Papis Loveday
Valerie Gorris
Das Leben ist niemals nur schwarz-weiß
Mein Weg vom Senegal über die Laufstege der Welt zu mir selbst
FISCHER E-Books
Papis Loveday (*1977 in Dakar) wird durch eine Kampagne für United Colors of Benetton als Model bekannt. Er arbeitet für Dior, Valentino und Armani. Auf internationalen Schauen läuft er für Labels wie Gucci, Givenchy oder Yves Saint Laurent. 2011 zieht er nach München und gründet ein Unternehmen. Papis ist zudem in diversen TV-Formaten wie Germany’s Next Topmodel, Austria’s Next Topmodel, Switzerland’s Next Topmodel und Promi Shopping Queen zu sehen. Bis heute hält Papis engen Kontakt zu seiner Familie im Senegal und engagiert sich als Unesco-Botschafter für sein Heimatland und in der Black-Lives-Matter-Bewegung.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
»Erst wenn du aufgibst, verlierst du«
Ein strenger Blick nach vorn. Disziplin, Entschlossenheit, Biss. Dann ein Lachen aus tiefster Seele, das vor Wärme und Lebensfreude nur so sprüht. So facettenreich das nahezu perfekte Gesicht, so facettenreich auch der Mensch dahinter. Geboren im Senegal spürt Papis schon früh, dass er anders ist als seine 25 Geschwister. Durch ein Sportstipendium in Paris entflieht er den engen Konventionen seines Heimatlandes. Dann der Rückschlag: Papis verletzt sich, sein Traum, als Läufer bei der Leichtathletik-WM dabei zu sein, platzt. Unerwartet öffnet sich eine andere Tür: Er startet eine steile Modelkarriere. Doch die Branche ist hart, Papis erlebt auch Ausgrenzung und persönliche Krisen. Heute weiß er, dass Anderssein ein Geschenk sein kann und dass es immer lohnt, zu glauben, zu hoffen und zu kämpfen.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Coverabbildung: Richard Föhr
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491463-3
Du hast mich aufgenommen
und akzeptiert, mich wachsen lassen.
Bei Dir fühle ich mich wohl,
bei Dir bleibe ich.
Dieses Buch ist für Dich, Europa.
»You cannot change your life radically, if you’re not ready to jump.«
Du kannst dein Leben nur dann verändern, wenn du bereit bist zu springen.
Europa war ein weit entferntes Wunderland. Eine Welt aus großen Gebäuden und noch größeren Städten, aus Chancen und Freiheit und unendlich vielen Lichtern. So, wie ich es aus den Filmen kannte. Dort konnte man selbstbestimmt denken und handeln, dort konnte man zu sich stehen, dort konnte man frei sein. In Europa wäre alles nur schön. Davon träumte ich schon als kleiner Junge im Senegal, als Jugendlicher kämpfte ich dafür, und mit zwanzig Jahren wurde es meine Wirklichkeit. Und dann kam alles anders.
Es kam besser.
Ich bin unglaublich dankbar für das Leben, das ich führe. Manchmal stelle ich mir vor, die Zeit zurückzudrehen, mein jugendliches Ich zu treffen: »Papis, du wirst nach Europa gehen. Du wirst studieren und dann einen Anruf bekommen, der dein Leben verändert. Und dann wirst du das meistgebuchte schwarze Topmodel der Welt sein.« Mein Ich hätte lauthals losgelacht und mir einen Vogel gezeigt. Manchmal kommt es mir selbst heute noch unwirklich vor. Wer hätte gedacht, dass ich in meinem Leben dreimal laufen lerne? Dass plötzlich jeder in der Modebranche mein Gesicht kennt? Oder dass ich meine Liebe zu Deutschland und Lederhosen entdecke? Ich ganz sicher nicht.
Seit 2011 lebe ich in München, mit dem Umzug nahm ich auch meinen Künstlernamen an: Papis Loveday. Die Stadt ist mir in dieser Zeit ans Herz gewachsen, und sosehr ich es liebe, beruflich und privat unterwegs zu sein, so brauche ich auch eine stabile Basis, ein Zuhause. Ich habe hier ganz tolle Menschen kennengelernt, habe Freunde gewonnen, die mich in jeder Lebenslage unterstützen und wie eine zweite Familie für mich sind. Meine Laufbahn in der Modebranche war und ist unglaublich erfüllend und dynamisch, sie erfordert aber auch Disziplin und Energie. Deshalb war mir immer wichtig, ein solides soziales Umfeld aufzubauen, das mir Halt gibt und mich erdet. Dazu zählt natürlich auch meine Familie im Senegal. Meine Geschwister, zu denen ich einen engen Kontakt pflege, vor allem aber meine Mutter. Sie ist mein Anker, mein Vorbild, mein Antrieb, mein Ein und Alles.
