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Atlas Stark, alleinerziehender Vater aus Seattle, ist am Limit. Als Witwer muss er sich nicht nur um seine kleine Tochter kümmern, sondern er nimmt auch noch das Baby seiner Cousine bei sich auf. Gleichzeitig ist er Partner in einer Anwaltskanzlei. Als dann seine Tochter immer eifersüchtiger auf das Baby wird, sucht Atlas Hilfe bei einer Kindertherapeutin. Er hat jedoch nicht damit gerechnet, dass die Therapeutin eine blonde und attraktive Traumfrau ist. Dumm nur, dass sie sich von der ersten Minute an streiten. Als er dann auch noch Textnachrichten einer unbekannten Frau erhält wird sein Leben immer turbulenter. Kunsttherapeutin Tessa Copelands Leben war noch nie einfach. Mit ihrer kranken Mutter war sie gezwungen, schneller als die meisten erwachsen zu werden. Als ihr Verlobter sie verlässt und auch ihren Hund mitnimmt, ist ihre Geduld am Ende. Voller Wut schreibt sie der Affäre ihres Ex-Verlobten Nachrichten und lässt ihren Gefühlen freien Lauf. Doch dann stellt sich heraus, dass Tessa an eine falsch Nummer schreibt. Und dann ist da auch noch dieser nervige Vater einer ihrer Patientinnen, der dauernd an ihren Therapiemethoden zweifelt …
Willkommen in Seattle, der Heimat der »Single Dads of Seattle«! Zehn attraktive alleinerziehende Väter, die jeden Samstagabend Poker spielen, sich gegenseitig helfen und zuhören, ihre Kinder über alles lieben und vor allem eines hoffen: eines Tages wieder die große Liebe zu finden. Dies ist Atlas Geschichte.
Alle Titel der Reihe »Single Dads of Seattle« können unabhängig voneinander gelesen werden.
Über Whitley Cox
Whitley Cox ist an der kanadischen Westküste geboren und aufgewachsen. Sie studierte Psychologie und unterrichtete zeitweise in Indonesien, bevor sie in ihre Heimat zurückkehrte. Heute ist sie mit ihrer Highschool-Liebe verheiratet und Mutter von zwei Töchtern.
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Flirting with
the Single Dad – Atlas
Übersetzt von Michelle Landau aus dem amerikanischen Englisch
Inhaltsübersicht
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Epilog
Impressum
Rumms!
»Was zum Teufel?«
Atlas Stark rieb sich die Stirn und gleich darauf die Hüfte, als er die Augen öffnete und sich auf dem Boden im Zimmer seiner Tochter wiederfand.
Er musste wieder einmal in Arias schmalem Kinderbett eingeschlafen sein, nachdem er ihr eine Gutenachtgeschichte vorgelesen hatte. Das passierte ihm in letzter Zeit häufig. Meistens wachte er dann mit einem furchtbar steifen Nacken und mindestens einer eingeschlafenen Hand auf, erschöpfter, als er es vor dem Einschlafen gewesen war.
Er war kein junger Mann mehr. Er brauchte den Komfort seines eigenen Bettes und seines therapeutischen Cool-Gel-Kissens. Doch Aria hatte – wie fast jeden Abend – gejammert, als er sie zugedeckt hatte, also hatte er nachgegeben, sich neben sie gekuschelt und ihr das zwölfte Buch des Abends vorgelesen. Er war nicht sicher, wer zuerst eingeschlafen war.
Sich den Schlaf aus den Augen reibend, richtete er sich zu seiner vollen Größe auf, mit knackendem Rücken und knirschenden Kniescheiben, bevor er sich über das Bett beugte, um seine Tochter auf die Wange zu küssen.
Verdammt, er hoffte, dass er nicht die ganze Nacht in ihrem Zimmer verbracht hatte – wäre nicht das erste Mal. Aber wenn das Glück endlich mal auf seiner Seite war, war es jetzt erst zehn oder elf, und er konnte noch in sein eigenes Bett fallen. Zumindest, wenn Cecily im Zimmer am anderen Ende des Flurs nicht wieder einen ihrer Ausraster hatte und von ihm gehalten werden wollte, während sie zwanzig Minuten lang an ihrer Flasche nuckelte.
Gähnend griff er nach seinem Handy, das auf der Kommode lag. Oh, Gott sei Dank, es war erst halb elf. Er rief seine verpassten Nachrichten auf, während er aus Arias Zimmer schlich, darauf bedacht, die Tür einen kleinen Spaltbreit offen zu lassen. Vergaß er das mal, musste er sich am nächsten Morgen von der Dreieinhalbjährigen ganz schön was anhören.
Es war nur eine Handvoll Nachrichten eingegangen – die meisten davon Arbeitsmails, und die konnten bis morgen warten. Doch vor zwei Minuten war eine Nachricht von einer unbekannten Nummer gekommen.
Auf dem Weg in die Küche kratzte er sich im Nacken, bevor er sich wie inzwischen jeden Abend zwei Fingerbreit Bourbon einschenkte. Die Flasche glitt ihm beinahe aus den Fingern, als er die Nachrichten – denn unerwarteterweise waren es gleich mehrere – des unbekannten Absenders las.
Wusstest du, dass Carlyle verlobt ist? Tja, jetzt weißt du es. Und falls du es schon wusstest: Schäm dich! Mit einem vergebenen Mann zu schlafen, also wirklich!
Wenn du ihn siehst, sag Carlyle bitte, dass er seine Sachen auf der Wiese vor MEINEM Apartment abholen kann. Und er beeilt sich wohl besser, es soll nachher noch gewittern.
Ich behalte den Ring. Dieses Arschloch hat fünf Jahre meines Lebens gestohlen.
Die ersten Nachrichten konnte man fast noch als höflich bezeichnen, rational, aber sie rutschten schnell immer weiter in Obszönitäten ab, Großbuchstaben und Ausrufezeichen.
Und noch was! WER ZUR HÖLLE NENNT SEIN KIND BITTE CARLYLE? Du kannst ihn gern haben! WER NENNT SICH DANN AUCH NOCH CARLYLE UND NICHT EINFACH CARL?! Nur überhebliche Arschlöcher tun das!
Carlyle reagiert nicht auf meine Anrufe oder Nachrichten. Ich gehe davon aus, er ist bei dir, also gib diese Nachrichten bitte an meinen verdammten Loser von EX-Verlobtem weiter.
Ich will meinen Hund zurück! Wer zur Hölle klaut denn einen Hund? Ich will ihn zurück, oder ich rufe die POLIZEI, besorge mir einen Anwalt und verklage seinen verfluchten Arsch.
Das Apartment läuft auf MEINEN NAMEN! Wenn er versucht, hier reinzukommen, rufe ich die Polizei! Ihr beide könnte euch mal INS KNIE FICKEN. Habt ein schönes Leben!
Atlas war inzwischen wieder hellwach, saß auf seiner Ledercouch und nippte an seinem Bourbon.
