Leichenschausystem allerdings auch grundlegend anders strukturiert, aber dazu komme ich später noch.
Prinzipiell gehen Ärzte in England beim Ausstellen von Todesbescheinigungen mit der Diagnose »natürlicher Tod« äußerst zurückhaltend um. Selbst Hausärzte, die zu einem Verstorbenen gerufen werden, den sie über Jahre als Patienten betreut haben, dessen Krankengeschichte sie demzufolge gut kennen. Und ganz besonders dann, wenn der seit einiger Zeit nicht mehr in ihrer Praxis gewesen war – womit zwei Wochen vor seinem Tod gemeint sind. Oder eben mehr, aber zwei Wochen sind die Grenze. Viele Ärzte sagen sich: Ich kann nicht wissen, ob jemand wirklich an den Folgen seiner Krankheit gestorben ist oder an etwas anderem. Und sie dürfen auch keinen natürlichen Tod attestieren, wenn derjenige plötzlich und unerwartet verstorben ist, während einer OP oder unmittelbar danach, durch einen Betriebsunfall oder infolge einer Berufserkrankung.
Im Vergleich dazu sind leichenschauende Ärzte in Deutschland wesentlich schneller dabei, einen natürlichen Tod zu bescheinigen. Dafür gibt es verschiedene Ursachen, die in der Vergangenheit – und hier meine ich: seit Jahrzehnten – immer wieder analysiert und in Fachpublikationen thematisiert wurden, ohne dass sich grundsätzlich etwas geändert hätte. Es fängt damit an, dass es manchen Ärzten an der notwendigen Qualifikation für eine verlässliche Leichenschau mangelt. Gesetzlich ist es so geregelt, dass jeder approbierte Arzt eine Leichenschau vornehmen darf, ohne dass er eine spezielle Qualifikation dafür erworben hat. Er muss es sogar, ist dazu verpflichtet, wenn er zu einer Leiche gerufen wird. Auch ungeachtet der Tatsache, dass sich einige von den Aufgaben, die bei einer korrekt durchgeführten Leichenschau zu bewältigen sind, überfordert fühlen. Die Gründe sind vielfältig, einer der häufigsten dürfte Unerfahrenheit sein. Bei einer Befragung unter Leichenschauärzten, die nach dem Zufallsprinzip ausgewählt wurden, stellte sich heraus, dass gut die Hälfte von ihnen höchstens zehn, eher weniger Leichenschauen pro Jahr durchführen. Routine bekommt man auf diese Weise wohl kaum.
Eine – wie ich finde – vernünftige Sonderregelung wurde in einigen Bundesländern für Notärzte geschaffen: Sie müssen dort keine vollständige Leichenschau durchführen. Angesichts ihrer besonderen Aufgaben im Rettungsdienst und der Tatsache, dass sie dafür schnellstmöglich wieder verfügbar sein sollten, brauchen sie nur den Tod festzustellen und diesen in einer »vorläufigen Todesbescheinigung« zu dokumentieren. Dazu gehören Angaben zur Person, zum Auffindeort und zu den sogenannten sicheren Todeszeichen wie Leichenstarre und Totenflecken. In solchen Fällen wird die Leiche anschließend vorsichtshalber in die Rechtsmedizin gebracht, selbst wenn dem Notarzt an ihr nichts aufgefallen sein sollte, was einen nichtnatürlichen Tod vermuten lässt.
Ein weiterer Grund für Fehlleistungen bei der Leichenschau dürfte eine gewisse Bequemlichkeit sein, die manche Ärzte offenbar daran hindert, sie mit der gebotenen Sorgfalt zu erledigen. Man braucht nur daran zu denken, wie lästig es einem selbst wäre, mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen zu werden. Und das dann wegen einer Leiche, für die man sowieso nichts mehr tun kann. Vielleicht war der Verstorbene auch schon ziemlich alt. Bis hierhin könnte man es als Vermutung abtun. Doch es ist durch verschiedene Studien und Untersuchungen belegt, dass sich nicht wenige Ärzte darauf beschränken, nur kurz einen Blick auf den Toten zu werfen, um anschließend einfach das Kästchen »natürlich« auf der Todesbescheinigung anzukreuzen. Würden sie die Angelegenheit gründlich – und vor allem vorschriftsgemäß – erledigen, müssten sie eine vergleichsweise aufwendige äußere Leichenschau vornehmen, das heißt, die Leiche vollständig entkleiden und vom Scheitel bis zur Sohle genauestens unter die Lupe nehmen, einschließlich aller Körperöffnungen.
