Valija Zinck
Drachenerwachen
Mit Vignetten von
Annabelle von Sperber
FISCHER E-Books
Valija Zinck, geboren 1976 in Ingolstadt, arbeitete lange Zeit als Tanzpädagogin und freischaffende Choreographin, bevor sie das Schreiben für sich entdeckte. Nach ›Jakob und die Hempels unterm Sofa‹ und ›Penelop und der funkenrote Zauber‹, das mehrfach ausgezeichnet wurde, ist ›Drachenerwachen‹ ihr dritter Kinderroman. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin
Annabelle von Sperber arbeitet als freie Illustratorin und Autorin im atelier2gestalten für verschiedene Verlage und Printmedien. Sie studierte Illustration an der HAW Hamburg und lehrt als Dozentin an der Akademie für Illustration und Design in Berlin.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden sich auf www.fischerverlage.de
Wer einen Drachen rettet, rettet die ganze Welt
Johann und Janka trauen ihren Augen nicht, als sie einen lebendigen Drachen bei ihrer Nachbarin Frau Tossilo entdecken! Im achten Stock! Mitten in der Großstadt!
Doch der Drache ist nur versehentlich bei Frau Tossilo gelandet ist. Er gehört einem internationalen Energiekonzern, der Großes mit ihm vorhat und ihn um jeden Preis zurückhaben will. Plötzlich ist Frau Tossilo spurlos verschwunden. Gemeinsam mit dem Drachen begeben sich Janka und Johann auf die Suche nach ihr und stürzen sich in ein großes Abenteuer …
Der zweite Band erscheint im Frühjahr 2019.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: MT Vreden
unter Verwendung einer Illustration von Annabelle von Sperber
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-5093-3
Ein leiser Ton flog durch die Welt. Der Drache hob den Kopf. Es war wieder Zeit. Zeit zurückzukehren.
Es war dunkel in Berlin. Die Straßenlaternen warfen ihr trübes Licht auf die Gehwege, und das weißgraue Hochhaus mit den orangefarbenen Balkonen stand da und wartete. Es wartete auf alle, die in ihm wohnten und bald zurückkehren würden. Vom Einkaufen, von der Zirkusstunde, von der Arbeit, oder wo sie sonst ihren Tag verbracht hatten.
Dort hinten, neben den kahlen Forsythiensträuchern, tauchte schon wieder jemand auf. Es war die Frau mit dem blondgebleichten Haar aus dem achten Stock. Aber sie war nicht allein. Sie hatte einen riesigen Rollkoffer im Schlepptau. Als sie sich schließlich in das Neonlicht des Treppenhauses schleppte, war auch deutlich die Farbe des Koffers zu erkennen. Pink!
Die Aufzugkabine roch staubig und abgestanden. Frau Tossilo zerrte ihren Koffer hinein, gab einen Seufzer von sich und drückte auf den Knopf zum achten Stock. Endlich war sie wieder zu Hause. Endlich.
Die metallenen Schiebetüren schlossen sich. Aber gerade als sie nur noch einen Spalt breit voneinander entfernt waren, schob sich ein abgelatschter dunkelblauer Jungenturnschuh dazwischen. Es quietschte, die Türen öffneten sich wieder, und das zierliche Mädchen und der etwas größere Junge von oben drängten in die muffige Kabine.
»Muss das sein«, stöhnte Frau Tossilo. Wozu bitte gab es hier den zweiten Aufzug? Nun gut, das Ding blieb öfters hängen, aber trotzdem.
»Guten Abend«, sagte Johann höflich. Er drückte auf den Knopf mit der neun, dann fiel sein Blick auf den pinkfarbenen Koffer. »Waren Sie verreist?«
»Ich wüsste nicht, was dich das angeht«, presste Frau Tossilo hervor und schaute mit ihren eisgrünen Augen direkt an ihm vorbei. Sie mochte Kinder nicht. Kleine nicht und große sogar noch weniger.
Johann zuckte mit den Schultern und sah auf den Aufzugboden.
Als sie am dritten Stock vorbeifuhren, zog Frau Tossilo sich die Lippen nach. Janka wickelte sich eine ihrer dünnen haselnussbraunen Haarsträhnen um den Zeigefinger und wisperte ihrem Bruder zu:
»Aber der Koffer ist schön, oder? So einen hätte ich auch gerne.«
»Oah, Janka! Bist du elf Jahre alt, oder bist du jetzt wieder fünf? Mit der Farbe ist man nach der ersten Klasse doch durch«, flüsterte Johann genauso leise zurück.
