Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
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45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
50. Kapitel
Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von Anabelle Stehl bei LYX
Impressum
Worlds Collide
Roman
Mit gerade einmal zwanzig Jahren hat Fiona Harris es geschafft. Sie ist eine der erfolgreichsten Beauty-Influencer:innen in Großbritannien mit Millionen von Follower:innen, reist von Event zu Event und bringt gerade ihre eigene Make-up-Linie heraus. Doch ihre Kindheit war deutlich weniger glamourös, denn Fiona stammt aus armen Verhältnissen und wuchs in einem Problembezirk Londons auf. Jetzt nutzt sie ihre Reichweite, um anderen zu helfen. Umso härter trifft es sie, als der bekannte YouTuber Demian O’Neill einen Skandal aufdeckt, in den Fiona unfreiwillig verwickelt ist: Bei einer Spendengala zugunsten benachteiligter Kinder, für die sie aus Zeitgründen nur ihren Namen hergegeben hat, sind die Einnahmen nicht bei den entsprechenden Organisationen angekommen. Im Gegenteil: Die anderen mitorganisierenden YouTuber:innen haben das Geld in die eigene Tasche gesteckt. Fiona ist entsetzt und will alles tun, um ihre Unschuld zu beweisen. Sie sieht ihre Chance auf der Video Con in London gekommen. Doch bei dem Panel, das ihren guten Ruf retten soll, sitzt ausgerechnet Demian neben ihr …
Liebe Leser:innen,
bitte beachtet, dass Worlds Collide Elemente enthält, die triggern können. Dies ist: emotional und finanziell missbräuchliche Beziehung zu Familienmitgliedern.
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Eure Anabelle und euer LYX-Verlag
Für die Falkenfreunde:
Babsi, Liza, Lucinda und Mikkel.
Danke für eure Zeit,
Motivation und Freundschaft.
Watermelon Sugar – Harry Styles
The Internet – Jon Bellion
If I Ruled The World – MILCK
Chandelier – Damien Rice
Bad Blood – Taylor Swift, Kendrick Lamar
Devil I Know – Allie X
False Confidence – Noah Kahan
Best of Me – Christina Aguilera
2021 Barbie Girl – Hannah Grae
Why – Sabrina Carpenter
Teeth – 5 Seconds of Summer
Heat Waves – Glass Animals
Clean – Hey Violet
Sirens – LORYN
Girl Crush – Harry Styles
The Chain – Fleetwood Mac
No Lines – LORYN
First Day of My Life – Bright Eyes
Kiss – Prince
Older – Sasha Alex Sloan
Redemption – Dermot Kennedy
Neutron Star Collision – Muse
Only Us – Laura Dreyfuss, Ben Platt
Heute war der Tag, an dem ich endlich Stolz empfinden würde.
Kaum hatte ich die Augen aufgeschlagen, war der Gedanke da und verdrängte alle anderen. Ich drehte mich auf die Seite und griff nach meinem Handy, das auf dem Nachttisch lag. Es war gerade einmal sieben Uhr, ich war eine halbe Stunde vor dem Weckerklingeln wach geworden. Kein Wunder, denn mein Herz schlug wild vor Aufregung, und ich war diese Nacht bereits mehrmals aufgewacht. Ohne wie üblich meine Benachrichtigungen zu checken, legte ich das Handy mit dem Display nach unten wieder zur Seite und sah an die Decke, an die die gerade aufgehende Sonne helle Muster malte. Das Rauschen der vorbeifahrenden Autos vor meinem Fenster drang leise herein, und irgendwo in der Ferne waren die in London nie verklingenden Sirenen eines Krankenwagens oder Polizeiautos zu hören. Ich schloss die Augen und holte tief Luft, um mein viel zu schnell schlagendes Herz zu beruhigen.
Heute war es so weit. Ich hatte geschafft, was ich mir erträumt hatte. Ich konnte stolz auf mich sein.
Ich ignorierte den Gedanken daran, dass ich mir diesen Satz nicht zum ersten Mal sagte. Bei meiner ersten bezahlten Kooperation, damals, als ich die 100 000 Abonnenten geknackt und YouTube mir meinen ersten Play-Button geschickt hatte, der nun die Wand im Wohnzimmer zierte, bei meinem ersten professionellen Fotoshooting für ein Magazin: Immer hatte ich dagesessen und in mich hineingehorcht. Hatte gehofft, dass sich das Gefühl von Stolz, Selbstliebe und was einem nicht immer gepredigt wurde, einstellte. Gefühlt hatte ich nichts. Natürlich war ich kurz glücklich gewesen, hatte mich gefreut – aber nie war die Freude so langanhaltend gewesen, dass sie nachhaltig etwas verändert hätte.
Doch heute war es so weit, da war ich mir sicher.
Viereinhalb Jahre hatte ich hierauf hingearbeitet, hatte Nächte durchgemacht, Rückschläge erlitten, doch nie aufgegeben. Und tatsächlich war da ein nervöses Kribbeln in mir, das sich nach Vorfreude anfühlte. Ganz von selbst stahl sich ein Lächeln auf mein Gesicht, so breit, dass ich fühlte, wie sich meine Wangen hoben. Ich schlug die Augen wieder auf, schnappte mir mein Handy, die Kleidung, die ich gestern schon bereitgelegt hatte, und ging ins Bad. Während Harry Styles’ Musik aus meinen Boxen in dem geräumigen Badezimmer drang, duschte ich, kleidete mich an und suchte mein Make-up zusammen. Jetzt konnte ich das breite Grinsen auch im Spiegel sehen, denn heute würde ich nicht nur irgendein Make-up benutzen.
Sanft strich ich über die mintgrüne Verpackung der Lidschatten-Palette und nahm den pfirsichfarbenen Lippenstift mit mattem Finish aus meiner Kollektion. Ja, meiner Kollektion. Denn sowohl auf der mintgrünen Palette als auch auf der schwarzen Verpackung des Lippenstifts stand in roségoldenen, geschwungenen Lettern »by Fiona« – in meiner Handschrift. Meine eigene Make-up-Linie. Meine erste eigene Make-up-Linie, wie meine Managerin Anita betont hatte, denn sie war sich sicher, dass weitere folgen würden, so gut wie die Vorbesteller-Zahlen bereits aussahen.
