Kai Meyer
Serafin
Das Kalte Feuer
FISCHER E-Books
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Neuausgabe
Erschienen bei FISCHER E-Books
Umschlaggestaltung: Jana Heidersdorf
Covertypographie: Birgit Gitschier
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ISBN 978-3-7336-5203-6
Merle folgte Junipa hinaus in die Labyrinthe der Spiegelwelt, dorthin, wo es so vieles zu sehen, zu erkunden, zu finden gab. Ihren Vater. Das andere Venedig. Und dort wiederum, wer weiß, eine andere Merle, eine andere Junipa.
Einen anderen Serafin.
Das Gläserne Wort
Bei Neumond, in der Nacht der leeren Kanäle, wartete Serafin in seinem Versteck am Ufer, bis die Patrouille der Stadtgarde vorbeimarschiert war. Erst als die Schritte der Soldaten nicht mehr zwischen den Häusern widerhallten, huschte er hinaus auf die schmale Steinbrücke, verknotete das schwarze Seil am Geländer und begann seinen Abstieg in den ausgetrockneten Kanal.
Der schlammige Boden lag gut drei Meter unter ihm. Serafin hätte springen können, aber das Risiko, mit dem Aufprall die Gardisten zu alarmieren, war zu groß. Falls sie zurückkehrten und ihn bemerkten, würden sie ohne Vorwarnung das Feuer eröffnen. Auf das Plündern der leeren Kanäle stand seit Jahren die Todesstrafe.
Seine goldene Katze Cagliostra schwebte aus dem Nachthimmel herab auf das Brückengeländer, legte ihre gefiederten Schwingen an und blickte Serafin mit glühenden Augen an.
»Die nächste Patrouille wird in drei Minuten hier sein«, erklang ihre Stimme in seinem Kopf. »Sie kommen von Westen.«
»Wie viele sind es?«, flüsterte er. Damit Cagliostra ihn verstand, hätte es ausgereicht, die Frage zu denken, doch dabei vermischten sich die Worte oft mit anderen Dingen. Er hatte die Hoffnung nicht aufgegeben, dass klare Ansagen die Katze eines Tages dazu bringen könnten, ihm wenigstens gelegentlich zu gehorchen.
»Nur drei. Alle tragen Gewehre. Es sind dieselben, die vorhin auf den Dummkopf im Rio de San Anzolo geschossen haben.«
»Kannst du sie ablenken?«
»Damit sie mich abknallen? Träum weiter.«
»Komm schon, Cagliostra.«
»Auf keinen Fall.« Mit wenigen Schwingenschlägen flog sie ans Kanalufer, ließ sich geschmeidig auf der Steinkante nieder und leckte sich die Vorderpfote. »Ich bin Kundschafterin, keine Kämpferin. Meine vordringlichste Wesensart ist Eleganz, nicht Gewalt.«
Er seufzte. »Was verlangst du?«
»Ein eigenes Kissen.«
»Wir haben nur zwei. Mama ist krank, sie kann nicht –«
»Ihres will ich gar nicht.«
»Das ist Erpressung.«
»Dein Kissen. Einen Monat lang.«
»Lieber lass ich mich erschießen.«
»Tu dir keinen Zwang an.« Vordergründig lenkte sie ihre Aufmerksamkeit von der rechten auf die linke Pfote, doch ihre grünen Augen blickten immer wieder wachsam zur Brücke und zur Gassenmündung hinüber. Irgendwo in der Ferne peitschten Schüsse.
»Eine Woche«, wisperte er aus dem Kanal zu ihr hinauf.
»Abgemacht.« Schlagartig verlor sie das Interesse an ihrer Körperpflege, breitete die Schwingen aus und stieß sich ab. In einer sanften Kurve segelte sie über Serafin hinweg, stieg steil nach oben und bog in die Gasse.
»Eine Woche«, wiederholte sie.
Pass auf dich auf!, dachte er.
Hier unten im Kanal war es nahezu stockfinster. Serafin tastete sich ein Stück weit nach Süden vor, der Einmündung in den Canal Grande entgegen. Seine Stiefel versanken bis zu den Knöcheln im Morast, bei jedem Schritt bestand die Gefahr, dass sie stecken blieben. Wenn sich sein Rucksack in den nächsten ein, zwei Stunden mit Fundstücken füllte, würde er noch tiefer einsinken. Um in dem stinkenden Schlick überhaupt etwas zu finden, musste Serafin allerdings seine Lampe anzünden, und das war nur möglich, solange keine Gardisten in der Nähe waren. Lichtschein inmitten der Finsternis war noch immer die beste Zielscheibe.
In den Canal Grande, Venedigs breiteste Wasserstraße, zog es die meisten Schlammsammler. Er war tiefer als die übrigen Kanäle und übersät mit Unrat und Wrackteilen, die Deckung vor den Kugeln vom Ufer boten. Andererseits hielten sich am Canal Grande die meisten Soldaten auf, und ihre Schüsse bellten die ganze Nacht hindurch.
Einmal im Monat, wenn sich der Neumond hinter dem Horizont verbarg, verschwand mit seinem Licht auch das Wasser aus Venedigs Kanälen. Ein paar Stunden lang wurden die Schneisen zwischen den Häusern und Palästen zu Straßen aus schwarzem Morast und gaben preis, was auf ihrem Grund lag: Berge von Abfällen, aber auch die Überreste versunkener Boote und Gondeln; verlorene Kleinode, die über Bord gegangen waren; fortgeworfene Schmuckstücke enttäuschter Liebender; und immer wieder Knochen, manche uralt, andere von erschossenen Schlammsammlern.
Nicht die Gezeiten waren der Grund für die leeren Kanäle. Anders als bei Ebbe zog sich das Wasser bei Neumond nicht allmählich zurück. Vielmehr löste es sich von einem Augenblick zum nächsten buchstäblich in Luft auf. An den Rändern der Stadt, wo Venedigs Kanäle in die offene Lagune mündeten, stand das Wasser dann wie abgeschnitten als wabernde Wand am Ende der tiefen Schneisen.
Niemand kannte den Grund für dieses Phänomen, obwohl sich Generationen von Gelehrten die Köpfe darüber zerbrochen hatten. Berechnungen waren angestellt, magische Traktate konsultiert, Beobachtungen vorgenommen und Bücher darüber geschrieben worden – ohne überzeugendes Ergebnis.
Keiner konnte vorhersagen, wie lange das Wasser verschwunden blieb. Mal nur zwei Stunden, mal die halbe Nacht. Derweil wagten sich Dutzende Schlammsammler hinab in die sumpfigen Kanäle, um nach Gegenständen von Wert zu suchen. Legenden rankten sich um Bootsladungen aus Gold und Edelsteinen, um kostbare Gläser und wertvolle Waffen, die einst im Labyrinth der venezianischen Kanäle versunken waren. Meist jedoch fanden Sammler wie Serafin nur billigen Tand, mit viel Glück ein paar Münzen. Selten reichte die Ausbeute, um bis zum nächsten Neumond davon leben zu können.