»Ich aber nicht«, kicherte Janka. »Und immerhin ist es eine Farbe. Allemal besser als deine langweiligen schwarzen Jeans und deine noch langweiligeren grauen Kapuzenpullis.«
»Die sind nicht langweilig, das ist Style«, erwiderte Johann und schubste Janka spaßeshalber ein bisschen in Frau Tossilos Richtung.
Frau Tossilo drückte den Stoppknopf. Sie musste diese Kabine sofort verlassen. Sie waren zwar erst im sechsten Stock gelandet, aber lieber würde sie in den zweiten Aufzug umsteigen, als sich noch weiter diesen albernen Kindereien auszusetzen.
Umständlich zwängte sie sich zwischen Janka und Johann hindurch und hinaus.
Die Metalltüren schlossen sich wieder, und Frau Tossilo hörte das Gekicher davonfahren.
»Wie sie geguckt hat!!!« Johann schnitt dem Aufzugspiegel eine Grimasse und wackelte vor seiner Schwester herum.
»Pst, vielleicht kann sie uns noch hören!«, flüsterte Janka. »Und hör auf, so zu hampeln, der Aufzug bleibt sonst noch hängen.«
»Na und?«, rief Johann. »Dann hört sie uns eben. Sie kann uns doch sowieso nicht leiden! Neulich hat sie sogar die Straßenseite gewechselt, als ich ihr entgegenkam. Großes Glück für sie, dass du nicht drüben standst, sonst wäre sie glatt in der Mitte stehen geblieben.«
Janka musste lachen.
»Weißt du noch, wie sie gleich nach unserem Einzug hoch kam und gemeint hat, es sei eine Unverschämtheit, über ihrem Schlafzimmer ein Kinderzimmer einzurichten? Und dass Mama und Papa es verlegen sollten.«
»Ja, nur gut, dass Papa ihr gleich klargemacht hat, dass er das auf keinen Fall machen würde. Sonst müssten wir jetzt in der Abstellkammer wohnen.« Johann lachte jetzt auch. »Stell dir das mal vor!«
»Abstellkammer? Gute Idee!«, rief Janka begeistert. »Wie wäre es, wenn du ab heute dort wohnst? Zum Computerspielen brauchst du doch sowieso kaum Platz.«
»Du spinnst wohl! Du kannst selber in die Kammer zie-hen, und deine ganzen Bücher kannst du auch gleich mitnehmen.«
Mit gespielter Empörung schubste Johann Janka aus der Kabine, als der Aufzug im neunten Stock hielt.
Ihre Wohnungstür öffnete sich, ehe sie ihre Schlüssel herausgekramt hatten. Die Mutter hatte sie schon kommen gehört.
»Hallo, meine beiden Großen!«, begrüßte sie sie lächelnd.
»Hi, Mama!«, riefen Janka und Johann vergnügt und traten ein. »Weißt du, was …«
Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss, und nur noch dumpfes Gemurmel drang hinaus.
Frau Tossilo stand immer noch unten im sechsten Stock und wartete. Der andere Aufzug kam und kam nicht. Das Lachen der Kinder flirrte nicht mehr durch die Gänge, aber sie ärgerte sich trotzdem. Am meisten darüber, dass sie ausgestiegen war.
An dem roten Pfeil auf dem schwarzen Display neben den Aufzugtüren konnte sie sehen, dass beide Aufzüge immer noch nach oben fuhren. Entweder musste sie jetzt hier im sechsten Stock übernachten oder die restlichen zwei Etagen zu Fuß emporsteigen. Grimmig wuchtete sie den pinken Koffer also Stufe für Stufe nach oben. Jetzt bereute sie ein bisschen, dass sie auf all den mexikanischen Schnäppchenmärkten so dermaßen viel eingekauft hatte.
Das Treppenhaus hallte von den Schlägen der Kofferrollen auf den abgeschlagenen Treppenstufen, und Frau Tossilo schnaufte. Als sie endlich ihre Wohnungstür erreichte, war sie ziemlich geschafft. Ihre sonst so blassen Wangen hatten sich gerötet. Sie schloss auf, ließ den pinken Prinzen – so hatte sie ihren Koffer insgeheim genannt – im Flur stehen, wankte ins Schlafzimmer und sank auf ihr Bett. Sie war sogar so aus der Puste, dass sie ausnahmsweise an gar nichts dachte. Und das kam wirklich selten vor.
