Marcin Szczygielski
Flügel aus Papier
Aus dem Polnischen von Thomas Weiler
FISCHER E-Books
Marcin Szczygielski, geboren 1972 in Warschau, ist ein preisgekrönter Journalist und Autor und schreibt seit 2009 auch sehr erfolgreich Bücher für Kinder.
›Flügel aus Papier‹ wurde ausgezeichnet mit dem Astrid-Lindgren-Manuskriptpreis und von der polnischen IBBY-Sektion ausgewählt als Buch des Jahres und von der Internationalen Jugendbibliothek aufgenommen in den White Ravens Katalog.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage, auch zu E-Book-Ausgaben, gibt es bei www.blubberfisch.de und www.fischerverlage.de
Warschauer Ghetto um 1942: Rafal hat fast vergessen, wie das Leben einmal ohne Hunger und Not gewesen ist. Nur wenn er liest, vergisst er die Welt um sich herum. Mit H. G. Wells ›Zeitmaschine‹ reist er in eine bessere Zukunft. Als die Lage immer brenzliger wird, lässt sein Großvater ihn aus dem Ghetto schmuggeln. Rafal versteckt sich im Warschauer Zoo, wo er Lidka und Emek kennenlernt, die aus Polen fliehen wollen. Aber die Nazis sind ihnen auf der Spur …
Ausgezeichnet mit dem Astrid-Lindgren-Manuskriptpreis
Ausgewählt von der polnischen IBBY-Sektion als Buch des Jahres
Umschlaggestaltung: Constanze Spengler
Umschlagillustration: Constanze Spengler unter Verwendung von Motiven von Getty Images (Junge mit Floß und Tieren) und akg images (Soldaten im Warschauer Ghetto)
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die polnische Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel ›Arka czasu‹ bei Wydawnictwo Piotra Marciszuka Stentor, Warschau
© 2013 by Marcin Szczygielski
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2015
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-0148-5
Centos (Centralne Towarzystwo Opieki nad Sierotami i Dziećmi Opuszczonymi): Die Organisation wurde 1924 ins Leben gerufen, um Waisen- und Straßenkinder nach dem Ersten Weltkrieg zu unterstützen. In der Zwischenkriegszeit finanzierte Centos Waisenhäuser und Kinderheime, organisierte medizinische Versorgung und Sommerferienlager.
Toporol (Towarzystwo Popierania Rolnictwa): Die 1933 gegründete Gesellschaft zur Unterstützung der Landwirtschaft sollte jüdische Jugendliche mit der Arbeit in der Landwirtschaft vertraut machen. Im Ghetto organisierte Toporol die Beräumung und Bepflanzung von Grundstücken, die für den Gemüseanbau geeignet erschienen.
»Mit dieser Maschine«, sagte der Zeitreisende und hielt die Lampe hoch, »gedenke ich die Zeit zu erforschen.«
H.G. Wells, Die Zeitmaschine
Zur Bibliothek kommt man so: Zuerst muss man durch unseren Hof, dann über die Straße und durch den nächsten Hof dahinter. Da sind der Kosmetiksalon und das Labor von Adam Duchowiczny, in dem er Cremes und andere Schönheitsmittel herstellt. Es riecht da immer sehr stark, aber man weiß vorher nie, ob es diesmal gut riecht oder stinkt, das reinste Lotteriespiel, sagt Großvater. Heute hat es gut gerochen, obwohl es auch ein bisschen gekribbelt hat in der Nase. Gleich neben dem Labor hat der Schneider seine Nähstube. Er zankt sich immer mit Herrn Duchowiczny wegen der Gerüche, weil er meint, dass er davon Kopfweh bekommt. Vielleicht hat er sogar recht, da kann man wirklich zu viel bekommen, wenn man den ganzen Tag so viel Verschiedenes einatmet. Wenn man durch diesen Hof durch ist, kommt wieder eine Straße, und auf der muss man nach links gehen, dann auf die andere Seite und in die Twarda, die so einen Bogen macht. Dort kommt man an einem Feinkostgeschäft und an dem Lebensmittelladen der Szurmans vorbei, gleich daneben ist ein Buchankauf und die Buchhandlung von Herrn Mirski. Wenn man an der Wäscherei angekommen ist, muss man wieder auf die andere Straßenseite, zum Gemüsestand und dann die Ciepła-Straße hinunter. In der Ciepła gibt es nichts Besonderes außer der Seifensiederei Kaminer mit dem schiefen roten Schild. Man geht sie einfach bis zur Kreuzung und dann wieder nach links. Dann geht es vorbei an dem Geschäft mit den geschwungenen Möbeln. Zu beiden Seiten des Schaufensters sind auf die Mauer Stühle gemalt und in großen Buchstaben »Kasiczak«, so heißt nämlich der Ladeninhaber. Wenn man an der nächsten Kreuzung ankommt, da, wo das große Loch im Gehweg ist, muss