Barbara Wood
Traumzeit
Roman
Aus dem Amerikanischen von Manfred Ohl und Hans Sartorius
FISCHER E-Books
Barbara Wood ist international als Bestsellerautorin bekannt. Allein im deutschsprachigen Raum liegt die Gesamtauflage ihrer Romane weit über 13 Mio., mit Erfolgen wie ›Rote Sonne, schwarzes Land‹, ›Traumzeit‹, ›Kristall der Träume‹, ›Das Perlenmädchen‹ und ›Dieses goldene Land‹. Die Recherchen für ihre Bücher führten sie um die ganze Welt. 2002 wurde sie für ihren Roman ›Himmelsfeuer‹ mit dem Corine-Preis ausgezeichnet. Barbara Wood stammt aus England, lebt aber seit langem in den USA in Kalifornien.
Im Fischer Taschenbuch Verlag ist das Gesamtwerk von Barbara Wood erschienen:
›Rote Sonne, schwarzes Land‹, ›Traumzeit‹, ›Herzflimmern‹, ›Sturmjahre‹, ›Lockruf der Vergangenheit‹, ›Bitteres Geheimnis‹, ›Haus der Erinnerungen‹, ›Spiel des Schicksals‹, ›Die sieben Dämonen‹, ›Das Haus der Harmonie‹, ›Der Fluch der Schriftrollen‹, ›Nachtzug‹, ›Das Paradies‹, ›Seelenfeuer‹, ›Die Prophetin‹, ›Himmelsfeuer‹, ›Kristall der Träume‹, ›Spur der Flammen‹, ›Gesang der Erde‹, ›Das Perlenmädchen‹ und ›Dieses goldene Land‹, sowie die Romane von Barbara Wood als Kathryn Harvey, ›Wilder Oleander‹, ›Butterfly‹ und ›Stars‹.
Weitere Informationen, auch zu E-Book-Ausgaben, finden Sie bei www.fischerverlage.de
Coverabbildung: Ayal Ardon/Trevillion Images
Die amerikanische Originalausgabe erschien unter dem Titel ›The Dreaming‹ im Verlag Random House, Inc., New York
© Barbara Wood 1991
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1991
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402235-2
Joanna träumte.
Sie sah sich am Arm eines hübschen jungen Offiziers, war dankbar für den Halt, den er ihr bot, doch über dieses Gefühl hinaus unempfindlich gegenüber seiner fürsorglichen Aufmerksamkeit. Sie nahm auch die englischen Soldaten in ihren schnittigen Uniformen und die vornehmen Damen in den eleganten Kleidern und Häubchen nicht wahr. Offiziere zu Pferde hoben die Säbel zum Salut, als man die beiden Särge in die Gräber gleiten ließ. Joannas Gedanken kreisten nur um eines: Sie hatte die beiden einzigen Menschen verloren, die sie liebte, mit achtzehn Jahren stand sie plötzlich allein auf der Welt.
Die Soldaten legten die Gewehre an und feuerten in die Luft. Joanna hob überrascht den Kopf, als über ihr der blaue Himmel aufriß. Durch den schwarzen Schleier vor ihrem Gesicht sah sie die Sonne – viel zu groß, viel zu heiß und der Erde zu nahe.
Als der Regimentskommandant an den Gräbern von Sir Petronius und Lady Emily Drury den Nachruf verlas, sah ihn Joanna erstaunt an. Weshalb sprach er so undeutlich? Sie verstand seine Worte nicht. Sie betrachtete die Menschen, die ihren Eltern die letzte Ehre erwiesen. Von den Dienstboten bis zu den höchsten Rängen des Heeres und indischer Würdenträger waren sie alle erschienen. Niemand außer ihr selbst schien die Rede des Kommandanten als undeutlich oder ungewöhnlich zu empfinden.
Joanna spürte, daß etwas nicht stimmte, und plötzlich hatte sie Angst.
Dann erstarrte sie. Am Rand der Menschenmenge sah sie einen Hund. Dieser Hund hatte ihre Mutter umgebracht.
Aber man hatte das Tier doch erschossen! Joanna war mit eigenen Augen Zeuge, als ein Soldat das Tier tötete! Und doch war dieser Hund wieder da. Seine schwarzen Augen schienen sie zu durchbohren. Als er sich jetzt geduckt und drohend in ihre Richtung bewegte, wollte Joanna schreien. Aber sie konnte nicht schreien.
Der Hund rannte in großen Sätzen auf sie zu, er sprang, aber anstatt sie anzugreifen, flog er geradewegs in den Himmel, begann zu glühen, explodierte und wurde zu zahllosen heißen, weißen Sternen.
Die Sterne kreisten am Himmel wie ein strahlendes Karussell von überwältigender Schönheit und majestätischer Macht.
Dann formten sich die Sterne am Himmel zu einem langen, gewundenen und mit Diamanten gepflasterten Weg. Doch eigentlich war es kein richtiger Weg, denn er bewegte sich.
Aus dem Weg wurde eine riesige Schlange, die über den tiefschwarzen Nachthimmel glitt.
Der diamantene Körper der Schlange funkelte und leuchtete in den Farben des Regenbogens. Er entrollte sich langsam und kroch auf sie zu. Joanna spürte, wie die kalte Hitze des Sternenfeuers sie erfaßte. Der gewaltige Schlangenleib wurde größer, immer größer, bis sie mitten auf dem Kopf der Sternenschlange ein einziges feurig leuchtendes Auge sah. Die Schlange öffnete das Maul, und Joanna sah den schwarzen Schlund – ein Tunnel des Todes, der sie verschlingen wollte.
Sie schrie.
Joanna schlug die Augen auf und wußte zuerst nicht, wo sie sich befand. Dann spürte sie das sanfte Wiegen des Schiffs und sah im schwachen Licht die Wände der Kabine. Jetzt erinnerte sie sich: Sie war an Bord der Estella auf dem Weg nach Australien.