Antwortete man jemandem, der offensichtlich die falsche Nummer hatte? Vor allem jemandem, der so aufgebracht war?
Die Person hinter dieser Nummer verdiente es vermutlich, zu wissen, dass ihre Nachrichten nicht beim richtigen Empfänger angekommen waren, oder?
Aber wollte er sich wirklich mit ihr auseinandersetzen? Sie klang mehr als nur ein bisschen psycho.
Aber wer auch immer sich hinter der Nummer verbarg, der- oder diejenige hatte es zumindest verdient, seinen oder ihren Hund zurückzubekommen. Ein Hund war wie ein Familienmitglied. Wer zum Geier entführte ein Familienmitglied?
Er massierte sich kurz die Nasenwurzel, leerte dann seinen Whiskey und tippte eine kurze Nachricht an den wütenden Absender.
Sie haben die falsche Nummer. Ich bin ein Mann.
Dann schloss er die Augen und ließ sich von der Stille des Abends einhüllen. Er selbst war ein stiller Mensch, ließ den Fernseher immer nur auf gemäßigter Lautstärke laufen, ebenso das Autoradio. Er mochte es leise. Oder zumindest war das früher so gewesen.
Es war jetzt über eineinhalb Jahre her, dass seine Frau, seine beste Freundin, die andere Hälfte seines Herzens, gestorben war, ihn mit der bodenlosen Leere in seinem Inneren und der ohrenbetäubenden Stille in seinem Haus zurückgelassen hatte. Jetzt hasste er die Stille.
Samantha war das Licht seines Lebens gewesen. Sie war das Licht gewesen. Immer quirlig und gesprächig. Das Haus war niemals wirklich still, wenn sie da war – und das hatte ihn nicht im Geringsten gestört. Ganz egal, ob sie in der Küche gebacken, unten Klavier gespielt oder ihrer Tochter leise etwas vorgesummt hatte, seine Frau hatte ihr gemeinsames Zuhause mit ihren Geräuschen gefüllt … Geräuschen, die niemals ersetzt werden konnten.
Von dem Moment an, als sie sich im zweiten Jahr an der Highschool kennengelernt hatten, hatte er sie geliebt. Sie war freundlich und mutig. Furchtlos und optimistisch. Ganz egal, um was oder wen es ging, seine Frau war immer bereit gewesen, alles Mögliche auf sich zu nehmen, um jemandem – meistens einem völlig Fremden – etwas Gutes zu tun. Sie war ihrer Tochter die beste Mutter gewesen, die man sich nur vorstellen konnte, wenn auch nur für zwei Jahre.
Doch das Universum hatte Atlas seine Frau genommen. Hatte der Welt ein Licht genommen, das heller schien als die Sonne selbst. Und jetzt, nachdem sie fort war und die Kinder schliefen, saß er ganz allein in der erbarmungslosen Stille. In der alles verschlingenden Dunkelheit.
Nach Samanthas Tod war er in einem Strudel aus Zorn versunken. Er hasste sich dafür, dass er nicht mehr versucht hatte, um sie zu retten. Er hasste Samantha dafür, dass sie Frieden mit ihrem Tod geschlossen und alle weiteren Behandlungen abgelehnt hatte. Und er hasste den Arzt, der ihre Symptome ignoriert hatte, und die Krankenschwestern und Ärzte, die die Wünsche seiner Frau respektiert hatten, die Behandlung abzubrechen, obwohl er sie angefleht hatte, das nicht zu tun.
So viel Hass.
Das einzig Gute in seinem Leben war Aria. Seine süße, engelsgleiche, wunderschöne kleine Tochter. Das Ebenbild ihrer Mutter, sowohl äußerlich als auch was ihre Lebhaftigkeit anging. Schon eine Stunde nach der Geburt war ihm klar gewesen, dass er es mit einer wilden, furchtlosen Prinzessin zu tun haben würde, die immer das Krönchen und die gläsernen Schuhe wegwerfen würde, um barfuß durch den Schlamm zu laufen. Ihre Mutter war ganz genauso gewesen.
Und jetzt hatte er auch noch Cecily. Sie war nicht sein, aber irgendwie doch. Sie brauchte jemanden, und im Gegensatz zum Rest ihrer Familie war Atlas in der Lage, für sie zu sorgen.
Das Leben des Babys hatte sehr schwierig und gefährlich begonnen. Beide Eltern waren Meth-Dealer – Atlas’ Cousine Tamsin und ihr widerlicher Freund Ty –, und Cecily hatte die ersten drei Monate ihres Lebens in einem Haus verbracht, das zugleich ein Meth-Labor gewesen war. Und als dieses Meth-Labor in die Luft geflogen war, ihren Vater getötet und achtzig Prozent des Körpers ihrer Mutter verbrannt hatte, war Cecily unter einem Bett gefunden worden, kaum noch am Leben.
Seine Mutter hatte ihn aus Portland angerufen, kaum dass sie von der Sache mit Tamsin und Cecily erfahren hatte. Atlas und Aria hatten den nächsten Flug genommen. Seine Eltern hatten Tamsin aufgezogen, seit ihre Mutter – Atlas’ Tante – bei einem Autounfall ums Leben gekommen war und die dreizehnjährige Tochter allein zurückgelassen hatte. Atlas’ Eltern hatten die Vormundschaft übernommen, und er war eher ein großer Bruder für sie geworden als ein Cousin.
Doch Tamsin war nach dem Tod ihrer Mutter wild und unberechenbar geworden, hatte Atlas’ Eltern einiges abverlangt. In seinem letzten Jahr an der Highschool und während seiner Unizeit in Portland hatte er mehr Anrufe bekommen, als er zählen konnte, mit der Bitte, seine Cousine von irgendeiner abartigen Party abzuholen, die er freiwillig nicht mal in einem Schutzanzug betreten hätte.
Seine Eltern hatten ihr Bestes getan, aber Tamsins wilde Seite war einfach zu viel für sie gewesen. Er wusste, dass er sich bei ihrer Tochter mehr anstrengen musste.
Aber auch wenn Cecily diejenige war, die vernachlässigt aus einem Meth-Lab-Zuhause kam, war es Aria, seine eigene Tochter, die ihm dieser Tage ohne Ende Sorge bereitete. Ihr Verhalten und das ständige Verlangen nach Aufmerksamkeit strapazierten seine Nerven. Noch schlimmer war es jedoch, dass sie begonnen hatte, ihre Frustration und Aggressionen an Cecily auszulassen. Jenny, ihre sehr großmütterliche Nanny, hatte Atlas nun schon mehrfach in der Arbeit anrufen müssen, weil Aria Cecily geschlagen, gekratzt oder ihr ins Gesicht geschrien hatte.