Ein leichter Schlummer überfiel sie. Im Traum glitten ihr Bilder von der Reise durch den Kopf. Ein weicher Abendhimmel, der sich über das Meer wölbte. Unermüdliche Wellen, die an den Strand rollten und zu nichts zerflossen. Eine Nagellackverkaufsshow, bei der sie ordentlich zugeschlagen hatte, eine Laptopshow, bei der sie auch ein Gerät erstanden hatte, und natürlich das Bettdeckenunternehmen, dessen Verkäufer ihr unglaublich gut gefallen hatte. Deckenpeter hatte der sich genannt, Deckenpeter, ein toller Mann, wirklich ein toller Mann und ein seltsames Kratzen und ein dumpfes Pochen, es knirschte. Nanu? Was war das denn? Der dösige Zustand verschwand. Abrupt setzte Frau Tossilo sich auf.
Kratz, kratz.Klopf, klopf.
Das kam nicht aus dem Stockwerk über ihr. Das kam doch von hier drin. Es klang ja ganz nah. War etwa jemand in ihrer Wohnung? Frau Tossilos Herz begann zu holpern, und ihre Hände wurden schwitzig. Sie wischte sie an dem violetten Satinbettbezug ab und zwang sich, wieder aufzustehen. Vorsichtig schlich sie zur Schlafzimmertür und spähte in den Gang. Aber dort war nur die Leere ihrer Wohnung. Alles war still.
Einen Stock über Frau Tossilo spähte Johann ebenfalls in den Gang. Aber nicht in die Wohnung, sondern in eine Katakombe seines neuen Computerspiels. Wie gut, dass Janka heute Abend mit der Mutter das Abendessen vorbereitete, da hatte er das gemeinsame Zimmer eine Weile für sich, konnte das Licht ausschalten, den Kopfhörer aufziehen und Skelette jagen. Oder was auch immer ihn in diesem Gewölbe erwartete. Er steuerte den Gang entlang und um eine Säule herum. Am Boden lag eine Fackel. Gut, jetzt konnte er wenigstens den ausgeleuchteten Raum deutlicher erkennen. Hilfe! Was war das? Ein Gegner? Gab es hier überhaupt Gegner? Er lauschte.
Am Anfang war das Spiel ja ziemlich öde gewesen, als der Pfad noch nicht so verwinkelt war. Aber jetzt? Er brauchte unbedingt mehr Ausrüstung. Ein Schwert auf alle Fälle. Ein Schwert war eigentlich immer gut. Damit konnte man schon ordentlich Schaden anrichten.
Dort vorne kam eine Landkarte und hinter ihm knirschte etwas. Johann schwenkte die Fackel, sah aber nur den leeren Raum. Etwas tropfte. War das Wasser? Oder etwas Schlimmeres? Oh, dieser Level war gruselig und ganz nach seinem Geschmack. Plötzlich wurde es gleißend hell. Aber nicht auf dem Bildschirm, sondern im Zimmer. Johann nahm die Hände von der Tastatur, riss den Kopfhörer herunter und fuhr herum.
»Oh, hi, Papa, du bist ja schon da!«
»Ja. Alles klar bei dir? Was machst du?«
»Ach nix«, antwortete Johann, fuhr sich durch das zerzauste Haar und wollte sich gerne wieder dem Bildschirm zuwenden.
»Aha, nix also. Und hast du schon Französisch gelernt?«, wollte der Vater wissen.
»Nö, mach ich morgen. Ich spiele gerade was.«
»Gerade? Immer wäre wohl der passendere Begriff. Du spielst doch immer gerade was.«
Johann verdrehte die Augen, aber so, dass es der Vater nicht sehen konnte.
»Nur weil ich viel vor dem Laptop sitze, heißt das noch lange nicht, dass ich die ganze Zeit spiele. Und wenn dieses Schrottding nicht so lahm wäre, dann müsste ich hier auch gar nicht so lange rummachen.«
Der Vater seufzte, dann setzte er sich auf Jankas Bett.
»Johann, wenn du dich in Französisch nicht mehr bemühst, dann schaffst du die achte Klasse vielleicht nicht. Sehr gut sein in Mathe und Physik reicht nicht.«
Johann hasste diese Gespräche.
»Ich brauche kein Französisch lernen. Französisch brauche ich nicht für mein Leben. Ich brauche es nicht für meinen Beruf!«
Der Vater seufzte. Er hatte keinen richtigen Beruf. Er hatte nur viele komische Sachen studiert und arbeitete jetzt in einem Callcenter. Und er mochte diese Arbeit überhaupt nicht.
»Ich weiß nicht, ob du mit deinen gerade mal dreizehn Jahren schon so viel von Beruf verstehst. Nächstes Jahr machst du doch das Praktikum und …« Er hielt inne, nahm Jankas Kopfkissen auf die Knie und fuhr mit dem Finger darauf herum.