Sie setzte sich auf und griff nach den Streichhölzern, die auf dem kleinen Tisch neben ihrem Bett lagen. Ihre Hände zitterten so heftig, daß sie die Lampe nicht anzünden konnte. Sie legte sich das Umschlagtuch um die Schultern, stand auf und ging zum Bullauge. Mit Mühe gelang es ihr schließlich, es zu öffnen. Die kalte Meerluft strich ihr über das glühende Gesicht. Sie schloß die Augen und versuchte, sich zu beruhigen.
Der Traum war so wirklich gewesen.
Sie holte tief Luft und fand die vertrauten Geräusche des Schiffs tröstlich – das Quietschen der Takelage und das Knarren der Masten. Langsam kehrte sie in die Wirklichkeit zurück. »Es war nur ein Traum«, murmelte sie leise, »wieder ein Traum …«
»Sind Träume unsere Verbindung mit der geistigen Welt?« hatte Joannas Mutter, Lady Emily, in ihr Tagebuch geschrieben. »Sind sie Botschaften oder Warnungen oder geben sie Antworten auf die Geheimnisse dieser Welt?«
»Ich wünschte, ich wüßte es, Mutter«, flüsterte Joanna und starrte auf das endlose Meer, das sich bis zu den Sternen erstreckte.
Sie hatte die Sterne über Indien immer als strahlend und überwältigend empfunden. Aber jetzt fand Joanna, sie seien nicht mit dem einzigartigen Schauspiel an diesem nächtlichen Himmel zu vergleichen. Die Sterne bildeten Formationen, die sie noch nie gesehen hatte. Die vertrauten Sternbilder ihrer Kindheit waren verschwunden. Neue leuchteten jetzt über ihr, denn sie befand sich inzwischen bereits in der südlichen Hemisphäre.
Joanna dachte über den Traum nach und über seine mögliche Bedeutung. Es war verständlich, daß sie von dem Begräbnis träumte und auch von dem Hund. Aber wieso träumte sie von einer Sternenschlange und weshalb die Angst? Warum schien die Schlange sie vernichten zu wollen?
Wenige Wochen vor ihrem Tod hatte Lady Emily in ihr Tagebuch geschrieben: »Träume quälen mich. Ein ständig wiederkehrender Alptraum, für den ich keine Erklärung habe, macht mir unerträgliche Angst. Die anderen Träume sind seltsame Bilder von Ereignissen, die mich zwar nicht beängstigen, die mir aber unglaublich wirklich zu sein scheinen. Handelt es sich dabei um verlorene Erinnerungen? Taucht auf diese Weise endlich langsam meine Kindheit wieder auf? Wenn ich es nur wüßte! Ich spüre, daß die rätselhaften Träume die Antwort auf mein Leben enthalten. Ich muß diese Antwort bald finden, oder ich werde sterben.«
Geräusche, die über das Wasser drangen, rissen Joanna aus ihren Gedanken. Sie hörte die Stimme eines Mannes aus der Dunkelheit: »Schlag, Schlag, Schlag«, und das rhythmische Eintauchen von Rudern ins Wasser. Joanna fiel wieder ein, daß die Estella in einer Flaute lag.
»So etwas habe ich noch nie erlebt«, hatte der Kapitän am Vortag zu ihr gesagt. »In all den Jahren zur See bin ich auf diesen Breiten noch nie in eine Windstille geraten. Ich kann es mir absolut nicht erklären. Ich muß wohl die Barkassen zu Wasser lassen und sehen, ob meine Männer uns mit Rudern aus dem Windloch herausbringen können.«
Joannas Angst stellte sich wieder ein.
Sie hatte gewußt, daß es so kommen würde. Sie hatte es geahnt. Bereits in dem Sanatorium in Allahabad, wo sie sich nach dem plötzlichen und unerwarteten Tod der Eltern ein paar Wochen erholte, hatte sie von dieser bedrohlichen Windstille geträumt.
Warum …? Sie fröstelte unter dem Umschlagtuch und dachte: Kann das, was meine Mutter quälte und schließlich tötete, auch mich bis hierher auf dieses Meer verfolgen?
»Du mußt nach Australien fahren«, hatte Lady Emily wenige Stunden vor ihrem Tod zu Joanna gesagt. »Du mußt die Reise allein machen, die wir zusammen vorhatten. Etwas vernichtet uns. Du mußt die Ursache finden und dem Unheil ein Ende setzen, sonst wird dein Leben wie das meine enden – zu früh, und ohne daß jemand weiß, warum.«
Joanna wandte sich vom Bullauge ab und sah sich in der winzigen Kabine um. Als wohlhabende junge Frau konnte sie sich für die lange Fahrt von Indien nach Australien eine Einzelkabine leisten. Jetzt war sie dafür sehr dankbar. Sie wollte auf dieser Reise niemanden in der Kabine bei sich haben. Sie mußte mit ihrer Trauer allein sein. Sie brauchte Zeit, das zu verstehen, was ihrer Familie und ihr selbst zugestoßen war. Sie mußte langsam begreifen, was sie eigentlich auf die andere Seite der Welt führte und in ein Land, von dem sie so wenig wußte.
Joanna blickte auf die Papiere, die auf dem kleinen Sekretär lagen. Sie enthielten ein altes Erbe, das Erbe von Großeltern, die sie nie gekannt hatte. Joanna hatte versucht, diese Papiere zu entziffern, so wie ihre Mutter versucht hatte, ihre Bedeutung zu verstehen. Auf dem Sekretär lag auch das Tagebuch ihrer Mutter – Lady Emilys ›Leben‹, ein Buch voll von ihren Träumen, Ängsten und vergeblichen Bemühungen, das Geheimnis ihres Lebens zu enthüllen: die verlorenen Jahre, an die sie keine Erinnerungen besaß, und die Alpträume, die offenbar eine beängstigende Zukunft prophezeiten. Dort lag auch eine Grundbesitzurkunde – auch sie gehörte zu dem Erbe, das jene Großeltern Joanna hinterlassen hatten. Niemand wußte, wo sich das in der Urkunde bezeichnete Land befand, und weshalb die Großeltern es gekauft oder ob sie dort gelebt hatten.