man wieder auf die andere Seite, nach rechts und dann einfach geradeaus. Am besten schaut man sich gar nicht groß um. Es gibt hier keine Geschäfte, nur Werkstätten und jede Menge Leute, die Arbeit suchen, und die sind nicht besonders nett, reden auf jeden ein und können einem sogar etwas aus der Hand reißen. Immer wenn ich dort vorbeikomme, habe ich ein Buch aus der Bibliothek unterm Arm, deshalb versuche ich meistens, dieses Stück zu rennen. Weil ich so schnell rennen kann, bin ich ruck, zuck an der Brücke. Vor der Brücke laufe ich wieder langsamer, weil es hier spannende Sachen zu sehen gibt. Viele kleine Läden, ein Kleiderbasar, und manchmal verkaufen sie hier sogar Blumen. Ich springe die hölzernen Stufen hinauf, überquere schnell die Brücke, weil man da nicht anhalten darf und immer ein furchtbares Gedränge ist. Die Brücke ist erst ein paar Tage alt, und die Bohlen duften noch nach Harz. Ich versuche, außen am Geländer zu gehen, und schaue nach unten, vor allem, wenn gerade eine Straßenbahn kommt. Unten auf der Straße sind Menschen unterwegs, aber andere und meistens nicht besonders viele. Dann geht man drüben die Brücke wieder runter und biegt in die Żelazna ein, ganz in der Nähe. Man kommt an der Konditorei von Herrn Jagoda vorbei, da riecht es auch, aber immer gut. Dann gibt es noch das Caféstübchen Albatros und den Pappschachtelladen von Frau Głowacka. Frau Głowacka hat viele Röcke übereinander an und einen Wollmantel, sogar im Sommer – sie sagt, ihr sei immer kalt. Meist sitzt sie auf einem Stuhl vor dem Tor und hält Ausschau nach bekannten Gesichtern, sie plaudert nämlich furchtbar gern. Großvater sagt, dass Frau Głowacka viel lieber plaudert, als Pappschachteln zu falten, und da ist etwas dran.
An der Ecke, bei der Konditorei Sommer, muss man abbiegen. Am besten rennt man noch mal, weil da wieder nur Werkstätten und kleine Fabriken kommen, der Lebensmittelhersteller Avilo zum Beispiel oder die Marmeladenhandlung Karmen. Wenn man an der nächsten Kreuzung ankommt, ist man schon fast am Ziel. Man biegt nach rechts ab, kommt an der Glaswarenfabrik der Brüder Starosznajder vorbei, in dem großen Haus auf der gegenüberliegenden Straßenseite sind Schneidereien und Brown & Rowiński – wenn man die Straße überquert, kann man durch die hohen Fenster in die Werkstatt schauen, wo Frauen an speziellen Maschinen Pullover und Schals herstellen. Dann kommt nur noch der Juwelier und schon ist man da: Leszno-Straße 67. Jetzt noch schnell im Innenhof die Treppe hinauf, und da ist sie, die Bibliothek. Sie ist mein Lieblingsort im ganzen Bezirk.
In der Bibliothek sind immer viele Leute, aber sie haben überhaupt keine Eile. Und es ist still hier – niemand schreit, niemand streitet, nichts dergleichen. Ich freue mich ganz besonders, wenn Basia die Bücher ausgibt, aber in letzter Zeit sehe ich sie leider immer seltener. Meistens sitzt irgendein Fräulein hinter dem Schreibtisch, jedes Mal ein anderes. Basia kennt mich und empfiehlt mir immer nur die richtig spannenden Bücher. Die anderen Fräuleins haben keine Ahnung von Büchern, jedenfalls nicht von denen, die mich interessieren. Sie schauen mich an, lächeln und glauben, sie müssten (ja, sie müssten!) mir unbedingt ein schmales Bändchen mit vielen Bildern geben, nur weil ich so klein bin, und wenn ich dann protestiere, schlagen sie mir allenfalls noch Doktor Dolittle vor. Ich habe nichts gegen Doktor Dolittle, der hat mir gut gefallen. Damals, vor einem Jahr oder mehr, da war ich noch nicht mal sieben. Gerade habe ich Die Kinder des Kapitän Grant von Jules Verne gelesen, das ist richtig dick und überhaupt kein Kinderbuch, auch wenn es sich so anhört.
Basia ist heute nicht da. Hinter dem Schreibtisch sitzt ein Fräulein mit blonden Haaren und einer grünen Bluse. Sie lächelt mich an und sagt:
»Möchtest du ein Büchlein, Kleiner?«
Ich sehe sie mit ernster Miene an. Ein Büchlein! Kleiner!
»Ich bin überhaupt nicht klein«, entgegne ich mit tiefer Stimme, ziehe das Jules-Verne-Buch unter meinem Pullover hervor, lege es auf den Tisch und ergänze mit Nachdruck: »Ich gebe ein BUCH zurück.«
Das Fräulein legt den Kopf schief und mustert mich mit einem amüsierten Funkeln in den Augen, wird aber gleich wieder ernst.