Doch anders als die übrigen Schlammsammler hatte Serafin es nicht allein auf versunkene Schätze abgesehen.
»Hier wirst du die Windklinge nicht finden«, sagte Cagliostra.
Serafin sah kurz auf, bemerkte über sich das vertraute Flattern in der Dunkelheit und hob die kleine Glaslaterne von dem Haken an seinem Gürtel.
»Die Gardisten sind geflohen«, sagte die Katze. »Ich hab sie in die Flucht geschlagen.«
»Natürlich.« Er schmunzelte verstohlen. »Sie sind vorher abgebogen, oder?«
»Der Anblick meiner Zähne war zu viel für sie.«
Cagliostra hatte zwei makellose Reihen menschlicher Zähne. Wenn ihre katzige Zungenspitze darüber hinwegglitt, sah das in der Tat beunruhigend aus.
»Ich mach jetzt die Lampe an«, flüsterte er. »Bleib in der Luft und halt die Augen offen.«
Das Gefieder an ihren Flügeln raschelte, als sie die Richtung wechselte. Serafin hoffte, dass sie sich nicht von Ungeziefer ablenken ließ. Sie sei nicht mehr in dem Alter, in dem man jedem Wollknäuel hinterherjage, hatte sie einmal erbost erklärt. Angeblich war sie hundertundsieben Jahre alt.
Mit links hob er die Laterne vor sein Gesicht, hielt die rechte Hand neben das Glas und schnippte mit den Fingern. Der Docht glühte kurz auf und fing Feuer. Fahler, gelber Schein fiel über Serafins Züge. Vor ein paar Jahren hatte er herausgefunden, dass sein Fingerschnippen Kerzen und Laternen entzünden konnte. Eines seiner nützlicheren Talente, fand er, obwohl er gelegentlich Albträume davon hatte: Dann sah er sich beim Schlammsammeln hilflos von Hunderten Flammen umgeben, und aus allen Richtungen prasselten die Schüsse der Gardisten auf ihn ein.
»Die Luft ist rein«, meldete Cagliostra aus der Dunkelheit über ihm.
»Los geht’s.«
Ein paar Minuten lang stapfte er durch den Morast und schwenkte die Laterne knapp über dem Boden. Abgesehen von ein paar toten Fischen war die Schlammfläche leer. Rechts und links gab es bald keinen Gehweg mehr, die hohen Fassaden der Häuser wuchsen unmittelbar aus dem Kanal empor. Ohne das Wasser waren die engstehenden Pfahlreihen zu sehen, auf denen ein Fundament aus Backsteinen und istrischem Marmor ruhte. Darauf wiederum waren die Gebäude errichtet worden; die übliche Bauweise auf den Inseln der Lagune.
Falls jemand hinter ihm auf der Brücke auftauchte, gäbe es für Serafin nur noch die Flucht nach vorn. Keine fünfzig Meter entfernt lag die Mündung des Canal Grande.
Stimmen wehten heran.
»Woher kommen die?«
»Bleib, wo du bist. Und mach die Laterne aus.«
Er öffnete den Glaskäfig und löschte die Flamme. Sofort verschlang ihn die Finsternis.
»Sie können dich nicht sehen.«
Sagst du, dachte er.
»Sie sind im Canal Grande, aber ziemlich weit draußen.«
Jetzt meinte er, die Katze schemenhaft über der Einmündung flattern zu sehen, gleich darauf hörte er wieder das hektische Schlagen ihrer Flügel. Cagliostra war nicht besonders geschickt darin, wie ein Greifvogel in der Luft zu verharren. Einzig aus Sturheit versuchte sie es trotzdem immer wieder.
»Ich glaube, das sind Offizielle.«
»Mist.«
»Aber sie biegen nicht in deine Richtung ab.«
Offizielle Schlammsammler arbeiteten für den Stadtrat und die Glasbrennergilde, wurden von den Gardisten nicht behelligt und hatten die Erlaubnis, jedem illegalen Sammler die Kehle durchzuschneiden. Nur verurteilte Mörder erklärten sich bereit, für die Gilde in die leeren Kanäle zu steigen; es gehe ihnen nicht ums Sammeln, hieß es, sondern einzig darum, ungestraft ihre Grausamkeit auszuleben. Schauermärchen, höhnten manche, aber Serafin hatte schon aus der Ferne mitangesehen, wie andere Schlammsammler den Offiziellen in die Hände gefallen waren. Auch davon träumte er bisweilen, vor allem in den Nächten unmittelbar vor Neumond.
»Wie viele?«, fragte er.
»Fünf oder sechs.«
»Nicht gut.«
»Sie ziehen weiter den Canal Grande hinauf. Warte noch eine Minute, bis sie wirklich weg sind.«
Das tat er, weil das Wasser noch keine Stunde lang verschwunden war und noch nie innerhalb so kurzer Zeit zurückgekehrt war. Die ersten beiden Stunden galten als einigermaßen sicher. Erst dann wurde jede Minute zu einem Glücksspiel auf Leben und Tod. Kam das Wasser zurück, tat es das innerhalb von Sekunden. Niemandem blieb dann Zeit, um ans Ufer zu klettern. Wer sich bei der Rückkehr des Wassers im Kanal aufhielt, schaffte es nicht lebend ins Trockene.
»So«, sagte bald darauf Cagliostra, »jetzt sind sie weit genug entfernt.«
Serafin schnippte mit den Fingern, und die Flamme erwachte wieder zum Leben. Eine Weile suchte er ungestört den schwarzen Morast nach Gegenständen ab, für die ihm seine Hehlerin ein wenig Geld und vor allem Medizin für seine Mutter geben würde.
Dass er die Windklinge an diesem Ort finden würde, hielt er für unwahrscheinlich, trotzdem gab er die Hoffnung nicht auf. Eines Nachts mochte sie vor ihm im Dreck liegen: ein unscheinbarer Dolch, dem die Macht innewohnte, die Stürme zu teilen. Jeder Kapitän würde ihm dafür ein Vermögen bieten. Aber Serafin hatte andere Pläne.
»Was treibst du, Cagliostra?«
»Ich fange Mäuse und fress mich fett.«
»Und wirklich?«
»Bin ich über dir und pass auf dich auf.«
Er blickte kurz nach oben, sah ein goldenes Schimmern zwischen den Backsteinwänden vorüberziehen und schenkte ihr ein Grinsen. Sogleich konzentrierte er sich wieder auf seine Suche, jetzt mit Hilfe einer kleinen Harke. Sie brachte etwas zum Vorschein, das ein Armreif sein mochte, außerdem zwei Kupfermünzen und ein verbogenes Brillengestell. Alles landete unsortiert in seinem Rucksack.
»Ich schau mich noch mal da draußen um.« Cagliostra schwebte aus der schmalen Mündung hinaus über den Canal Grande. Irgendwo ertönten wieder Schüsse. Sie gehörten zur Neumondnacht wie Düsternis und Modergeruch zum Labyrinth der engen Gassen.
