Barbara Wood
Im Auge der Sonne
Roman
Aus dem Amerikanischen von Veronika Cordes
FISCHER E-Books
Barbara Wood ist international als Bestsellerautorin bekannt. Allein im deutschsprachigen Raum liegt die Gesamtauflage ihrer Romane weit über 13 Mio., mit Erfolgen wie ›Rote Sonne, schwarzes Land‹, ›Traumzeit‹, ›Kristall der Träume‹, ›Das Perlenmädchen‹ und ›Dieses goldene Land‹. 2002 wurde sie für ihren Roman ›Himmelsfeuer‹ mit dem Corine-Preis ausgezeichnet. Barbara Wood stammt aus England, lebt aber seit langem in den USA in Kalifornien.
Im Fischer Taschenbuch Verlag ist das Gesamtwerk von Barbara Wood erschienen:
›Rote Sonne, schwarzes Land‹, ›Traumzeit‹, ›Herzflimmern‹, ›Sturmjahre‹, ›Lockruf der Vergangenheit‹, ›Bitteres Geheimnis‹, ›Haus der Erinnerungen‹, ›Spiel des Schicksals‹, ›Die sieben Dämonen‹, ›Das Haus der Harmonie‹, ›Der Fluch der Schriftrollen‹, ›Nachtzug‹, ›Das Paradies‹, ›Seelenfeuer‹, ›Die Prophetin‹, ›Himmelsfeuer‹, ›Kristall der Träume‹, ›Spur der Flammen‹, ›Gesang der Erde‹, ›Das Perlenmädchen‹, ›Dieses goldene Land‹ und ›Die Schicksalsgabe‹, sowie die Romane von Barbara Wood als Kathryn Harvey, ›Wilder Oleander‹, ›Butterfly‹ und ›Stars‹.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Covergestaltung: bürosüd°, München
Umschlagabbildung: Gaby Gerster
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel ›The Serpent and the Staff‹
im Verlag Turner Publishing Co, Nashville, Tennessee
© Barbara Wood 2013
Published by Arrangement with Barbara Wood
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402716-6
Für meinen lieben Mann Walt
In der Nacht, als Jericho fiel, war ich sechzehn Jahre alt. Ich war unsterblich verliebt.
Meine Gedanken kreisten nicht im Entferntesten um Krieg, als ich mich in meinem Bett hin- und herwarf und die Geräusche der Stadt an mein Ohr drangen – Jericho am Jordanfluss schlief niemals –, sondern kehrten immer wieder zurück zu Benjamin, dessen schönes Gesicht mir den Schlaf raubte.
Aus der Ferne war Donner zu hören. Ein Frühlingsgewitter, das vom Meer her aufzieht, dachte ich. Schwarze Wolken, die sich über den Küstenstädten, über Jerusalem zusammenballen und bald auch Jerichos Durst stillen würden. Dem Allerhöchsten sei Dank, betete ich im Stillen. Die Dattelhaine meines Vaters brauchten dringend Regen.
Er befand sich zu jener Stunde im Tempel, um ein fettes Frühjahrslamm zu opfern und den Allerhöchsten um Erlösung von der Dürre zu bitten. Sein Bruder, mein Onkel und ein angesehener Arzt hier in Jericho, hielt sich im Armenviertel auf, wo das Fieber, das mit der Trockenheit einherging, am ärgsten wütete. Die Armen kannten seine Gestalt und begrüßten ihn mit der Anrede »verehrter Heiler«.
In jener schicksalsschweren Frühlingsnacht kreisten meine Gedanken jedoch nicht lang um die wohltätigen Verrichtungen frommer Männer. Sobald ich die Augen schloss, sah ich Benjamin vor mir, seine Gesichtszüge, sein Lachen, die breiten Schultern, seinen Gang. Oh, er war wunderbar! Ich war jung, und ich träumte vom Heiraten. Benjamin war der Sohn einer wohlhabenden Familie, die das Monopol auf Jerichos florierenden Textilhandel besaß. Sein Vater war ein enger Freund des Königs.