»Ich werde Gamedesigner«, sagte Johann bestimmt. »Und zum Programmieren brauche ich Programmiersprachen und Englisch, und das kann ich.«
»Ja schon«, murmelte der Vater, »aber …«
»Du musst es mal so sehen, wenn ich ein Computerspiel spiele, ist das wie studieren und Praktikum in einem. Und wenn ich später gut in meinem Beruf sein will, dann muss ich jetzt am Ball bleiben.«
Der Vater lächelte schief und stand auf.
»Okay, Johann, dann sehe ich das mal so. Aber jetzt lern trotzdem Französisch und dann komm zum Essen.«
Er verließ das Zimmer, und Johann fischte widerwillig sein Französischbuch aus dem Rucksack. Noch widerwilliger klappte er den Laptop zu. Wenn er doch nur einen schnelleren Rechner hätte. Mit dieser lahmen Krücke hier konnte man keine guten Abenteuerspiele spielen. Und nach richtig aufwendig gemachten Abenteuerspielen sehnte sich Johann. Er wollte Rätsel lösen. Er wollte kämpfen. Mit Armbrust, Schwert oder Schusswaffe, ganz gleich. Erfolgreiche, spannende Kämpfe gegen herausfordernde Feinde in magischen Welten oder in …
Plötzlich hörte er ein Kreischen aus der Wohnung unter ihm. Er sah auf. Komisch, Frau Tossilo war normalerweise ziemlich leise. Er hörte sie sonst eigentlich nie.
Mittlerweile war Frau Tossilo im Gästezimmer und im Wohnzimmer gewesen. Nirgends hatte es gekratzt. Niemand hatte gepocht. Die silberweißen Gardinen hingen ruhig vor den Fenstern. Das elfenbeinfarbene Ledersofa gab kein Geräusch von sich. Jetzt schlich sie in Richtung Küche.
»Hallo«, rief sie zaghaft durch den Gang. »Ist da jemand?«
Aber auch in der Küche war es still. Wenn sie doch nur nicht allein wäre, wenn sie doch einen Mann gehabt hätte, dann müsste sie sich nicht immer so ängstigen. Denn sogar die Stille kam Frau Tossilo nun verdächtig vor, als würde etwas Kraft sammeln, um dann endlich zuzuschlagen. Beklommen huschte sie zurück ins Wohnzimmer und rieb ihre Füße durch die weißen Büschel ihres Flauscheteppichs. Diese Berührung beruhigte sie meistens, wenn sie sich allzu sehr in Schauergedanken und düstere Ahnungen hineinsteigerte. Zum Glück half es auch jetzt.
Wahrscheinlich habe ich mir die Geräusche nur eingebildet. Ich habe eine lange Reise hinter mir, da sind die Nerven überreizt, dachte sie schließlich und trat ans Fenster. Sie blickte hinaus auf die nachtschwarzen Kräne der Baustelle gegenüber. Und als sie genug geblickt hatte, rief sie energisch: »Jetzt wird erst einmal ausgepackt.«
Also zog sie den pinken Prinzen ins Schlafzimmer, direkt vor ihren wandbreiten Spiegelschrank. Einmal waagrecht gekippt und den Schnappverschluss gedrückt, schon öffnete er sich. Hilfe! Was bitte war das?!!! Frau Tossilo gab einen spitzen Schrei von sich. Ein verknotetes Kleiderknäuel lag im Koffer. »Du liebe Güte! Das ist ja gar nicht mein pinker Prinz! Das ist ein Doppelgänger!«, stieß sie hervor und fuchtelte mit der Hand vor ihren Augen herum, als wolle sie damit das falsche Bild und den merkwürdigen Himbeergeruch, der aus dem Koffer stieg, wegwischen.
Verflixt! Sie hatte doch tatsächlich einen anderen Koffer mitgenommen!
Aufgebracht riss sie ihr Handy aus der Silberhandtasche und scrollte zu der Nummer von Flügel und Fernweh. Dieses lausige Reisebüro! Die sollten ihr sofort den pinken Prinzen organisieren. Kaum auszudenken, wo der nur gelandet war. Nicht dass diese Person, der dieser unordentliche Koffer gehörte, just in diesem Moment ihren Koffer öffnete. Da würde die Person ja ihren rosa Flanellbademantel zu Gesicht bekommen. Vielleicht probierte sie ihn sogar an. Oder eher gesagt: Er! Es musste ein Er sein, dem dieses Chaos gehörte, das sah man ja eigentlich gleich.