Serafin hielt inne, streckte seinen verspannten Rücken und legte den Kopf in den Nacken. Kurz schloss er die Augen und dachte an seine Mutter, die mit jedem Tag ein wenig blinder wurde. Die Medizin, die er von seiner Hehlerin bekam, verlangsamte das Fortschreiten der Krankheit, konnte sie aber nicht aufhalten. Einmal im Monat stieg er in die Finsternis der Kanäle hinab, um seine Mutter so lange wie möglich vor ihrer Finsternis zu bewahren. Er hatte ihr nie gesagt, woher er die Medizin bekam und was er dafür tun musste, und wenn sie ihn danach fragte, dachte er sich Ausflüchte aus und hatte dennoch das Gefühl, dass sie die Wahrheit ahnte.
Abermals Schüsse. Irgendwo ein Schrei. Dann plötzliche Stille.
Serafin öffnete die Augen.
Die Umgebung hatte sich verändert, die Sicht war seltsam diffus. Als ein Fischschwarm an ihm vorüberzog, verfiel Serafin in Panik, wollte sich vom Boden abstoßen, nach oben schwimmen – bis ihm klarwurde, dass er atmen konnte. Das hier war nicht die Wirklichkeit. Das Wasser war keineswegs zurückgekehrt, auch wenn seine Augen ihm das vorgaukelten. Tageslicht fiel in die Kluft zwischen den Häusern und brach sich glitzernd auf dem Schuppenkleid der Fische.
Wie in einem Traum – denn das musste es sein – setzte er einen Fuß vor den anderen und näherte sich der Mündung. Das Wasser war viel zu klar, er konnte fast hinaus in die Weite des Canal Grande blicken, sah noch mehr Schwärme und wogende Pflanzen und dahinter das Wrack einer Gondel, halb versunken im Schlick. Sein Herzschlag raste vor Aufregung, während er durch silberne Lichtkaskaden wanderte, Strahlen, die ihn wie Finger berührten und sich seltsam vertraut anfühlten. Und dann zog genau über ihm der Rumpf eines Segelschiffs vorüber, mit algenverkrustetem Kiel und Schaum vor dem Bug wie ein Ungeheuer aus den Tiefen der Adria.
Auf genau so einem Schiff war einst sein Vater als Kapitän in See gestochen und nicht zurückgekehrt. Serafin, damals noch keine zehn Jahre alt, hatte am Kai gestanden und darum gebettelt, ihn begleiten zu dürfen. »Ich mache dir einen Vorschlag«, hatte sein Vater mit breitem Lächeln gesagt. »Wenn du mir die Windklinge bringst und ich mit ihr die großen Stürme teilen kann, nehme ich dich beim nächsten Mal mit.«
Es hatte kein nächstes Mal gegeben. Heute war Serafin siebzehn, und wenn er ehrlich zu sich war, glaubte er nicht mehr an die Windklinge und an ihre Macht über die Stürme. Trotzdem suchte er weiter danach, suchte sie in jedem verdammten Kanal, weil sie mehr war als irgendein Zauberdolch – das Symbol seiner Hoffnung auf ein anderes Leben. Eines mit einer Aufgabe, die über Schlammsammeln und Taschendiebstahl hinausging.
»Stehen bleiben!«, rief Cagliostra.
Über ihm glitt das Schiff weiter stadtauswärts, und wieder wurde Serafin von grellem Licht umfangen. Wärme durchflutete ihn, und die Fische umtanzten ihn in wirren Schleifen, brannten leuchtende Spuren in sein Sichtfeld.
»Keinen Schritt weiter!«
Abrupt kehrte die Finsternis zurück, schmerzhaft fast und wie ein Gewicht auf seinen Schultern. Die Vision vom Wasser verblasste mit den Fischen und der vagen Erinnerung an ein Schiff, das wieder einmal ohne ihn hinaus in die Welt gesegelt war.
»Du kannst nicht einfach mit der Laterne in den Canal Grande spazieren«, wies Cagliostra ihn zurecht, die offenbar nichts von alldem gesehen hatte.
Katzen hatten ihre eigenen Träume, und vermutlich galt das erst recht für geflügelte, sprechende und goldgefiederte Exemplare.
Ihm wurde bewusst, dass er am Ende des Seitenkanals stand, einen Schritt von der Stelle entfernt, an der die Schneise in den Canal Grande überging. Der Boden war leicht abschüssig, der Schlamm schien schwarze Stufen zu bilden, die träge ineinanderflossen.
Er blies die Flamme aus und war für Sekunden blind, während sich seine Augen allmählich wieder an die Dunkelheit gewöhnten. So kurz vor dem Südende fächerte der Canal Grande ein wenig auf, an dieser Stelle war er fast hundert Meter breit. Sein schlammiger Grund war eine Landschaft aus Schwarz und Grau. In vielen Palästen am Ufer brannten Lichter. In ihren Fenstern sah Serafin die Silhouetten von Schaulustigen, die trinkend und feiernd darauf warteten, dass einmal mehr das Feuer auf ein paar arme Schlucker im Kanal eröffnet wurde. Allzu viel erkennen konnten die Herrschaften in der Finsternis bestimmt nicht, aber als Nervenkitzel reichte ihnen die Gewissheit, dass dort unten im Schlamm wieder einmal jemand um sein Leben kämpfte.
»Ich hab was gefunden«, sagte Cagliostra in seinen Gedanken.
»Was Brauchbares?«
»Eher was Interessantes.«
»Wo ist es?«
»Draußen im Kanal. Du musst nach rechts gehen, an den Fundamenten der Häuser entlang, ungefähr vierzig Schritt weit.«
Serafin verhakte die Laterne an seinem Gürtel, stapfte ein Stück weit die Schräge hinunter und wandte sich nach rechts. Der Schein aus den Fenstern reichte nicht so weit herab, und weiter oben gab es an dieser Stelle keinen Gehweg, auf dem Gardisten hätten lauern können. Seine Stiefel verursachten schmatzende Geräusche, deshalb bewegte er sich so langsam und vorsichtig wie nur möglich. Der Schlamm schien gierig an seinen Füßen zu saugen.
Erzähl, bat er die Katze wortlos.
»Du kannst es gleich sehen. Und dann entscheide selbst.«
Was denn entscheiden?
»Was davon zu halten ist. Und was du tun willst.«
Katzen und ihre Geheimniskrämerei, dachte er, ohne den Gedanken direkt an Cagliostra zu richten. Sie fing ihn trotzdem auf wie eine der Fliegen, nach denen sie so gern am offenen Fenster schnappte.
»Es ist –«, begann sie.
»Ich seh’s schon«, fiel er ihr flüsternd ins Wort.
An der Wand aus Pfählen, auf der die Fassade des Palazzos stand, lehnte ein mannshoher Spiegel. Einer von der Sorte, wie sie in den Ankleiden feiner Damen hingen, groß genug, um sich von Kopf bis Fuß darin zu betrachten, in Abendgarderobe und mit Hut. Der barocke Rahmen war mit üppigen Verzierungen geschmückt, schlammverkrustet wie alles, was auf dem Grund der Kanäle gelegen hatte. Unter dem Schmutz lugte abblätternde Goldfarbe hervor, auf der sich der Schein ferner Lichter brach. Die Spiegelfläche selbst reflektierte trüb die erleuchteten Fenster des gegenüberliegenden Ufers, leicht verzerrt von Haarrissen im Glas und Schlieren aus Dreck.