Mein Herz klopfte schon wieder aufgeregt, und die blauen Augen im Spiegel blickten mir funkelnd und so viel wacher, als ich es gewohnt war, entgegen. Das war immer mein Traum gewesen, schon seit ich mit vierzehn Jahren die erste Kollektion meiner liebsten YouTuberin gekauft hatte. Dass ich nun meine eigene in den Händen hielt, war unglaublich. Keine Ahnung, ob ich mich je daran gewöhnen könnte. Ich legte Primer, Foundation und mein übliches Tages-Make-up auf, bevor ich mich meinen Produkten widmete.
Wie immer wirkte das Ganze beinahe meditativ auf mich. Ich hatte schon früh begonnen, mit Make-up zu spielen – spielen war das richtige Wort, denn ich hatte gar keine Ahnung davon gehabt. Doch es war immer meine Ausflucht gewesen. Es war fast so, als hätte ich damals durch das Schminken eine Rüstung angelegt, um den Tag zu überstehen. Nicht jedoch weil ich Unreinheiten kaschieren konnte oder dergleichen. Vielmehr weil diese paar Minuten vor der Schule nur mir gehörten. Ich hatte mich auf nichts als auf mich, mein Gesicht und die Musik in meinen Ohren konzentriert, hatte alles ausblenden können. Die Flüche meiner Mum, die sie den Männern, die sie gerade datete, an den Kopf warf, das Trommeln an der Badezimmertür, wenn ich zu lang brauchte, das Bellen des Nachbarhundes, der viel zu wenig Auslauf bekam, der Lärm der Autos direkt vor der Tür – all das verschwand für einige Augenblicke. Auch heute noch wirkte es ähnlich beruhigend auf mich, auch wenn ich nicht länger bei meiner Mum wohnte und der Londoner Straßenlärm ein willkommenes Hintergrundrauschen geworden war.
Mich zu schminken war mein Ventil. Während andere eine Leinwand bemalten, um ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen und ihre Gedanken zu sortieren, trug ich meine direkt auf dem Gesicht. Mit der Zeit hatte ich es so sogar lieben gelernt. Die Sommersprossen, die ich früher nicht mochte, überschminkte ich nicht länger, und die Nase, die nicht ganz gerade war und die ich als Teenager unbedingt hatte richten lassen wollen, gehörte mittlerweile unabdingbar zu mir.
Dass ich nun meine eigenen Produkte auftragen, anderen vielleicht das gleiche Gefühl vermitteln und ihnen einen Funken Selbstbewusstsein mitgeben konnte, war unbeschreiblich. Zwar hatte ich die Linie bereits mehrmals benutzt, jedoch immer nur zum Testen, bevor sie in die Produktion ging. Ich hatte mich in den gesamten Prozess einbeziehen lassen und auch meine Follower und Followerinnen auf Social Media mitgenommen. Mein Management hatte mir zuerst davon abraten wollen, da ich ohnehin zu viel zu tun hatte. Doch nachdem ich meiner Managerin beteuert hatte, wie viel mir daran lag, hatte sie sich für mich eingesetzt. Ich hatte nicht einfach meinen Namen auf eine fertige Linie schreiben, ich hatte dabei sein wollen. Von Anfang an. Das erste positive Feedback meiner Abonnenten und Abonnentinnen, die ich bei Farbwahl und Zusammensetzung der Paletten hatte abstimmen lassen, hatte dann auch mein Management überzeugt. Klar, denn Engagement und Reichweite bedeuteten wieder Geld. Letzten Endes war es mir aber egal, denn ich hatte bekommen, was ich wollte: Ich hatte mich einbringen und mitentscheiden dürfen, und so fühlte sich das, was ich gerade in den Händen hielt, wirklich nach meinem Erfolg an.
Nachdem ich noch etwas Puder auf mein Gesicht aufgetragen hatte, drehte ich meine weißblonden Haare mit dem Glätteisen zu sanften Wellen, steckte die Hälfte hoch und schickte ein Selfie an meine beste Freundin Kaycee. Ich betrachtete das Foto eine Weile und musste wieder lächeln, während sich ein aufgeregtes Flattern in meiner Magengrube bemerkbar machte. Weil das Grinsen auf dem Foto echt aussah. Weil ich glücklich aussah. Ich blickte auf in mein Spiegelbild. Ich war glücklich. Nicht nur ein bisschen, sondern so richtig. Obwohl das Licht auf dem Foto nicht optimal war und ich es unter normalen Umständen nicht gepostet hätte, beschloss ich, das Bild genau so in die Story zu laden.
»Ich freu mich auf euch! «, schrieb ich dazu und postete es. Nach nur wenigen Sekunden trafen die ersten Nachrichten und Reactions ein, doch ich kam gar nicht dazu, sie zu öffnen, da Kaycee mich im nächsten Moment anrief.
»Hey«, nahm ich den Anruf an.
»Du siehst so gut aus! Aber wieso bist du schon wach? Ich bin grad erst aufgestanden und brauch noch mindestens ’ne halbe Stunde, bis ich loskann.« Im Hintergrund war ein Reißverschluss zu hören.
»Ziehst du dich grad beim Telefonieren an?«, fragte ich mit einem Lachen.
»Ja, ich will dich nicht warten lassen.«
»Keine Eile, wirklich! Ich war nur viel zu aufgedreht und schon zu früh wach.«
»Kein Wunder, sogar ich bin aufgeregt«, erwiderte Kaycee, was mich schon wieder zum Lächeln brachte. Kaycee war meine beste Freundin seit Kindertagen. Wir waren in derselben Straße aufgewachsen und kannten uns schon, seit wir die ersten Worte wechseln konnten. Sie war der Mensch, dem ich am meisten vertraute, und auch diejenige, die mich in allem völlig neidfrei und zu einhundert Prozent unterstützte. Dass sie heute dabei war, war also ein Muss!