»Wie heißt du denn?«
»Rafał Grzywiński.«
Sie nimmt das Heft, in dem alle Ausleiher verzeichnet sind und sucht nach meinem Namen. Daneben steht eine lange Liste von Büchern, die ich schon gelesen habe, dabei komme ich erst seit ein paar Monaten hierher, seit Großvater mich angemeldet hat. Jeden Monat gibt er mir fünf Złoty, so viel kostet hier das Lesen. Und für diese fünf Złoty kann man lesen, so viel man nur will! Ich finde, das ist ziemlich günstig.
Das Fräulein findet meine Seite und vermerkt, dass ich das Buch zurückgegeben habe.
»Hast du es selber gelesen?«, fragt sie.
Ich nicke. Klar habe ich es selber gelesen. In gerade mal fünf Tagen!
»Mannomann!«, staunt das Fräulein, und ich lächle zum ersten Mal zurück.
»Aha, du kannnst es also«, stellt sie fest.
»Was kann ich? Lesen?«, frage ich.
»Nein. Lächeln.«
»Das kann doch jeder«, sage ich achselzuckend.
Sie sieht für einen kurzen Moment fast traurig aus, als sie antwortet: »Leider nicht … Was würdest du gern als Nächstes lesen?«
»Was Gutes.«
»Jules Verne?«
»Zum Beispiel. Ich mag solche Bücher.«
»Was Phantastisches. Warte mal.«
Sie steht auf und geht in einen anderen Raum, wo die Bücherregale stehen. Ich würde zu gerne mitgehen und selbst stöbern, aber das dürfen die Leser nicht – die Bücher bringen immer die Bibliothekarinnen. Aber Basia hat mich schon ein paarmal reingelassen, sie weiß ja, dass ich mit Büchern umzugehen weiß und nie eins stehlen würde. Aber so ist es nun einmal, sage ich mir seufzend. Bestimmt bringt sie mir irgendeinen Quatsch, und ich muss entweder herumdiskutieren oder morgen wiederkommen.
Sie kommt zurück und legt ein Buch auf den Tisch. Es ist nicht nur klein, sondern auch noch schmal.
»Das wird dir gefallen«, sagt sie.
Ich greife nach dem Bändchen und betrachte mit skeptischer Miene den Einband. Die Zeitmaschine, H.G. Wells. Vorne drauf ist ein graues Monster gemalt. Es steht auf dünnen X-Beinen und zeigt seine scharfen Klauen. Augen und Ohren sind übergroß, das Maul nicht so. Die Zähne sind zu sehen. Neben dem Monster steht in einem roten Kreis »95 Groschen«.
»Bisschen dünn«, sage ich.
»Aber spannend.«
»Und was ist das für ein Monster?«
»Ein Morlock.«
»Was ist ein Morlock?«, frage ich.
»Lies es dir durch, dann erfährst du es schon«, erwidert sie mit einem herausfordernden Lächeln.
»Weiß ich doch …« Ich blättere kurz durch das Buch, um zu überprüfen, ob es nicht auch noch dumme Bildchen gibt. »Und worum geht es?«
»Um Zeitreisen«, antwortet sie geheimnisvoll.
Das klingt spannend. Ich würde gerne durch die Zeit reisen können, obwohl ich nicht genau sagen kann, ob lieber in die Zukunft oder die Vergangenheit – das habe ich mir schon einmal überlegt. Auf jeden Fall wäre es sicher nicht schlecht, das zu können.
»Mit einer Maschine?«, hake ich nach.
»Ja.«
»Haben Sie es gelesen?«
»Wieso denn Sie?«, lacht sie. »Ich heiße Janka. Ich habe es gelesen und kann es besten Gewissens empfehlen.«
»Na gut«, seufze ich. »Meinetwegen.«
Janka lacht fröhlich und trägt auf meiner Seite Die Zeitmaschine ein.
»Am Freitag bin ich wieder in der Bibliothek«, sagt sie noch. »Komm vorbei. Dann bekommst du den Professor Urgestein, der ist auch sehr gut.«
Ich nicke, verstaue das Buch unter meinem Pullover und renne aus der Bibliothek. Es ist schon kurz vor vier, Großvater kommt bald zurück. Ich flitze über die Holzbrücke über der Chłodna-Straße und dann weiter zu unserer Wohnung in der Sienna. Menschenmassen schieben sich über die Gehwege, Rikschafahrer vertreiben schreiend Fußgänger von der Fahrbahn und werden selbst vom Läuten der Pferdebahn verjagt, die in der Straßenmitte rattert. Zigaretten- und Zeitungsjungen rufen nach Kundschaft, Bonbonverkäuferinnen preisen lauthals ihre Ware an, Bettler bitten um Geld oder Essen. Der übliche Lärm und Trubel im Bezirk eben. Ich schlüpfe zwischen den Menschen hindurch, laufe Slalom und versuche, niemanden anzurempeln. Inzwischen bin ich darin ganz gut, außerdem ist einem beim Rennen wohler. Für Anfang Februar ist es zwar schon ziemlich warm, es liegt nicht mal Schnee, aber ich friere trotzdem. Nach einer Viertelstunde bin ich wieder in unserem Hof. Ich steige die Treppe hoch, klopfe an die Wohnungstür und warte, bis Frau Brylant mir öffnet. Großvater gibt mir keinen Schlüssel, weil er Angst hat, ich könnte ihn verlieren. Aber ich brauche auch gar keinen, Frau Brylant ist ja immer da. Ich höre sie durch die Diele schlurfen, dann schnappt der Riegel zurück, und schon bin ich zu Hause.