»Na, warte«, fauchte Frau Tossilo, »wenn du meinen rosa Bademantel anziehst, dann ziehe ich mir auch etwas von dir an!« Sie warf das Handy auf ihr Bett, griff tief in den Koffer hinein und zog eine Art Antenne hervor. Die konnte sie schlecht anziehen. Also fischte sie noch einmal. Diesmal war es eine graugrüne Krawatte. Hässlich, dachte Frau Tossilo, wirklich äußerst hässlich. Da fiel ihr Blick auf das, was mit der Krawatte aus dem Kleiderknäuel herausgekommen war. Eine metallene Schatulle. Handgroß, mit eingraviertem schnörkeligen Muster und mit einem kleinen Display versehen. Auf dem Display blinkte ein roter Punkt.
Frau Tossilo vergaß die Krawatte in ihrer Hand. Sie starrte die Schatulle an. Ihre Unterlippe begann zu zittern. Nicht weil die Schatulle so bezaubernd schön war oder weil sie so bedrohlich blinkte wie eine Zeitbombe, sondern weil Frau Tossilo eine abgrundtiefe Sehnsucht spürte. Eine Sehnsucht nach etwas oder nach jemand, sie wusste es nicht genau. Sie wollte, nein, sie musste wissen, was sich in dem eigenartigen Kästchen befand.
Obwohl es ihr nicht gehörte und obwohl es vielleicht sogar explodieren konnte, gab Frau Tossilio einfach eine Zahl in das Minidisplay ein. Und dann noch eine und dann eine dritte. Es waren nicht die richtigen. Die Schatulle blieb verschlossen. Egal, wie oft Frau Tossilo es versuchte.
Ein oder zwei Tage später rieb Johann sich mit der Hand übers Gesicht und stöhnte: »Das darf doch nicht wahr sein!« Dieses Schrottding von einem Rechner war doch tatsächlich schon wieder abgestürzt. Die ganzen Zeichen, die er in ihn hineingehämmert hatte, waren ihm wohl zu viel gewesen. Dabei war Johann so nah dran, etwas wirklich Einzigartiges herauszufinden. Etwas Schönes und Abenteuerliches und etwas, womit er reich werden könnte. Aber dazu brauchte er unbedingt einen besseren Computer.
»Hi, Jo!« Janka kam ins Zimmer gestürmt und ließ ihren Rucksack über den Laminatboden in die Ecke schlittern. »Kommst wenigstens du nächste Woche zu meiner Zirkusaufführung? Papa hat keine Zeit. Und Mama hat gesagt, sie versucht zu kommen, schafft es aber wahrscheinlich nicht.«
Johann antwortete nicht. Er starrte auf den schwarzen Bildschirm und rührte sich nicht.
Dass ihr Bruder in seinen Laptop verliebt war, war ja nichts Neues. Aber dass er das Ding jetzt schon anglotzte, wenn es gar nicht lief, hatte Janka bisher noch nicht erlebt.
»Ich mache eine Kür mit Lenya. Wir waren heute super synchron.«
»Interessiert mich doch nicht«, brummte Johann und glotzte weiter auf den schwarzen Bildschirm.
»Dann halt nicht«, murmelte Janka enttäuscht, strich sich ihr Haar hinter die Ohren, ließ sich auf ihr geblümtes Bett plumpsen und begann sich zu dehnen. Sie nahm ihren rechten Fuß in beide Hände, zog ihn sich hinter den Hals und dachte an das Training von heute Nachmittag. Es war so schön gewesen.
Kopfüber, in fünf Meter Höhe, war sie am Vertikaltuch gehangen. Oben in der Zirkuskuppel. Und ihre Freundin Lenya auf gleicher Höhe am Tuch neben ihr. Beide hatten sie bereits ihre weißgoldenen Aufführungsbodys angehabt.
»Sobald in der Musik dieses Pling-digi-digi-ding einsetzt, legt ihr los«, hatte Sandra, die Zirkuslehrerin, von unten gerufen, und dann hatten Lenya und sie begonnen.
Sie hatten den Rücken durchgedrückt, umgegriffen, ihren linken Fuß aus der Umwickelung gleiten lassen. Ohne sich anzusehen, fielen sie mit ausgebreiteten Armen gleichzeitig abwärts. Sie stoppten den Fall, griffen abermals um, es kam die Windmühlenfigur, dann das Zueinanderschwingen, ein weiterer Abfaller, und schließlich landeten sie federleicht und sicher auf der Weichbodenmatte.
»Einmalig super!«, hatte Sandra gestrahlt. »Super, super, super. Wenn ihr so weitermacht, könnt ihr das später professionell machen.« Janka hatte gelächelt. Ja, Tuchakrobatik war einfach das Beste, was es gab. Hoch oben, unter der Zirkuszeltkuppel, konnte sie alles vergessen. Manchmal hatte sie dort sogar das Gefühl, sie würde davonfliegen. Schade, dass das Training nur zweimal die Woche stattfand. Sie wäre gerne täglich gekommen. Hinauf in die Luft klettern, sich biegen und verdrehen, das war einfach ihr Ding. Darin war sie gut.