»Aber ich spüre es deutlich, Joanna«, sagte Lady Emily am Ende ihres Lebens, »die Antwort zu allen Fragen liegt an diesem Ort, den diese Urkunde nennt. Das Land befindet sich irgendwo in Australien. Vielleicht bin ich dort geboren worden. Ich weiß es nicht. Manchmal frage ich mich, ob die Frau, die ich in meinen Träumen sehe, dort ist oder einmal dort war. Es ist denkbar, daß meine Mutter noch dort ist, daß sie noch lebt. Aber das wäre sehr unwahrscheinlich. Ich weiß nur, man nannte den Ort Karra Karra. Du mußt ihn suchen, Joanna, damit meine Seele Ruhe findet. Du mußt ihn suchen, um dich zu retten, aber auch um deine zukünftigen Kinder zu retten.«
Mich retten? Uns retten?
Wovor, dachte Joanna bekümmert. Was hat das alles nur zu bedeuten?
Auf dem Sekretär lag außerdem ein Brief – ein zorniger Brief, in dem stand: »Du sprichst von einem Fluch. Das ist eine Versündigung an Gott.« Der Brief trug keine Unterschrift, aber Joanna wußte, er stammte von ihrer Tante Millicent, die Joannas Mutter, Emily Drury, großgezogen hatte. Tante Millicent hatte sich angstvoll geweigert, mit der Tochter ihrer Schwester über die Vergangenheit zu sprechen. Und dann stand auf dem Sekretär noch eine Miniatur von Lady Emily – das Bildnis einer schönen Frau mit traurigen Augen. Wie fügten sich diese Dinge in das Rätsel ihres tragischen Todes? Und was haben sie mit meinem Schicksal zu tun? dachte Joanna.
»Ich weiß nicht, weshalb Ihre Mutter stirbt«, hatte der Arzt zu Joanna gesagt, »das zu verstehen, übersteigt mein Wissen und meine Fähigkeiten. Sie ist nicht krank, und doch scheint sie zu sterben. Ich glaube, es ist weniger ein Leiden des Körpers als des Geistes. Aber ich finde keine Erklärung dafür und kann auch keine Ursache benennen.«
Einige Tage vor diesem Gespräch war ein tollwütiger Hund auf dem Garnisonsgelände aufgetaucht, wo ihr Vater stationiert war. Der Hund entdeckte Joanna, die sich vor Angst erstarrt hilflos an eine Mauer drückte. In diesem Augenblick erschien Lady Emily und stellte sich zwischen ihre Tochter und den Hund. Das tollwütige Tier wollte angreifen und setzte zum Sprung an. Ein Soldat sah die Gefahr, zielte, schoß, und der Hund fiel tot vor ihren Füßen zu Boden.
»Lady Emily hat alle Symptome der Tollwut, Miss Drury«, erklärte der Arzt, »aber der Hund hat Ihre Mutter nicht gebissen. Ich verstehe nicht, weshalb die Symptome bei ihr auftreten.«
Joanna blickte aus dem Bullauge auf das dunkle Meer. Sie hörte, wie die Männer in den Booten versuchten, das Schiff wie ein riesiges, hilfloses blindes Wesen durch die Nacht zu ziehen. Und sie dachte daran, wie ihre Mutter im Sterben gelegen hatte und sich nicht gegen die Macht wehren konnte, die sie tötete. Nur wenige Stunden nach dem Tod seiner geliebten Frau hatte ihr Mann, Oberst Petronius, den Dienstrevolver an seine Schläfe gesetzt und abgedrückt.
»Unheimliche Kräfte sind am Werk, meine liebste Joanna«, hatte Lady Emily gesagt, »sie erheben nach all den vielen Jahren Anspruch auf mich. Sie werden auch auf dich Anspruch erheben. Bitte … geh nach Australien. Finde heraus, was geschehen ist, und verhindere, daß dieses schleichende Gift auch dich tötet … Was immer es sein mag, verhindere, daß dieser Fluch auch dich trifft.«
Joanna erinnerte sich an das, was die Mutter ihr vor langer Zeit anvertraut hatte. »Ein Kapitän brachte mich zu Tante Millicent nach England, als ich vier Jahre alt war«, erzählte Lady Emily damals. »Ich war auf seinem Schiff gewesen, das offenbar aus Australien kam. Ich hatte nur wenig bei mir. Ich war stumm. Ich konnte nicht sprechen. Ich kann mir nur vorstellen, daß die Ereignisse in Australien, an die ich mich nie erinnern konnte, im wahrsten Sinne des Wortes unaussprechlich gewesen sein müssen.
Millicent sagte, es habe Monate gedauert, bis ich überhaupt ein Wort über die Lippen brachte. Joanna, es ist wichtig zu erfahren, warum das so war, und was unserer Familie in Australien zugestoßen ist.«
Vor einem Jahr dann, nach Lady Emilys neununddreißigstem Geburtstag, begannen Träume sie zu quälen, und sie glaubte, es könne sich dabei um Erinnerungen an die verlorenen Jahre ihrer Kindheit handeln. Sie schilderte diese Träume in ihrem Tagebuch: »Ich bin ein kleines Kind. Eine junge Frau hält mich in den Armen. Sie hatte eine sehr dunkle Haut. Menschen stehen um uns herum. Wir alle warten schweigend auf etwas. Wir blicken auf eine Art Höhle. Ich beginne zu reden, aber man sagt mir, daß ich schweigen soll. Irgendwie weiß ich, daß wir auf meine Mutter warten. Ich möchte, daß sie kommt. Ich habe große Angst um sie … Ich spüre die heiße Sonne auf meinem Körper. Ich frage mich, ob das eine Erinnerung an meine Jahre in Australien ist. Aber was bedeutet dieser Traum?«
Joanna blickte zu den Sternen am Himmel auf und suchte das Kreuz des Südens. Seine Spitze deutete nach Australien, das nur noch wenige Tage entfernt lag. Joanna war entschlossen, dorthin zu gehen und die Antworten zu finden. Als sie am Bett ihrer Mutter gesessen und mit angesehen hatte, wie die schöne Lady Emily an einer rätselhaften Krankheit starb, dachte Joanna: Jetzt ist es vorbei. Mutter, deine jahrelangen Alpträume, die namenlosen Ängste – alles ist vorbei. Jetzt hast du Frieden.