Ich muss gestehen, es gab einige Schlüsselmomente in meinem Leben, in denen ich den Kopf am liebsten in den Sand gesteckt hätte, als meine Lebenssituation ausweglos schien. Doch immer zwang ich mich, weiterzumachen, zu glauben, zu hoffen und zu kämpfen. Aufgeben ist für mich keine Option. Mein Glaube half mir dabei, einen Sinn in dem zu sehen, was geschah, und darauf zu vertrauen, dass es genau so richtig war. Ich bin der Überzeugung, dass alles, was in meinem Leben passiert ist und passieren wird, einen Grund hat. Man mag es Schicksal nennen oder den Plan, den Gott für einen bereithält, doch nichts passiert grundlos. Jeder Mensch, dem man begegnet, hat eine bestimmte Rolle oder einen Auftrag, jedes Ereignis hat seinen Sinn. Geschehnisse können Lehrstunden sein, Belohnungen oder Warnungen, kurze Begegnungen können der Beginn einer lebenslangen Freundschaft sein, sie können berufliche Chancen eröffnen, neue Wege aufzeigen oder ein tiefes Bedürfnis stillen, von dem man gar nicht wusste, dass es da war. Sie können das Leben verändern. Ich habe immer versucht, mit offenen Augen, offenem Geist und offenem Herzen durchs Leben zu gehen: Ich achte darauf, meine Chancen zu nutzen, Warnungen zu erkennen und die Belohnungen des Lebens zu genießen. Man sollte sich seinen Weg nicht verbauen, nur weil man ein bestimmtes Bild von sich hat und alles andere ablehnt. Das Leben ist ein ständiger Lernprozess, auch wenn es manchmal nicht so läuft wie geplant. Meine ganze Jugend über kämpfte ich dafür, Profisportler zu werden, mit 21 zerbrach dieser Traum. Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es nicht immer leicht ist, dem Schicksal die Stirn zu bieten. Es erfordert Mut, Flexibilität, Offenheit, Optimismus, Kampfgeist und oft sogar etwas Leichtsinn.
You cannot change your life radically, if you’re not ready to jump. Du kannst dein Leben nur dann verändern, wenn du bereit bist zu springen.
Ich brauchte Zeit, all das für mich zu erkennen. Doch jedes Mal, wenn ich es wagte, umzudenken, mutig zu sein und den Sprung in eine neue, unbekannte Zukunft zu wagen, zahlte es sich aus. Und genau diese Erfahrung möchte ich weitergeben. Wer bewusst, offen und mutig seinen Weg in dieser Welt geht, ist bereit für alle Herausforderungen, Veränderungen und Farben, die das Leben für ihn bereithält.
Eines habe ich in meiner Karriere als Model gelernt. All die Fashion-Shows, all die Shootings, all die Begegnungen mit den verschiedensten Menschen, verrückten und liebenswerten Kollegen, schrägen und wunderbaren Freunden, die Länder, Städte und Kulturen mit all ihren Verschiedenheiten und Gemeinsamkeiten, die Höhen und Tiefen, all diese Dinge haben mir gezeigt: Das Leben ist vielseitig, das Leben ist reich, das Leben ist aufregend. Das Leben ist niemals nur schwarz-weiß.
»Ich war anders. Ich war anders als meine Brüder, anders als meine Schwestern. Mein Kopf war anders.«
Nichts leuchtete so rot wie der Sand im Senegal. Ich erinnere mich noch genau an den rostbraunen Schimmer meiner Haut, wenn ich als Kind vom Spielen im Freien nach Hause kam. Wie pudriges Kupfer haftete der Sand am ganzen Körper. Jedes Mal musste ich mir vor der Tür mit einer Gießkanne die Füße waschen, bevor ich ins Haus durfte. Raus aus den staubigen Klamotten und sofort unter die Dusche. Wir Kinder waren immer bunt angezogen. Von T-Shirts über Hosen und Jacken bis hin zu Fußballshorts, alles kaufte unsere Mutter in bunten Farben. Sie nannte sie Farben der Lebendigkeit. Ein Wort, das das Leben im Senegal beschreibt wie kein anderes: lebendig. Die Menschen sind offen, herzlich und unglaublich gesellig. Ständig schauen Nachbarn, Verwandte oder Freunde spontan beieinander vorbei, um zu quatschen. Es ist immer etwas los. Und vor allem eines ist für mich aus dem Senegal nicht wegzudenken: Lachen. Egal, was gerade in den Menschen vorgeht oder was in ihrem Leben passiert, sie lachen. Das liebe ich. Im Senegal bin ich sorglos. Wenn ich heute zurückkehre, dann denke ich nicht daran, was morgen ist, ich genieße einfach den Moment. Alles ist unbeschwert, schön, und die Luft ist erfüllt vom Geruch trockener Hitze, den Stimmen meiner Familie, dem Lachen meiner Mutter. Das ist meine Heimat. Das ist mein Senegal.