Wir waren uns versprochen.
An jenem Abend hatte Papa mir einen Gutenachtkuss gegeben und versichert, er werde nun mit Benjamins Vater über das Datum für die Hochzeit sprechen. Sie sollte im Sommer stattfinden, die verheißungsvollste Zeit für Eheschließungen. Das Leben konnte nicht schöner sein. Mein Vater war einer der reichsten Bürger von Jericho, meine Mutter von königlichem Geblüt: Sie stammte von einem König aus dem im Norden gelegenen Syrien ab. Wir bewohnten ein palastartiges Haus mit marmornen Säulen innerhalb der hohen Mauern von Jericho. Es war die sicherste Stadt der Welt, und unser hochherrschaftliches Haus, das an Eleganz nur vom Palast des Königs übertroffen wurde, lag im schützenden Schatten von Jerichos mächtigem Südwestturm, von dem aus Soldaten die Mauern seit Jahrhunderten verteidigt hatten. Wir verfügten über Diener und erlesenes Mobiliar, meine Schwestern und ich kleideten uns in weichste Wolle. Wir trugen Goldschmuck, speisten von silbernen Tellern. Gleich einem festlich gedeckten Tisch sah ich deshalb einem Leben in Überfluss und Freude und unbegrenzten Möglichkeiten entgegen.
Kein Mädchen konnte glücklicher sein als ich.
Das Donnern in jener Nacht kam näher, rollte über die Hügel im Westen. Als ich Rufe und Geschrei auf den Straßen unter meinem Balkon hörte, wunderte ich mich, warum sich irgendwer vor einem Frühlingsregen fürchtete.
Aber dann schrie jemand direkt unter mir laut auf. Ein Poltern. Schritte, die über den polierten Sandsteinboden stampften. Ich sprang aus dem Bett, rannte auf die Galerie, die um das Innere des oberen Stockwerks verlief, schaute hinunter in die große Halle, in der wir Gäste empfingen und üppige Bankette ausrichteten. Entsetzt riss ich die Augen auf, als ich sah, wie dort Soldaten hereinstürmten und rücksichtslos vorandrängten. Sie trugen nicht die grünen Tuniken der Kanaaniter-Truppen, sondern weiße Faltenröcke, lederne Bruststücke und eng anliegende Helme. Den Befehlen nach, die sie den verschreckten Dienern entgegenbellten, schien es sich um Ägypter zu handeln.
Jetzt begriff ich endlich, dass der Donner, den ich gehört hatte, nicht Regen für Jericho versprach, sondern vom Lärm der Streitwagen herrührte, die über die Ebene auf die Stadt zuhielten.
Wie versteinert beobachtete ich, wie ein Soldat eine unserer Dienerinnen an den Haaren packte und sie über den Boden schleifte, obwohl sie sich verzweifelt zu wehren versuchte. Wie eine Amme unten auftauchte, mit einem Baby auf dem Arm, meiner jüngsten Schwester, die noch keinen Namen erhalten hatte. Ein Soldat riss ihr den Säugling aus den Armen, umfasste mit einer Pranke die winzigen Füßchen und schleuderte ihn an die Wand. Ich sah, wie der weiche Schädel aufplatzte, Gehirnmasse und Blut herausspritzten.
Als ich Schritte hinter mir hörte, fuhr ich herum. Es war Tante Rakel, die sich mit einer Lampe näherte. Ihre Sandalen glitten lautlos über den Marmorfußboden. Ihre weißen Gewänder umwogten sie wie eine Wolke. Ihr Gesicht war kreidebleich.