Aber im Sanatorium, wo Joanna sich nach dem Tod der Eltern von dem Schock erholte, hatte sie einen Traum: Sie befand sich auf einem Schiff mitten auf dem Meer. Das Schiff lag in einer Flaute. Die Segel hingen schlaff an den Masten, und der Kapitän erklärte seiner Mannschaft, Wasser und Lebensmittel seien bedenklich knapp. Und im Traum hatte Joanna irgendwie gewußt, daß sie der Grund für diese Flaute war.
Sie war voller Entsetzen aufgewacht und hatte im selben Augenblick erkannt, was immer Lady Emily das ganze Leben über verfolgt haben mochte, war nicht mit ihr gestorben. Es war nun das Erbe ihrer Tochter.
Während Joanna hörte, wie die Matrosen sich in der Dunkelheit in die Riemen legten und versuchten, die Estella aus der Windstille zu schleppen, überkam sie plötzlich das Gefühl, sie habe keine Zeit zu verlieren. Die Dringlichkeit ihrer Aufgabe wurde ihr in aller Deutlichkeit bewußt. Es konnte kein Zufall sein – der Traum und das Schiff in der Flaute. Es war also doch etwas Wahres an den dunklen Geheimnissen, die ihre Mutter so gequält hatten. Joanna blickte in die Nacht und versuchte, sich den Kontinent vorzustellen, der nur wenige Tage entfernt lag: Australien! Dort warteten möglicherweise die Geheimnisse der Vergangenheit und die ihrer Zukunft.
»Melbourne! Der Hafen von Melbourne! Meine Damen und Herren, machen Sie sich bereit, von Bord zu gehen!«
Joanna stand mit den anderen Passagieren an Deck und sah, wie der Hafen von Melbourne näher kam. Sie wollte möglichst schnell von Bord und weg von der kleinen Kabine. Sie warf einen Blick über die Menschenmenge, die sich zur Ankunft des Schiffes am Kai versammelt hatte, dann hob sie den Kopf und betrachtete die nicht weit vom Hafen entfernte Silhouette der Stadt. Joanna fragte sich beklommen, ob sie dort hinter den Gebäuden und Kirchtürmen die Antworten finden würde, die ihre Mutter gesucht hatte. Vielleicht lagen sie auch irgendwo im Innern eines Landes, das für Tausende von Jahren nur von Nomaden, von den Aborigines, bewohnt worden war. Sie wünschte, das Herz wäre ihr in diesem Augenblick nicht so schwer gewesen.
Die Landungsbrücke wurde am Schiffsrumpf befestigt. Dann versammelten sich die Offiziere des Schiffs und verabschiedeten sich von den Passagieren. Als Joanna den Kopf hob und zum Himmel aufblickte, mußte sie sich an der Reling festhalten, so überwältigend war das strahlende Licht. Eine solche Kraft und Intensität hatte sie noch nicht erlebt – das war nicht die heiße, sinnliche Sonne Indiens, unter der sie aufgewachsen war, auch nicht das sanfte, dunstige Licht Englands, das sie als Kind erlebt hatte. Australiens Sonne war groß, stark und klar. Und Joanna empfand die grellen, durchdringenden Strahlen beinahe als aggressiv.
Sie entdeckte eine Gruppe Männer, dem Aussehen nach Arbeiter, die schnell die Gangway heraufstiegen. An Deck angelangt, griffen sie nach den Gepäckstücken und versprachen den Passagieren, ihnen die Sachen für nur einen oder zwei Penny an Land zu tragen. Ein junger Schwarzer näherte sich Joanna. »Ich mach’ das für Sie, Miss«, erklärte er und griff nach ihrem Schrankkoffer. »Ich verlange nur sechs Pennys. Wohin wollen Sie?«
Sie sah ihn mit großen Augen an. Es war ihre erste Begegnung mit einem Aborigine, einem der australischen Ureinwohner. Ihr ganzes Leben lang hatte sie von diesen Menschen gehört. »Ja«, sagte sie nach kurzem Zögern. »Bitte bringen Sie mein Gepäck hinunter zum Kai.«
Der Mann packte den Griff an einem Ende des Koffers und hob ihn hoch. Er lächelte Joanna an. Dann verschwand sein Lächeln, und er musterte sie plötzlich eingehend. Seine Augenlider zuckten, er ließ den Koffer los und drehte sich auf dem Absatz um. Er griff nach dem Korb, mit dem sich eine ältere Frau abmühte. »Soll ich Ihnen den Korb tragen, Lady?« fragte er, und als die Dame nickte, folgte er ihr über das Deck und entfernte sich von Joanna.
Ein Träger der Reederei kam mit einem kleinen zweirädrigen Karren auf sie zu. »Darf ich Ihren Koffer an Land bringen, Miss?« fragte er.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte sie und wies auf den Aborigine.
»Nehmen Sie es nicht persönlich, Miss. Vermutlich war ihm der Koffer zu schwer. Diese Menschen halten nicht viel von richtiger Arbeit. Ich werde Ihnen das Gepäck hinunterbringen.«
Sie folgte dem Mann die Gangway hinunter und drehte sich noch einmal verwirrt nach dem Ureinwohner um. Aber er schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein.