Früher haben alle Zimmer und die Küche in unserer Wohnung Großvater gehört. Wenn ich mir das heute vorstelle, kommt es mir vollkommen verrückt vor, es gibt nämlich drei Zimmer – was will denn ein einziger Mensch mit so viel Platz? Aber so war es, und ich kann mich sogar noch daran erinnern, ganz schwach. Jetzt wohnt Frau Brylant mit ihrem Mann, den beiden Söhnen und der Schwägerin im größten Zimmer. Die Brylants sind sehr alt (aber nicht so alt wie mein Großvater), und ihre Söhne sind schon erwachsen. Alle gehen arbeiten außer Frau Brylant, die hat es mit den Beinen. Aber manchmal verdient sie als Wahrsagerin etwas dazu. Sie legt Karten oder wirft Kartoffelschalen in eine Schüssel und erzählt dann verschiedenen Herrschaften, was sie darin sieht. Natürlich ist alles frei erfunden. Manchmal lausche ich nämlich (obwohl ich weiß, dass sich das nicht gehört) an der Zimmertür, wenn Frau Brylant so eine Sitzung hält. Das kann ziemlich lustig sein. Einmal musste ich so lachen, dass sie mich gehört hat.
»Ich sehe …, ich sehe …«, sagte Frau Brylant. »Ich sehe einen großgewachsenen Mann an Ihrer Seite. Haben Sie einen Bruder?«
»Nein«, antwortete die Frau, die sich wahrsagen lassen wollte.
»Es ist nicht der Bruder«, stellte Frau Brylant fest. »Und haben Sie einen Vater?«
»Mein Vater lebt in Lemberg«, erklärte die Frau.
»Nein, es ist nicht Ihr Vater, das sehe ich ganz deutlich. Gibt es überhaupt einen Mann an Ihrer Seite?«
»An meiner Seite? Neben mir lebt nur mein Nachbar, und der hat mir gesagt …«
»Ja, genau!«, rief Frau Brylant. »Es ist der Nachbar!«
»Aber mein Nachbar ist nicht besonders groß. Kleiner als ich.«
»Nicht besonders groß, genau wie ich gesagt habe. Er hegt gewisse Gefühle für Sie. Er will Sie heiraten.«
»Aber mein Nachbar ist schon fünfundsiebzig!«
»Ach ja, natürlich. Jetzt sehe ich wohl, dass er älter ist. Leben Sie allein?«
»Mit meiner Mutter.«
»Na freilich! Er will Ihre Mutter heiraten.«
»Aber er ist doch schon verheiratet!«, rief die Frau.
»Habe ich etwa gesagt, er wäre ein anständiger Mensch? Nehmen Sie sich in Acht vor ihm. Er ist böse. Er hat Schlimmes mit Ihnen vor.«
»Aber das ist ein liebenswürdiger alter Herr«, protestierte die Frau. »Er hat mir auch Ihre Adresse gegeben und gesagt, ich solle mir von Ihnen wahrsagen lassen. Er hat gesagt, Sie wären verwandt, er heißt auch Brylant. Wir wohnen in der Zamenhof-Straße. Wissen Sie, wen ich meine?«
»Gewiss, gewiss …«, antwortete Frau Brylant matt. »Das ist mein Onkel, aber ich … Also … Ich wollte etwas anderes sagen … Oh, hier! Hier sehe ich, dass Ihnen großes Glück bevorsteht! Schon sehr bald!«
Da konnte ich nicht mehr an mich halten und lachte, dass mir die Tränen über die Wangen kullerten, und da hat sie mich erwischt. Aber später, als die Frau gegangen war, musste Frau Brylant selber darüber lachen.
Im zweiten Zimmer wohnt Herr Boc mit seinen beiden Schwestern, deren Kindern und noch einem Vetter. Die vier Kinder sind unterschiedlich alt, ein bisschen jünger und ein bisschen älter als ich. Wir spielen aber nicht miteinander, weil sie eine fremde Sprache sprechen, die ich nicht verstehe, und deshalb machen sie sich über mich lustig, weil angeblich alle im Bezirk diese Sprache kennen, nur ich nicht. Dabei stimmt das gar nicht, viele Leute sprechen nur Polnisch, das weiß ich von Basia. Herr Boc, seine Schwestern, die Kinder und der Vetter sind übrigens den ganzen Tag nicht zu Hause. Sie kommen erst kurz vor sieben und bleiben dann bis zum Morgen in ihrem Zimmer, deshalb sehe ich sie nur selten, obwohl wir Wand an Wand wohnen.