Der Spiegel war viel zu schwer, als dass Serafin allein ihn hätte tragen können. Darum richtete er sein Interesse auf das, was davor im Schlamm lag, eine Erhebung, nein, zwei. In der Düsternis konnte er auf diese Entfernung keine Einzelheiten erkennen.
Ich brauche Licht, dachte er.
»Keine gute Idee«, sagte Cagliostra. »Ich kann dir beschreiben, was da liegt.«
Er ahnte es bereits und wollte trotzdem Gewissheit haben. Statt die Laterne anzuzünden, stapfte er durch die Dunkelheit, bückte sich und streckte behutsam die Hand nach einer der Wölbungen aus.
Trockener Stoff. Darunter ein schmaler Körper.
Hastig zog er die Hand zurück und sah sich nach anderen Schlammsammlern um, entdeckte aber nichts als Finsternis. Er ging in die Hocke und entzündete mit einem Fingerschnippen den Docht. Die Flamme sprang zappelig aus dem Nichts empor und beschien seinen Fund.
»Eigentlich mein Fund«, sagte Cagliostra.
Da lagen zwei Mädchen, beide leblos, das eine hellblond, das andere dunkelhaarig.
Die Mädchen trugen enge Hosen und Hemden, so schwarz wie die Umgebung. Man hätte meinen können, sie wären geradewegs aus dem Spiegel in den Schlamm des Canal Grande gestolpert und auf der Stelle zusammengebrochen.
»Schusswunden?«, fragte Cagliostra.
»Ich kann keine sehen.«
»Dann untersuch sie.«
Er löschte die Lampe und richtete sich auf. »Nein. Das hier geht mich nichts an.«
»Ernsthaft?«
»Das müssen Schlammsammlerinnen sein. Die Garde hat sie erwischt, oder sonst wer. Traurig, aber ich kann’s nicht ändern.«
»Ganz schön kaltschnäuzig. Und ihr Menschen rümpft die Nase, wenn wir ein paar Mäuse totspielen.«
Bedrückt, aber entschlossen machte er sich auf den Rückweg zum Seitenkanal. Cagliostra blieb hinter ihm zurück. Als er sich umsah, saß sie oben auf dem Spiegel, ihr Körper so golden wie der alte Rahmen.
»Vielleicht gestrandete Meerjungfrauen«, sagte sie.
»Dann wären sie nackt und hätten einen Fischschwanz.«
»Verwandelte gestrandete Meerjungfrauen.«
Er ging weiter, mit einem schuldbewussten Rumoren im Bauch, aber froh, dass sie ihn nicht um Hilfe bitten konnten. Denn die hätte er ausschlagen müssen, gemäß den ungeschriebenen Geboten der Neumondnächte: Kümmer dich um deinen eigenen Kram. Verschwende keine Zeit. Heb nur auf, was sich verkaufen lässt.
Cagliostra stieß sich vom Spiegel ab und folgte ihm. Ihr Schweigen erschien ihm fast vorwurfsvoll.
Missmutig erreichte er die Mündung in den schmaleren Kanal, blieb stehen und überlegte, ob er nicht doch einen Abstecher hinaus in den Canal Grande machen sollte, weiter zur Mitte. Seine bisherige Ausbeute war kläglich, er musste dringend noch mehr finden. Aber da draußen war es zu gefährlich, und die Lust am Risiko war ihm fürs Erste vergangen. Die beiden Mädchen hatten ihn an das erinnert, was auch ihm eines Nachts blühen mochte, wenn nicht heute, dann womöglich in einem Monat oder einem Jahr. Er wollte sich keine Kugel einfangen, nur weil er ziellos im Schlamm gewühlt hatte wie eine der großen Kanalratten.
Er stapfte zurück zu der Stelle, an der er seine Suche abgebrochen hatte, löste die kleine Harke von seinem Gürtel und ließ die Laterne aufleuchten. Dabei spürte er Cagliostras vorwurfsvollen Blick in seinem Rücken. Auf keinen Fall würde er nachgeben und sich zu ihr umschauen.
Eine Minute lang blieb er eisern.
»Zum Teufel nochmal!« Mit einem Ruck wirbelte er herum. Doch wo er sie vermutet hatte, war sie nicht mehr. Nirgends in der Nähe schimmerte es golden.
»Serafin!«
»Wo steckst du?«
»Draußen vor der Mündung. Irgendwas tut sich hier.«
Er ballte die Hand zur Faust. »Das ist nicht unser Problem.«
»Da sind jetzt Männer bei ihnen.«
»Sammler?«
»Offizielle, glaube ich.«
Fluchend blies er die Flamme aus – zum wievielten Mal eigentlich? – und schwor sich, dass er hier warten würde, bis die Gefahr vorüber war. »Seit wann kümmern die sich um Tote?«
»Sie schleppen den Spiegel weg.«
»Das alte, kaputte Ding?«
»Vielleicht ist er vergoldet.«
Verflixt. Er hätte etwas von der Beschichtung abschaben sollen, um sich zu vergewissern.
»Jetzt heben sie die Dunkelhaarige auf und nehmen sie mit.«
Widerwillig setzte er sich in Bewegung und schlich geduckt zurück zur Mündung. Cagliostra war ein gutes Stück in Richtung der Fundstelle geflogen. Drei Laternen standen dort im Schlick. Nur die Schlammsammler der Gilde und des Rates gingen so leichtfertig mit Licht um, weil sie nichts von der Garde zu befürchten hatten.
Er konnte Bewegungen erahnen, aber nichts Genaues erkennen.
»Da ist eine Treppe«, sagte Cagliostra, »ungefähr hundert Meter weiter den Kanal hinauf. Sie führt hoch auf einen Weg am Ufer. Da bringen sie sie hin.«
Er sah etwas aufblitzen, wahrscheinlich den Spiegel, der gerade die Stufen hinaufgetragen wurde.
»Sie haben nur einen einzelnen Mann als Wache bei dem anderen Mädchen zurückgelassen.«
»Weglaufen wird sie ja nicht.«
»Ich glaube nicht, dass die beiden tot sind.«
»Was?«
»Würden die sie sonst mitnehmen?«
»Vielleicht Leichenräuber.«
»Hast du ihren Puls gefühlt?«
»Sie lagen reglos im Schlamm, wer weiß, wie lange schon!«
»Hast du?«
Hatte er nicht, und sie wusste das genau. Wären sie noch am Leben gewesen, hätte er sie nicht liegen gelassen. Also mussten sie tot sein. Ganz einfache Logik. Auch besser für sein Gewissen.
»Da beißt sich die Katze in den Schwanz«, sagte Cagliostra geringschätzig.