Auch hierzu bietet die oben erwähnte Befragung einen ernüchternden Einblick: Dreiviertel der Ärzte gaben an, nicht in jedem Fall die Leiche vollständig zu entkleiden, wie es der Vorschrift entspräche. Am ehesten verzichten Hausärzte darauf. Gerade mal ein Prozent von ihnen meinte, eine komplette Entkleidung gehöre für sie zum Standard. Die anderen neunundneunzig Prozent sagten: Ob sie eine Leiche entkleiden, würden sie von Fall zu Fall entscheiden. Und auch, ob sie es dann vollständig tun oder nur teilweise, um ausgesuchte Körperpartien begutachten zu können.
Es kommt wohl auch immer wieder vor, dass leichenschauende Ärzte gedrängt werden, »die Sache nicht unnötig kompliziert zu machen«. Oft sind es Hinterbliebene, von denen sie so etwas zu hören bekommen, und dann meist mit einem Unterton der Entrüstung. Entweder haben sie tatsächlich etwas zu verbergen, oder sie fürchten, die Leute könnten sich die Mäuler zerreißen, wenn ihnen zu Ohren kommt, dass es irgendwelche Ungereimtheiten gibt.
Es soll sogar Polizisten geben, die schon mal darauf hinwirken, aus einem Todesfall keinen Kriminalfall werden zu lassen. Manche, weil sie finden, dass man bei einem Sechsundachtzigjährigen nicht mehr so genau hinzuschauen und erst recht keine Akte anzulegen braucht. Nach der Devise: Der Gute wäre sowieso bald abgetreten. Andere wiederum sind unerfahren, hatten vielleicht noch nie mit einer Leichensache zu tun, übersehen wichtige Details oder deuten diese falsch.
Das eine wie das andere kommt vermehrt in ländlichen Gegenden vor. Dort stehen sich die Menschen nicht zwangsläufig näher, kennen einander aber eher. Was dazu führt, dass Gerüchte, genauso wie wahre Geschichten, ziemlich schnell per »Buschfunk« weiterverbreitet werden, von einem Nachbarn zum nächsten. Irgendjemand kennt immer einen von denen, über die im Dorf gerade getratscht wird.
Und noch einen Punkt sollte man hierbei nicht unterschätzen: Gerade auf dem Land, in kleineren Ortschaften, wird es sich manch ein Hausarzt dreimal überlegen, ob er durch ein Kreuz an der vermeintlich falschen Stelle auf dem Leichenschein unangenehme Nachforschungen in Gang setzt. Schließlich muss er damit rechnen, dass dadurch andere Patienten abgeschreckt werden, zu ihm in die Praxis zu kommen. Vor allem, falls sich sein Verdacht am Ende nicht bestätigen sollte. Denn dann bleibt bei den Leuten vermutlich nur der eine Gedanke hängen: Wenn jemand in der Familie stirbt, hetzt der einem nur die Polizei auf den Hals.
Es muss also niemanden wundern, dass es zum Leichenschauwesen einige alarmierende Statistiken gibt. Eine davon besagt, dass auf jeder zweiten Todesbescheinigung eine falsche Todesursache vermerkt ist. Aber auch mit der korrekten Klassifizierung der Todesart – natürlich, nichtnatürlich oder ungeklärt – scheinen leichenschauende Ärzte nicht selten Probleme zu haben. Ein Beispiel: Eine alte, aber durchaus noch rüstige Frau stürzt im Winter auf einem vereisten Gehweg und zieht sich dabei einen komplizierten Oberschenkelhalsbruch zu. Sie kommt in ein Krankenhaus, wird operiert, erhält vielleicht sogar ein neues Hüftgelenk, bleibt aber – auch aufgrund ihres hohen Alters – bettlägerig. Nach einiger Zeit entwickelt sich eine Thrombose, eine Lungenentzündung kommt hinzu – die Frau hat keine Chance, sie stirbt. Auf der Todesbescheinigung liest man dann häufig unter Todesart: »natürlich«. Bezogen auf die unmittelbare Todesursache, dem medizinisch-naturwissenschaftlichen Grund des Ablebens, ist das nicht einmal falsch. Würde man sich allerdings die Mühe machen und ermitteln, was am Anfang der Kausalkette stand – und das sollte jeder Arzt bei einer Leichenschau –, käme man zu einer anderen Einschätzung. Ursächlich war schließlich der Sturz der alten Dame, und somit ein Unfall. Ohne diesen wäre sie nicht im Krankenhaus gelandet. Stirbt aber jemand infolge eines Unfalls, scheidet »natürlich« als Todesart aus.