In der Küche wohnt Aniela, sie ist Lehrerin. Aniela ist fast so alt wie Großvater, und sie bringt mir manchmal interessante Dinge bei, Geographie oder Physik, aber nur, wenn sie nicht traurig ist. Aniela hat eine schwermütige Ader, sagt Großvater. Meistens sitzt sie am Küchenfenster, schaut in den Himmel und seufzt oder weint. Ich habe sie einmal gefragt, warum sie ständig traurig ist. Sie hat erzählt, sie hätte Sehnsucht nach ihrer Familie, die nach Übersee gefahren wäre, aber sie hätte es nicht mehr geschafft. Das fand ich komisch, das ist doch kein Grund, traurig zu sein. Meine Eltern sind auch weit weggefahren, bis nach Afrika, und das ist schon so lange her, dass ich mich fast nicht mehr an sie erinnern kann. Sicher, ich wäre gern bei ihnen, aber ich bin es nicht, weil es nicht geklappt hat. In diesem Afrika geht es ihnen aber bestimmt viel besser, als wenn sie hiergeblieben wären, im Bezirk. Das ist also kein Grund zur Traurigkeit, sondern zur Freude! Manchmal, wenn es mir sehr schlechtgeht, denke ich an Mama und Papa, dass sie jetzt im fernen Afrika in Sicherheit sind, und gleich habe ich bessere Laune. Das habe ich auch Aniela erzählt, aber sie meinte, ich wäre noch klein und könnte das nicht verstehen, und dann hat sie noch mehr geweint. Ich bin noch klein, das stimmt. Aber ich verstehe schon sehr viel, und deshalb war ich damals ein bisschen böse auf sie.
Großvater und ich wohnen im kleinsten Zimmer, dessen Fenster zur Sienna hinausgehen. Wir haben einen Balkon, auf dem Kästen stehen, und darin wachsen im Frühjahr, im Sommer und im Herbst Zwiebeln und Radieschen – ich gieße sie und kümmere mich gut um sie. Bei schönem Wetter sitze ich oft auf dem Balkon, auf meinem kleinen Stuhl (sogar im Winter, wenn es nicht zu kalt ist) und lese die Bücher aus der Bibliothek oder schaue, was sich auf der Straße tut.
Auf der Sienna ist es ruhiger als auf anderen Straßen im Bezirk, aber trotzdem ist immer etwas zu sehen. Von unserem Balkon kann ich die Kreuzung Sienna-Sosnowa einsehen. Im Eckhaus ist das Café Hirschfeld, das größte Luxuscafé im ganzen Bezirk, und alles ist da sehr teuer, sogar gewöhnlicher Malzkaffee. Viele vornehme Herrschaften kommen hier auf Rikschas vorgefahren, besonders am Nachmittag. Großvater hat vor einigen Monaten im Café gearbeitet und mir erzählt, wie es dort ist. Ein paarmal konnte er mir sogar ein Stück Kuchen mitbringen. Das waren die leckersten Kuchen, die ich je gegessen habe.
Direkt neben dem Café ist der Tabakkiosk von Herrn Brylant. Wenn Frau Brylant ihm etwas Wichtiges mitzuteilen hat, kommt sie manchmal zu uns auf den Balkon und ruft nach ihrem Mann. Sie hat es mit den Beinen, aber nicht mit dem Hals. Frau Brylant kann brüllen, dass man es noch auf der Pańska hört, zwei Straßen weiter.
Vom Balkon aus ist auch das Lebensmittelgeschäft zu sehen, in dem wir immer einkaufen. Und die Schneiderwerkstatt von Herrn Mordka mit der wunderhübschen, ganz besonderen Schaufensterpuppe. Sie ist so besonders, weil sie grün schimmert, ihre Haut ist grünlich, die Augen sind smaragdgrün, die dunkelgrünen Haare sind mit Silberfarbe angesprüht. Nur ihre Lippen sind rot wie bei einem lebendigen Menschen. Herr Mordka kleidet diese Puppe zweimal im Monat neu ein, er schneidert für sie die schönsten Kleider, und die ganze Straße darf sie dann bewundern. Bei Herrn Mordka kaufen die reichsten und elegantesten Damen, die auch ins Café Hirschfeld gehen, seine Kleider sind nämlich sehr kostbar.
Neben der Schneiderwerkstatt, schräg gegenüber von uns, gibt es noch ein zerstörtes Haus. Von ihm ist fast nichts mehr übrig, nur noch ein riesiger Trümmerhaufen, da hat eine Bombe eingeschlagen, ich kann mich noch daran erinnern. Und das war es auch schon so ziemlich, weil die Häuser dahinter von unserem Balkon aus kaum zu sehen sind.