»Was werden die mit ihnen machen?«
»Totspielen?«
Er fluchte wieder und sah ein, dass Nachdenken ihn nicht weiterbrachte. Hier war eine Bauchentscheidung vonnöten.
»Nur ein einzelner Wächter, sagst du?«
»Im Augenblick, ja.«
»Kannst du ihn mit deinen Zähnen in die Flucht schlagen? So wie all die anderen?«
»Blödmann.«
An Serafins Gürtel hing ein Messer, mit dem er sich viele Male verteidigt hatte. Aber einem Mann hinterrücks die Kehle durchzuschneiden, und sei es einem verurteilten Mörder im Dienst der Glasbrennergilde, war nicht seine Art. Ein paar Schritte weiter hob er ein Stück Holz auf und wog es prüfend in der Hand. Ein ziemlich armseliger Knüppel.
»Du willst doch nicht mit diesem Ding auf ihn losgehen?«
»Hast du einen besseren Vorschlag?«
Sie schwebte vor sein Gesicht und präsentierte ihm ihre Krallen. »Kratz ihm mit der Harke die Augen aus.«
»Eher nicht.«
»Ich weiß nicht, warum ich dir überhaupt gute Ratschläge gebe. Du tust eh nie, was ich sage.«
Gebückt pirschte er weiter, bis er den Mann zwischen den drei Laternen sehen konnte. Der bullige Kerl trug weiße Kleidung, damit ihn die Soldaten am Ufer als einen der Ihren erkannten. Sie war über und über mit Schlamm bespritzt.
Gerade ging er neben dem hellhaarigen Mädchen in die Hocke. Ihre Position war verändert worden, ihr Gesicht nach oben gedreht. Der Mann sah sich nach den anderen um, die noch an der Treppe zugange waren, dann blickte er wieder auf das Mädchen hinab und strich ihr mit seinen schmutzigen Fingern über die Wange. Sein Atmen war fast so laut wie das Schmatzen von Serafins Stiefeln im Schlamm.
Der Mann bemerkte, dass jemand näher kam. Blitzschnell richtete er sich auf.
Das Stück Holz krachte gegen seine Stirn, warf ihn aber nicht zu Boden, wie Serafin gehofft hatte. Stattdessen zersplitterte es in tausend Späne. Der Mann stand einen Moment lang benommen da, überrumpelt von dem Schlag. Dann öffnete er den Mund, um einen Warnruf auszustoßen.
Cagliostra prallte im Sturzflug gegen sein Gesicht und hielt sich an seinem Schädel fest, als er nach hinten stürzte. Sogleich begann sie, ihn mit ihren Krallen zu bearbeiten, so schnell, dass die Bewegungen zu einem einzigen Wirbel verwischten. Ihre Schwingen schlugen auf und nieder und verdeckten, was sie anrichtete. Der Mann kam nicht dazu, einen Schrei auszustoßen, nur blubbernde Laute drangen über seine Lippen. Das Letzte, was Serafin hörte, war ein herzhaftes Zubeißen, ein scheußliches Reißen und dann das zufriedene Schnurren der Katze.
Drüben an der Treppe wurden die Stimmen lauter. Jemand rief herüber und fragte, was los sei.
»Alles in Ordnung!« Serafin versuchte, seine Stimme tiefer klingen zu lassen. »Nur ’ne dumme Katze!«
»Hah«, machte Cagliostra, setzte sich auf die Brust des Toten und säuberte sich mit der Zunge das Fell.
»Das war nicht Gino«, sagte ein Mann am Ufer.
»Auf keinen Fall war das Gino«, bestätigte ein anderer.
»Gut gemacht«, sagte Cagliostra.
Fluchend hob Serafin das Mädchen vom Boden. Ihr schulterlanges weißblondes Haar fiel über seinen rechten Arm. Sie hatte noch immer die Augen geschlossen, doch jetzt spürte er, dass sie atmete. Hastig drehte er sich um und rannte den Weg zurück, den er gekommen war. Hinter ihnen trampelten mehrere Männer in Weiß die Steintreppe herab und nahmen die Verfolgung auf.
Cagliostra flatterte voraus und erreichte die Mündung des Seitenkanals.
»Nicht hierher!«, rief sie in seinen Gedanken. »Auf der Brücke sind Gardisten!«
Im selben Augenblick erklang hinter ihnen eine schrille Pfeife. Tief im Seitenkanal antwortete eine zweite, schließlich eine dritte am gegenüberliegenden Ufer. Serafin sah in der Finsternis keinen einzigen Soldaten, aber er wusste, dass sie in diesem Moment ihre Positionen bezogen. Er konnte nun weder auf dieser noch auf der anderen Seite an Land gehen. Der einzige Fluchtweg führte weiter durch den Canal Grande, dem offenen Gewässer der Lagune entgegen.
Er konnte nur beten, dass das Wasser heute Nacht nicht früher als sonst zurückkehrte. Manchmal kündigte es sich ein paar Sekunden vorher durch einen heftigen Druck in den Ohren an, so als verdrängte es die Luft, bevor es wirklich da war. In anderen Nächten füllten sich die Kanäle ohne jede Warnung innerhalb eines Herzschlags.
»Ich fliege dann mal ein bisschen höher«, verkündete Cagliostra. »Nur für den Fall.«
»Du hast mir das hier eingebrockt!«
»Aber es würde nichts ändern, wenn ich mit euch ertrinke.«
Schüsse krachten irgendwo rechts von ihnen, und im Dunkel schrillten wieder die Pfeifen. Serafin hörte das Klatschen der Einschläge in einigen Metern Entfernung.
»Du solltest etwas schneller laufen«, riet ihm Cagliostra.
Das Mädchen war sehr schlank und nicht groß, und unter normalen Bedingungen wäre sie ihm wohl federleicht erschienen. Beim Laufen durch knöchelhohen Schlamm und in stockdunkler Nacht wurde sie jedoch mit jedem Schritt schwerer. Und hinter ihnen kamen die Verfolger näher. Die Männer schwiegen, aber er vernahm ihr Schnaufen und das Patschen ihrer Schritte. Hundert Meter, schätzte er, eher weniger. Er war nicht sicher, ob sie ihn sahen oder auch nur hörten – gegen beides konnte er ohnehin nichts tun. Nur weiterlaufen, immer weiter, der hohen Wasserwand am Ende des Kanals entgegen.
Er hatte die verzweifelte Hoffnung, dass ihre Verfolger vorher aufgeben würden, weil sich in der Neumondnacht kein Mensch bei klarem Verstand so weit vom Ufer entfernte. Cagliostra hatte einen von ihnen getötet, doch er bezweifelte, dass diese Halsabschneider dicke Freunde waren. Dass sie sich dennoch so weit hinaus auf den Kanal wagten, konnte eigentlich nur eines bedeuten: Sie folgten dem Befehl von jemandem, der ihnen aufgetragen hatte, auch das zweite Mädchen unter allen Umständen an Land zu bringen. Und das machte ihm wirklich Sorgen. Wer war sie? Und warum hatte es jemand auf sie abgesehen?