Ich war schon immer anders. Ich war anders als meine Brüder, anders als meine Schwestern. Mein Kopf war anders. Ich war ein sehr lebendiges Kind und trieb meine Familie regelmäßig in den Wahnsinn. Vor allem meine Tante, die oft auf uns Kinder aufpasste, hatte es nicht leicht mit mir, dennoch hat sie mich geprägt. Bis heute sagt sie: »Ohne mich wärst du nicht der, der du heute bist.« Ich war immer der Clown der Familie, der alle zum Lachen brachte. Wenn niemand mehr lachte oder ich nicht mehr im Mittelpunkt stand, dachte ich mir sofort etwas Neues aus. Ich verkleidete mich zum Beispiel wahnsinnig gern. Darin war ich Profi. Ich schnappte mir die Klamotten meiner Mutter, was ich eigentlich nicht durfte, präsentierte mich vor meinen Geschwistern, und alle prusteten los. Ich liebte es, der Entertainer zu sein, womit ich meiner Mutter regelmäßig Sorgen bereitete. Ich erinnere mich noch genau an ihre Worte, wenn ich mich mal wieder verkleidet hatte. »Warum machst du so etwas, Papis? Warum bist du so komisch, so anders als deine großen Brüder? Wenn die Nachbarn dich so sehen, werden sie denken, mein Sohn sei nicht ganz richtig im Kopf.« Heute weiß ich, was sie eigentlich mit »nicht ganz richtig« meinte, früher war mir das nicht bewusst. Wie auch? Ich war noch ein Kind.
Mit den Nachbarskindern heckte ich so manches aus und musste es am Ende als Einziger ausbaden, weil einer der anderen mal wieder nicht dichthalten konnte. Wie zum Beispiel, als wir in das Haus einer Nachbarin schlichen, ihr Palmöl stibitzten, es uns in Gesicht und Haare schmierten und einen wilden Tanz veranstalteten. »Es war alles Papis’ Idee«, hieß es dann nur. Tatsächlich war ich meistens der Anführer unserer Truppe. Streiche zu planen war mein Spezialgebiet, die Durchführung überließ ich den anderen. Ging allerdings etwas schief, wussten die anderen Mütter sofort, dass ihre Sprösslinge nicht clever genug waren, um derartige Pläne auszuhecken. Wenn ich in den Senegal fahre, schauen diese Damen mich immer noch mit schiefem Blick an. Eine von ihnen sagte einmal zu mir: »Wer hätte gedacht, dass du jemals ein so vernünftiger Mann wirst. Wärst du im Senegal geblieben und mit deinem Auto an mir vorbeigefahren, hätte ich dich angehalten und Geld gefordert für alles, was du früher angestellt hast.« Ich lache dann nur und antworte: »Ja, deshalb bin ich auch nach Europa gegangen.«
Unser Familienleben war gewöhnlich für den Senegal und ungewöhnlich für europäische Verhältnisse. Mein Vater ist bis heute mit drei Frauen verheiratet. Meine Mutter wurde seine dritte Frau, und zum Zeitpunkt ihres Kennenlernens hatte er bereits acht Kinder mit seinen ersten beiden Frauen. Ich habe 25 Geschwister. Meine Eltern trafen sich 1970 auf einer Taufe bei gemeinsamen Freunden. Meine Mutter war 25 Jahre alt und beendete gerade ihre Ausbildung als Sekretärin, mein Vater, ein Arzt, stand mit 31 Jahren schon im Berufsleben. Viel mehr weiß ich nicht über die Anfänge ihrer Beziehung. Es ist nicht Teil unserer Kultur, über solche Dinge detaillierter zu sprechen.
Drei Jahre später kam meine älteste Schwester Ami auf die Welt, im Abstand von zwei Jahren folgte meine zweite Schwester Bebe. 1977 wurde ich geboren, dicht gefolgt von meinem kleinen Bruder Lamine, 1978, und meiner dritten Schwester Astou, 1980. Und unser aller Liebling wurde unser kleinster Bruder Moussa. Er wurde 1982 geboren.
Anfangs wohnten wir gemeinsam unter einem Dach. Als kleiner Junge fand ich das toll, und ich kann mich an einige schöne Momente erinnern, in denen wir als Familie gut funktionierten und harmonierten. Generell empfand ich das Zusammenleben in einer großen Familie aber als schwierig und teilweise als sehr spannungsgeladen.
Meine Mutter arbeitete im diplomatischen Dienst im Außenministerium. Sie war sehr diszipliniert und hatte einen unglaublich starken Charakter. Bei uns Kindern legte sie großen Wert auf perfekte Umgangsformen, die sie uns durch eine deutliche und konsequente Erziehung vermittelte. Ihr war es wichtig, klare Regeln zu haben, an die sich jedes Kind halten musste. Wenn zum Beispiel Besuch kam, standen wir Kinder kurz zur Begrüßung stramm und mussten dann in unsere Zimmer verschwinden und leise sein. Nicht alle fanden diese Erziehungsmethoden gut: »Meine Güte! Was sind denn das für Regeln!? Wie albern«, hieß es dann manchmal. Für mich als kleiner Junge waren diese Regeln okay, und die Kritik daran sah ich eher als Vorwurf gegenüber meiner Mutter, nicht zuletzt wegen ihrer Berufstätigkeit und weil sie so emanzipiert war. Hatte ich etwas ausgefressen, bekam ich schnell zu hören: »Deine Mutter sollte wirklich aufpassen. Immer arbeitet sie, anstatt sich um ihre Kinder zu kümmern.«
Irgendwann hatte ich mich an das Leben und die Dynamik im Haus gewöhnt, aber leicht war es nicht. Obwohl wir mit allen Geschwistern unter einem Dach wohnten, verbrachte ich die Zeit am liebsten mit meinen beiden »echten« Geschwistern, Ami und Bebe. Sie waren mir, ohne dass ich es erklären konnte, immer näher als meine Halbgeschwister. Ich hatte den Eindruck, dass je älter wir wurden, desto mehr verstanden wir viele Dinge, die um uns herum passierten. Das stärkte unser Band.