Er war am Ende seiner Weisheit. Er liebte seine Tochter mehr als sein eigenes Leben, und er wusste, dass sie nicht nur mit dem Verlust ihrer Mutter zu kämpfen hatte, sondern jetzt auch noch mit dem neuen Baby in ihrem Leben und der Tatsache, dass ihre Vater ständig arbeitete. Für eine Dreieinhalbjährige war das ganz schön viel. Ach was, selbst Atlas mit seinen neununddreißig Jahren hatte noch genug damit zu kämpfen, das alles zu verarbeiten und zu akzeptieren. War das Leben immer so schwer?
Jedenfalls hatte er deswegen, wider besseres Wissen und trotz seines Mangels an Vertrauen in esoterische Künstlertypen, einen Termin für Aria bei der Kunsttherapeutin ausgemacht, die ihm sein Kumpel und Mit-Single-Dad Zak empfohlen hatte. Am Montag war es so weit.
Er war so tief in Gedanken versunken, im Strudel seiner nicht enden wollenden Probleme verloren, die Augen wieder geschlossen, dass er vor Schreck beinahe vom Sofa sprang, als sein Handy vibrierte.
Er öffnete die Augen und warf einen Blick aufs Display. Wieder eine Nachricht von dieser unbekannten Nummer.
Tut mir leid. Du musst mich für vollkommen verrückt halten. Das bin ich nicht. Wirklich. Nur verletzt. Und wütend. Und ich vermisse meinen Hund.
So sehr.
Ein bizarres Gefühl stieg in seiner Brust auf.
Er tippte schon drauflos, bevor er wirklich wusste, was er da tat.
Kein Problem. Es tut mir sehr leid, dass dein Verlobter fremdgegangen ist und deinen Hund gestohlen hat. Ich hoffe, es fängt an zu regnen, bevor er sein Zeug abholen kommt.
Er lachte leise, als er sich vorstellte, wie dieser fremdgehende Arsch im strömenden Regen über den Rasen rannte und versuchte, seine weltlichen Besitztümer einzusammeln. Aus irgendeinem merkwürdigen Grund sandte dieses Bild ein Lächeln auf seine Lippen und Wärme in seine Glieder.
Machte ihn das zu einem Psycho?
Selbst wenn es nicht regnet … Ich habe mir extra viel Mühe gegeben und all seine Klamotten vorher noch in die Dusche geworfen. Nur um sicherzugehen.
Er warf den Kopf in den Nacken und lachte, überrascht, wie gut und gleichzeitig fremd es sich anfühlte, so breit zu grinsen, so laut zu lachen.
Anhand ihrer Vorwahl konnte er ablesen, dass sie ebenfalls irgendwo in Seattle lebte. Er schreib zurück: Das war sehr klug. Unglaublich durchtrieben, aber sehr klug. Hast du schon mal vom Rage Room gehört? Da kann man Sachen zerstören und dabei super seine Wut rauslassen, ohne zum gesuchten Verbrecher zu werden.
Eigentlich hatte er vorgehabt, nach seinem Schlummertrunk direkt ins Bett zu gehen, doch jetzt ging er zurück in die Küche, schenkte sich nach und setzte sich dann wieder aufs Sofa, wartete – und hoffte – auf eine Antwort von dieser Unbekannten.
Sein Handy vibrierte.
Ja, ich habe schon vom Rage Room gehört. Ich war noch nie da, aber vielleicht sollte ich mal hingehen. Am liebsten würde ich Carlyles Gesicht mit einem Baseballschläger zertrümmern.
Oh, da konnte ihr Luna, die Betreiberin des Rage Rooms, definitiv behilflich sein.
Nimm ein Bild von ihm mit, das kann Luna dann in einen kitschigen Rahmen stecken, den du zertrümmern darfst … samt seinem Gesicht. Ich kenne ein paar Leute, die das schon gemacht haben, und denen hat es echt gut getan.
Plötzlich wurde ihm etwas klar: Er wusste nicht mal, ob die Person, mit der er da schrieb, weiblich oder männlich war.
Nicht, dass es wirklich von Bedeutung war, schließlich flirteten sie ja nicht oder so, aber er war einfach davon ausgegangen, dass es sich um eine Frau handelte. Genauso gut konnte es aber auch ein Mann sein, der mit einem anderen Mann verlobt gewesen war.
Auch Männer schenkten sich manchmal Verlobungsringe, oder?
Liebe war Liebe und dieses ganze Regenbogenzeug. Er war mit Aria und all den anderen Single Dads zur letzten Pride Parade in Seattle gegangen. Aber er persönlich wollte nichts mit einem anderen Schwanz zu tun haben.
Nicht, dass er noch Interesse an Frauen gehabt hätte. Der Zug war abgefahren, von den Gleisen abgekommen und spontan explodiert, als Samantha gestorben war. Er würde niemals eine andere Frau lieben – das war ihm klargeworden, als sie in seinen Armen ihren letzten Atemzug getan hatte.
Konnte er einfach so fragen, ob diese Person ein Mann oder eine Frau war?
Kümmerte es ihn überhaupt?
Und wenn ja, wieso?
Er nahm einen tiefen Schluck von seinem Bourbon und behielt den Alkohol auf der Zunge, während er eine Nachricht tippte. Was ist deine Lieblings-Aftershave-Marke?
Kaum, dass er auf »Senden« getippt hatte, schlug er sich schon mit der Hand vor die Stirn. Was zum Teufel war das denn bitte?
Hatte er wirklich gerade einen vollkommen fremden Menschen gefragt, welches Aftershave ihm oder ihr am besten gefiel?
Er schloss die Augen und zählte bis zehn, hoffte, dass ihm diese bescheuerte Nachricht nicht immer noch entgegenblinkte, wenn er die Augen wieder öffnete.
Sein Handy vibrierte, bevor er bei zehn angekommen war.
Ich liebe Old Spice an Männern.
Mist, das half überhaupt nicht. Mann oder eine Frau? Er wusste es immer noch nicht.
Noch eine Nachricht traf ein. Willst du wissen, ob ich weiblich oder männlich bin?
Scheiße. Verlegen schreib er zurück: Ja, bitte.
Ich bin eine Frau, aber ich werde dir keine Fotos schicken, um das zu beweisen. Und das war auch keine Einladung, mir irgendwelche Schwanzbilder zu schicken. Ich habe dir geglaubt, als du gesagt hast, du bist ein Mann. Also glaub mir auch einfach, dass ich eine Frau bin.
Er starrte die Nachricht an.
Neckte sie ihn, oder war sie wirklich sauer?
Er musste es herausfinden.
Keine Schwanzbilder von mir, versprochen. Ich wette, du hast genug Fotos von diesem Schlappschwanz von Ex-Verlobten bei dir rumliegen, dass du nicht noch mehr brauchst, um ein anständiges Lagerfeuer zu machen.
Er hielt den Atem an.
Sekunden später vibrierte sein Handy erneut.
Dieses Lagerfeuer ist RIESIG! Und danke, dass du meinen Wunsch respektierst, keine Schwanzbilder von irgendwelchen dahergelaufenen Typen sehen zu wollen.