Ich gehe nur sehr selten vor die Tür, weil Großvater mich nicht lässt. Er sagt, er hätte meinen Eltern geschworen, gut auf mich aufzupassen, und er wolle nicht, dass ich durch den Bezirk springe, das könnte nämlich gefährlich für mich sein. Als im Herbst die ersten Schulen im Bezirk aufgemacht wurden (vorher hatte es zwei Jahre lang keine gegeben, wegen des Krieges), dachte ich, ich würde auch in eine gehen. Es wurden zwar nur Kinder zwischen acht und zehn Jahren aufgenommen, und ich war noch nicht acht, trotzdem bin ich sicher, sie hätten für mich eine Ausnahme gemacht, wenn ich freundlich darum gebeten hätte. Aber Großvater hatte gesagt, es könne keine Rede davon sein, dass ich zur Schule gehe, erstens wäre ich zu klein und zweitens würde ich mir da sofort die Läuse oder etwas anderes einfangen. Ich war furchtbar wütend auf ihn und habe sogar ein bisschen geweint vor Wut, aber nachher habe ich mich dafür geschämt, weil ich ja weiß, dass Großvater nur das Beste für mich will. Ich brauche auch gar nicht zur Schule zu gehen, weil Großvater mir selber alles beibringt. Polnisch und Geschichte, und die anderen Sachen auch. Er hat mir auch das Lesen beigebracht. Ich lerne sehr schnell, nur das Musizieren leider nicht. Großvater hat versucht, mir Geigenunterricht zu geben, das hat mir auch ganz gut gefallen. Er hat mir gezeigt, wie ich Geige und Bogen halten soll und welche Saiten ich wie drücken muss. So habe ich einen ganzen Nachmittag lang gespielt, und Großvater hat auf seinem Stuhl gesessen, zugeschaut und zugehört. Als ich fertig war – ich fand, dass ich es ganz gut hinbekommen hatte, ich hatte mir große Mühe gegeben und war mit dem Ergebnis höchst zufrieden –, sagte er, ich gehörte zu den Menschen, deren Musizieren ein wahrer Genuss sei, aber leider nur für sie selbst. Ich habe das nicht ganz verstanden, wusste aber, dass ich kein Geiger werden würde. Das fand ich auch nicht weiter schlimm, dann blieb mir mehr Zeit für die Bücher. Zum Glück ließ sich Großvater auf mein inständiges und hartnäckiges Betteln hin schließlich davon überzeugen, meine Ausflüge zur Bibliothek zu genehmigen. Bis es so weit war, hatte er allerdings lange gegrübelt. Dann stellte er mich auf die Probe – ich ging allein, aber er mir nach, wenn auch mit größerem Abstand. Er wollte überprüfen, ob ich den Weg fand und mir auch nichts zustieß. Endlich sagte er mir, ich könnte zur Bibliothek gehen, aber ich habe ihn danach noch zweimal erwischt, wie er mir nachgeschlichen ist, und war furchtbar wütend auf ihn.
Ach ja, manchmal gehe ich auch noch in dem kleinen Laden in der Sienna einkaufen, aber wirklich nur selten, nur wenn Großvater unmöglich selbst gehen kann und es gerade etwas Gutes gibt. Für die Lebensmittel dort braucht man spezielle Marken, es gibt auch nicht besonders viel zu kaufen. Meistens erledigt das Großvater selbst oder die Schwester von Herrn Brylant, der wir dafür ein bisschen Geld geben.
Großvater ist Geiger und war vor dem Krieg eine richtige Berühmtheit – viele Leute kannten ihn, und er war häufig in der Zeitung, weil er in der Philharmonie spielte. Die Philharmonie ist so ein Ort, wo viele Musiker gleichzeitig auf einer Art Bühne spielen, und im Saal sitzen jede Menge elegant gekleideter Herren und Damen und hören ihnen zu. So eine Philharmonie gibt es jetzt nicht mehr, aber im Bezirk finden noch ab und zu Konzerte mit klassischer Musik statt. Allerdings nicht so oft, dass man davon leben könnte, deshalb zieht Großvater tagsüber mit seiner Geige durch die Hinterhöfe des Bezirks, und die Leute werfen ihm Geld oder Brot aus ihren Fenstern. Nachmittags spielt Großvater dann in Cafés oder Restaurants, damit die Gäste es beim Essen und Trinken netter haben. Manchmal spielt er auch bei Feiern oder im Theater, aber das kommt selten vor. Außerdem gibt er noch ab und zu verschiedenen Kindern und Erwachsenen Geigenunterricht. Er bekommt fünf Złoty für eine Unterrichtsstunde – für eine einzige Stunde so viel, wie die Bibliothek für einen ganzen Monat kostet! Deshalb finde ich, dass Lesen günstig ist.
Früher bin ich mit Großvater zusammen durch die Höfe gezogen. Er hat gespielt, ich bin herumgelaufen und habe Geld und Essen in eine Mütze oder ein Jutesäckchen gesammelt. Das hat mir eigentlich Spaß gemacht, obwohl ich mich immer richtig beeilen musste. Aber dann hat ein SS-Mann Großvater auf der Straße angehalten, und dieser Soldat hat ihn geschlagen.
Nicht schlimm, nur so ein bisschen, aber ich habe einen Riesenschreck bekommen und laut geweint, weil ich noch klein war. Da hat Großvater gesagt, dass ich nicht mehr mitkommen würde. Also sitze ich in der Wohnung und mache mir manchmal Sorgen, dass ihm etwas zustößt, aber es hilft ja nichts, wir brauchen nun einmal Geld, und Großvater kann es nur mit seiner Geige verdienen. Dass ich zu Hause sitze, bedeutet aber nicht, dass ich untätig bin, ich habe viele wichtige Aufgaben zu erledigen! Zum Beispiel putze ich unser Zimmer, und manchmal, wenn es etwas zu kochen gibt, bereite ich in der Küche unser Essen zu. Aniela hilft mir dabei, wenn sie nicht gerade zu traurig dazu ist.