Irgendwann war meine Mutter es leid. Sie hatte genug von der Wohnsituation und dem ständigen Streit. Sie wollte sich nicht länger zurücknehmen und rechtfertigen müssen. Also tat sie etwas, was damals als Frau im Senegal an eine Revolte grenzte: Sie kaufte sich ein eigenes Haus von ihrem selbstverdienten Geld und zog dort mit mir und meinen vier Geschwistern ein. Ein wahnsinnig mutiger und starker Schritt. Damals war ich vier Jahre alt und konnte natürlich noch nicht begreifen, was sie da eigentlich getan hatte. Mit zunehmender Reife erkannte ich, wie stark meine Mutter war. Diese Frau musste man dafür bewundern, was sie leistete. Also begann ich, ihr persönlicher Schutzengel zu werden …
Meine Mutter ist eine schöne, große und schlanke Frau. Sie hat einen festen Blick, klare Gesichtszüge, ein strahlendes Lachen und eine erhabene und elegante Ausstrahlung. Früher trug sie ihr Haar lang, allein das war ungewöhnlich für eine Senegalesin. Ich bin meiner Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Von ihr habe ich meine Haut und meine Gesichtszüge. Als Kind fand ich das schrecklich und weinte, wenn mich jemand auf unsere Ähnlichkeit ansprach. Ich wollte doch nicht aussehen wie eine Frau! Mit der Zeit änderte sich mein Blick, und heute bin ich stolz darauf, so viel von meiner Mutter in mir zu tragen. Sie lacht ständig, genau wie ich. Mit uns Kindern ging sie, bei aller Strenge, humorvoll um. Wenn es Streit gab und wir uns trotzig in eine Ecke verkrümelten, schaffte sie es jedes Mal, die Stimmung mit Witzen oder kleinen Blödeleien aufzulockern. Sie neckte uns und stichelte, bis wir lachen mussten und völlig vergaßen, dass wir gerade noch gestritten hatten. Sie wusste, welche Knöpfe sie bei uns drücken musste.
Ebenso genau wusste sie, was sie wollte. Sie ist sehr entschlossen und bestimmt. Gleichzeitig hat sie eine fürsorgliche Art und hilft, wo sie kann, gerade in der Familie und unter Freunden. Sie hat ein wahnsinnig gutes Herz. Bis heute ist sie einer der stärksten und faszinierendsten Menschen, die ich kenne. Jeder in unserer Nachbarschaft hatte Respekt für das, was sie leistete. Als dritte Frau ihres Mannes zog sie ihre sechs Kinder allein in einem eigenen Haus groß und ging dazu noch arbeiten.
Woher nahm sie diese Stärke? Meine Mutter wuchs, wie auch mein Vater, im Süden Senegals auf. Ihr Vater war ein einfacher Bauer, dreifach verheiratet und wohnte in einem kleinen Dorf namens Bailar. Später zog die Familie nach Thiès, einer Stadt unweit von Dakar. Meine Großmutter war seine erste Frau und meine Mutter das erste von insgesamt 16 Kindern.
Der Stellenwert der Frau im Senegal war und ist mit dem in der westlichen Welt nicht zu vergleichen. Die Pflicht einer Tochter war es, zu heiraten und Kinder zu bekommen, nicht mehr und nicht weniger. Doch meine Mutter hatte andere Pläne für ihr Leben. Sie wollte Abitur machen und studieren – gegen den Willen ihres Vaters. Anstatt mit 18 einen Mann zu finden und eine Familie zu gründen, zog sie in die Hauptstadt zu ihrem Onkel, einem Bruder meines Großvaters. Er war Architekt in Dakar und vertrat eine tolerantere Lebensweise. Dort machte sie Abitur und begann eine Ausbildung zur Sekretärin. Mein Onkel half ihr damals sehr. Ohne ihn wäre es vermutlich sehr viel schwerer für meine Mutter gewesen. Immer wieder redete er ihrem Vater ins Gewissen: »Warum stellst du dich quer? Sie möchte studieren. Warum lässt du sie nicht?« Am Ende verwirklichte meine Mutter ihren Plan. Es war ein sehr mutiger und liberaler Schritt von ihr, das Elternhaus zu verlassen, um eine Ausbildung zu absolvieren.