»Okay, ich beeil mich. Soll ich zu dir oder treffen wir uns an unserem Platz im Park?«
»Park, ich glaub nicht, dass ich es aushalte, hier jetzt stillzusitzen.«
»Dachte ich mir. Okay, bis gleich! Hab dich lieb, ich bin so stolz auf dich!«
»Danke«, sagte ich und schluckte gegen den Kloß an, der sich plötzlich in meinem Hals gebildet hatte. Kaycee verabschiedete sich und legte auf. Ich ließ meine Hand mit dem Smartphone sinken und betrachtete mich ein letztes Mal im Spiegel.
Heute war mein Tag.
»Hier drüben!«, rief ich, als mein Blick auf Kaycee fiel, die mit der Hand die Sonnenstrahlen abschirmte und sich suchend umsah. Sie winkte zurück und kam auf mich zu.
Der Hyde Park war von meiner Wohnung aus in nur wenigen Minuten zu Fuß zu erreichen, und ich war ständig hier. Ich liebte die Ruhe inmitten der lebendigen Stadt, die Eichhörnchen, die auf Futter der Touristengruppen hofften, und die Musizierenden, die ihr Können häufig zur Schau stellten. Wie üblich hatte ich an einem der Brunnen der Italian Gardens gewartet, was vielleicht nicht die klügste Entscheidung war, so viel Trubel, wie hier immer herrschte. Gerade sonntags waren besonders viele Gruppen unterwegs, aber ich liebte den Platz zu sehr, um ihn aufzugeben, nur weil ich erkannt werden könnte.
»Hallo!« Kaycee umarmte mich mit so viel Elan, dass ich einen Schritt nach hinten taumelte.
Lachend erwiderte ich die Umarmung, bevor meine beste Freundin mich eine Armlänge von sich hielt und ihren Blick über mich wandern ließ. »Du siehst großartig aus!«
»Nicht wenn du mich ins Wasser schubst«, gab ich mit einem Blick hinter mich auf den flachen Brunnen zurück, woraufhin sie von mir abließ. »Aber danke! Ich wollte etwas Neutrales, damit sich nichts auf den Fotos beißt.«
Kaycee grinste. »Du hast wie immer an alles gedacht.«
Sie hatte sich, im Gegensatz zu mir, für Farbe entschieden – ihre Haare waren frisch gefärbt und hellrosa, und sie trug ein pastellblaues Kleid. Es kam nur selten vor, dass man Kaycee in etwas anderem als Schwarz sah.
»Wir haben ganz schön Glück mit dem Wetter.«
»Yep, heute ist alles perfekt!«, erwiderte ich. Kaycee hatte recht. Für März war es außergewöhnlich warm, und weit und breit waren keine Wolken zu sehen, als hätte sich London extra für mich zusammengerissen.
Kaycees Grinsen verwandelte sich in ein sanftes Lächeln, als sie mich betrachtete. »Ich freu mich wirklich unglaublich für dich. Was für eine Woche ist das bitte? Erst die zwei Millionen Abos und dann der heutige Launch.«
Ich erwiderte ihr Lächeln, woraufhin Kaycee kurz meine Hand drückte. Sie war die einzige Person in meinem Leben, die meine Gedanken ungefiltert kannte. Bei ihr musste ich mich nie zurückhalten. Nie die Angst haben, undankbar zu wirken, weil ich etwas nicht so fühlte, wie ich es – nach Meinung der Gesellschaft – tun sollte. Sie nahm mich, wie ich war, und vermittelte mir manchmal sogar das Gefühl, dass das Ich, das sie zu sehen bekam, eigentlich ganz okay war.
»So und jetzt genug Schnulz, gib dein Handy her, wir machen Fotos.«
»Müssen wir nicht, ich hab die Woche schon vorgeplant.«
»Fiona, das ist dein Tag! Ein Meilenstein in der Geschichte der Fiona Harris. Also rück dein überteuertes iPhone raus, und wirf dich in Pose.«
Kaycee zog eine dunkel geschminkte Augenbraue nach oben, und ich reichte ihr schmunzelnd das Smartphone. Mittlerweile hatte sie Übung darin, Licht und Hintergrund perfekt einzufangen, wusste genau, welche Seiten ich an mir mochte, welche weniger und welchen Winkel sie nutzen musste, damit ich mit dem Endresultat zufrieden war. So auch jetzt.
»Danke dir!«, sagte ich, während ich die Fotos sichtete. »Du bist und bleibst der beste Instagram Husband.«
»Ich weiß.«
Ich ließ das Handy in meine Handtasche wandern. Irgendwann, als ich die Eine-Million-Marke geknackt hatte, hatte ich aufgehört, Fotos direkt auf Instagram zu posten. Zu häufig war es vorgekommen, dass meine Followerinnen das Café aufgesucht hatten, in dem ich gerade mit Kaycee gesessen hatte, oder vor dem Gebäude meines Managements campiert hatten, wenn ich von dort aus eine Story hochgeladen hatte.
Ich liebte es, die Menschen zu treffen, denen ich all das zu verdanken hatte, aber es machte auch vieles komplizierter. Es gab keinen Tag, an dem ich mir nicht die Zeit für ein Foto nahm, wenn jemand mich erkannte, aber mein Alltag war mittlerweile ziemlich vollgestopft, und durch den Londoner Verkehr war es so schon schwer genug, pünktlich zu Terminen zu kommen. Ein paarmal war ich auch ohne mein Wissen fotografiert worden, und es war ein seltsames Gefühl, wenn Fotos im Internet landeten, von deren Existenz man nicht wusste. Zumal die Fotos nur selten vorteilhaft waren. Also würden Kaycees Schnappschüsse erst später oder morgen auf Instagram landen.
Ich sog noch einmal tief die Frühlingsluft ein und merkte, wie sich schon wieder ein Lächeln auf mein Gesicht schlich. »Kaffee?«, fragte ich mit Blick zu dem Kaffeewagen hinter uns, der am Eingang des Parks stand.