Sie regte sich in seinen Armen. Serafin trug sie gerade am Wrack einer Gondel vorbei, als sie aufstöhnte. Womöglich erfasste sie gerade, was mit ihr geschah.
Im nächsten Moment schlug sie ihm mitten ins Gesicht. Gut gezielt und sehr schmerzhaft.
Instinktiv schrie er auf, geriet ins Schlingern und ließ sie fallen. Sie stürzte mit strampelnden Beinen in den Schlamm, orientierte sich blitzschnell und versuchte, auf die Füße zu kommen.
»Wo ist Merle?«, fragte sie mit brüchiger Stimme.
»Ruhig!«, flüsterte er ihr zu, rieb sich die pochende Wange und ging in die Hocke. »Keinen Laut mehr, sonst finden sie uns!«
»Sie finden euch auch so«, sagte Cagliostra.
Das Mädchen rutschte rückwärts von ihm fort, aber als er keine Anstalten machte, ihr zu folgen, hielt sie inne. Dass er sich nicht von der Stelle bewegte, hatte allerdings wenig mit ihren Verfolgern zu tun. Dafür eine ganze Menge mit den Augen des Mädchens.
Sie waren aus Spiegelglas. Keine Pupille, keine Iris, kein Weiß. Nur blanke, blitzende Spiegel.
»Hör zu«, sagte er leise. »Da sind Männer, die nach dir suchen. Und sie werden jeden Moment hier sein.«
»Wo ist Merle?«, fragte sie erneut.
»Falls so deine Freundin heißt – die haben sie mitgenommen. Ich konnte euch nicht beide retten.«
»Du wolltest gar keine retten«, bemerkte Cagliostra spitz.
»Ich muss zu ihr!« Sie wollte sich aufrappeln, hatte aber Mühe, im Morast genug Halt zu finden.
Serafin spähte zu ihren Verfolgern. Ein Pulk aus hellen Silhouetten kam durch das schwarze Kanalbett vor der Lichterkette Venedigs näher. Wahrscheinlich hatten sie ihre Stimmen gehört.
Er sprach noch leiser. »Wie heißt du?«
»Junipa.«
»Gut, Junipa, hör zu. Da vorn kommen fünf Männer und –«
»Sieben«, korrigierte sie ihn, als sie seinem Blick den Kanal hinab folgte. »Es sind sieben. Und sie haben eine Menge Waffen dabei.«
»Offenbar kann sie im Dunkeln sehen«, sagte Cagliostra missmutig. »Natürlich nicht so gut wie ich.«
»Sieben«, wiederholte er, gab sich einen Ruck und stand auf. Dann streckte er Junipa seine Hand entgegen. »Kannst du laufen?«
Nach kurzem Zögern ließ sie sich auf die Beine ziehen. Sie war voller Schlamm, auch ihr Gesicht, und gerade deshalb fiel ihm auf, wie hell ihre Haut war. Das ferne Licht der Paläste am Ufer zerfloss darauf wie Milch. Als Kontrast dazu reflektierten ihre Spiegelaugen die Helligkeit mit gläserner Schärfe. Sie waren nicht gerundet wie Augäpfel, sondern flach, und sie bewegten sich nicht, so als könnten sie zugleich in alle Richtungen blicken.
»Da sind sie!«, brüllte einer ihrer Verfolger.
»Gleich haben sie euch«, warnte ihn Cagliostra.
Junipa zog etwas aus einer länglichen Tasche, die auf eines ihrer Hosenbeine genäht war. Es sah aus wie ein Stab, zweimal so lang wie ihre Hand. »Stell dich hinter mich«, sagte sie.
»Was?«
»Ich kann uns vor ihnen verstecken.« Sie machte eine Handbewegung, und der vermeintliche Stab klappte zu einem weiten Fächer auseinander. »Nicht hineinsehen!«
Er erkannte gerade noch, dass auch der Fächer aus einem spiegelnden Material bestand, da packte sie ihn am Oberarm und bugsierte ihn hinter sich. Serafin war einen Kopf größer als sie, seine Schultern anderthalbmal so breit. Ebenso gut hätte er sich die Augen zuhalten können, in der Hoffnung, ihre Verfolger würden ihn nicht mehr sehen.
»Wir sollten besser weiterlaufen«, sagte er.
»Nein. Vertrau mir.«
Er blieb stehen.
»Mir vertraust du nie«, maulte Cagliostra.
Im nächsten Moment holten die Männer sie ein.
Junipa hielt sich den Fächer mit rechts vor die Brust, die Vorderseite ihren Verfolgern zugewandt, während die Finger ihrer Linken Serafins Hand umklammerten und fest an ihre Seite pressten.
»Nicht bewegen«, raunte sie ihm zu.
Die Männer blieben keine zwei Schritt vor ihnen stehen. Alle sieben trugen weiße, lange Jacken über hellen Hosen. Sie waren groß und grobschlächtig, ihre Gesichter hart und von den Narben früherer Kämpfe übersät.
Junipa stand vollkommen reglos, zuckte nicht einmal, als mehrere Männer in ihre Richtung sahen – und ihre Blicke sofort wieder abwandten. Nur einer drehte sich halb um und machte einen weiteren Schritt auf sie zu, blieb unmittelbar vor ihr stehen und schaute auf den spiegelnden Fächer.
Serafin glaubte, sein Trommelfell müsste platzen, so laut schlug sein Herz. Schweiß stand ihm auf der Stirn. Es kostete ihn alle Überwindung, nicht auf der Stelle loszulaufen. Sogar Cagliostra schwieg, was selten genug vorkam. Wahrscheinlich flatterte sie hoch über ihnen und beobachtete mit ihren grünen Katzenaugen jede Regung der Männer.
»Wo sind die hin?«, fragte einer.
»Vielleicht doch zum Ufer gelaufen?«
Ein anderer schüttelte den Kopf. »Ich hab doch gerade noch Schritte gehört.«
»Hier draußen treibt sich eine Menge Pack rum.« Der Schlammsammler deutete mit dem Kopf nach vorn, wo sich irgendwo in der Dunkelheit die Wasserwand erheben musste.
»Hier ist keiner«, sagte ein Mann mit schwarzem Bart und kleinen, engstehenden Augen. »Und wir sollten auch nicht mehr hier sein. Das Wasser kann jeden Moment zurückkommen.«
Das führte zu einigem Für und Wider, aus dem sich nur der Mann direkt vor Junipa heraushielt. Er starrte wie hypnotisiert auf den Fächer, als sähe er darin alle Wunder der Welt. Seine Miene war hochkonzentriert, die Augen verkniffen, seine Stirn in Falten gelegt. Serafin spürte, dass Junipa nervös wurde, als der Kerl den Kopf leicht nach vorn auf sie zubewegte.
Die anderen einigten sich darauf, die Suche in Ufernähe fortzusetzen, war doch in der Finsternis eine Richtung so gut wie jede andere. Der Trupp setzte sich in Bewegung – mit Ausnahme des Mannes gleich vor ihnen, der jetzt langsam eine Hand in Junipas Richtung ausstreckte.