Er atmete erleichtert auf, bevor er noch einen Schluck von seinem Bourbon nahm.
Ich bin so was von respektvoll. Und dahergelaufen.
Das hier war verdammt merkwürdig.
So etwas hatte er in seinem ganzen Leben noch nie getan, und trotzdem hatte er gerade tatsächlich Spaß. Vielleicht weil diese »Frau« überhaupt nichts über ihn wusste – im Gegensatz zu allen anderen Menschen in seinem Leben – und er sich einfach entspannen konnte. Nicht, dass sie hier tiefgründige, persönliche Gespräche führten – das war das absolut Letzte, was er wollte –, aber es war einfach nett, sich mit jemandem zu »unterhalten«, der nicht wusste, dass er eine tote Frau, eine durchgedrehte Dreijährige und ein Meth-Dealer-Baby hatte. Sosehr er sich auch bemühte, das alles zu verbergen, sein Gepäck war einfach zu groß und platzte immer wieder aus dem Schrank, in den er es stopfte.
Er leerte sein Glas und stand auf.
Ich hoffe, du bekommst deinen Hund wieder.
Er wünschte, er hätte Zeit für einen Hund. Er liebte Hunde. Aber mit seiner anspruchsvollen Karriere und seinen aufmerksamkeitshungrigen Kindern konnte er einem Hund nicht gerecht werden. Das arme Tier würde nie die Liebe und Zuwendung bekommen, die es verdiente. Atlas war schon jetzt völlig überlastet. Er fände es toll, einen Hund zu haben, der jetzt hinter ihm den Flur entlangtrotten würde, sich schon darauf freute, gleich aufs Bett zu springen und Atlas’ Kissen in Beschlag zu nehmen. Aber wenn dann der nächste Morgen käme und wie immer das Chaos über ihn hereinbrach, er mit Aria kämpfen musste, um sie in ihre Klamotten zu bekommen, Cecily fütterte, sich selbst die Zähne putzte und seine Krawatte band, dann wäre dieser arme Hund schnell vergessen, oder schlimmer noch: Er würde beschimpft werden, weil er ihm in die Quere kam.
Er wollte einen Hund. Brauchte vermutlich sogar einen. Aber im Moment konnte kein Hund dieser Welt ihn gebrauchen, nicht in seiner momentanen Verfassung.
Ich auch. Meinst du, ich sollte mir einen Anwalt besorgen?
Tja, das zumindest konnte er ihr beantworten.
Wenn er den Hund wirklich gestohlen hat, dann ja. Der Hund ist dein Eigentum und wurde dir weggenommen.
Wir haben den Hund zusammen adoptiert. Aber … gefühlt gehört er mehr mir.
Ah, jetzt wurde es kompliziert. Hätte sie den Hund adoptiert, bevor sie und dieser Carlyle zusammengekommen waren, wäre die Sache vollkommen klar. Aber da der Hund ihnen gemeinsam gehörte, hatte dieser Idiot Carlyle genauso viel Anspruch auf ihn wie sie. Ob Diebstahl oder nicht, das war für gewöhnlich keine Frage, für die Anwälte eingeschaltet wurden. Leider wurde ein Hund im Normalfall nur als Nebensächlichkeit angesehen und über das Sorgerecht für so ein Tier, wenn überhaupt, nur ohne Anwälte vor einem kleinen Gericht entschieden.
Doch der Gedanke, dass sie ihren Hund verlieren könnte, weil sie schlecht vorbereitet vor so ein Gericht trat, nagte an ihm.
Er schrieb zurück: So etwas wird normalerweise ohne Anwälte vor Gericht entschieden. ABER: Ich würde dir empfehlen, trotzdem einen Rechtsbeistand zu suchen, einfach um dir einen Vorteil zu verschaffen. Lieber zu gut vorbereitet als zu schlecht.
Rechtsbeistand, das Wort benutzen doch nur Anwälte. Warte mal … bist DU ein Rechtsbeistand?
Nicht für irgendeine dahergelaufene SMS-Schreiberin. Mögen die Flöhe von tausend Kamelen die Weichteile deines geliebten Carlyle bevölkern.
Das war Samanthas Lieblingsbeleidigung gewesen. Mögen die Flöhe von tausend Kamelen die Weichteile der Person befallen, die deinen Tag ruiniert. Er schnaubte und lächelte, als er das Licht in seinem Schlafzimmer anknipste und ihr wunderschönes Gesicht und noch schöneres und strahlenderes Lächeln ihm von seinem Nachttisch aus entgegensah. Sie war das bezauberndste Wesen, das er jemals gesehen hatte. Schön und liebenswürdig und so stark. Aria kam in jeder Hinsicht nach ihr. Helle Haut, hellblondes Haar, einzigartige haselnussbraune Augen. Und ihr Lächeln … Wenn Aria lächelte, war es wirklich, als würde Samantha ihn anlächeln – durch ihre Tochter.
Er zog sich bis auf die schwarzen Boxershorts aus, bevor er sein Handy neben Samanthas Bild ans Ladekabel anschloss. Das Foto war von ihrer Hochzeit, sie war nie so unglaublich schön gewesen wie damals – zumindest bis zu dem Tag, an dem Aria geboren wurde. Als Mutter war sie beinahe engelsgleich gewesen.
Nachdem er sich die Zähne geputzt, eine Ladung kaltes Wasser ins Gesicht geworfen und die immer dunkler werdenden Ringe unter seinen Augen inspiziert hatte, löschte er das Licht und kroch unter die Decke.
Auch eineinhalb Jahre nach dem Tod seiner Frau brachte er es immer noch nicht über sich, mehr als seine Hälfte des King-Size-Betts zu beanspruchen. Nur wenn Aria zum Kuscheln in sein Bett kam, verließ er überhaupt mal seine Seite. Abgesehen davon blieb Samanthas linke Hälfte der Matratze unberührt.
Er drehte sich auf die Seite, mit dem Gesicht zum Nachttisch, zu Samantha, und sagte ihr gute Nacht, so wie er es immer tat. Nie laut ausgesprochen, nur in Gedanken. Er wiederholte ihre Gelübde, bat sie, für immer sein zu sein.
Sobald sie wie jeden Abend »Ja« gesagt hatte, schloss er die Augen und wünschte sich den Schlaf herbei. Gott allein wusste, wie viel Zeit ihm noch blieb, bis eins der Mädchen aufwachte und etwas von ihm wollte. Er wünschte wirklich, Jenny, die Nanny, könnte bei ihnen einziehen. Aber sie hatte einen Mann, zu dem sie jeden Abend nach Hause gehen konnte, und sie hatte, wie sie es ausdrückte, die Nacht- und Frühschichten schon bei ihren eigenen Kindern mitgemacht, die inzwischen alle erwachsen waren. Jetzt wollte sie ihren Schlaf.