Noch letztes Jahr war Johann auch im Zirkustraining gewesen. Nicht bei der Tuchakrobatik, sondern beim Jonglieren. Jetzt saß er lieber vor dem Laptop, übte programmieren oder spielte.Das fand Janka schade. Sie hatte es gemocht, mit ihm zum Training zu fahren. Gern hätte sie mehr mit ihm gemacht. Sie teilten zwar das Zimmer miteinander, aber Johann befand sich ja die meiste Zeit unter einem Kopfhörer und war nicht ansprechbar.
»Kaufst du mir einen neuen Rechner?«, fragte er jetzt versöhnlich.
»Hahaha.« Janka verdrehte die Augen und wechselte die Beine hinter ihrem Hals.
»Wenn du mir einen neuen Rechner kaufst, kann ich zum Beispiel machen, dass wir nie wieder den Giftdrachen im Aufzug treffen«, sagte Johann. »Oder – viel besser: Ich könnte machen, dass dein Lehrer sich während einer Klassenarbeit in Luft auflöst und erst am Abend, wenn die Schule schon zu ist, wieder auftaucht. Das wäre doch lustig, was meinst du?«
»Erzählst du in deiner Informatik-AG eigentlich auch solchen Quatsch?«, wollte Janka wissen.»Wahrscheinlich nicht, sonst würden die Zwölftklässler dich wohl nicht ständig um Rat fragen.«
»Wirklich.« Jetzt wurde Johanns Stimme eindringlicher. »Ich habe da was rausgefunden. Ich habe etwas ganz Neues entdeckt!«
»Okay«, sagte Janka, holte ihren Fuß hinter dem Hals hervor, strich kurz die Bettdecke glatt und tat interessiert. Wenn Johann so sprach, war es besser, ihm zuzuhören, sonst würde er erst ausrasten und dann tagelang nicht mehr mit ihr reden. Und das wollte sie auf keinen Fall.
»Jetzt sag schon, was hast du herausgefunden?«
Johann begann zu erzählen, aber je länger er sprach, umso weniger verstand Janka, worum es eigentlich ging. Ihre Gedanken drifteten ab, und ihre Augen tasteten sich sehnsüchtig in Richtung Bücherregal.
»Kapiert?«, fragte Johann plötzlich.
»Äh, ja«, sagte Janka langsam und nickte zur Bekräftigung.
»Und dann könnte es sein, dass sich ein Körper quasi auflösen und woanders wieder zusammensetzen lässt. So etwas wie beamen«, fuhr Johann fort, und seine Augen funkelten.
»Gut«, sagte Janka.
»Gut? Bist du bescheuert? Das ist mega-cool!« Er sprang auf.
Schnell hüpfte Janka vom Bett und warf sich auf den Boden vor ihn. Sie rutschte mit den Knien über das Laminat, lachte und rief:
»Mein Bruder ist ein Genie! Bitte, Jo, verzeih mir, dass ich nicht genug Begeisterung gezeigt habe. Schau, ich knie vor dir und deiner unglaublichen Intelligenz.«
Johann lachte auch. Im nächsten Moment hörten sie einen Schrei durch den Fußboden.
»Siehst du«, kicherte Janka, »sogar der Giftdrache da unten jubelt dir zu. Oder glaubst du, ihr ist nur ihre Parfümsammlung explodiert?«
»Kann schon sein«, rief Johann, »und um wie viel Uhr ist das eigentlich?«
»Was?«
»Na, deine Zirkusaufführung? Ich will doch pünktlich sein!«
Janka stand wieder auf. Sie begann zu strahlen. Wieder und wieder strich sie ihre Bettdecke glatt, aber nicht um ein ordentliches Bett zu erhalten, sondern um die kribbelnde Leichtigkeit in der Brust auszuhalten. Der Abend heute war doch wirklich schön. Johann hatte ihr eben eine Art Geheimnis erzählt, sie hatten zusammen gelacht, und jetzt wollte er sogar zur ihrer Aufführung kommen. Wofür so ein abgestürzter Laptop doch alles gut sein konnte. Sie hoffte, dass ihr Vater immer in diesem schlechtbezahlten Callcenter bleiben musste und dass ihre Mutter, wenn sie ihr Pharmaziestudium endlich fertig hätte, trotzdem wenig Geld verdiente. Denn dann würden die Eltern Johann niemals einen gut funktionierenden Computer kaufen können.