Meinem Vater gefiel es bestimmt nicht, dass meine Mutter mit uns in ihr neues Haus zog. Aber hatte sich meine Mutter etwas in den Kopf gesetzt, zog sie es gegen alle Widerstände durch. Vielleicht bewundert er sie sogar ein bisschen dafür. Sich unterzuordnen ist nämlich nicht gerade typisch für meinen Vater … Er ist ein großer und stattlicher Mann mit dominantem Auftreten. Manchmal denke ich, er nutzt diese Dominanz nur als Fassade, um seinen wahren Kern zu schützen, denn eigentlich ist er ein sensibler Mensch. Gerade bei uns Kindern wurde er immer schwach und konnte uns kaum einen Wunsch ausschlagen. Wäre meine Mutter nicht so streng mit uns gewesen, wären wir wahrscheinlich ziemlich verzogen. Natürlich haben wir immer wieder versucht, den Papa-Joker zu ziehen und das »Nein« meiner Mutter in ein »Ja« zu verwandeln, doch sie ließ sich nicht auf der Nase herumtanzen. Wenn Mama »nein« sagte, blieb es dabei. Mein Vater konnte es auch nicht ertragen, wenn meine Mutter uns bestrafte. Er ist wirklich sensibel. Diese Sensibilität habe ich von ihm geerbt. Und er ist ein Gentleman, genau wie ich. Zumindest würde ich das von mir selbst behaupten. Immer höflich, gut angezogen und hilfsbereit. Als Arzt war er zu jeder Tages- und Nachtzeit ansprechbar und behandelte Freunde und Nachbarn, auch ohne dafür Geld zu verlangen.
Mein Vater wuchs in Balingore auf, einem Dorf im Süden Senegals. Sein Vater war Großbauer und lebte mit meiner Großmutter, zwei weiteren Ehefrauen und insgesamt 14 Kindern in einem riesigen Haus. Mein Großvater war ein eigenwilliger Mensch mit hohen Erwartungen vor allem an seine Söhne, die kaum zu erfüllen waren. Obwohl ich meinen Vater als sehr durchsetzungsstark einschätze, ließ er sich von der Meinung seines Vaters beeinflussen. Er setzte alles daran, ihn stolz zu machen. Als ich geboren wurde, als erster Sohn meiner Mutter, gab mein Vater mir den Namen meines Großvaters: Pape. Dieser allerdings reagierte weder dankbar noch gerührt. »Ah, sieh an. Jetzt, wo ich schon alt bin und bald sterbe, bekommt endlich ein Enkel meinen Namen.«
Mein Vater besuchte das Gymnasium, machte Abitur und ging dann im Alter von 20 Jahren zum Militär. Danach begann er ein Medizinstudium in Dakar. Als der Algerienkrieg kam, wurde er eingezogen. Mein Vater sprach selten von seinen Erfahrungen im Krieg. Ich erinnere mich, wie er uns Kindern erzählte, dass er als Arzt eines Erste-Hilfe-Kommandos mit dem Fallschirm über den Einsatzgebieten abspringen musste. Nach dem Krieg kehrte er zurück nach Dakar, machte eine Zusatzausbildung zum Chirurgen und fing an, im größten Krankenhaus Senegals zu arbeiten. Kurz darauf lernten meine Eltern sich kennen.
Das erste Jahr nach dem Umzug in unser eigenes Haus war gewöhnungsbedürftig. Plötzlich hatte ich meine Halbbrüder nicht mehr um mich. Plötzlich gab es nur noch meine drei Schwestern, meinen kleinen Bruder, meine Mutter und die Nanny. Unseren kleinsten Bruder gab es damals noch nicht. Plötzlich war ich der »Mann im Haus«. Meine anderen Geschwister besuchten uns ab und zu, trotzdem war es eine völlig neue Situation. In dieser Zeit kristallisierte sich eine meiner Charaktereigenschaften heraus – ich war laut und wollte auffallen. Ich ließ keine Gelegenheit aus, die Aufmerksamkeit meiner Geschwister und vor allem meiner Mutter auf mich zu ziehen. Hier eine Grimasse, da eine Blödelei oder ein Streich – Hauptsache, die anderen lachten und hatten Spaß mit mir.
Dann wurde ich sechs. Zeit, in die Schule zu gehen. Meine Mutter wollte, dass wir die bestmögliche Bildung bekommen, also schickte sie uns alle auf eine Privatschule. Der erste Schultag war schlimm für mich, ich wollte nicht dorthin. Es war der Moment, in dem man aufhörte zu spielen. Zumindest glaubte ich das, und davor hatte ich Angst. Alle sprachen davon, wie hart die Schule sei und dass man sich dort beweisen müsse. Ich fürchtete mich immer davor, mich behaupten zu müssen, und weiß noch, wie sehr ich am ersten Schultag weinte. Meine Mutter schenkte mir eine Schultüte mit Bonbons und anderen Naschereien, das machte den Schritt schon etwas leichter. Mit der Zeit wurde mir die anfangs so befremdliche Umgebung vertrauter, weil ich meine Mitschüler besser kennenlernte. Der Unterricht weckte meinen Ehrgeiz, und mein Lehrer schaffte es, mich regelrecht anzustacheln und herauszufordern.