Er hatte schon häufig überlegt, eine neue Nanny zu suchen, eine, die bei ihnen wohnen konnte. Aber Jenny war einfach so verdammt gut in ihrem Job. Aria liebte sie. Cecily beruhigte sich in Jennys Armen immer sofort, und sie kochte – und putzte. Die Vorteile überwogen also, und er hatte sie behalten, obwohl er sich jeden Tag wünschte, dass sie zumindest bereit wäre, ein paar Überstunden zu machen. Doch das war sie nicht. Zum Glück halfen die Single Dads und ihre Freundinnen und Frauen oft aus, wenn Jenny nicht konnte. Sein Job als Senior Partner bei Wallace, Dixon & Travers war anspruchsvoll, und da seine Beförderung zum Namenspartner kurz bevorstand, waren seine Arbeitszeiten im Moment absolut irre. Er wusste wirklich nicht, was er ohne die Single Dads oder Jenny tun würde. Sie alle retteten ihm regelmäßig das Leben, den Job und seinen Verstand.
Er war schon halb eingeschlafen, als das Handy auf seinem Nachttisch noch einmal vibrierte.
O Gott, bitte lass es nicht Jenny sein, die sich für morgen krankmeldet. Ich muss morgen früh zu einer eidesstattlichen Aussage und um eins vor Gericht erscheinen.
Er griff nach seinem Telefon und rief die Nachricht auf.
Sie war von der unglücklichen Fremden.
Die Flöhe von tausend Kamelen? Das muss ganz schön jucken. Ich hatte mir einfach gewünscht, dass sein Schwanz gleich ganz abfällt, aber dein Wunsch gefällt mir auch.
Er lachte leise, drehte sich dann auf den Rücken und tippte: Heute ist es leider zu bewölkt, um eine Sternschnuppe zu sehen, aber wenn ich eine Schnapszahl auf der Uhr in meinem Auto sehe oder eine Wimper oder so was, dann wünsche ich mir auf jeden Fall, dass Carlyles Schwanz spontan abfault UND dass die Flöhe von tausend Kamelen seinen Stumpf befallen.
Ein leichter Schmerz pulsierte in seinem Kinn, und er hob die freie Hand, um die Stelle zu massieren. Erst da fiel ihm auf, dass seine Wangen und seine Kiefermuskeln schmerzten, weil er lächelte.
Verdammt, war sein letztes Lächeln wirklich so lange her, dass seine Muskeln sich schon nach ein paar Sekunden verkrampften?
Ihre Antwort traf ein.
Danke für heute Abend. Ich war auf dem Kriegspfad, und du hast mich wieder zurück in die Realität geholt. Das hatte ich dringend nötig. Du bist sehr nett für einen Fremden. Gute Nacht.
Sie hatte die Nachricht mit einem lächelnden Emoji beendet, was ihn selbst auch wieder zum Lächeln brachte. Gänsehaut zog sich über seine Arme und seine nackte Brust. Er hatte keine Ahnung, wie diese Frau aussah, keine Ahnung, wie alt sie war oder womit sie ihr Geld verdiente, aber bei dem Gedanken, dass er ihr geholfen hatte, stieg ein eigenartiges Gefühl in ihm auf.
Er grinste noch breiter, drehte sich wieder auf die Seite, während er noch Gute Nacht tippte, doch als der Blick aus Samanthas haselnussbraunen Augen ihn traf, versank sein Lächeln wie ein Stein in einem Teich.
Er legte das Handy weg, ohne ihr noch einmal zu antworten, drehte sich dann zurück auf den Rücken.
Verflucht. Er genoss das witzige Geplänkel mit einer anderen Frau. Er flirtete … irgendwie. Und damit – seine Kehle schnürte sich schmerzhaft zusammen, als er mit leerem Blick zur Decke hinauf starrte – betrog er die Liebe seines Lebens.
Tessa Copeland raffte die langen blonden Locken im Nacken zusammen und legte sie über eine Schulter. Nachdem sie noch ein paar lose Strähnen hinter ihre Ohren geschoben hatte, räumte sie ihre Farben zusammen und drehte die Leinwand, an der sie gearbeitet hatte, zum Fenster, weg von der Tür. Um vier kam eine neue Klientin, und auch wenn sie sich nicht für ihre Kunst schämte, diese Arbeit war noch nicht fertig, und sie konnte darauf verzichten, dass neugierige Augen ihr unvollendetes Werk begutachteten.
Sie hatte ihre Duftlampe mit einer stresslindernden und beruhigenden Mischung aus Zeder, Ylang-Ylang, Patschuli, Lavendel und Bergamotte befüllt, doch auch wenn ihr Studio jetzt angenehm duftete, wollte sich die Anspannung in Schultern und Kiefer einfach nicht lösen.
Als sie sich die Hände wusch, fuhr sie mit dem Daumen über den Ringfinger ihrer linken Hand. Sie hatte sich den Ring vom Finger gerissen und ihn gegen die Wand geworfen, kaum dass sie die Fotos entdeckt hatte. Jetzt steckte er in einer kleinen Schachtel in ihrer Unterwäscheschublade, und ihre Hand fühlte sich ungewohnt leicht an, sah definitiv viel langweiliger aus. Eine schmale Linie hellere Haut zeichnete sich an ihrem Ringfinger ab, eine schmerzhafte Erinnerung an das, was mal gewesen war.
Noch vor zwei Tagen war sie fest davon ausgegangen, dass sie den Rest ihres Lebens mit Carlyle Rickson verbringen würde. Bis dass der Tod uns scheidet. Vor drei Jahren am Silvesterabend war er auf der Aussichtsplattform der Space Needle vor ihr auf die Knie gesunken, hatte ihr versprochen, sie für immer zu lieben und den Rest seines Lebens alles dafür zu tun, sie so glücklich zu machen wie sie ihn.
Gestern hatte sie dann Carlyles uraltes iPad rumliegen sehen – was allein schon sehr ungewöhnlich war. Sie hatte es angeschlossen, und weil es so alt war, hatte sie noch nicht mal ein Passwort eingeben müssen. Und was war direkt vor ihrer Nase aufgeploppt? Bilder von ihm und einer anderen Frau … im Bett. Und dann all die Nachrichten, die zwischen ihm und dieser anderen Frau, Blaire, hin- und hergegangen waren, voller sexy Bilder und anzüglichem Sexting.
Jede Zelle in ihrem Körper war zu Eis erstarrt, ihre Hände hatten zu zittern begonnen, ihre Zähne hatten geklappert, als wäre sie in einen heftigen Eisregen geraten. Doch draußen vor dem Fenster war kein Eisregen gewesen. Es war ein herrlicher, warmer Maitag in Seattle, voller Blumen, Vögel, Schmetterlinge und mit ungewöhnlich wenig Regen.
Zu schade, dass sie dieses Wetter und die Blumen auf ihrem Fenstersims nicht mehr genießen konnte, nachdem sie herausgefunden hatte, dass der Mann, mit dem sie seit fünf Jahren zusammen und seit drei verlobt war, sie betrog. Noch dazu war seine Beziehung mit Blair nicht neu. Die Nachrichten, die er mit dieser Frau gewechselt hatte, reichten beinahe ein ganzes Jahr zurück.