Oder nehmen wir die Diagnose »Herzversagen«, die als Todesursache mit Abstand am häufigsten auf Todesbescheinigungen genannt wird. Wenn das ernsthaft eine Diagnose wäre, müsste man sie ausnahmslos auf alle Todesbescheinigungen schreiben. Denn jeder Mensch stirbt letztlich daran, dass sein Herz versagt, ganz gleich ob dem eine schwere Krankheit vorausging oder eine tödliche Schussverletzung. Herzversagen ist ein Bestandteil des Sterbeprozesses. Das sagt aber nichts über die eigentliche Ursache aus, die den Tod herbeigeführt hat.
In die gleiche Kategorie fallen Angaben wie »Atemstillstand« und »Herzkreislaufversagen« oder der lapidare Hinweis auf das erreichte Lebensalter. Man möchte meinen, dass Ärzte die Letzten sind, denen das nicht bekannt ist. Ich mag daran auch keine Sekunde zweifeln. Fragt sich nur, warum dieses Wissen bei ihrem letzten Dienst am Menschen oft keine Rolle mehr zu spielen scheint.
Angesichts dieser eklatanten Schwachstellen im deutschen Leichenschauwesen braucht man über eine andere Erkenntnis nicht besonders erstaunt zu sein: Mindestens elftausend Todesfälle, das besagen Schätzungen nach mehreren Studien, werden jedes Jahr als natürliche Todesfälle eingestuft, obwohl sie das nicht sind. Dabei fallen auch, vorsichtig hochgerechnet, tausendzweihundert bis tausendvierhundert Tötungsdelikte durch den Rost. Das bedeutet, ungefähr jedes zweite, eher mehr. Und trotzdem haben Ärzte, die zu solchen beklemmenden Statistiken beitragen, so gut wie nie Sanktionen zu fürchten. Jeder ist nur ein Mensch, und Fehler passieren überall. Das stimmt ja auch. Man sollte sich aber schon fragen: Wenn die Fehlerquote dermaßen hoch ist, und das über einen sehr langen Zeitraum – liegt das Übel dann nicht im System?
Ich würde nicht so weit gehen und behaupten, dass dieses System vorsätzlich darauf ausgerichtet wurde, möglichst viele Tötungsdelikte und andere nichtnatürliche Todesfälle zu vertuschen. Aber dass dieser Effekt von den Verantwortlichen, bis hin zum Gesetzgeber, zumindest billigend in Kauf genommen wird, lässt sich schwer bestreiten. Vor einigen Jahren erschien ein Sachbuch mit dem Titel »Tote haben keine Lobby« – leider beschreibt er die Problematik nur allzu gut.
Während der Zeit am Institut für Rechtsmedizin in Hamburg bestand eine meiner Aufgaben darin, Medizinstudenten Unterricht zu geben. Dabei gab es verschiedene Schwerpunkte, die den jungen Leuten vermittelt wurden. Einer davon war: Wie wichtig es ist, die ärztliche Leichenschau in aller Gründlichkeit, so präzise wie möglich, durchzuführen. Das hielt ich für zielführender, als ihnen von irgendwelchen spektakulären Morden oder anderen außergewöhnlichen Todesfällen zu erzählen. Die gibt es zweifellos, keine Frage, und die sind dann auch besonders interessant. Nur machen sie nicht den Alltag eines Rechtsmediziners und schon gar nicht von Medizinern anderer Fachrichtungen aus.