Ich besuchte die gleiche Schule wie meine beiden älteren Schwestern, allerdings wurden Jungs und Mädchen getrennt unterrichtet, und die Gebäude lagen zwei Kilometer auseinander. Diese christliche Schule hatte einen stark europäischen Einschlag. Viele der Priester, die dort unterrichteten, waren entweder weiße Franzosen oder Senegalesen, die in Frankreich studiert hatten und zum Arbeiten in die Heimat zurückgekehrt waren. Wie viele meiner Mitschüler besuchte ich als Moslem eine christliche Schule, in deren Klassenzimmer ein Kreuz hing. Jeden Tag wurde gebetet, wobei den muslimischen Kindern freigestellt war, ob sie am Gebet teilnehmen, den Klassenraum verlassen oder einfach still dasitzen und warteten wollten, bis das Gebet beendet war. Meistens blieben wir alle in der Klasse und beteten gemeinsam mit den anderen. Ich wuchs also mit zwei Kulturen und zwei Religionen auf.
In der Schule war ich ein anderer Junge als zu Hause, meine Tante hätte mich kaum wiedererkannt. In den ersten Wochen stellte sich heraus, dass ich kurzsichtig war, also setzte mein Lehrer mich in die erste Reihe. Jetzt konnte ich zwar lesen, was an der Tafel stand, ich musste mich aber auch benehmen. Von diesem Tag an entwickelte ich mich zu einem braven, konzentrierten und sehr guten Schüler. Das war einer der Gründe, warum ich es nicht leicht haben sollte in der Schule. Der Hauptgrund war aber ein anderer.
Im ersten Schuljahr in der Schule fingen die Kinder an, Cliquen zu bilden. Zugegeben hatte ich Schwierigkeiten, mich einer bestimmten Gruppe anzuschließen. Wollte ich zu den Cleveren, den Nerds, gehören? Oder wollte ich mich doch eher den »Chaoten« der Klasse anschließen? In der Nachbarschaft kannte ich meinen Platz. Dort war ich oft der Anführer, derjenige, der sich die Streiche ausdachte und die anderen Jungs anspornte. Hier fühlte ich mich etwas verloren, und so kam es, dass ich mich niemandem anschloss und mich voll und ganz auf meine Leistungen konzentrierte – mit Erfolg. In der Klasse entwickelte ich mich zu einem der beiden Klassenbesten. Am Ende des Schuljahres wurden mit einer Preisverleihung die besten Schüler der Klassen geehrt, und jedes Jahr stritten und kämpften wir erneut um den ersten Platz der Rangliste. Wenn der eine es schaffte, ärgerte sich der andere wahnsinnig.
In dieser Zeit begann das gute Verhältnis, das ich zu meinem Vater hatte, zu bröckeln.
Das hatte vor allem damit zu tun, dass ich ihn so wenig sah. Er verbrachte nur wenige Tage in der Woche bei meiner Mutter und uns Kindern. Er kam abends von der Arbeit, wir aßen zusammen und mussten dann schon bald ins Bett. Ich erinnere mich, wie ich ihm einmal davon erzählte, dass ich einen Preis bekommen würde, und ihn fragte, ob er kommen könnte.
Doch die Preisverleihung fiel nicht auf einen der Tage, an denen er bei uns war, und so war nur meine Mutter anwesend. So waren eben die Regeln. Doch mir, einem kleinen Jungen, waren solche Regeln unverständlich. Er war mein Vater, und ich hielt es für selbstverständlich und wichtig, dass er sah, was ich geschafft hatte. Ich wollte, dass er stolz auf mich war. Meine Mutter versuchte mit all ihren Möglichkeiten das auszugleichen, doch so ganz gelang es ihr nicht. Vielleicht hätte ich auch meine Enttäuschung besser verkraftet, wäre da nicht mein Rivale gewesen. Er kam stets mit beiden Elternteilen und hatte meinen wunden Punkt längst bemerkt: »Na, kommt wieder nur deine Mutter zur Verleihung?«
Als er überall in der Schule herumerzählte, ich hätte keinen Vater, war das sehr schmerzhaft für mich, und was mit einer gespielten Gleichgültigkeit begann, entwickelte sich über die Jahre zu einer Rebellion gegen meinen Vater.
Mit der dritten Klasse begann eine Phase, die mein Leben verändern und zutiefst prägen sollte. Ein paar Jungen aus meiner Klasse fingen an, mich auszuschließen, zu attackieren, anzufeinden: »Warum spielst du nicht mit uns Fußball, wie jeder andere normale Junge?« Da war es: das Normalsein gegenüber dem Anderssein. Sie hatten recht, während die anderen Kinder in den Pausen auf dem Schulhof spielten und tobten, stand ich am Rand und hielt mich zurück. Ich war ein feines Kind und legte schon früh großen Wert auf mein äußeres Erscheinungsbild. Meine Schuluniform musste immer sauber sein und perfekt sitzen, alle sollten denken: Wow, was für ein perfektes Kind! Zu Hause spielte ich sehr wohl Fußball, da trug ich aber auch normale Kleidung. Ich wusste, dass meine Mutter mit mir schimpfen würde, wenn ich mit einer schmutzigen Uniform nach Hause kommen würde, also hielt ich mich zurück. Für die anderen Kinder war ich fortan derjenige, der nicht mitspielte, gut in der Schule war und sich keiner Gruppe anschloss. Es gab immer mehr Momente, in denen ich mich allein fühlte. Ich hatte niemanden in der Klasse, der mir zur Seite stand. Ratlos und verloren entwickelte ich mich langsam zum Außenseiter.