»Rasch, Avigail«, sagte sie. »Zieh dich an. Wir müssen uns in Sicherheit bringen.«
Hastig kleidete ich mich an, und wir verließen über eine Hintertreppe das obere Stockwerk. An der Tür zu einem Geheimgang wartete bereits die restliche Familie. Meine Mutter hatte die Arme um meine beiden jüngeren Schwestern gelegt. Die Angst, die aus ihren Augen sprach, verriet mir den Ernst der Lage. Meine Mutter war eine Schönheit und von königlichem Geblüt. Jeder rühmte ihr selbstsicheres Auftreten, ihre Eleganz. In jenem Augenblick strahlte sie jedoch nichts als Entsetzen aus.
Zitternd und bebend hörten wir mit an, wie Geschrei unser Haus erfüllte, wie Gegenstände zerschmettert wurden, wie auf Ägyptisch herumgebrüllt wurde. Bestimmt war das nur ein Traum. Ein Albtraum, aus dem ich bald erwachen würde. Der König hatte uns Frieden zwischen Jericho und Ägypten zugesichert. Man hatte ein Abkommen unterzeichnet.
Unser Hausverwalter Avraham, der seit zwei Generationen unserer Familie diente, erschien. Sein langes schwarzes Gewand war ramponiert, die rote Schärpe hing nachlässig herunter. »Das Haus bietet keinen Schutz mehr, Herrin«, sagte er zu meiner Mutter. »Die Ägypter dringen in alle Wohnstätten ein. Außerhalb der Mauern sind wir sicherer. Ich werde euch zu den Hügeln führen.«
»Aber mein Gemahl …«
»Rasch, Herrin.«
Tante Rakel fasste mich am Arm. »Komm, Avigail, wir müssen uns in Sicherheit bringen.«
Ihr Gesicht war leichenblass. Furcht brannte in ihren Augen. Ihr Mann – mein Onkel – hielt sich im Armenviertel auf, mein Vater im Tempel. Würde der Allerhöchste sie beschützen?
Wir folgten Avraham durch einen schmalen Gang, den man vor langer Zeit als Fluchtweg innerhalb der Mauern angelegt hatte, war doch Jericho im Laufe der Jahrhunderte häufig überfallen worden. Wir rannten los, verängstigt, mit pochendem Herzen, in den Ohren die Schreie unserer Dienerschaft.
Wir gelangten ins Freie, in eine Nacht voller Chaos und Grauen. Menschen hetzten durch die Straßen, gejagt von feindlichen Soldaten hoch zu Ross. Wir drängten uns aneinander, warteten darauf, dass Avraham eine günstige Gelegenheit abpasste, um uns auf die Felder jenseits der Mauern zu bringen. Die Stadttore standen weit offen, und dort bot sich uns ein grauenvoller Anblick … lodernde Fackeln, Soldaten im Kampf Mann gegen Mann, Generäle in vergoldeten Streitwagen, ohrenbetäubendes Geschrei und Blut, entsetzlich viel Blut …
Wir rannten los.
Die Bewohner von Jericho flohen in alle Richtungen, die Straßen entlang, über Felder, die der Frühjahrsernte entgegensahen, mit Kindern und Besitztümern bepackt, einige nur notdürftig bekleidet, gejagt von den Schwertern und Speeren ägyptischer Soldaten.
Als unsere Gruppe im Licht des Vollmonds über ein Zwiebelfeld hastete, tauchte aus dem Nichts ein ägyptischer Kavallerist auf und lenkte sein Pferd im Galopp auf uns zu. Ich wich seitwärts aus, entkam um Haaresbreite den donnernden Hufen. Meine Mutter sprang zur anderen Seite, aber da senkte sich das Schwert des Soldaten in einem unheilvollen Bogen, die Klinge durchtrennte den Hals meiner Mutter so sauber wie eine Sichel eine Garbe Weizen. Ich sah ihren Kopf in die Luft fliegen, den überraschten Ausdruck auf ihrem Gesicht. Das Kriegsross stürmte weiter, während der weißgekleidete Körper meiner Mutter gleich einer umstürzenden Statue zu Boden sank.