Kaycee musterte mich eingehend. »Sicher, dass Kaffee eine gute Idee ist, so wie du jetzt schon rumspringst?«
»Ach, einer geht schon, ich hatte nach dem Aufstehen extra keinen.«
»Na, dann los. Da kannst du mich direkt für meine Fotografentätigkeit bezahlen.«
»Wird gemacht«, erwiderte ich und hakte mich bei meiner besten Freundin ein. »Und ich kann meine Rede noch mal durchgehen.«
»Noch mal? Die kann sogar ich mittlerweile auswendig.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich will einfach nicht, dass heute etwas schiefgeht.«
»Wird es nicht«, versicherte Kaycee mir. »Außerdem wird wohl keiner schreiend aus dem Laden rennen, nur weil du dich an einer Stelle verhaspelt hast.«
Sie knuffte mich in die Seite, und ich rollte mit den Augen. Natürlich hatte sie recht, und ich wusste, dass ich so gut vorbereitet war, wie ich sein konnte. Dass mich nichts Böses erwartete und all die Leute schließlich meinetwegen da waren, um mich zu unterstützen. Trotzdem fühlte es sich manchmal an, als hätte ich mir mit all dem kein sicheres Fundament erbaut, sondern ein stetig wankendes Kartenhaus, das ich höher türmte, als ich es mir in meiner Position – ohne guten Abschluss und mit gerade einmal zwanzig Jahren – erlauben sollte. Trotz des positiven Zuspruchs waren die negativen Stimmen in meinem Kopf manchmal lauter, und wenn sie zu laut wurden, blieb in mir nichts übrig als das Gefühl, eine Hochstaplerin zu sein. Mir dieses »Imperium«, wie meine Managerin Anita es häufig betitelte, nur mit Schall und Rauch errichtet zu haben. Ein kleiner Teil von mir wartete angespannt darauf, dass dieser Rauch mir die Karten um die Ohren wehte und alles einstürzte.
Deshalb war dieser Tag so wichtig. Heute würden sich die Jahre harter Arbeit bezahlt machen. Ich hatte das verdient. Alles davon. Der heutige Tag war der Beweis.
»Oh mein Gott«, stieß ich aus, kaum dass das Taxi uns am Ende der Regent Street rausgeworfen und uns somit freien Blick auf den Piccadilly Circus und die Filiale gegeben hatte, in der in wenigen Stunden das Event starten würde. Ich war mir nicht sicher, ob Kaycee es über den Straßenlärm hörte oder einfach stehen blieb, weil sie in dem Moment sah, was ich sah.
Der Piccadilly Circus war überfüllt wie immer: Reisegruppen, Pendelnde, rote Doppeldeckerbusse, Taxis, Autos, Straßenstände und Leute, die einfach nur von A nach B wollten – und eine ewig lange Schlange, die sich vor Boots versammelt hatte.
»Die stehen jetzt schon an? Es startet doch erst um drei Uhr«, sagte ich und sah auf mein Handy, um die Uhrzeit zu checken, obwohl ich genau wusste, dass ich überpünktlich war. Drei Stunden vor Beginn des Events sollte ich da sein, und ich war sogar noch zwanzig Minuten zu früh, nur um auf Nummer sicher zu gehen.
»Was hast du erwartet? Vermutlich kamen die Ersten heute Morgen schon.«
»Aber warum? Wir haben doch Karten verlost, der Rest kann sowieso erst später rein.«
»Einhundert Karten«, meinte Kaycee und zeigte auf die Schlange. »Ich glaube nicht, dass das da die Leute mit Tickets sind. Die sehen eher so aus, als hofften sie, dass sie dich vor dem Event irgendwie zu Gesicht bekommen.«
Ich schluckte. Ich liebte es, meine Fans zu treffen, doch für gewöhnlich tat ich das auf Conventions und Messen. Sie jetzt hier mitten in London zu sehen, an einem Ort, den ich beim Shoppen passierte, war ungewohnt. Sie standen alle für mich an. Für mich. Das Mädchen aus Croydon. Das Mädchen, das all die Jahre lang belächelt worden war, weil es sich zu viel schminkte, weil es Videos ins Internet stellte, gedreht in seinem kleinen Kinderzimmer mit der altbackenen Tapete. Dieses Mädchen war noch in mir drin und konnte selbst jetzt, Jahre später mit zwei Millionen Abonnenten und Abonnentinnen auf YouTube, nicht glauben, dass Leute anstanden, um es zu sehen.
Mein Blick wanderte nach oben, ich sog die Luft ein und griff nach Kaycees Hand.
Oh. Mein. Gott.
Adrenalin schoss durch meinen ganzen Körper, eine Gänsehaut legte sich auf meine Arme und brachte die feinen Härchen dort zum Stehen, und mein Herz pochte so heftig in meinem Brustkorb, dass es beinahe wehtat.
»Au«, machte Kaycee, als ich ihre Hand noch fester drückte. »Was ist?«
Als ich nicht antwortete, folgte ihr Blick meinem, der nach wie vor starr geradeaus gerichtet war. Plötzlich erwiderte sie den Druck meiner Finger und gab ein Geräusch von sich, das verdächtig nach einem Quietschen klang und somit so gar nicht nach Kaycee.
»Oh mein Gott, das bist du!«
Ja, das war ich. Riesengroß.
Auf einer der Anzeigetafeln direkt über Boots, neben Werbung für Guess, Coca Cola und irgendeine britische Bank. Auf einer der Tafeln, deren Werbefläche Unsummen kosten musste, war mein Gesicht.
»Simply Beautiful by Fiona« stand dort in filigraner Handschrift neben meinem lächelnden Gesicht aus dem Fotoshooting, das ich vor wenigen Monaten mit Boots gehabt hatte.
»Schnell«, sagte Kaycee, zückte ihr Handy und schob mich in Position. Perplex folgte ich ihren Anweisungen, und im nächsten Moment hatte sie auch schon auf den Auslöser gedrückt. Dann noch einmal und beim letzten Foto hatte ich es endlich geschafft, mich aus meiner Starre zu lösen und wie ein normaler Mensch zu schauen.
Lachend betrachtete sie die Fotos. »Du siehst aus, als hätte man dir den letzten Carrot Cake geklaut.«
»Wie würdest du denn gucken?«, fragte ich mit Blick auf das Bild. Als ich wieder zu den Anzeigetafeln sah, war mein Gesicht von einer Disney-Werbung ersetzt worden. »Das ist …« Ich schüttelte den Kopf, weil ich keine Worte hatte, um zu beschreiben, wie unglaublich das gerade war.