Eines Tages wurde ich in der Schule zum ersten Mal mit einem ganz bestimmten Wort beschimpft: schwul. Es fiel wie selbstverständlich, als sich ein paar Jungs aus meiner Klasse mal wieder darüber lustig machten, dass ich anders war als sie. Schwul. Ich wusste, was es bedeutete, doch eines verstand ich nicht: Womit hatte ich diese Beschimpfung verdient?
In jeder Familie war dieses Wort tabu, so auch in meiner. Schon oft hatte ich die Erwachsenen über das Thema sprechen hören: »Sollte jemand in dieser Familie schwul sein, ist er nicht mehr Teil von uns.« Ich wusste, dass ich anders war, das hatten meine Familie und meine Mitschüler mir oft genug zu verstehen gegeben. Doch jetzt nannten sie mich auch noch schwul? Als in der Schule dieses Wort zum ersten Mal fiel, begann für mich die Hölle.
Ich war nicht schwul, das musste ich allen beweisen. In der vierten Klasse wurden verschiedene Sportarten als Wahlfach angeboten – das war meine Chance. Ich musste zeigen, dass ich ein echter Junge war. Sport war männlich und nichts für Weicheier. Laufen, Weitsprung, Klettern – überall hängte ich mich rein. Ich spielte sogar in den Pausen Fußball, nur damit die anderen mich weniger ärgern konnten. Ich warf mich in den Sport, um den anderen keinen Grund zu geben, mich aufzuziehen oder zu mobben.
In dieser Zeit hörte ich auf, Entscheidungen für mich zu treffen, und fing damit an, mich anderen zu beweisen. Eine Aufgabe und Eigenschaft, die ich bis heute nicht vollständig abgelegt habe.
Sosehr ich auch versuchte, dazuzugehören und meine Männlichkeit durch Sport unter Beweis zu stellen, meine Kameraden ließen mich einfach nicht in Ruhe. Eine Gruppe von fünf Jungs war besonders gemein. Regelmäßig schoben sie mir während des Unterrichts kleine Zettel zu, auf dem sie mir Prügel androhten: »Wir warten nach dem Unterricht hinter der Schule auf dich.« Jedes Mal krampfte sich alles in mir zusammen, wenn ich wieder so eine Notiz bekam. Was sollte ich nur tun? Ich konnte unmöglich gegen sie kämpfen. Sie waren zu fünft, ich war allein. Also entwickelte ich systematisch Strategien, um ihnen aus dem Weg zu gehen. Meine zwei älteren Schwestern waren meine Rettung – ihre Schule war nur einen Kilometer von meiner entfernt. Bevor die Klingel läutete, fragte ich also meinen Lehrer, ob ich als Erster rausgehen dürfte – ich müsste meine Schwestern von der Schule abholen. Es funktionierte, nach dem ersten Klingeln ließ der Lehrer mich gehen. Draußen angekommen, nahm ich meine Beine in die Hand und rannte zur Schule meiner großen Schwestern. Die waren mehr als überrascht, mich zu sehen. Weder sie noch meine Mutter oder die anderen Geschwister wussten, dass ich gemobbt wurde. Niemand sollte es wissen, schon gar nicht meine Mutter. Das war auch der Grund, warum ich nicht mit meinem Lehrer darüber sprach. Ich wusste, dass er meine Mutter in die Schule bestellen und über meine Probleme informieren würde. Innerhalb der Familie galt ich bereits als das Kind, das anders war. Ich konnte nicht auch noch das Kind sein, das gemobbt wurde. Ein paarmal funktionierte die Ausrede, ich hätte sie nur abholen wollen, dann wurde die jüngere meiner Schwestern misstrauisch, und schließlich musste ich ihr erzählen, was wirklich los war. Natürlich war ich zu stolz, mir von ihr helfen zu lassen. »Ich schaffe das schon. Ich versuche einfach, den Jungs aus dem Weg zu gehen.« Es half schon zu wissen, dass meine Schwester Bescheid wusste, mehr brauchte ich in jenem Moment nicht.