»Da wären wir, Miss«, sagte der Träger, als sie am Kai standen. »Werden Sie abgeholt?«
Sie sah auf die vielen Menschen, von denen einige den ankommenden Passagieren zuwinkten, und dachte an einen Tagebucheintrag ihrer Mutter. Lady Emily hatte dort geschrieben: »Manchmal frage ich mich, ob irgendwo in Australien noch jemand von meiner Familie lebt – meine Eltern vielleicht?«
Joanna gab dem Mann ein paar Münzen und sagte: »Nein. Nein, ich werde nicht abgeholt.«
Inmitten der aufgeregten Menschenmenge zwang sich Joanna, darüber nachzudenken, was als nächstes zu tun war. Zuerst brauchte sie eine Unterkunft. Sie mußte irgendwie mit dem für ihren Lebensunterhalt ausgesetzten Geld zurechtkommen, denn das ganze Erbe würde man ihr erst in zweieinhalb Jahren auszahlen. Als nächstes würde sie jemanden suchen müssen, der ihr half, den Grundbesitz ihrer Familie ausfindig zu machen, und jemanden, der noch etwas über die Verhältnisse in Australien vor siebenunddreißig Jahren wußte.
Plötzlich hörte Joanna hinter sich lautes Geschrei. Jemand rief: »Haltet ihn! Haltet den Jungen!«
Sie drehte sich um und sah an Deck einen kleinen Jungen, der wie ein Blitz durch die Menge rannte. Er konnte höchstens vier oder fünf sein. Ein Steward verfolgte ihn erst in die eine und dann in die andere Richtung.
»Haltet ihn!« rief der Mann atemlos. Als die Leute das Kind festhalten wollten, drehte der Kleine sich blitzschnell um, stürmte die Gangway hinunter und dicht an Joanna vorbei.
Sie sah, wie der Junge mit seinen dünnen Beinchen in seiner kurzen Hose ziellos hin und her rannte. Als der Steward ihn schließlich einholte, ließ er sich fallen und begann, den Kopf auf den Boden zu schlagen.
»Aber, aber!« rief der Mann, packte den Jungen am Kragen und schüttelte ihn. »Hör damit auf!«
»Warten Sie!« sagte Joanna, »Sie tun ihm weh!«
Sie kniete sich neben den Jungen, der sich im Griff des Stewards wand, und sah, daß er sich die Stirn aufgeschlagen hatte. »Hab keine Angst«, beruhigte sie ihn, »niemand wird dir etwas tun.« Sie öffnete die Tasche, holte ein Tuch heraus und betupfte sanft die Wunde. »Siehst du«, sagte sie, »jetzt tut es nicht mehr weh.«
Sie sah den Steward an. »Was ist denn geschehen?« fragte sie. »Er hat schreckliche Angst.«
»Tut mir leid, Miss, ich weiß es nicht. Und ich bin auch kein Kindermädchen. Man hat ihn in Adelaide an Bord gebracht, und jemand mußte sich um ihn kümmern. Er war in den letzten Tagen unter Deck und hat mir nichts als Ärger gemacht. Er wollte nichts essen, nicht reden …«
»Wo sind seine Eltern?«
»Weiß ich nicht, Miss. Ich weiß nur, er hat mir nur Ärger gemacht und soll hier von Bord. Jemand wird ihn abholen.«
Joanna bemerkte, daß am Hemd des Jungen mit einer Sicherheitsnadel ein Geldschein und ein Blatt Papier festgesteckt waren. Auf dem Papier stand: ADAM WESTBROOK. »Heißt du Adam?« fragte sie. »Adam?«
Der Junge starrte sie an, sagte aber nichts.
Der Steward machte Anstalten, sich den Geldschein zu nehmen. »Ich glaube, nach all der Mühe, die ich mit ihm hatte, habe ich das wohl verdient.«
»Das Geld gehört ihm«, sagte Joanna. »Nehmen Sie es ihm nicht weg.«
Der Steward sah sie verblüfft an, betrachtete das hübsche Gesicht der jungen Dame und hörte an ihrer Stimme, daß sie gewohnt war, Befehle zu geben. Er bemerkte das teure Kleid, und als er den Anhänger an ihrem Schrankkoffer sah, der verriet, daß sie erster Klasse gereist war, kam er zu dem Schluß, sie müsse eine Dame der besseren Gesellschaft sein. »Sie haben vermutlich recht«, sagte er. »Wissen Sie, ich habe nichts gegen Kinder. Aber er war wirklich eine Zumutung. Die ganze Zeit hat er nur geweint und solche Ausbrüche gehabt. Und er wollte nicht reden – nicht ein einziges Wort! Also, ich muß wieder an Bord.« Ehe Joanna etwas erwidern konnte, übergab ihr der Steward ein Bündel und verschwand in der Menge.
Joanna betrachtete den Jungen aufmerksam. Er hatte ein blasses, sehr zartes Gesicht. Sie dachte: Wenn ich ihn hochhebe und gegen das Licht halte, kann ich durch ihn hindurchsehen. Warum war er allein auf dem Schiff? Und welches Unglück, welche schreckliche Qual hat ihn jetzt dazu getrieben, sich selbst zu verletzen …?
Plötzlich hörte Joanna die Stimme eines Mannes. »Entschuldigen Sie, Miss, aber ist das Adam?«
Sie hob den Kopf und sah einen gutaussehenden Mann vor sich. Er hatte ein kantiges Kinn, eine gerade Nase und von der Sonne eingebrannte Fältchen um die rauchgrauen Augen.
»Ich bin Hugh Westbrook«, sagte er und zog den Hut. »Ich möchte Adam abholen.« Er lächelte sie an, dann kniete er sich vor Adam: »Hallo, Adam. Es ist ja gut. Ich bin gekommen, dich nach Hause zu bringen.«
Ohne den Hut glaubte Joanna eine Ähnlichkeit zwischen dem Jungen und dem Mann zu sehen – der gleiche Mund, eine schmale Oberlippe und eine vollere Unterlippe. Und als der Mann das Kind ernst ansah, erschien zwischen seinen Augenbrauen die gleiche senkrechte Falte wie bei dem Jungen.