Ein Jahr lang hatte er ein Doppelleben geführt. Hatte Tessa betrogen, während er immer noch so getan hatte, als liebte er sie, als wollte er eine Zukunft und eine Familie mit ihr.
Tja, jetzt nicht mehr.
Sie hatte all seine Sachen in die Badewanne geschmissen und sie dann tiefend nass auf die Rasenfläche vor ihrem Wohngebäude geworfen. Ob es regnete oder nicht, sein ganzer Scheiß war auf jeden Fall hinüber.
Eine Träne rollte über ihre Wange, als sie das Wasser abdrehte und sich die Hände abtrocknete. Als ob es nicht schon genug wehtat, Carlyle und ihre gemeinsame Zukunft zu verlieren, hatte er auch noch ihren Hund Forest geklaut.
Wer klaute denn einen Hund?
Sie war sich ziemlich sicher, dass Carlyle Forest nicht mal besonders gern mochte.
Forest hatte auch nie allzu viel für Carlyle übriggehabt – vermutlich, weil der immer Forests Platz in Tessas Bett für sich beansprucht hatte. Vielleicht hätte sie auf die Proteste ihres Hundes hören sollen. Hieß es nicht immer, dass Tiere einen sechsten Sinn haben?
Jetzt hatte sie keinen Carlyle mehr und, was noch viel schlimmer war, auch keinen Forest.
Ihr fremdgehender Ex war von elitären Country-Club-Eltern in Georgia großgezogen worden, die sich mehr um den neuesten Tratsch und anstehende Tennisturniere kümmerten als um ihr einziges Kind. Die waren also keine Hilfe. Carlyle selbst reagierte nicht auf ihre Anrufe oder Nachrichten, und seine Sprachbox war inzwischen voll. Sie hatte keine Ahnung, wo er war. Sie hatte die wenigen seiner Freunde angerufen, die sie kannte, aber entweder hielten die zu ihrem Kumpel, oder sie wussten wirklich nicht, wo er steckte.
Schließlich hatte sie sich gefragt, ob sie Blaire schreiben sollte. Nachdem sie gestern Abend drei Gläser Wein in unter dreißig Minuten getrunken hatte, hatte sie sich überwunden, aber aus Versehen einem völlig Fremden geschrieben, bei dem sie ihre ganze irrsinnige Wut abgeladen hatte. Jetzt war sie sich nicht mehr sicher, ob es eine gute Idee war, Blaire zu schreiben, betrunken oder nüchtern.
Allerdings hatte sie sich deutlich besser gefühlt, nachdem sie ein paar Nachrichten mit dem Typen hinter der falschen Nummer gewechselt hatte. Wer auch immer er war, wo auch immer er war, er hatte sie zum Lachen gebracht. Und das wollte was heißen.
Wer hätte gedacht, dass ihre Neigung zu Buchstabendrehern, dank der sie 6789 statt 7689 getippt hatte, sich irgendwann noch als wahrer Segen entpuppen würde? Als sie ihre wütenden Nachrichten noch einmal gelesen hatte, war ihr erst wirklich bewusst geworden, wie absolut durchgedreht sie klang. Zum Glück war der Fremde verständnisvoll und cool damit umgegangen.
Das hätte auch ganz anders laufen können. Wenn sie den Falschen erwischt hätte, hätte sie vielleicht sogar wegen Belästigung angezeigt werden können oder so.
Als ihr Blick auf den Hundekorb in der Ecke ihres Kunst- und Therapiestudios fiel, wurde ihre Kehle eng, und wieder traten ihr Tränen in die Augen.
Forest.
Gott, wie sehr er ihr fehlte.
Sie hoffte, dass es ihm gut ging. Dass Carlyle sich gut um ihn kümmerte. Normalerweise kam Forest jeden Tag mit ihr zur Arbeit, aber gestern hatte Carlyle darum gebeten, dass Forest bei ihm zu Hause blieb. Zu dem Zeitpunkt hatte sie sich nichts dabei gedacht. War davon ausgegangen, dass ihr Verlobter seinen freien Tag nutzen wollte, um mit Forest in den Park zu gehen. Nicht im Traum wäre sie darauf gekommen, dass sie nach Hause kommen und dort weder Carlyle noch Forest, dafür nur eine merkwürdige Stimmung vorfinden würde. Ein paar seiner Hemden und Hosen fehlten, aber der Großteil seiner Sachen war noch in der Wohnung gewesen. Als es Zeit fürs Abendessen wurde, hatte sie sich langsam Sorgen gemacht. Sie hatte angerufen und geschrieben, aber keine Antwort bekommen. Ging es den beiden gut?
Erst als sie das iPad und die Beweise für seine Affäre gefunden hatte, war ihr klar geworden, wo er sein musste.
War das von Anfang an Carlyles Plan gewesen? Hatte er das iPad absichtlich herumliegen lassen, damit sie es fand? Wollte er ihre Beziehung so beenden? Wieso war er dann nicht gleich ganz ausgezogen, während sie auf der Arbeit war? Wieso hatte er den Hund mitgenommen? Das ergab doch alles keinen Sinn.
Was für ein Feigling.
Sie ging neben Forests Schlafplatz in die Hocke, fuhr mit der Hand über das verblichene, aber saubere und weiche Kissen. Die hölzernen Armreifen klimperten an ihrem Handgelenk. Forest liebte sein Körbchen.
Tatsächlich gab es nicht viel, was ihr Mischling nicht liebte – abgesehen von Carlyle. Auch wenn sie ihn gemeinsam adoptiert hatten, hatte Forest immer schon Tessa bevorzugt.
Als Labrador-Collie-Schäferhund-Malamute-Mix war er ein unglaublich hübsches Tier, mit ausdrucksvollen hellbraunen Augen, großen Tatzen, dichtem, langem dunkelbraunem Fell und dem größten Herzen, das man sich vorstellen konnte.
Ihr eigenes Herz zog sich beim Gedanken daran, ihn niemals wiederzusehen, schmerzhaft zusammen, mehr noch als beim Gedanken, Carlyle nie wiederzusehen. Denn im Gegensatz zu Carlyle hatte Forest sie nicht verletzt. Er hatte sie immer nur geliebt, trotz all ihrer Fehler und Eigenheiten. Ihr war ein Teil ihrer Seele genommen worden. Jetzt klaffte ein Loch in ihrem Herzen, so groß wie ihr fünfundzwanzig Kilo schwerer bester Freund, und es konnte niemals geflickt werden, niemals heilen.
Sie sank auf den Boden, als ein Schluchzen aus ihrer Kehle hervorbrach. Ihr fließender, türkis gemusterter Boho-Rock legte sich um ihre Beine wie ein Wasserfall. Trauer und Schmerz, Wut und Angst brannten in ihrer Brust wie ein Feuer, das sie nicht bändigen konnte. Es versengte sie von innen heraus, bis ihr ganzer Körper von den Flammen dieser Qual, dieses Verlusts verschlungen wurde und sie sich nicht sicher war, ob sie sich jemals davon erholen würde.