Frau Tossilo saß in ihrem Wohnzimmer auf dem Flauscheteppich und lutschte an ihrem rechten Daumen. Ihr war der Fingernagel eingerissen. Sie hatte zu sehr an der Schnörkelschatulle herumgefuhrwerkt.
»Ein eingerissener roter Daumennagel und ein rotblinkender Punkt!«, hauchte sie unheilvoll und biss kurz in den Daumen, bevor sie ihn aus dem Mund nahm. »Das bedeutet nichts Gutes! Eindeutig, das bedeutet Unglück. Eine düstere Zukunft.« Sie tippte wieder eine Nummer in das Display.
»Trotzdem«, sagte sie trotzig. Da erklang plötzlich ein leises Sirren. Etwas entriegelte sich. Frau Tossilo konnte es nicht fassen. Die Schatulle öffnete sich! Sie hatte doch tatsächlich die richtige Kombination erwischt!
Eine meergrüne Samtauskleidung strahlte ihr entgegen, und in deren Mitte war eine Vertiefung. Daraus strahlte es noch mehr, denn darin lag etwas Eiförmiges. Ein Stein.
Kein gewöhnlicher Stein. Ein Edelstein, schön glattgeschliffen. Er war leicht marmoriert, nachtblau und mit feinen goldenen Adern durchzogen, wie eine winzige Flusslandschaft. Frau Tossilo riss ihre Augen auf und saugte ihre Wangen ein. Normalerweise konnte sie Steinen nichts abgewinnen, mochten sie glitzern oder nicht. Doch dieser Stein war anders. Sie streckte ihren Finger aus und stupste ihn mit ihrem spitzgefeilten Zeigefingernagel an. Nach kurzem Zögern fuhr sie schnell und zaghaft über die Oberfläche.
Der Stein war nicht hart. Er war aber auch nicht weich. Sie konnte gar nicht sagen, was er war. Irgendwie flüchtig war er. Etwas zwischen einem prallgefüllten Gasballon und vielleicht einem Harztropfen, der eben getrocknet war.
Frau Tossilo strich noch einmal darüber, diesmal länger und mit der ganzen Hand. Sie hatte das Bedürfnis, den Stein – oder was auch immer dieses Ding sein sollte – aus der Samtummantelung herauszunehmen und ihn an sich zu drücken. Sie wollte ihn an der Brust spüren, ihn wiegen und dabei leise Töne summen, und …
»Einen Stein presst man doch nicht an sich! Was ist nur in dich gefahren?«, schimpfte sie grob mit sich selbst und zog ihre Hand ruckartig wieder zu sich. Ihr Handy zwitscherte. Sie war froh über die Ablenkung.
»Ja, bitte?«
»Guten Taahaaag, Frau Tossilo«, flötete eine helle Frauenstimme. »Hier spricht Flügel und Fernweh, Ihr Traumreisebüro. Wir haben da ein paar Fragen an Sie!«
In Frau Tossilo zog sich alles zusammen. Sie hatte den Koffer eines Mitreisenden durchwühlt und gerade seine Schatulle geöffnet, und jetzt wollte ihr die Dame sicherlich mitteilen, dass ihr eigener Koffer heute aufgefunden worden war, und es würde rauskommen …
»Hatten Sie eine schöne Reise? Sind Sie wieder gut gelandet?«
»Ja, äh, danke, alles bestens«, antwortete Frau Tossilo langsam.
»Gab es irgendetwas zu beanstanden? Wir möchten unseren Service stets auf dem höchsten Niveau halten.«
»Äh, nein. Äh, doch. Also ich meine, es war schon passend.«
»Es war passend, wunderbar! Dann wünschen wir Ihnen noch einen schönen Tag und hoffen, dass Sie bald wieder mit uns buchen«, trillerte es aus dem Handy, und schon war es wieder still.
Frau Tossilo biss sich auf die Lippe. Warum hatte sie der Frau nichts von dem vertauschten Koffer gesagt? Sie wollte doch ihren pinken Prinzen wiederhaben. Und vor allem ihre Sachen. Ihren rosa Bademantel, ihre zwanzig Nagelfeilen und die ganzen Dinge, die sie in Mexiko erstanden hatte, und …
Sie starrte den merkwürdigen Stein an. Weil ich ihn nicht hergeben will, dachte sie. Ich habe nichts gesagt, weil ich ihn noch ein bisschen behalten möchte. Nur ein bisschen noch. Wenigstens so lange, bis sich der Besitzer meldet. Noch einmal verspürte sie den eigenartigen Wunsch, den Stein an ihre Brust zu pressen, zu wiegen und zu summen, aber mit einem energischem »Reiß dich gefälligst zusammen!!!« brachte sie sich wieder zur Vernunft. Und um die Vernunft nicht gleich wieder zu vertreiben, flitzte sie ins Schlafzimmer, verstaute die Schatulle im pinken Prinzen, klappte den Deckel zu, floh in die Küche und goss sich eine Tüte Fertigpilzsuppe auf.