»Was fühlst du?«
Ich stieß ein Lachen aus und hob die Schultern. »Keine Ahnung, es ist vollkommen verrückt. Aufregung, Freude, aber vor allem Angst, dass jetzt alle erwarten, dass ich so porenlos aussehe wie da oben.«
Ich schob mir eine Haarsträhne zur Seite und hielt Kaycee meine Wange entgegen. »Natürlich hat meine Haut genau heute nämlich Zicken gemacht, guck. Super Timing.«
»Ich denke nicht, dass da irgendjemand drauf achtet, die sind alle genauso aufgeregt wie du. Außerdem zeigst du dich oft genug ungeschminkt, niemand erwartet, dass du perfekt bist.«
»Ich hoffe es.« Kopfschüttelnd sah ich dabei zu, wie die Disney-Werbung einer Anzeige für Handtaschen wich, bevor wieder ich dort erschien. In der Schlange darunter fotografierten einige Mädchen das Bild und tippten danach auf ihrem Handy herum, vermutlich, um das Foto online zu stellen.
»Ich glaube, das ist der aufregendste Tag meines Lebens. Und ich glaub nicht, dass ich das jemals realisieren werde.«
»Du hast dir all das verdient.«
Mit erhobenen Brauen sah ich sie an. Sie kannte meine Gedanken dazu, und ich war mir ziemlich sicher, dass sie den Satz genau deshalb gesagt hatte. »Das hier? Den Launch? Die Leute? Ich weiß nicht, das war einfach Glück.«
Kaycee boxte mich so fest gegen den Oberarm, dass ich aufjaulte. »Aua. Was soll das denn?«
»Ich hab dir schon mal gesagt, dass du damit rechnen musst, wenn du so was von dir gibst. Hör auf, deine harte Arbeit als Glück abzutun. Du hast dir jahrelang den Arsch dafür aufgerissen, hast nach der Schule bis in die Nacht rein Videos geschnitten, dir die Sprüche unserer Klassenkameraden angehört und immer weitergemacht. Hast dich in Steuerkram eingelesen, den ich bis heute nicht verstehe … Das hat nichts mit Glück zu tun. Du hast es rausgeschafft, Fiona. Trotz all der Scheiße, die daheim los war.« Sie lächelte mich schief an. »Also hör bitte auf, dich selbst kleinzureden und es auf Glück zu schieben. Sei verdammt noch mal stolz auf das, was du erreicht hast. Auch wenn oder gerade weil andere dir einreden, dass du es nicht sein kannst.«
Ihr letzter Kommentar brachte mich mehr zum Schlucken als die Worte davor, weil ich nicht wusste, ob es eine Spitze gegen all die Kritiker und die Nachrichten war, die mich als dummes Blondchen, das mit Make-up spielte, abtaten – oder gegen meine Mutter. Ich verdrängte jeden Gedanken an sie und daran, dass sie sich an meinem großen Tag noch nicht gemeldet hatte. Es sollte mir egal sein. Ich sollte daran gewöhnt sein. In Wahrheit jedoch war das die eine Sache, die diesem perfekten Tag einen Dämpfer versetzte.
Kaycee sah mich noch einmal eindringlich an, dann tippte sie auf ihrem Display herum, und kurz darauf gingen die Fotos bei mir ein, die sie von mir geschossen hatte. Sie strich sich die rosafarbenen Haare nach hinten und straffte die Schultern.
»Oh Gott, sogar ich bin nervös. Bist du bereit?«
»Ja, einen Moment noch«, sagte ich und betrachtete das Foto mit klopfendem Herzen. Ich hatte warten wollen, bis sie sich von sich aus meldete. Hatte sehen wollen, ob sie selbst an meinen großen Tag dachte. Ein Teil von mir sagte mir, dass ich genau das auch machen sollte: mein Handy wegpacken und sehen, ob sie auch ohne Erinnerung daran dachte, was dieser Tag für mich bedeutete. Dass sie keinen Stupser benötigen sollte, um an mich zu denken.
Doch es hatte nur diese eine Bemerkung von Kaycee gebraucht, dass der andere Teil in mir, der schwache, der immer wieder zum Vorschein kam, sich zu Wort meldete. Und wie so oft nahm er das Ruder in die Hand. Ich klickte auf den Chat mit meiner Mutter und schickte ihr das Foto – das lächelnde, nicht das mit meinem erschrockenen Gesichtsausdruck – ohne Kommentar.
Ich sperrte das Handy, bevor Kaycee nachfragen konnte, was ich da tat, denn ich wusste genau, mit welchem Blick sie mich dann betrachtet hätte.
»Okay, startklar«, sagte ich.
»Wie mogeln wir uns an der Schlange vorbei? Wenn du jetzt mit deiner Autogramm-Session startest, kommen wir definitiv zu spät.«
Ich ließ den Blick über die Menschenmasse wandern, die uns an unserer Position an der Treppe zur Tube zum Glück noch nicht entdeckt hatte.
»Da«, sagte ich und deutete nach links auf eine Frau mit braunen, schulterlangen Locken. »Da steht Anita.« Diese blickte ebenso suchend über den Platz wie ich zuvor, und ich verkniff mir ein Winken, um keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.
»Zum Glück hast du eine Managerin, die genauso überpünktlich ist wie du.«
»Sie kennt mich einfach nur gut«, gab ich zurück, griff nach Kaycees Hand und schlängelte mich mit ihr durch die Massen, die uns vor den anstehenden Fans versteckten.
Während sie meine Hand drückte, vibrierte das Handy in meiner anderen. Ich warf einen Blick darauf und merkte im nächsten Moment, wie sich mein Herz beinahe schmerzhaft zusammenzog – nicht weil etwas Schlimmes passiert war, sondern ganz im Gegenteil. Das, was ich da las, war so unerwartet und so … Ich sog die Luft ein und ließ meinen Blick über die Worte wandern. Über jeden einzelnen der kleinen schwarzen Buchstaben. Glitt sie entlang und hoffte, dass sie sich in meine Netzhaut einbrannten und mich nie wieder verließen.