Um das zu verstehen, genügt ein Blick in die Kriminalstatistik. Für Hamburg weist sie in den letzten zehn Jahren zwischen sechzig und hundert Tötungsdelikte aus – pro Jahr. Außer 2007, da waren es weniger als fünfzig. Gezählt werden dabei sowohl versuchte als auch vollendete Tötungsdelikte, wobei die vollendeten stets deutlich in der Minderzahl sind. Sie machen weniger als ein Drittel der Gesamtzahl aus. Nur um einmal Wirklichkeit und Fiktion in die richtige Relation zu setzen. In manch einem »Tatort« werden innerhalb von neunzig Fernsehminuten mehr Menschen getötet als in einer mittelgroßen deutschen Stadt im ganzen Jahr.
Bei dem anderen Punkt, auf den wir im Studentenunterricht besonderen Wert legten, handelte es sich um die Untersuchung von Menschen, die Gewalt erfuhren, die nicht zum Tod führte – vergewaltigte Frauen, misshandelte Kinder, andere Opfer körperlicher Übergriffe. Wie erkennt man als Arzt, dass jemandem Leid angetan wurde, auch wenn der Betroffene selbst nichts sagt, es womöglich sogar bestreitet? Viele schweigen, aus Scham oder weil sie dem Täter sehr nahestehen – oder aus Angst, er könnte sich rächen.
Einen Spezialfall bilden Personen, die sich selbst Verletzungen beibringen, aber das Gegenteil behaupten, wenn sie danach vor einem Arzt stehen oder im Krankenbett liegen.
Dabei kommt mir der Fall eines Fünfundzwanzigjährigen in den Sinn, der von einem meiner Kollegen begutachtet wurde. Der junge Mann hatte sich zu Hause ein Pornovideo reingezogen und dabei offenbar versucht, seine sexuelle Erregung zu steigern, indem er sich ein Stromkabel um den Hals schlang und zuzog, um die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn zu drosseln. Dabei muss er es übertrieben haben. Er wurde bewusstlos, stürzte zu Boden und schlug sich den Kopf auf.
Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten wir von dem Fall niemals etwas erfahren. Denn er kam nach einer Weile wieder zu sich, offenbar kurz bevor seine Freundin zu Hause eintraf, die ihn im Schlafzimmer fand, mit blutender Kopfplatzwunde, hochrotem, aufgedunsenem Gesicht und Strangulationsmarke am Hals. Sie rief einen Rettungswagen, mit dem er in ein Krankenhaus gebracht wurde. Die Strangulationsmarke fiel auch dem Arzt, der den Neuzugang in der Notaufnahme empfing, gleich auf. Er verständigte die Polizei, zwei Beamte in Uniform rückten an.
Die Geschichte, die ihnen der junge Mann auftischte, ging ungefähr so: Er habe am Nachmittag die Wohnung verlassen, um sich an einem Automaten Zigaretten zu ziehen. Gerade als er Geldstücke einwerfen wollte, das ging damals noch einfach so, habe jemand von hinten einen Lederriemen um seinen Hals geschlungen und ihn gedrosselt, bis er bewusstlos geworden sei. Nach einer Weile sei er wieder zu sich gekommen und nach Hause gelaufen, wo er sich dann ins Bett gelegt habe. An mehr könne er sich nicht erinnern.
Die Sache mit dem Porno war ihm natürlich auch entfallen. Trotzdem hätte es so passiert sein können – allerdings hätten dann die Strangulationsmarke und auch die punktförmigen Blutungen in der Gesichtshaut, am Hals und am Nacken anders ausgesehen. Das Kabel war nämlich – entgegen seiner erfundenen Version mit dem Riemen – nicht bloß einmal wie eine einfache Schlinge um den Hals gelegt worden. Er musste es sich zweieinhalbmal um den Hals geschlungen haben. Vor allem konnte man nachweisen, dass nicht von hinten an den beiden Enden gezogen worden war, sondern von vorn. Und zwar mit ziemlich genau einer Ärmellänge Abstand zum Hals. Das ausgeprägte Stauungssyndrom wiederum, das sich unter anderem durch die punktförmigen Blutungen dokumentierte, sprach dafür, dass die Strangulation nicht kurz und heftig vonstattengegangen war, wie bei einem Überfall von hinten zu erwarten wäre, sondern ausdauernd in Form einer dosierten Drosselung.