Einen Tag später war Halloween. Janka war mit Lenya um die Häuser gezogen. Sie hatte überlegt, ob sie mit elf Jahren nicht langsam schon zu alt für die Süßigkeitenjagd war. Dann aber hatte sie beschlossen, dass dies nicht der Fall sein konnte. Denn ein selbstgenähtes Kostüm zu tragen war einfach toll, und Süßigkeiten brauchte man schließlich auch immer. Besonders Drachendrops. Wer die Schokobonbons in Drachenform mit salzigem Karamell innendrin nicht kennt, dem sei gesagt: Sie sind so lecker, dass einem davon Flügel aus den Rippen wachsen.
Für Drachendrops wäre Janka wahrscheinlich noch als alte Oma losgehumpelt.
Jetzt saßen die Mädchen auf Lenyas Bett, wickelten sich die Fledermaus- und die Horrortorten-Kopfbedeckung ab und teilten die Beute auf.
Lenya sortierte, was sie doppelt bekommen hatten, gleichmäßig auf zwei Lager. Nach einer Weile gab es dann nur noch Einzelstücke, und sie rief:
»Also, ich nehme den Riegel hier, und du kannst dafür die Packung Brausewürfel haben, okay?«
Janka nickte.
»Und kann ich die Kaubonbons? Magst du dafür Lakritz?«
»Äh«, sagte Janka. »Ja, gut.«
»Und fändest du es okay, wenn ich die behalte?«, fuhr Lenya fort und hob das kleine Tütchen mit den Drachendrops hoch. »Du weißt ja, dass Mia krank ist und heute nicht rausgehen konnte. Mama hatte ihr so ein süßes Kostüm genäht, und sie hatte sich so gefreut, und dann musste sie diese blöde Magendarmgrippe bekommen. Ich würde sie einfach gerne ein bisschen aufheitern. Und mit was geht das bei einer kleinen Schwester besser als mit Drachendrops?«
Janka starrte auf ihr nicht gerade kleines Süßigkeitenlager und auf die geliebten Drachendrops, die verlockend und fragend in Lenyas Fingern schwangen.
»Mia steht einfach dermaßen auf die Dinger. Sie würde sich so drüber freuen«, meinte Lenya.
»Klar, okay, gib sie ihr ruhig.« Janka lächelte
»Cool. Und willst du sonst noch was Bestimmtes? Die Centershocks zum Beispiel?«
»Nee, danke. Ich nehme noch ein paar Kaugummis, und dann muss ich auch langsam mal nach Hause.« Also verabschiedeten sich die beiden Freundinnen, und Janka machte sich auf den Heimweg.
Als sie im Hochhaus in den Aufzug trat, begann es in ihrem Bauch zu ziehen. Als sie im neunten Stock angekommen war, hatte sich das Ziehen in Bauchweh verwandelt. Janka legte die Hände drauf. Warum nur hatte sie Lenya nicht gesagt, dass sie die Drachendrops selbst gerne haben wollte? Sie hatte einfach ja gesagt, nett gelächelt und Lenyas Schwester die Bonbons überlassen. Ihre Lieblingsbonbons!
Sie war froh, als sie die Wohnungstür aufschloss und ihre Mutter aus der Küche pfeifen hörte.
»Hallo, Süße, ich bin heute ausnahmsweise schon früher da, ich habe die Zwischenprüfung bestanden, und wie war’s bei dir, und wie geht’s, und rate mal, was es heute gibt?«
Janka musste nicht raten. Die Pizza duftete durch die ganze Wohnung.
Johann hatte bereits in der Küche den Tisch gedeckt, der Vater eine Sekt- und eine Saftflasche aufgemacht. Und so saßen sie wenige Minuten später zusammen, stießen an und ließen sich die Pizza schmecken. Als Johann sie irgendwann fragte: »Hast du ordentlich abgesahnt? Ich wäre dankbar für eine Spende. Bin auch gar nicht wählerisch. Du kannst Schokolade, Brause, Gummischlangen oder was auch immer bei mir abliefern«, musste Janka kichern. Und als der Vater wissen wollte, ob sie und Lenya Spaß gehabt hätten, merkte Janka, dass das Bauchweh sich bereits wieder in Luft aufgelöst hatte.