Einmal kam Bebe mir dann aber doch zu Hilfe – und sie brachte ihre Freundinnen mit. Sie konnte nicht tatenlos zusehen, wie ihr kleiner Bruder bedroht wurde, und wollte der Gruppe zumindest signalisieren, dass ich ihre Rückendeckung hatte. Wie erwartet zogen mich die Jungs an Ort und Stelle damit auf, dass ich die Clique meiner Schwester zum Schutz mitgebracht hatte, aber das war mir egal. »Ihr seid zu fünft, also bringe ich auch meine Leute mit. Ich kämpfe ganz sicher nicht alleine gegen euch alle.« Hätten sie sich tatsächlich mit uns angelegt? Ich weiß es nicht, denn an diesem Tag kam es nicht zur Prügelei. Die Schulgärtner wurden auf uns aufmerksam und ermahnten uns, wir sollten bloß nach Hause gehen, ansonsten würden sie unsere Namen notieren und der Schulleitung Bescheid geben. Diesen Tag beendete ich also mit einem kleinen Sieg, doch es würde ein nächster Tag folgen und ein nächster und ein nächster …
Es war nicht so, dass ich mich nicht wehren konnte. In unserer Nachbarschaft wagte niemand, sich mit mir anzulegen. Ich war dafür bekannt, dass ich kämpfen konnte und auch dazu bereit war, wenn es sein musste – das wusste sogar meine Mutter. Schon mehrfach hatte sie mich vor die Tür geschickt, um meinen kleinen Bruder körperlich zu verteidigen, wenn er geärgert wurde, doch diese Jungs aus meiner Klasse waren zu fünft, da hatte ich allein keine Chance. Manchmal kam es vor, dass mir ein Schulkamerad zur Seite stand, dann stellten wir uns gemeinsam der Gruppe und prügelten uns nach der Schule. Danach gingen alle mit Schürfwunden und schmutziger Kleidung nach Hause, und ich musste meiner Mutter erklären, warum ich so ramponiert aussah. Das war ein weiterer Grund, warum ich mich nicht prügeln wollte. Meine Kleidung ging kaputt, und ich bekam eine ordentliche Standpauke von meiner Mutter, die mich enttäuscht und fassungslos ansah, wenn ich nach Hause kam. Das allein war schon schlimm genug. Manchmal spielte ich verschiedene Szenarien durch und stellte mir vor, ich würde so schlimm verprügelt werden, dass ich ins Krankenhaus käme und meine Mutter viel Geld für meine Behandlung bezahlen müsste. All diese Gedanken und Ängste schwirrten dem kleinen Papis im Kopf herum. Für die meisten Kinder war Schule etwas Tolles. Man traf seine Freunde, man lernte zusammen, man erzählte, man lachte, man spielte. Für mich war jeder Tag eine Qual. Wenn ich morgens aufstand, freute ich mich zwar auf das gemeinsame Frühstück mit meiner Mutter und meinen Geschwistern, doch schon währenddessen holte mich die Angst vor dem ein, was danach kam: ein weiterer Schultag. In meinem Kopf kämpfte meine Angst gegen mein Gewissen an.
»Bitte, ich will nicht. Ich will nicht. Ich will nicht.«
»Du musst!«
Am liebsten hätte ich mich verkrochen, doch ich hatte keine Wahl – ich musste in die Schule. Jeden Tag griff ich mir also erneut meine Tasche, verließ das Haus und machte mich auf den Weg. Jede Faser in meinem Körper sträubte sich, mit jedem Schritt verkrampfte sich mein Magen mehr, mit jeder Minute wuchs meine Angst, legte sich um meine Kehle und schien mir die Luft zu nehmen.
Jeden Tag, Woche um Woche, Monat um Monat.
Mein Lehrer hatte längst bemerkt, dass etwas nicht stimmte, dass ich mich nicht ins Sozialleben der Klasse einfügte, dass die anderen sich lustig machten. Oft fragte er nicht einmal, warum ich früher gehen wollte. Ich denke, es war seine Art, mir zu helfen. Ein paarmal versuchte er, mit mir zu sprechen, und fragte mich, ob er mal mit meiner Mutter sprechen dürfte, das wusste ich aber zu verhindern: »Es ist alles okay. Es gibt nichts, was Sie mit meiner Mutter besprechen müssen.« Zu Beginn jeder Pause wartete ich, bis alle den Klassenraum verlassen hatten, erst dann ging auch ich nach draußen. Ich konnte nicht einfach mit den anderen gehen, ich musste warten, in welche Richtung die Jungs verschwanden, damit ich ihnen auf keinen Fall auf dem Weg nach draußen begegnete. Ich ließ mir Zeit mit dem Packen meiner Sachen und behielt dabei unauffällig die Klassentür im Auge. Immer und überall stand ich unter Strom und war höchst wachsam, vom Betreten des Schulhofes am Morgen bis zum Moment, als zu Hause hinter mir die Wohnungstür ins Schloss fiel. Ich stand unter einem unglaublichen, ständigen Druck. Nach dem Unterricht hielt ich es meist genau wie in den Pausen. Sobald die Luft rein war, schnappte ich mir meine Sachen, lief in die entgegengesetzte Richtung und rannte zur Schule meiner Schwestern, oder ich nahm einen großen Umweg und lief dann nach Hause, wie ein Reh, das vor seinen Jägern davonlief und sich dabei verzweifelt fragte, warum es überhaupt gejagt wurde.
Ich hatte niemandem etwas getan, ich war kein schlechter Mensch. Womit verdiente ich es, so behandelt zu werden?
Doch es gab ein paar Dinge, an denen ich mich festhalten konnte. Meine guten Leistungen in der Schule machten mich stolz, außerdem war ich dankbar, meine Schwestern und Brüder an meiner Seite zu wissen. Wir hatten ein gutes Verhältnis zueinander, und sie waren da für mich. Wir lachten