Sie war fünfunddreißig Jahre alt, hatte fünf Jahre ihres Lebens an Carlyle verschwendet, und jetzt musste sie von vorn beginnen. Und ihr blieb nicht mal ihr geliebter Hund, um ihr durch diese schwere Phase zu helfen. Carlyle hatte ihr alles genommen. Alles, was wichtig war. Ihren Hund, ihre Zukunft, ihr Vertrauen.
Mit dem Saum ihrer weißen Strickjacke tupfte sie sich die Augen ab, bevor sie sich erhob, um zum Spiegel zu gehen.
Es war nicht akzeptabel, dass ihre neue Klientin und deren Vater sie in so einem Zustand sahen. Eine Therapeutin, die ihre eigenen Probleme nicht auf die Reihe bekam, weckte nicht unbedingt das größte Vertrauen.
Ihre goldenen Römersandalen klatschten leise auf den weißen Fliesen ihres hellen und offenen Studios, als sie quer durch den Raum zum Spiegel ging.
Was ihr daraus entgegensah, war eine traurige, einsame, gebrochene Frau. Gerötete blaue Augen, verquollen und müde. Auf ihren Wangen blühten rote Flecken, und ihre Nase lief. Sie zog ein Kleenex aus der Packung unter dem Spiegel und schnäuzte sich.
Mit einem weiteren Tuch tupfte sie sich die restlichen Tränen aus den Augenwinkeln, bevor sie etwas Lipgloss auftrug, in der Hoffnung, dass sie damit einfach nur so aussah, als wäre sie in der kühlen Morgenluft spazieren gewesen, und nicht, als hätte sie tränenreich den Verlust ihres besten Freundes und ihrer Zukunft bejammert, einer Zukunft, die sie bis zu den Namen und Zweitnamen ihrer drei Kinder durchgeplant hatte. Zwei Mädchen und ein Junge.
Es war verrückt, dass das kleine Mädchen, das in ein paar Minuten ihr Studio betreten würde, genau den Namen trug, der ganz oben auf ihrer Liste stand. Aria.
Und dazu noch Aria Stark.
Ihre Eltern mussten definitiv Game of Thrones-Fans sein. Auch wenn der Namen anders geschrieben wurde. Aria, nicht Arya.
Tessa hätte sich bei ihrer Tochter ebenfalls für die Schreibweise mit I statt Y entschieden.
Aria Jocelyn. Aria, weil eine Arie ein wunderschönes Musikstück war, das sie oft zu Tränen rührte, und Jocelyn nach ihrer Großmutter.
Der Name Zoe gefiel ihr auch. Zoe Rosalie. Aber Carlyle fand den Namen bescheuert.
Carlyle war bescheuert.
Der Name Carlyle war bescheuert.
Genauso wie der Name Blaire.
Für einen Jungen hatte sie immer Magnus im Kopf gehabt. Magnus Bruno. Bruno nach ihrem Vater, natürlich, und Magnus, weil es ein so starker und ungewöhnlicher Name war.
Aber da sie jetzt mit fünfunddreißig noch mal damit beginnen musste, einen Mann zu suchen, konnte sie sich vermutlich von Aria, Zoe und Magnus verabschieden. Wenn sie Glück hatte, würde sie vielleicht ein Kind bekommen, bevor ihre Eizellen aufgebraucht waren oder … sie das gleiche Schicksal ereilte wie ihre Mutter.
Vielleicht war es besser, wenn sie keine Kinder hatte. Vielleicht war das hier ein Zeichen. Sie war nicht dazu auserwählt, Mutter zu sein. Schließlich wusste sie aus eigener Erfahrung, wie schwer es war, mit einer kranken Mutter umzugehen. Sie konnte sich nicht vorstellen, ihren eigenen Kindern das anzutun. Niemals.
Sie verbrachte schon jetzt einen Großteil ihrer Tage damit, sich zu fragen, ob hinter einem unglücklichen Moment, einer plötzlichen Stimmungsschwankung vielleicht doch mehr steckte. Ob ein richtig schlechter Tag vielleicht der erste Schritt in Richtung einer manischen Depression war, ob es von da an nur noch bergab ging, so schnell und so weit, dass sie sich nicht mehr zurück nach oben kämpfen konnte. Und jedes Mal, wenn sie etwas vergaß, ob es nun ihre Schlüssel waren oder was sie im Supermarkt besorgen wollte – obwohl es auf der Liste stand –, konnte sie die quälende Angst nicht abschütteln, dass das große A sie holen kam, genau wie ihre Mutter.
Alzheimer.
Die Krankheit hatte ihre Mutter mit fünfundvierzig erwischt. Im Nachhinein war sie sich jedoch fast sicher, dass es schon deutlich früher losgegangen war, angesichts dessen, wie sie und ihr Vater immer mit den depressiven Anfällen ihrer Mutter zu kämpfen gehabt hatten. Sie hatten die Krankheit damals nur noch nicht erkannt.
Inzwischen lebte ihre Mutter in einem Heim, war nur noch selten bei klarem Verstand und erkannte Tessa an den meisten Tagen überhaupt nicht mehr. Lily verbrachte beinahe ihre gesamte Zeit vor dem Fenster in ihrem Zimmer, bemalte eine Leinwand nach der anderen mit dem immergleichen Motiv – ein Baby in den Armen seiner Mutter.
Mit einem tiefen, stärkenden Atemzug versuchte Tessa ihre Trauer abzuschütteln, so gut es ging.
Sie musste sich in Therapiemodus bringen.
Sie war hier, um Menschen zu helfen.
Und heute, jetzt, war sie hier, um einem dreijährigen Mädchen dabei zu helfen, ihre Frustrationen zu bändigen und ihr auf positive, ungefährliche Art und Weise Ausdruck zu verleihen.
Sie zupfte ihr hellrosa Top zurecht, vergewisserte sich, dass sie nicht zu viel Ausschnitt zeigte, drehte den Verschluss ihrer langen Kette mit dem Kristallanhänger nach hinten – angeblich ein Heilkristall, aber sie fühlte sich nicht mal ansatzweise geheilt – und lächelte ihr Spiegelbild an.
Sie konnte das.
Es war nur eine Stunde.
Eine Stunde, um zu lächeln, jemandem zu helfen, sich von ihrem Job und einem süßen kleinen Mädchen ablenken zu lassen. Danach konnte sie zurück in ihre Wohnung gehen, ihren Schlafanzug anziehen und weinen, bis sie leer war. Noch leerer, als sie sich ohnehin schon fühlte.
Aber jetzt musste sie all das zur Seite schieben und der kleinen Aria helfen.