Mit offenem Mund stand ich da. Ich konnte in jenem Augenblick nicht begreifen, was sich da abspielte, was gerade geschehen war. Wie betäubt sah ich mich nach Mutters Kopf um. Warum, weiß ich nicht. Aber es schien mir wichtig festzustellen, wo er hingeflogen war.
Alles, woran ich mich danach erinnere, ist, dass ich von starken Armen umfangen wurde, dann wurde es dunkel um mich herum.
Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich inmitten einer Gruppe von Flüchtlingen in den Bergen westlich von Jericho. Noch war es Nacht. Viele hatten Zuflucht in Höhlen oder in dicht bewaldeten Hainen gesucht, wo sie aneinandergeklammert voller Entsetzen mit ansahen, wie Jericho der Armee des Pharaos erlag.
Aus der Dunkelheit tauchte eine hochgewachsene Gestalt auf. Dem Allerhöchsten Preis und Dank, es war Rakels Sohn, mein Vetter Yacov. Er war es, der mich zu den Hügeln getragen hatte, ehe er wieder in die Stadt zurückgekehrt war, um sich ein Bild von der Lage zu machen. »Sprich ein Gebet«, sagte Yacov. »Die Männer sind tot. Sie wurden zusammengetrieben und zum Tempel des Mondes gebracht und dort erschlagen. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen.«
»Papa?«, fragte ich.
Aus Yacovs Blick sprach Hoffnungslosigkeit. »Ja, Avigail. Und meinen Vater haben sie von der Bettkante eines Patienten gezerrt und zum Schlachten abgeführt. Dafür sind sie jetzt beim Allerhöchsten, gepriesen sei Sein Name.«
Tante Rakel schlug die Hände vors Gesicht. »Allerhöchster«, murmelte sie, »nimm ihre Seelen gnädig bei dir auf.« Ihr Schleier war verrutscht, gab volles kastanienbraunes Haar preis. Die gleiche Farbe wie die von Yacovs Haar und seinem Bart.
»Das ist das Ende von Jericho!«, erklang ein verzweifelter Ruf neben uns. »Das ist das Ende der Welt.«
»Der Pharao hat nicht die Absicht, die Stadt zu zerstören«, entgegnete Yacov. »Er hat vor, Jericho zu belagern. Schließlich ist es eine reiche Stadt an der Kreuzung vieler einträglicher Handelsrouten. Das bedeutet, dass unsere Häuser nicht zerstört werden, aber wir werden nicht dorthin zurückkönnen, denn die werden an ägyptische Bürger vergeben.« Und verbittert fügte er hinzu: »Der Pharao erweitert sein Imperium, indem er große und kleine Städte in Kanaan erobert und sie zu Vasallen Ägyptens macht.«
Meine Schwestern, neun und elf Jahre alt, wippten vor und zurück und wimmerten in ihre vors Gesicht geschlagenen Hände: »Was wird dann aus uns? Wo sollen wir hin?«
»Können wir nicht erst einmal abwarten, Yacov?«, fragte Tante Rakel. »Können wir nicht ausharren, bis die Feindseligkeiten abgeklungen sind, und dann vielleicht über die Rückgabe unseres Hauses verhandeln?« Ich sah, wie sie die Hände rang und um Haltung bemüht war. Meine Eltern tot, Rakels Ehemann erschlagen. Ihr und ihrem jungen Sohn kam es jetzt zu, dafür zu sorgen, dass wir, die mit heiler Haut davongekommen waren, überlebten.
Yacov schüttelte den Kopf. »Die Ägypter vergewaltigen die Frauen. Es geht ihnen darum, ägyptischen Samen zu verbreiten und durch ihre Bastard-Mischlinge die Loyalität zum Pharao zusätzlich zu untermauern. Mutter, du und die Mädchen dürft auf keinen Fall zurück.«
»Aber was soll das alles bezwecken, mein Sohn?« Rakel suchte verzweifelt nach einer Begründung für diese Katastrophe.