Mum, 11.45 am:
Wow! Stolz auf dich. xx
Da war es, das Gefühl, auf das ich so lang gewartet hatte: Stolz. Ich fühlte ihn, als flösse er durch die Adern unter meiner Haut, als erfüllte er meinen gesamten Körper. Meine Mum war stolz auf mich. Ich presste das Handy an die Brust, genau über meinem Herzen, als könnte ich sie so spüren. Ich war stolz.
Ich hatte es geschafft, Kaycee hatte recht: Ich hatte das hier verdient. Heute war mein Tag, der Beginn von etwas Neuem.
»Vielen Dank, dass ihr alle hier seid, um mit uns gemeinsam diesen besonderen Tag zu feiern. Ihr habt die einmalige Chance, vor allen anderen Fionas Produkte zu testen, euch Fotos und Autogramme zu holen, und natürlich erwartet euch alle auch eine Goodie Bag, die ihr hier vorn abholen könnt. Darin sind nicht nur die Produkte der Simply-Beautiful-Reihe, sondern auch ein paar kleine Extras, die euer Fan-Herz höherschlagen lassen, als Dankeschön für all eure Unterstützung. Danke auch an alle, die beim Livestream dabei sind, die Produkte vorbestellt haben und die Linie und Fiona so unterstützen.« Anita sandte ein warmes Lächeln durch die Menge. Sie wusste, wie sie Leute zum Zuhören brachte, und schaffte es immer, jedem ein gutes Gefühl zu geben. So auch mir, als sie mich damals, zu Beginn meiner Karriere, kontaktiert hatte. Wir hatten uns kurz nach meinem siebzehnten Geburtstag getroffen, als ich ziemlich blauäugig in die Business-Seite der YouTube-Welt gestartet war, und es hatte sich als absoluter Glücksgriff herausgestellt, Anita und das Management in meinem Rücken zu wissen. Nicht nur, dass ich die Flut an E-Mails und Terminen heute nicht ohne das Team hätte bewältigen können, sie hatten mich mit Sicherheit vor etlichen rechtlichen Fauxpas bewahrt. Anitas Blick flog kurz zu mir, da ich nach wie vor bei Kaycee und zwei Boots-Mitarbeiterinnen in der kleinen Kabine am Rand stand – abgeschirmt von den Blicken der anderen und mit so heftig klopfendem Herzen, dass man es mit Sicherheit durch mein Top sehen konnte. Es würde mich kaum wundern, wenn es mir in dem Moment, in dem ich gleich die kleine Bühne betrat, aus der Brust springen und für alle sichtbar auf dem Boden landen würde.
Ich konnte das hier. Ich war nicht mehr das unsichere Mädchen aus dem bruchreifen Haus in West Croydon. Ich war Fiona Harris, hatte mir einen Namen gemacht, und all diese Leute waren meinetwegen hier: weil sie mich sehen wollten. Ich musste mich nicht hinter Filtern und einer Scheinwelt verstecken, das hatten mir meine Fans bereits mehrmals bewiesen. Genau wie Kaycee gaben sie mir immer wieder das Gefühl, okay zu sein. Als Kaycees Hand sanft meinen Rücken berührte, zuckte ich zusammen und konzentrierte mich wieder auf Anita.
»Aber jetzt genug der Worte, ihr könnt es bestimmt kaum erwarten, dass ich mit dem Reden aufhöre und das Pult dem eigentlichen Star überlasse: Fiona.«
Mein zischendes Ein- und Ausatmen ging im Klatschen und Gekreische der Menge unter. Wie konnten hundert Menschen so einen Lärm veranstalten? Anita schenkte mir ein beruhigendes Lächeln, als ich auf sie zuging und sie am Rednerpult ablöste. Das Geschrei wurde noch lauter, da nun auch die Fans draußen, die mich durch die verglaste Front der Filiale sahen, zu rufen begannen. Ich stellte mich an das schmale Pult und richtete das Mikrofon etwas weiter nach oben, da Anita ein ganzes Stück kleiner war als ich.
»Hey«, begann ich, und wie es so oft bei Conventions der Fall war, wurde es mucksmäuschenstill, als wollte niemand auch nur ein einziges Wort dessen verpassen, was ich zu sagen hatte. Ein seltsames Gefühl für jemanden, der es in der Schule nicht einmal geschafft hatte, sich im Unterricht zu melden.
»Ich freu mich riesig, dass ihr alle da seid und mit mir feiern wollt. Das hier ist einer meiner größten Träume. Wenn ich das sage, werde ich oft belächelt, schließlich handelt es sich nur um Make-up. Ich habe keine Krankheit geheilt und keinen Nobelpreis gewonnen, und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich beides auch nie tun werde. Für viele bin ich einfach nur das Mädchen, das sich schminkt und davon Videos ins Internet stellt. Anfangs war ich auch nur das, glaube ich. Für euch, für mich und für alle da draußen. Ich war ziemlich verschlossen und hatte – wie ihr sicher bereits wisst – mit einigen Dingen zu kämpfen. Die Schule war nicht leicht für mich, ich bin nicht gerade in reichen Verhältnissen aufgewachsen, und es fiel mir schwer, Freundinnen zu finden. Make-up war und ist meine Art, mich auszudrücken. Es war meine Ausflucht aus dem Alltag, meine Ablenkung, wenn alles andere schieflief. Und dann wart da plötzlich ihr, und ich war nicht mehr allein.«
Ich sah in die zahlreichen Gesichter, die zu mir aufblickten. Jungs, Mädchen, einige jünger, andere älter als ich. So unterschiedlich, und doch verbanden uns Hoffnungen und Träume. Als ich merkte, dass sich ein Kloß in meinem Hals formte, schluckte ich schnell dagegen an. Mir war klar gewesen, dass mich der heutige Tag emotional aufwühlen würde. Weil ich mir selbst so sehr gewünscht hätte, dass jemand all das zu mir gesagt hätte. Damals, als mein Vater die Familie verlassen hatte und ich viel zu jung gewesen war, um zu verstehen, dass er für immer weg war. Als meine Mutter mir ein paar Jahre später offenbart hatte, dass er meinetwegen gegangen war. Als die Kinder in meiner Klasse mich seltsam fanden, weil ich so still war. Damals hatte ich nicht geahnt, dass es einmal so viele Menschen geben würde, die mich trotzdem in Ordnung fanden. Doch ich wollte nicht weinen, solange ich hier oben stand – ich wollte das, was ich zu sagen hatte, mit klarer Stimme ausdrücken. Und ich hoffte so sehr, dass es sich bei allen einbrannte und sie sich an diese Worte erinnern konnten. Ich glaubte jedes davon.