»Heh!«, rief einer der anderen ihm zu. »Willst du hierbleiben und draufgehen?«
Die gerunzelte Stirn des Mannes zuckte, dann brach er unvermittelt in Tränen aus. Seine Züge entgleisten, während er weinte wie ein Kind. Zugleich schien da eine ungeheure Wut in ihm zu brodeln. Serafin ballte die freie Hand zur Faust und machte sich bereit, Junipa zur Seite zu stoßen, um sie aus der Reichweite des Kerls zu schaffen.
Doch der Mann ließ seine Hand sinken, schüttelte den Kopf so heftig, dass die Wangen schlackerten, und schien wie aus einem Traum zu erwachen. Unbeholfen rieb er sich die Tränen mit dem Ärmel fort und verschmierte dabei die Schlammspritzer auf seinem Gesicht zu einer dunklen Kriegsbemalung.
»Ich … komm ja«, sagte er, klang aber, als wäre er nicht sicher, ob er das wirklich wollte.
Hau schon ab, dachte Serafin.
Und der Mann ging. Trat einfach an ihnen vorbei und folgte den übrigen Richtung Ufer. Angespannt wartete Serafin darauf, dass er sich noch einmal umwandte. Stattdessen beschleunigte er seine Schritte und entfernte sich mit zunehmender Entschlossenheit.
Erst jetzt bemerkte Serafin, dass Junipas Rücken seinen Körper berührte, so eng pressten sie sich aneinander. Sie entspannte sich und atmete leise auf. Trotzdem blieben sie eine Weile so stehen und horchten, während sich die Schritte der Männer entfernten. Dann waren auch ihre Stimmen nicht mehr zu hören.
»Das war knapp«, sagte sie leise.
»Was, zum Teufel, ist da gerade passiert?«
Sie machte einen Schritt nach vorn, schob den Fächer zusammen und ließ ihn mit einem bedauernden Seufzer in den Dreck fallen.
»Hey!« Serafin bückte sich und hob ihn auf.
»Der ist zu nichts mehr nütze«, sagte sie.
»Was ist das für ein Ding?«
»Ein Fächerschild der Kartographen. Er zeigt einem das eigene dunkle Ich. Jeder, der hineinsieht, wird davon so tief berührt, dass er nichts mehr von dem wahrnimmt, was sich dahinter befindet. Die meisten schauen instinktiv in eine andere Richtung. Der Kerl gerade war aber so fasziniert von seiner eigenen Bösartigkeit, dass er ihn zu lange angestarrt und die ganze Wirkung aufgebraucht hat.«
Natürlich wusste Serafin, dass Glas und Spiegeln oft Magie innewohnte, aber von einem Ding wie diesem Fächer hatte er noch nie gehört. »Warum hast du so was? Und wer sind diese Kartographen?«
»Ich erklär dir’s, wenn wir in Sicherheit sind. Erst müssen wir Merle befreien.«
Wir? Auf gar keinen Fall würde er irgendwen befreien. Seine Mutter wartete auf ihre Medizin, und die würde sie nur bekommen, wenn er seiner Hehlerin ein paar Fundstücke von Wert aus den Kanälen brachte. Bislang jedoch hatte er kaum etwas vorzuweisen.
Zugleich aber war da etwas an dieser Junipa, das ihn faszinierte. Sie war nicht auf dieselbe Weise hübsch wie die Tanzmädchen in den Spelunken, nicht auf diese pralle, aufreizende Weise. Junipa war klein und schmal, fast ausgezehrt, und man sah ihr an, dass sie eine Menge durchgemacht hatte. Kränklich war das erste Wort, das ihm einfiel, aber er korrigierte sich gleich selbst: Nein, sie sah nicht krank aus, eher wie jemand, der eine schwere Krankheit ein für alle Mal besiegt hatte. Was immer sie erlebt hatte, sie war gestärkt und als Gewinnerin daraus hervorgegangen.
Während sie ihn mit ihren Spiegelaugen ansah, fragte er sich, ob sie seine Gedanken lesen konnte, und das war ihm fast ein wenig unangenehm.
»Sie nicht«, erinnerte ihn Cagliostra, »aber ich. Also pass lieber auf.«
Er ließ den Fächer in seinem Rucksack verschwinden, in der Hoffnung, dass er mehr wert war, als Junipa glaubte. Anschließend schaute er sich nach weiteren Verfolgern um. Weiter links lagen die Lichter des Dogenpalastes, davor der Zugang zum Markusplatz. Dort suchten die Schlammsammler nach ihnen, und es wimmelte nur so von Gardisten. »Wenn wir da rüberlaufen, schnappen sie uns«, sagte er. »Und zurück können wir auch nicht. Die Soldaten am Ufer sind jetzt gewarnt.«
»Warum ist hier nirgends Wasser?«, fragte sie verwundert.
»Es ist Neumond.«
»Und?«
»Neumond«, wiederholte er. Als sie ihn verständnislos ansah, setzte er hinzu: »Bist du nicht aus Venedig?«
»Nicht aus diesem hier«, sagte Junipa.
Er schluckte die Frage hinunter, die ihm auf der Zunge lag. »Wir müssen so schnell wie möglich an Land. Das Wasser kann jeden Augenblick zurückkommen.«
Einen Moment lang schwieg sie fast vorwurfsvoll, dann sagte sie: »Wie viel Zeit bleibt uns noch?«
»Es kann in der nächsten Minute so weit sein oder erst in ein, zwei Stunden. Im Voraus weiß das niemand.«
Sie blickte sich auf dem Grund des leeren Kanals um. »So was hab ich noch in keinem anderen Venedig gesehen.« Dann deutete sie nach rechts in die Dunkelheit. »Von dort kommen noch mehr von denen. Fünf oder sechs von diesen Männern in Weiß.«
»Sie hat recht«, sagte Cagliostra. »Und es sind auch Soldaten im Kanal, die nach euch suchen. Das ist mal was Neues.«
»Was wollen die von dir?«, fragte er.
»Meine Augen«, sagte Junipa. »Die wollen sie immer. Diesmal ging es nur schneller als sonst.«
»Deine –«
»Komm!« Schon packte sie ihn bei der Hand und zog ihn mit sich. »Wie weit reicht die Ebbe in dieser Richtung?«
»Das ist keine Ebbe. Das ist –«
»Ja, schon verstanden. Schaffen wir es zu Fuß bis zu einer der anderen Inseln? Was ist mit Giudecca?«
»Auf keinen Fall. Da ist überall Wasser. Es verschwindet nur in den Kanälen, niemals draußen in der Lagune.«
»Und in dieser Richtung hier kommt ihr auch nicht weit«, sagte Cagliostra. »Falls das jemand vergessen hat.«
»Hast du eine andere Idee?«
»Ich?«, fragte Junipa.
»Nein, sie.« Er deutete zum Nachthimmel, wo die goldene Katze ihre Kreise zog.