Als sie das Klopfen an der Tür hörte, holte sie noch einmal tief Luft, setzte ein noch breiteres Lächeln auf, öffnete und wandte sich dann ihrer neuen Klientin zu.
»Hi, ich bin Tessa.«
Aria versteckte sich hinter Atlas’ Beinen. Sie griff nach oben, zerrte so heftig an seinem Gürtel, dass sie ihm fast die Hose auszog, alles im Versuch, sich dagegen zu wehren, das Büro der Therapeutin zu betreten.
Auch wenn er es nicht wirklich Büro nennen würde. Es sah eher aus wie eine Mischung aus Kunstatelier und Theaterumkleide auf Steroiden.
In einer Ecke stand eine Töpferscheibe, vor dem Fenster reihten sich mehrere Leinwände aneinander, in einem Regal standen Farbflaschen neben Kannen voller Pinsel. An der gegenüberliegenden Wand befand sich etwas, das aussah wie ein Puppentheater, eine Kleiderstange voller Kostüme und sogar eine kleine Bühne.
Papier in allen möglichen Formen und Strukturen füllte ein hohes Regal neben einem Schreibtisch, und in mehreren durchsichtigen Plastikschiebern befanden sich sicher knapp eine Million Buntstifte, Filzstifte, Wachsmalkreiden und Pastellkreiden, alle ordentlich sortiert und beschriftet.
»Komm schon, Süße«, sagte Altas ermutigend und zog die jammernde Aria hinter seinen Beinen hervor. Cecily schlief zum Glück tief und fest in dem Autositz unter seinem anderen Arm. Die zwanzigminütige Fahrt hierher war allerdings der reinste Schreimarathon gewesen, bevor sie endlich eingeschlafen war.
Urplötzlich schien die Kleine ihren Autositz zu hassen.
Scheiß auf sein Leben.
Er konnte einfach nichts richtig machen.
Ernsthaft, nichts.
»Nein!«, protestierte Aria, schaffte es, gleichzeitig zu schreien und zu knurren. Sie sprang wieder hinter ihn, zog noch heftiger an seinem Gürtel im Versuch, ihn zurück in den Flur zu zerren. »Ich mag nicht!«
Er hatte noch nicht einmal Gelegenheit gehabt, die Therapeutin anzusehen, so sehr nahmen ihn seine Tochter und der heftige Wunsch, dass sie das endlich schlafende Baby nicht aufweckte, in Anspruch.
Jennys Einschätzung nach bekam Cecily die ersten Zähne, was bedeutete, dass sie für die absehbare Zukunft unausstehlich sein würde.
Absolut fantastisch.
»Komm schon, Süße«, lockte er sanft. »Diese nette Frau hat Filzstifte und ganz viel Papier. Du malst doch so gern.« Wenn er sie losließ, würde sie vermutlich weglaufen, also stellte er den Autositz auf den Boden, drehte sich blitzschnell um, packte Arias zweite Hand und zog sie ins Büro.
Sie begann zu schreien.
Ein ohrenbetäubendes Kreischen, das Gläser zerspringen lassen konnte. Sämtliche Hunde in einem Umkreis von fünf Meilen ergriffen vermutlich gerade panisch die Flucht, vergruben den Kopf unter einem Kissen oder wimmerten, weil ihr Gehirn gleich explodierte.
Dann ging das Weinen los.
Nein, nicht Arias Weinen, denn die schrie immer noch.
Cecily.
Natürlich. Weil Aria sie mit ihrem Todesschrei aufgeweckt hatte.
Atlas’ Blut begann zu kochen, Hitze füllte sein Gesicht und seine Glieder.
Ein hellblauer Wirbel flog an seinem Augenwinkel vorbei, als er in die Hocke ging und seine frustrierte Tochter an den Schultern packte.
»Hi«, erklang eine sanfte, melodische weibliche Stimme neben ihm. »Ich bin Tessa.« Obwohl sie direkt neben ihm stand, konnte er sie über das Schreien und Weinen kaum hören, das noch lauter war als das Foo Fighters Konzert, auf das Samantha ihn vor sechs Jahren geschleift hatte. »Ich kann sehen, dass du richtig frustriert bist. In deinem Körper sind gerade bestimmt ganz schön viele Gefühle, und das ist okay. Du darfst wütend sein. Du darfst Angst haben, nervös sein und traurig. Du kannst so viele Gefühle haben, wie du willst.«
Aria blinzelte ein paarmal, ihr Schreien ging in ein Wimmern über.
Cecily hingegen war noch immer völlig am Ausrasten.
Der Blick aus Arias haselnussbraunen Augen richtete sich auf Tessa. Atlas hatte die Frau immer noch nicht angesehen. Aber sie roch gut, nach Vanille und noch etwas anderem.
»Weißt du was?«, fuhr Tessa fort, ihre Stimme leise und ruhig. »Du musst nichts tun, was du nicht tun willst. Wenn du keine Lust hast, zu zeichnen oder zu malen oder dich auch nur zu bewegen, dann musst du das auch nicht. Du musst nicht mit mir reden, wenn du nicht willst. Das alles ist ganz allein deine Entscheidung.«
Aria zog die blonden Augenbrauen zusammen.
»Ich gehe jetzt mal zu diesem coolen dreieckigen Tisch da drüben und male ein bisschen. Ich habe ganz viel Papier, Filzstifte und Wachsmalkreiden, falls du Lust hast, mitzumachen. Musst du aber nicht. Und wenn Filzstifte nicht so dein Ding sind, habe ich auch Malfarbe. Wir können sogar mit Fingerfarbe malen, wenn du magst.«
In Arias Augen leuchtete Neugier auf. Ihr Atem beruhigte sich, und die roten Flecken in ihrem Gesicht begannen zu verschwinden.
Tessa beugte sich ein Stück vor und legte die Hand an den Mund, tat so, als würde sie Atlas aus der Konversation ausschließen. »Wir können sogar deine Socken ausziehen, und du kannst mit den Zehen malen, wenn du willst.«
Aria kicherte. Ihr Blick huschte zurück zu Atlas, und das Misstrauen kehrte sofort zurück. »Daddy, wo gehst du hin?«
Cecily hatte sich ein wenig beruhigt, aber sie weinte immer noch. Er musste sich um sie kümmern, konnte seine Tochter aber auch nicht für das Baby verlassen. Genau das war ja die Wurzel des Problems. Deswegen waren sie überhaupt bei dieser »Therapeutin«, weil Aria sich von ihrem Vater im Stich gelassen fühlte.
»Ich bin direkt vor der Tür, Süße. Ich setze Cecily nur in ihren Kinderwagen und laufe mit ihr um den Block. Sie muss dringend schlafen.«
Die Unterlippe seiner Tochter begann zu zittern, als ihr Blick zwischen ihm, Tessa und dem dreieckigen Tisch hin und her huschte. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sie wollte die ganzen tollen Sachen machen, von denen die Therapeutin gesprochen hatte, aber sie wollte nicht, dass er ging.