Außerdem lese ich natürlich und mache mir viele Gedanken. Über Erfindungen oder über das Einmal. Das Einmal meint das, was war, und das, was noch kommen wird. Ich mache mir also Gedanken darüber, was ich einmal tun werde, dass ich Erfinder werde und die verrücktesten Dinge erfinde. Essbares Gras zum Beispiel oder ein Medikament gegen das Alter. Oder Klappflügel – ich würde gerne Klappflügel erfinden, die man immer in der Tasche hat und sich umschnallt, wenn man nicht mehr laufen will. Ich glaube, den Menschen würde meine Erfindung ganz gut gefallen, mir würde sie das auf jeden Fall. Manchmal erzähle ich Großvater von meinen Ideen, und er hat mich noch kein einziges Mal ausgelacht, obwohl manche wirklich verrückt sind. Großvater sagt, Wissenschaftler und Erfinder sind Menschen, die Wahrscheinlichkeit in Wirklichkeit verwandeln können, und meine Ideen sind, wenn auch verrückt, so doch wahrscheinlich, sie können also Wirklichkeit werden, wenn nur einer herausfindet, wie es geht. Wenn meine Ideen aber wahrscheinlich sind, heißt das, dass ich denke wie ein Wissenschaftler und dass ich für Großvater bestimmt einmal ein großer Erfinder werde.
Das zweite Einmal, über das ich mir Gedanken mache, betrifft das, was war. Es gab einmal keinen Krieg und auch keinen Bezirk. Man konnte einmal aus der Stadt hinausfahren aufs Land, in den Wald, an den Fluss oder sogar ans Meer. Meine Eltern waren einmal bei mir, und wir wohnten zusammen in Saska Kępa. Angeblich, ich kann mich nämlich kaum noch daran erinnern, nur noch an einzelne Bilder, und selbst da bin ich mir unsicher, ob ich die nicht nur geträumt habe. Meine Eltern sind nach Afrika ausgewandert, als ich drei war, da bin ich zu Großvater gezogen. Es sollte eigentlich ein Jahr dauern, höchstens zwei Jahre, bis Mama und Papa sich in Afrika ein Haus gebaut und sich eingerichtet haben, dann wollten sie uns Geld schicken, dass wir nachkommen. Leider haben sie das nicht mehr geschafft, weil der Krieg kam. Anfangs haben sie uns noch oft geschrieben. Dann wurden die Briefe weniger, und seit es den Bezirk gibt, haben sie ganz aufgehört. Nicht, weil meine Eltern aufgehört hätten zu schreiben – ich bin sicher, sie schicken uns immer noch Briefe, aber die kommen nicht mehr an, weil der Bezirk abgeriegelt wurde.
Es soll einmal gar nicht so wichtig gewesen sein, wo jemand herkam, sondern es zählte nur, was er für ein Mensch war. Jeder wohnte, wo es ihm gefiel, ganz egal, wie er hieß, woran er glaubte oder welche Farbe seine Haut, seine Haare oder seine Augen hatten. Wieso kann ich mich nicht mehr daran erinnern? Mit fünf oder sechs Jahren kann man doch schon sprechen und prägt sich vieles ein!
Ich erinnere mich an den Beginn des Krieges und die Bomben – ich hatte überhaupt keine Angst vor ihnen. Großvater nahm mich mit in den Keller, aber er sagte, das wäre ein Spiel, und er lachte, also lachte ich auch. Wenn in der Nähe eine Bombe einschlug, alles erzitterte und es von der Kellerdecke rieselte, sagte Großvater, die Riesen spielten Ball und es sei wahrhaftig ein Kreuz mit ihnen. Ich glaubte tatsächlich an diese Riesen und hätte sie zu gerne gesehen. Leider konnten wir nicht rausgehen und schauen, aber im Keller war es auch ganz interessant, deshalb habe ich nicht gemeckert. Dann tauchten die deutschen Soldaten auf, und es kamen immer mehr Menschen, die aus den Vororten von Warschau vertrieben worden waren. Ich habe nicht einmal mitbekommen, wann (und dass überhaupt) der Bezirk eingerichtet wurde und dass wir in ihm eingesperrt wurden.