»Was ich mit all dem sagen will: Ihr seid wichtig, jeder Einzelne von euch, denn ihr könnt etwas bewegen. Egal wie klein euch das, was ihr liebt und gern tut, auch erscheinen mag. Lasst euch von niemandem das Gegenteil einreden. Ihr braucht keine perfekte Haut, keinen großartigen Körper, keine Überflieger-Noten und kein herausragendes Talent, um liebenswert und erfolgreich zu sein. Ich bin der felsenfesten Überzeugung, dass ich in all diesen Dingen komplett durchschnittlich bin. In manchen Dingen sogar unterdurchschnittlich. Aber darauf kommt es nicht an – klar, all das ist toll und bringt euch vielleicht Vorteile. Aber was wirklich zählt, sind Leidenschaft und Durchhaltevermögen. Glaubt an eure Träume und lasst nicht locker, bis ihr sie in die Tat umgesetzt habt. Lasst euch nicht verunsichern, achtet darauf, wessen Rat und Meinungen euch wichtig sind, und hört auf diese Menschen, anstatt auf die Stimmen, die euch sagen, dass etwas nicht geht, nur weil es unwahrscheinlich ist oder in den Augen der anderen als nicht wertvoll gilt.
Denn wenn ich in den letzten Jahren eines gelernt habe, dann das: Egal, wer ihr seid und was ihr tut, jemand lernt von euch und sieht zu euch auf. Dafür braucht ihr keinen YouTube-Kanal. Es braucht gar nicht so viel, wie ich immer dachte, damit Menschen euch, auf welche Art auch immer, in ihr Leben lassen. Warum ich das weiß? Weil ihr mich in eures gelassen habt, als ich euch nichts zu bieten hatte außer mir und meiner Zeit. Trotzdem habt ihr mir so viel gegeben. Ich erhalte oft Nachrichten, dass ich euer Leben verändert habe, und ich glaube, ihr wisst gar nicht, wie sehr ihr meines verändert und bereichert habt.«
Ich räusperte mich und lächelte in die Runde. Eine junge Frau in der zweiten Reihe wischte sich mit dem Finger am Auge entlang, und alle erwiderten mein Lächeln.
»Diese Make-up-Linie, die wir heute ausprobieren können, ist eines von vielen Dingen, die wir gemeinsam erreicht haben. Ich danke euch von ganzem Herzen dafür. So, und jetzt habe ich lang genug hier gestanden. Wir machen lieber mal ein paar Fotos und schauen uns die Produkte an, oder? Außerdem habe ich eben Cupcakes gesehen, und ich bin so nervös, ich könnte gerade echt eine Ladung Zucker vertragen.«
Unter Lachen und Klatschen trat ich einen Schritt zurück und atmete so tief aus, dass meine Schultern erleichtert nach unten sanken. Mein Blick wanderte von Anitas anerkennendem Nicken über Kaycees angedeutetes High Five bis hin zu all den Gesichtern, die mich nach wie vor anstrahlten. Mein Herz pumpte Adrenalin durch meine Adern, und das Flattern in meinem Bauch, das ich seit dem Aufstehen mehrmals gespürt hatte, war wieder da und schoss durch meinen ganzen Körper. Ich war zufrieden und – erfüllt. Mir fiel kein besseres Wort ein, um zu beschreiben, was ich gerade fühlte, aber es war definitiv etwas, an das ich mich gewöhnen konnte.
Mit einem Lächeln löste ich mich aus der Umarmung und posierte für ein weiteres Foto. Die Hände des Mädchens, das gerade das Handy seiner Freundin hielt, zitterten, und ich wünschte, ich hätte mehr Zeit, damit alle sich erst einmal entspannen und runterfahren konnten. Doch leider war nie genug Zeit.
»Ist es was geworden?«, fragte ich das brünette Mädchen vor mir. »Sonst können wir noch eines machen.«
Sie schaute kurz auf das Display und strahlte mich dann an. »Nein, das ist super. Ich guck dich schon seit vier Jahren, also fast von Anfang an, und ich liebe jedes deiner Videos. Wir haben uns sogar dadurch kennengelernt.«
Das Mädchen mit den rotblonden Haaren, das bis eben noch das Handy gehalten hatte, trat einen Schritt nach vorn. »Ja, in der Schlange der Video Convention letztes Jahr. Bist du auch wieder dabei?«
Ich nickte. Die Video Con fand jedes Jahr in London statt und war ein Muss für die britische YouTube-Szene. Das Ganze war in nur zwei Wochen, und neben Signierstunden und Panels würde ich dieses Mal in Zusammenarbeit mit Boots meine Fans schminken. Die Aktion würde jedoch erst am Montag beim offiziellen Launch der Linie bekanntgegeben werden. »Ich bin auf jeden Fall da. Vielleicht sehen wir uns ja sogar wieder.«
»Das wäre toll! Können wir vielleicht noch ein Foto zu dritt machen?«
»Na klar! Kaycee?« Ich drehte mich zu meiner besten Freundin um, die im Gegensatz zu mir bereits einen Cupcake in der Hand hielt. Hoffentlich war nachher noch einer für mich da. Sie stellte ihren auf der hellen Theke neben der Kasse ab und kam dann zu uns.
»Schon am Start.« Sie nahm das Smartphone des Mädchens entgegen und dirigierte uns so, dass wir von den aufgebauten Lampen gut ausgeleuchtet wurden. Ein paar Schnappschüsse später gab sie das Handy wieder ab.
»Die sind super!«
»Kaycee macht die meisten meiner Instagram-Fotos, sie hat Übung darin«, erwiderte ich grinsend.