»Ich nehme an, du hast Angst, Adam«, sagte Westbrook. »Es ist alles in Ordnung. Dein Vater war mein Vetter. Wir sind also miteinander verwandt. Du bist auch mein Vetter.« Er streckte die Hand aus, aber Adam wich zurück und drückte sich an Joanna.
Westbrook hatte ein in braunes Packpapier gewickeltes Paket bei sich. Er löste die Schnur und sagte: »Hier, das habe ich für dich gekauft. Ich dachte, du möchtest vielleicht etwas Neues anziehen … So etwas, wie wir auf Merinda tragen. Hat dir deine Mutter von meiner Schaffarm Merinda erzählt?«
Als der Junge nicht antwortete, erhob sich Hugh Westbrook und sagte zu Joanna: »Das habe ich in Melbourne gekauft.« Er hielt ein Jäckchen in der Hand, das um Stiefel und einen Hut gewickelt gewesen war. »In dem Brief stand nichts Genaues darüber, was der Kleine vielleicht brauchen würde. Aber vorerst reicht es. Und später kann ich dir mehr kaufen. Hier, das ist für dich«, sagte er und hielt Adam das Jäckchen hin. Aber der Junge stieß nur einen seltsamen Schrei aus und verbarg den Kopf in seinen Armen.
»Bitte«, sagte Joanna, »bitte, lassen Sie mich ihm helfen.« Sie nahm das Jäckchen und zog es dem Jungen an. Aber es war zu groß. Adam schien darin zu verschwinden.
»Und wie ist es damit?« fragte Westbrook und setzte dem Jungen den Hut auf den Kopf. Er rutschte Adam über Augen und Ohren bis auf die Nase.
»Na ja«, meinte Joanna.
Westbrook sah sie an: »Ich hätte nicht gedacht, daß er noch so klein ist. Er wird im Januar fünf. Ich habe keine Erfahrung mit Kindern und sehe jetzt, daß ich mich verschätzt habe.« Er sah Adam nachdenklich an und sagte dann zu Joanna: »Ich dachte, der Junge würde für sich selbst sorgen können. Ich habe keine Ahnung, was ein so kleines Kind braucht. Auf der Farm arbeiten wir den ganzen Tag. Wie ich sehe, braucht Adam viel Zuwendung.«
Joanna blickte auf das Kind hinunter und auf die Platzwunde an seiner Stirn. »Er leidet sehr«, sagte sie. »Was ist mit ihm passiert?«
»Ich weiß es nicht genau. Sein Vater ist vor einigen Jahren tödlich verunglückt. Damals war Adam noch ein Baby. Und vor kurzem ist seine Mutter gestorben. Die Behörden haben mich benachrichtigt und mir mitgeteilt, daß Adam plötzlich verwaist ist. Sie haben angefragt, ob ich als sein nächster Angehöriger bereit sei, ihn aufzunehmen.«
»Der arme Junge«, murmelte Joanna und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wie ist seine Mutter denn gestorben?«
»Das weiß ich nicht.«
»Ich hoffe, er war nicht dabei. Er ist noch so jung. Aber etwas scheint schreckliche Spuren bei ihm hinterlassen zu haben. Was hast du denn erlebt, Adam?« fragte ihn Joanna. »Sag es uns bitte. Weißt du, es wird dir helfen, wenn du darüber sprichst.«
Aber der Junge starrte mit großen Augen auf einen riesigen Kran, der Fracht von einem Schiff entlud.
Joanna sagte zu Westbrook: »Meine Mutter erlitt einen Schock, als sie noch ein kleines Kind war. Sie hatte etwas Schreckliches mit angesehen, und das hat sie ihr ganzes Leben lang verfolgt. Niemand konnte ihr helfen, niemand ihren seelischen Schmerz verstehen und ihr die Liebe und die Zuneigung schenken, die sie brauchte. Sie wuchs bei einer Tante auf, der das notwendige Mitgefühl fehlte, und vermutlich ist ihre seelische Wunde nie verheilt. Ich glaube, sie ist schließlich an den Folgen dieser schrecklichen Kindheitserlebnisse gestorben.«
Joanna legte die Hand unter Adams Kinn und hob sein Gesicht. Sie sah in seinen Augen Qualen und auch Angst. Für ihn scheint das alles ein Alptraum zu sein, dachte sie, für ihn gehören wir alle zu einem schrecklichen Traum.
Sie bückte sich zu dem Jungen: »Du träumst nicht, Adam. Du bist wach. Glaub mir, es ist alles in Ordnung. Man wird für dich sorgen. Niemand will dir wehtun. Ich habe auch schreckliche Träume. Sie verfolgen mich ständig. Aber ich weiß, daß es nur Träume sind, und sie können mir nichts anhaben.«
Westbrook beobachtete Joanna, die begütigend auf den Jungen einredete. Ihm fiel auf, wie sanft sich ihr schlanker Körper Adam zuneigte. Wie die Eukalyptusbäume im Busch, dachte er und mußte lächeln. Und als er sah, wie der Junge sich beruhigte, sagte er: »Vielen Dank für Ihre Hilfe. Das war sehr freundlich von Ihnen. Sie haben es sicher eilig. Wenn Sie abgeholt werden, dann wird man Sie suchen, Miss …«
»Drury«, sagte sie. »Joanna Drury.«
»Machen Sie hier Ferien, Miss Drury?«
»Nein, ich mache keine Ferien. Meine Mutter und ich wollten zusammen nach Australien kommen. Wir wollten uns um einige Familienangelegenheiten kümmern. Es geht dabei auch um geerbtes Land. Aber sie ist gestorben, bevor wir Indien verlassen haben. Deshalb bin ich jetzt allein hier.« Sie lächelte. »Ich war noch nie in Australien. Schon der erste Eindruck ist überwältigend.«
Westbrook sah sie an und bemerkte zu seiner Überraschung ein Leuchten in ihren Augen, das aber schnell wieder verschwand. Es hatte noch etwas anderes in ihrem Lächeln gelegen, und er begriff, daß es Angst gewesen war. Er hörte die Zurückhaltung in ihrer Stimme, die klang, als seien die Worte eingeübt. Aber dahinter schien sich ein Geheimnis zu verbergen. Hugh mußte sich eingestehen, daß diese Frau ihn faszinierte.