»Es heißt, der Pharao benötigt Arbeiter für den Aufbau seiner neuen Stadt im Nildelta. Seine Truppen überfallen die Länder südlich von hier, um Gefangene zu machen und sie in einem Gewaltmarsch nach Ägypten zu bringen. Hauptsächlich handelt es sich dabei um Habiru, nomadische Schäfer, die leicht zu überrumpeln sind, weil sie sich nicht verteidigen können. Aber auch Kanaaniter sind ihnen in die Hände gefallen.«
»Der Pharao muss verrückt sein«, stellte ich ernüchtert fest und legte die Arme um meine beiden kleinen Schwestern. »Die Habiru sind ein ungehobeltes Volk, das sich nur darauf versteht, Zelte aus Ziegenhäuten zu errichten. Aber doch nie und nimmer Gebäude aus Stein!«
»Avigail, sprich ein Gebet!«, wies mich Tante Rakel zurecht. »Es gehört sich nicht, abschätzig über ein Volk zu reden, von dem du nichts weißt.«
»Man wird die Habiru im Bau von Häusern unterweisen«, sagte Vetter Yacov.
Als meiner Tante Tränen über die Wangen liefen, fügte er hinzu: »Sorge dich nicht um Jericho, Mutter. Könige kommen und gehen, Königreiche erstehen und fallen. Jericho aber wird ewig sein. Keine Macht auf Erden kann diese gewaltigen Mauern zum Einstürzen bringen.«
Er richtete den Blick auf die Stadt, in der die Kämpfe bereits abebbten, und während er von »Überraschungsangriffen« und »gebrochenen Abkommen« sprach und sich darauf berief, auf welch heimtückische Weise Ägypten schon so oft den Frieden mit Jericho gebrochen hatte, spähte ich auf den Feldern vor der Stadt nach meiner Mutter aus. Eine Schönheit war sie gewesen, von allen geliebt, jetzt brutal niedergemetzelt. Ich wollte weinen, aber weder Tränen noch Trauer wollten sich einstellen. Es war, als hätte der Soldat hoch zu Ross mich ebenfalls erschlagen, als ob mein Leichnam neben dem meiner Mutter läge, schemenhaft und gefühllos.
Und wo war Benjamin? Mein Liebster, mein Verlobter?
»Wir müssen von hier weg«, sagte Yacov und stand auf. Er war erst achtzehn, wirkte aber, als er sich in seiner knielangen, in der Mitte gegürteten braunen Tunika und dem schwarzen Umhang um die Schultern über uns erhob, wie ein Riese. Er holte goldene Ringe aus seiner Schärpe. »Ich habe Geld. Wir werden uns zum Schutz mit anderen Familien zusammentun.«
»Wir können doch nicht einfach unser Zuhause aufgeben!«, rief Rakel.
»Mutter, sobald die Truppen des Pharaos die Stadt gesichert haben, werden sie diese Hügel nach Flüchtigen durchkämmen. Wir haben keine Wahl.«
Sie dachte darüber nach, sagte dann sehr ernst: »Ich hatte einen Traum, der diese Nacht voraussagte. Als ich meinem Gatten davon berichtete, meinte er, das habe nichts zu bedeuten, ich solle es vergessen. Jetzt aber habe ich begriffen, dass Träume Botschaften aus der unsichtbaren Welt sind. Möglicherweise sogar vom Allerhöchsten. Nichts auf sie zu geben ist falsch. Ich für meinen Teil werde nie wieder die prophetische Macht der Träume unterschätzen.«
An ihren Sohn gewandt, fuhr sie ruhig fort: »Wir haben Verwandte im Norden. Lass uns aufbrechen.« Sie, die Älteste von uns, bewahrte einen kühlen Kopf, und auch wenn sie jetzt Witwe war, durfte sie sich nicht den Luxus erlauben, ihren Gefühlen weiterhin freien Lauf zu lassen.