Junipa warf einen kurzen Blick nach oben. »Bei uns fliegen nur die Löwen, nicht die Katzen. Aber ich schätze, das macht keinen großen Unterschied. Spricht sie mit dir? In deinen Gedanken?«
Cagliostra schnaubte abfällig. »Woher weiß sie das?«
Er gab die Frage weiter.
»Das ist gar nicht so ungewöhnlich«, antwortete Junipa.
»Dass jemand Stimmen hört?«
»Ja. Und trotzdem nicht völlig verrückt ist.«
»Eure Verfolger holen auf«, sagte Cagliostra. »Und es sind mehr geworden.«
Die Anstrengung hatte Serafin abgelenkt, doch jetzt erfasste er die Ausweglosigkeit ihrer Lage. Sie konnten nicht weiter in diese Richtung laufen, dort gab es nichts als die Wasserwand. Davor glühten Lichter in der Dunkelheit. Eine Kette aus Männern mit Fackeln.
»Warten die auf uns?«, fragte Junipa, ebenfalls außer Atem.
»Nein. Die sind wegen was anderem dort.«
Er wollte sie nun doch nach links ziehen, in die Richtung des Markusplatzes, selbst wenn ihnen dort die Kugeln um die Ohren fliegen würden. Er redete sich ein, dass die winzige Chance bestünde, nicht auf der Stelle umgebracht, sondern erst einmal gefangengenommen zu werden. Hier draußen hingegen konnten sie jeden Augenblick von den Wassermassen zerquetscht werden.
Junipa wurde langsamer. »Das ist es, oder?«
Er selbst sah nur die Reihe der Fackeln vor tiefer Dunkelheit. Junipa hingegen schien mit ihren Spiegelaugen bereits den Wasserwall zu erkennen. Unwillkürlich fragte er sich, wie dieser Anblick wohl auf jemanden wirken musste, der nicht damit aufgewachsen war.
»Wie geht das?«, fragte sie tonlos.
»Es passiert einfach. Niemand weiß, wie oder warum.«
Hinter ihnen wurden Stimmen laut. Mehrere Männer stritten sich unter Schnaufen und Ächzen, ob sie die Verfolgung wirklich fortsetzen sollten. Ein peitschender Schuss war zu hören, jemand brüllte Befehle, dann eine Warnung: Jeder, der sich aus dem Staub mache, werde standrechtlich erschossen.
»Die sind zu nah hinter euch«, sagte Cagliostra. »Und der Schuss hat sicher auch den letzten Soldaten auf dem Markusplatz geweckt.«
»Ich kann uns hier wegbringen«, sagte Junipa.
Er hörte kaum hin, weil ihn zum ersten Mal in dieser Nacht echte Verzweiflung überkam. Er würde nicht mehr nach Hause kommen, nicht am nächsten Morgen und nicht am übernächsten. Seine Mutter würde nicht einmal erfahren, was ihm zugestoßen war. Ohne die Medizin würde sie erst vollends erblinden und bald an ihrer Krankheit sterben. Und während ihrer letzten Monate würde die Trauer wie ein großes finsteres Tier an ihrem Bett stehen, das nur darauf wartete, sie zu verschlingen. Serafin hatte immer versucht, ihr Mut zu machen, so ausweglos ihre Lage auch war, einen fernen Hoffnungsschimmer heraufzubeschwören, dem sie beide entgegenblicken konnten. Manchmal hatte er sie angeschwindelt, wenn er selbst nicht daran geglaubt hatte, und das hatte ihn mehr Kraft gekostet als alles andere.
»Die Kleine kann euch also hier wegbringen«, sagte Cagliostra skeptisch. »Wahrscheinlich glaubt sie sogar selbst daran.«
Vergiss nicht, wo wir sie gefunden haben, dachte er.
»Ja«, gab die Katze mit einem Seufzer zurück, »und in welchem Zustand. Du hättest sie einfach liegen lassen sollen.«
»Du hast mich doch erst zu ihr geführt!«, entfuhr es ihm laut.
Junipa blickte ungerührt nach vorn. »Deine Katze kann mich nicht leiden, hm?«
Sie hatten die Wasserwand fast erreicht, und nun sah auch Serafin, was Junipa lange vor ihm erblickt hatte.
Der Wall verlief entlang einer perfekten Linie am Ende des Canal Grande, auf der einen Seite die Piazzetta San Marco, auf der anderen die Punta della Salute, der äußere Zipfel der venezianischen Hauptinsel. An dieser Grenze zur Lagune endete die schwarze Schlammwüste des Kanalbetts an einer gewaltigen Wand aus Wasser, so als wäre dort ein gläserner Damm errichtet worden, fünf Mannslängen hoch und mehr als hundert Meter breit. Am oberen Rand schlugen die Wellen gegen ein unsichtbares Hindernis, ohne je herüberzuschwappen. Darunter konnte man geradewegs in das Gewässer der Lagune blicken wie in das Innere eines Aquariums.
»Als hätte man das Wasser mit einem Spaten abgestochen«, flüsterte Junipa erschöpft, während Serafin und sie zum Stehen kamen. Hinter ihnen waren die Stimmen kaum noch zu hören, aber womöglich wurden sie nur von dem unheimlichen Rauschen der Wand übertönt. Zudem lag leiser Gesang in der Luft. Er kam geradewegs aus dem Wasser.
Bläuliches Schimmern zog sich in blassen Schlieren durch die Fluten, zu schwach, um von weitem sichtbar zu sein. Serafin hatte sich noch nie so nah an den Wall herangewagt. Nicht nur aufgrund der Entfernung zum sicheren Ufer, sondern wegen der Wesen, die sich im sanften Schein der Lichter tummelten.
»Meerjungfrauen?« Junipa musste sie mit den Spiegelaugen viel deutlicher sehen als er. Zu seinem Erstaunen klang sie nicht ängstlich.
»Die fressen Menschen«, sagte er und spürte, wie seine Halsschlagader vor Aufregung pochte.
Junipa schüttelte den Kopf. »Sie wollen nur, dass alle das glauben.« Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Jedenfalls in meinem Venedig.«
Die Männer mit den Fackeln standen am Fuß der Wand und starrten zu den schemenhaften Gestalten im Wasserwall. Die nackten Oberkörper der Frauen gingen an den Hüften in mächtige Fischschwänze über. Ihr langes Haar folgte ihnen bei ihren Pirouetten wie ein Schweif. Im Schein der Fackeln waren dann und wann ihre Gesichter zu sehen: ihre großen, wunderschönen Augen leuchteten betörend, während ihre Münder den Mäulern von Haifischen ähnelten, lippenlose Schlitze, die von einem Ohr zum anderen reichten und beim Lächeln Reihen spitzer Zähne entblößten. Die Männer kümmerte das nicht – sie waren dem Bann der hypnotischen Blicke und Bewegungen verfallen, grinsten idiotisch ins Wasser und winkten den Meerjungfrau mit ihren Fackeln zu. Viele sahen aus wie Herumtreiber, die niemanden hatten, der sie beim Abstieg in den Kanal hätte aufhalten können.