»Wo liegt dieses Land, nach dem Sie suchen?« fragte er. »Ich kenne Australien ziemlich gut.«
»Ich weiß es nicht. Es muß in der Nähe eines Ortes mit dem Namen Karra Karra liegen. Kennen Sie Karra Karra?«
»Karra Karra. Das klingt wie ein Ort der Aborigines. Ist er hier in Victoria?«
»Tut mir leid, ich weiß es nicht.«
Westbrook sah sie erstaunt an. Dann meinte er: »Ich kenne viele Leute in Australien. Ich würde mich freuen, Ihnen zu helfen, das Land zu finden.«
»Das wäre sehr liebenswürdig von Ihnen, Mr. Westbrook. Aber Sie werden Adam sicher schnell nach Hause bringen wollen.«
Er sah, wie sie sich eine Haarsträhne aus der Stirn strich, und die anmutige Geste machte ihn sprachlos. Er warf einen Blick auf die Männer, die sich um die Gangway drängten und die weiblichen Passagiere musterten, die in Australien einwandern wollten. Einige hielten Tafeln mit der Aufschrift: »Suche eine Frau, die kochen kann«, und: »Gesunde Frau gesucht! Ehe nicht ausgeschlossen.« Einige Mutige riefen den Frauen ihre Wünsche zu. Westbrook stellte sich vor, wie es Joanna mutterseelenallein in Melbourne ergehen würde. Es war eine rauhe Siedlerstadt, in der viermal mehr Männer als Frauen lebten. Sie würde den Rücksichtslosen und Unverschämten ausgeliefert sein.
»Miss Drury«, sagte er, »darf ich fragen, wo Sie in Melbourne wohnen werden?«
»Ich werde mir wohl zuerst ein Hotel suchen und dann eine Pension oder eine Wohnung.«
»Ich denke mir, Miss Drury, daß wir uns vielleicht gegenseitig nützlich sein können. Sie brauchen Hilfe, um Australien kennenzulernen, und ich brauche Hilfe mit Adam. Können wir nicht ein Abkommen treffen? Sie helfen mir einige Zeit mit Adam, damit er sich bei uns eingewöhnt, und ich werde dafür sorgen, daß Sie dieses Karra Karra finden. Es wäre nicht für lange. Ich werde in einem halben Jahr heiraten«, sagte er. »Meine Schaffarm Merinda ist nicht gerade luxuriös. Ich glaube, Sie sind sehr viel Besseres gewöhnt. Das Wohnhaus ist eher eine Hütte und besteht im wesentlichen aus einer Veranda und einem Zimmer. Aber Sie können es zusammen mit Adam für sich haben. Ich werde dafür sorgen, daß es Ihnen an nichts fehlt. Ich möchte, daß der Junge sich von Anfang an bei mir wohl fühlt, und bei Ihnen scheint er ruhiger zu werden.«
Als er ihre Unsicherheit spürte, fügte er hinzu: »Ich kann Ihr Zögern verstehen. Aber was haben Sie zu verlieren? Unser Abkommen lautet: Sie kommen mit mir nach Merinda und sorgen ein halbes Jahr für Adam. Ich werde Ihnen helfen, das zu finden, wonach Sie suchen. Australien ist drei Millionen Quadratmeilen groß. Der größte Teil ist noch unerforscht, aber von dem Wenigen, was besiedelt ist, kenne ich das meiste. Sie werden nicht in der Lage sein, Ihr Ziel allein zu erreichen. Sie brauchen Hilfe. Ich habe viele Freunde, und einer davon ist Anwalt. Ich könnte ihn bitten, nach dem Land zu suchen, das Sie geerbt haben. Denken Sie bitte darüber nach, Miss Drury. Vielleicht kommen Sie auch nur für einen Monat, damit wir einen Anfang finden, und ich werde Ihnen helfen, Ihre Sache in Gang zu bringen. Ich verspreche Ihnen, es wird nichts Unschickliches geschehen. Denken Sie darüber nach, während ich das Fuhrwerk hole.«
Joanna beobachtete ihn, als er in der Menge verschwand. Dann spürte sie eine kleine Hand, die sich in die ihre schob. Adam sah sie mit seinen großen grauen Augen fragend an, und Johanna dachte über diese unerwartete Wendung der Ereignisse nach.
Sie erinnerte sich an alles, was sie geopfert hatte, um hierher zu kommen. Sie hatte soviel zurückgelassen – ihre Freunde in Indien, die Städte, die sie so gut kannte, die Kultur, in der sie aufgewachsen war, und nicht zuletzt den gutaussehenden jungen Offizier, der bei der Beerdigung ihrer Mutter an ihrer Seite stand. Er hatte sie um ihre Hand gebeten …
Plötzlich bekam sie Heimweh. Sie beobachtete, wie die Leute Fuhrwerke und Kutschen bestiegen oder davonritten. Sie sah den dichten Verkehr auf den Straßen, die nach Melbourne führten, und ihr wurde bewußt, daß sie zum ersten Mal in ihrem Leben allein war – eine Fremde unter Fremden in einem unbekannten Land. Ohne die Bitte ihrer Mutter, nach Australien zu fahren, wäre es so einfach für sie gewesen, in Indien zu bleiben.
Sie mußte an den jungen Ureinwohner denken, der an Bord gekommen war. Warum hatte er sie so merkwürdig angesehen und sich geweigert, ihren Koffer zu tragen? Und dann fiel ihr ein, daß sie im Grunde überhaupt keine andere Wahl gehabt hatte, als nach Australien zu kommen.