Dies hat sich mir von jener Nacht am tiefsten eingeprägt. Tante Rakels Kraft. Ihre Präsenz, die durch nichts aus der Ruhe zu bringen war. »Avigail«, sagte sie zu mir, »dir kommt es ab sofort zu, dich um deine Schwestern zu kümmern. Wir haben einen langen Weg vor uns. Wir müssen aufeinander achtgeben. Verlier nicht den Glauben. Der Allerhöchste wird uns zu einem neuen Zuhause im Norden führen. Und jetzt wollen wir beten und uns dann nach Ugarit in Syrien aufmachen.«
Ich schaute auf die Stadt, in der ich das Licht der Welt erblickt und in der ich nur Glückseligkeit und Sicherheit kennengelernt hatte, und spürte, wie mir das Herz brach. Der Schmerz war unerträglich. Mein Vater tot, mein Onkel tot. Meine Mutter, deren kopfloser Leichnam auf einem Acker lag. Und wo war Benjamin, mein Liebster? Obwohl Tante Rakel uns versicherte, dass die Verwandten in Ugarit uns aufnehmen würden, wusste ich, dass ich in jener fernen Stadt, in einem Haus, das nicht das unsere war, niemals glücklich sein würde.
Wir kehrten also Jericho den Rücken und begannen unseren kummervollen Exodus, klammerten uns aneinander, weinten, verließen unser angestammtes Zuhause mit nichts weiter als dem, was wir am Leibe trugen. Wir gingen auf in einem Strom heimatloser Flüchtlinge, ohne zu wissen, was die Zukunft für uns bereithielt. Aber auch wenn wir unsere wertvollen Besitztümer – Möbel aus Zedern- und Pinienholz, Vasen aus Alabaster und Malachit, Juwelen, die über Generationen hinweg weitervererbt worden waren – zurückließen, nahmen wir dennoch etwas Kostbares mit: die Geschichte unserer Familien, Namen, Ereignisse, Tragödien und Triumphe – aber auch Geheimnisse, die jede Familie hat –, alles immer wieder in Erinnerung gebracht und in unseren Herzen bewahrt. Wir mochten zwar unsere Häuser verlieren, unsere Identität hingegen niemals. Wir würden uns immer bewusst sein, dass wir Kanaaniter waren, Nachfahren von Shem, dem Sohn Noahs, und deshalb auserwählt von El, dem Allerhöchsten.
Für mich, Avigail bat Shemuel, geschah es nicht in jener Nacht, als Jericho an Ägypten fiel, nicht auf unserer Flucht nach Jerusalem, wo uns Freunde aufnahmen und mit Proviant für die vor uns liegende beschwerliche Wanderung versorgten, sondern irgendwo in den Ebenen von Sharon und Jesreel, irgendwo im Bergland westlich von Galiläa, als wir bei Nomaden und Schafhirten unser Lager aufschlugen – der alte Avraham, meine verwitwete Tante Rakel, ihr Sohn Yacov, meine beiden Schwestern, drei Diener und ich –, als ich zum Allerhöchsten für die Seelen meines Vaters, meines Onkels, meiner Mutter und meines geliebten Benjamin betete, als ich unter kalten, mir unbekannten Sternen schlief und meine Gedanken um meine ungewisse Zukunft kreisten, als ich in meine Hände schluchzte und glaubte, mein gebrochenes Herz würde nie wieder heilen – in jenem Moment geschah es, dass ich einen Schwur ablegte: heimlich, leise flüsternd, nur für mich bestimmt.
Ich schwor, mir nie wieder mein Zuhause wegnehmen zu lassen. Nie wieder zuzulassen, dass eine feindliche Macht meiner Familie ein Leid antat. Bis zum Ende meines Lebens, wo immer mein Weg mich hinführen, welch unbekannte Stadt, welch fremdes Land auch immer ich betreten würde, ich schwor mir, Wurzeln zu schlagen, einen Platz für mich und meine Familie zu beanspruchen und mich nie wieder vertreiben zu lassen wie in jener verhängnisvollen Nacht, als Jericho fiel …