Mir kommt es so vor, als habe ich schon immer hier gelebt. Als wäre der Bezirk schon immer da, als gebe es schon immer zu wenig zu essen und zu viele Menschen. Als wäre schon immer Krieg und als dürfe man unter keinen Umständen vergessen, sich zu fürchten, selbst wenn man gar keine Angst hat. Das macht mich manchmal furchtbar müde. Ich glaube, ich hätte es viel leichter, wenn ich mich an meine Eltern, an den Fluss, den Wald und an unser schönes Saska Kępa erinnern könnte. Deshalb könnte ich auch so eine Zeitmaschine gut gebrauchen. Zuerst würde ich mit ihr in das Einmal von früher reisen und nachsehen, wie es war, als wir in Saska Kępa gelebt haben. Dann würde ich in das zukünftige Einmal reisen und sehen, welche Erfindungen ich gemacht haben werde und wann der Krieg zu Ende gegangen sein wird. Es sagen ja alle, der Krieg werde einmal zu Ende gehen, und wenn das alle sagen, dann ist das sicher so, auch wenn man es kaum glauben mag. Vielleicht ist in dem Buch aus der Bibliothek ja eine Bauanleitung für die Zeitmaschine. Gleich nach dem Essen, wenn Großvater mit seiner Geige ins Café geht, fange ich an zu lesen. Aber jetzt muss ich erst einmal Essen kochen, es ist schon längst nach vier!
Aniela hat heute einen guten Tag, sie hilft mir mit den Kartoffelpuffern. Die zerfließen zwar ein bisschen, weil wir nur ein Ei haben, aber dafür sehen sie gut aus und riechen noch besser. Ich habe sie gerade fertig, als Großvater kommt. Behutsam legt er den Geigenkasten auf dem Schränkchen neben der Liege ab – die Geige ist das Wertvollste, was wir haben. Sie ist schon sehr alt, und einmal wollte wohl ein Mann sie kaufen, der dafür so viel Geld bezahlt hätte, dass es für ein neues Auto gereicht hätte! Zum Glück hat Großvater sie nicht verkauft, wovon würden wir sonst heute leben? Man darf jetzt keine Autos mehr haben, jedenfalls nicht im Bezirk. Großvater wäscht sich die Hände und setzt sich dann zu Tisch.
»Himmlisch«, sagt er nach den ersten Bissen. »Was hast du heute gemacht?«
»Ich war in der Bibliothek«, erkläre ich.
Die Puffer sind wirklich ganz anständig geworden, Aniela hat mir ein bisschen Salz abgegeben. Den ersten habe ich schon aufgegessen und lade mir gleich den zweiten auf den Teller.
»Schon wieder in der Bibliothek«, brummelt Großvater. »Warst du auch vorsichtig auf dem Weg?«
»Das bin ich doch immer«, sage ich achselzuckend.
»Du hattest doch eben erst so einen Riesenwälzer ausgeliehen … War Basia da?«
»Nein, irgendein neues Fräulein. Janka heißt sie. Sie hat mir ein schönes Buch gegeben.«
»Was für eins?«
»Die Zeitmaschine.«
Stirnrunzelnd angelt Großvater nach seinem zweiten Puffer.
»Das ist doch eher etwas für Erwachsene.«
»Überhaupt nicht«, protestiere ich sofort. Ich habe einmal hineingeschaut und alles verstanden. Und wenn schwierige Wörter vorkommen, schlage ich im Wörterbuch nach oder frage Aniela.«
»Ich meinte etwas anderes.«
Ein letzter Puffer ist noch übrig.
»Nimm ihn dir«, sagt Großvater.
»Ich bin schon satt«, antworte ich.
»Bist du nicht«, seufzt Großvater. »Nun nimm ihn schon.«
»Aber wenn ich doch nicht will. Iss du ihn, Großvater.«
Die Kartoffeln reichten für fünf Puffer. Ich habe zwei gegessen, die anderen drei waren für Großvater. Erstens ist er viel größer als ich, also muss er mehr essen, das ist logisch. Und zweitens arbeitet er und ich nicht. Wenn ich ständig nur zu Hause sitze, brauch ich nicht so viel zu essen – obwohl mein Magen das leider etwas anders sieht. Aber sei’s drum. Außerdem kriege ich vielleicht von Frau Brylant etwas zum Abendessen, das passiert ab und zu.
»Ich esse im Café noch etwas«, erklärt Großvater.
»Aber vielleicht auch nicht.«
»Gut, dann machen wir es so.« Großvater schneidet den Puffer in der Mitte durch, die eine Hälfte legt er auf meinen Teller, die andere auf seinen. »Einverstanden, der Herr? Ein sauberer Kompromiss.«
Ich lächle ihn an und verspeise dann meine Hälfte des letzten Puffers. Sie schmeckt noch besser als der erste.
Nach dem Essen besorge ich den Abwasch, Großvater steigt wieder in seinen Mantel und geht früher als gewöhnlich los. Im Café muss er erst um sechs aufspielen, aber er will sich vorher noch ein Zimmer in der Mariańska anschauen, das wohl zu vermieten ist. Wir müssen aus der Sienna wegziehen, die Straße wird bald nicht mehr zum Bezirk gehören. Also brauchen wir eine neue Wohnung, und das ist sehr schwierig. Das einzig Gute an der Sache ist, dass wir nur wenige Sachen haben, dann ist der Umzug wenigstens nicht so schwer. Herr Duchowiczny, der mit dem Chemielabor in der Śliska, hat versprochen, uns einen Handwagen zu leihen, damit wir unsere Koffer, die Kissen und ein paar Möbel transportieren können.
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