Sie dachte wieder an Hugh Westbrook und gestand sich erstaunt ein, daß sie ihn eigentlich sehr anziehend fand. Er sah gut aus und war jung – ungefähr dreißig, vermutete sie. Aber es war mehr als das. Joanna kannte nur Männer mit makellosen Uniformen und diszipliniertem, absolut korrektem Benehmen. Selbst der Heiratsantrag des jungen Offiziers war steif und höflich gewesen, als halte er sich genau an eine Dienstvorschrift. Dieser junge Mann hätte nicht im Traum daran gedacht, eine Dame anzusprechen, der er nicht förmlich vorgestellt worden war. Westbrook dagegen wirkte ungezwungen und ausgeglichen. Er schien seinen eigenen Regeln zu folgen, und das gefiel Joanna.
Er hatte versprochen, ihr bei der Suche nach Karra Karra behilflich zu sein. Sie wußte, jemand mußte ihr helfen. Und er hatte gesagt, ihm sei Australien vertraut. Soll ich ihm auch den anderen Teil der Geschichte erzählen, überlegte sie, soll ich ihm von den Träumen erzählen und den schrecklichen Ereignissen, die ihnen folgen? Nein, das wollte sie nicht – noch nicht. Denn sie hatte ja selbst keine Erklärung dafür, war sich unsicher, ob diese Dinge tatsächlich oder nur in ihrer Einbildung existierten.
Als die Erinnerung an den jungen Ureinwohner auf dem Schiff wieder auftauchte – sein seltsamer Blick und die Abruptheit, mit der sich von ihr abgewendet hatte –, schob Joanna diesen Gedanken energisch beiseite. Das tat sie auch mit dem Traum von dem Schiff in der Flaute, der in Erfüllung gegangen war. Sie versuchte, sich statt dessen vorzustellen, wie Hugh Westbrooks Schaffarm sein mochte. Lag sie inmitten von sanften grünen Hügeln und saftigen Weiden wie die Farmen, die sie einst in England gesehen hatte? Standen dort große schattenspendende Eichen? Zirpten Sperlinge in einem Garten hinter der Küche? Oder unterschied sich Hugh Westbrooks Zuhause von den Farmen in England? Joanna hatte über Australien, diesen seltsamen und geheimnisvollen Kontinent, so viel wie möglich gelesen. In diesem Land gab es keine Huftiere, keine großen Raubkatzen. Die Bäume warfen im Herbst nicht die Blätter ab, sondern die Rinde, und einige behaupteten, die Ureinwohner seien die älteste Menschenrasse der Erde. Und plötzlich wurde Joanna neugierig. Ja, sie wollte das alles kennenlernen.
»Nun, Miss Drury? Wie lautet Ihre Antwort?«
Joanna drehte sich um und sah Hugh Westbrook an. Er hatte den Hut nicht wieder aufgesetzt, und ihr fiel auf, daß ihm die Haare kreuz und quer auf dem Kopf lagen. Sie kannte nur pomadisierte Männer, denn die Offiziere achteten sehr darauf, daß ihre geölten Haare immer glatt anlagen. Westbrooks lange Haare fielen locker und wellig in alle Richtungen, als habe er es aufgegeben, sich zu kämmen, und lasse sie wachsen, wie die Natur es wollte.
Joanna spürte den Druck der kleinen Finger in ihrer Hand und erinnerte sich daran, wie verzweifelt dieser kleine Junge den Kopf auf den Boden geschlagen hatte, als versuche er, unaussprechliche Eindrücke zu verjagen. Deshalb antwortete sie: »Also gut, Mr. Westbrook. Ich komme für einige Zeit mit Ihnen.«
Er lächelte sie erleichtert an. »Möchten Sie in der Stadt noch etwas besorgen? Vielleicht wollen Sie Ihrer Familie einen Brief schicken und Ihre Adresse mitteilen.«
»Nein«, sagte sie, »ich habe keine Familie.«
Als Westbrook den großen Koffer im Wagen verstaute, öffnete Joanna eine kleinere Tasche. Sie holte eine Flasche und einen sauberen Verband heraus. Dann betupfte sie Adams Wunde.
»Womit behandeln Sie die Wunde?« fragte Westbrook.
»Eukalyptusöl«, erwiderte Joanna. »Es wirkt antiseptisch und beschleunigt die Heilung.«
»Ich wußte nicht, daß es außerhalb Australiens Eukalyptusbäume gibt.«
»Man hat einige nach Indien gebracht, wo ich gelebt habe. Meine Mutter kaufte das Öl bei einem ansässigen Drogisten. Sie hat es oft verwendet. Zu ihren Begabungen gehörten die Medizin und das Heilen.«
»Ich dachte immer, außerhalb von Australien wisse kein Mensch etwas über die Heilkraft von Eukalyptusöl. Natürlich verdanken wir dieses Wissen den Aborigines. Sie benutzten Eukalyptus als Heilmittel schon viele Jahrhunderte, bevor der weiße Mann hierherkam.«
Der Wagen setzte sich langsam in Bewegung. Sie verließen den Kai, die Menschen und die Estella. Joanna fragte sich, was sie möglicherweise irgendwo in dem drei Millionen Quadratmeilen großen Land finden würde. Sie dachte an eine geheimnisvolle junge Schwarze, von der ihre Mutter erzählt hatte, weil sie öfter in ihren Träumen aufgetaucht war, dachte auch an die Großeltern, die vor mehr als vierzig Jahren auf diesen Kontinent gekommen waren. Joanna dachte an Träume und Alpträume und daran, welche Bedeutung sie haben mochten. Und sie dachte daran, daß sie an den Ort zurückkehren würde, wo alles seinen Anfang genommen hatte, wo auch die bruchstückhaften Erinnerungen der Mutter ihren Anfang nahmen. Dort hatte etwas begonnen, das ein Ende finden mußte.
Schließlich beschäftigte sich Joanna mit dem Mann neben ihr und dem kleinen verletzten Jungen. Diese Menschen waren unvermutet in ihr Leben getreten. Und plötzlich überkam sie Staunen und das Gefühl einer unbestimmten Angst.