»Ich kenn dich schon aus ihren Insta-Storys.«
»Ja, manchmal weiche ich nicht schnell genug aus«, meinte Kaycee ebenfalls grinsend.
»Magst du Instagram nicht so?«, fragte das brünette Mädchen mit schiefgelegtem Kopf, als grenzte das heutzutage an ein Wunder. Vielleicht war das auch so.
»Doch schon, aber ich poste keine Fotos von mir, sondern nur von Torten und Kuchen und so was. Ich backe.«
»Was mich daran erinnert: Kannst du mir einen Cupcake für später retten?«
»Ich bin dir schon Schritte voraus: Hab uns beiden ein ganzes Tablett für heute Abend geklaut.« Sie sah zu den beiden Mädchen. »Sagt das bloß nicht weiter.«
Die beiden kicherten, umarmten mich noch einmal zum Abschied und gingen dann zu den beiden Mitarbeiterinnen des Ladens, die die Goodie Bags verteilten.
»Anstrengender Tag?« Kaycee musterte mich besorgt. »Magst du was trinken?«
»Guter Tag«, erwiderte ich. »Mach dir keine Sorgen. Anita wacht auch schon mit Argusaugen über mich, zwingt mich zum Trinken und reicht mir alle fünf Umarmungen Desinfektionsmittel. Ich glaub, ihre größte Angst ist, dass ich mir passend zur Convention in zwei Wochen was einfange.«
Schmunzelnd ließ Kaycee den Blick an meiner Schulter vorbei in die Ecke wandern, von der aus Anita alles im Auge behielt. Plötzlich runzelte sie die Stirn. »Jetzt sieht sie aber wirklich aus, als hätte sie Angst.«
Ich drehte mich um und konnte Kaycee nur zustimmen. Anita sah tatsächlich besorgt aus. Mit zusammengezogenen Brauen betrachtete sie ihr Handy, klickte auf den Bildschirm und hielt es sich dann zum Telefonieren ans Ohr. Vermutlich hatte es rein gar nichts mit mir zu tun, schließlich war ich bei Weitem nicht die einzige Influencerin, die sie betreute, aber die Agentur hatte genug Angestellte, dass sie nicht ausgerechnet Anita während des Events kontaktieren mussten.
Ich widmete mich wieder der Schlange vor mir, machte Fotos, umarmte alle, unterhielt mich, nahm Fan-Arts entgegen – und schaute immer wieder zu Anita, die von Mal zu Mal aufgebrachter wirkte. Okay, irgendetwas war definitiv im Busch.
»Gebt ihr mir zwei Minuten?«, fragte ich die nun schon kürzer gewordene Schlange vor mir. Die meisten hatten sich in der Filiale verteilt, aßen Häppchen, unterhielten sich und packten begeistert ihre Goodies aus.
»Na klar!«, erwiderte das Mädchen vor mir direkt. Ich wandte mich mit einem Lächeln ab und ging auf meine Managerin zu, die wieder über ihr Handy gebeugt dastand.
»Anita?«
Ihr Blick schnellte hoch, aber sie sagte nichts und sah mich nur an. Ihre Augen funkelten, doch nicht wie sonst warm und herzlich, vielmehr wirkte sie empört. Kein neuer Anblick, denn ich hatte sie in Verhandlungen erlebt, und wir arbeiteten mittlerweile so lang und eng genug zusammen, dass die Grenzen zwischen Beruflichem und Privatem manchmal verwischten und sie auch schon Dampf bei mir abgelassen hatte. Doch gerade bereitete ihre Wut mir Sorgen, da ich das Gefühl nicht loswurde, dass sie in irgendeiner Form mit mir zu tun hatte.
»Ist alles okay?«
Ihre Kiefer mahlten, und sie nickte an mir vorbei in die Richtung, aus der ich gerade gekommen war.
»Du hast noch zehn Leute in der Schlange, kümmere dich bitte um die. Wir reden später, ja?«
Ihr Tonfall war so viel förmlicher, als ich es gewohnt war.
»Sag mir, was los ist.«
»Das werde ich, aber gerade hast du einen Job zu erledigen. Konzentrier dich darauf, dann können wir sprechen.«
»Fucking hell«, stieß Kaycee neben mir aus. Sie hielt ihr Handy umklammert und scrollte durch irgendeinen Feed. Twitter, wenn ich es richtig erkannte.
»Was ist passiert?«
Der Blick aus Kaycees hellbraunen Augen trug nicht gerade dazu bei, mich zu beruhigen.
»Jetzt spuck’s schon aus.«
Wortlos reichte sie mir ihr Handy, und ich scrollte durch den Twitter-Feed. Es dauerte eine Weile, bis mein Kopf den Hashtag, den ich in den zahlreichen Tweets sah, entschlüsselte.
»Ist das … Meinen die mich?«
»Dich und deine Freunde«, erwiderte Anita mit Ironie in der Stimme, nahm mir das Handy ab und drückte es mir Sekunden später wieder in die Hand. Sie hatte ein Video geöffnet, das unter einem der Tweets verlinkt war.
Irritiert drehte ich den Ton lauter, um in dem Stimmengewirr der Filiale etwas verstehen zu können. Im selben Moment zog Anita mich in den kleinen Mitarbeiterbereich.
»Das muss nicht jeder mitkriegen.«
Ich nickte, nahm ihre Worte jedoch nur am Rande wahr, da mein Blick und all meine Aufmerksamkeit auf das Video vor mir gerichtet waren. Ein attraktiver Kerl mit dunkelblonden Haaren, kurzen Bartstoppeln und runder Brille mit schmalem, hellbraunem Rand sprach in die Kamera. Ich kannte ihn. Die meisten in der Szene kannten ihn mittlerweile. Demian O’Neill. Seine grünen Augen funkelten, wie immer, wenn er einen weiteren Skandal der Influencerszene in seinem Format aufdeckte.
Dann wechselte das Bild und zeigte eine Collage von vier Personen – inklusive mir – in der oberen rechten Ecke. Es war ein Selfie meines Instagram-Kanals, auf dem ich die Zunge rausstreckte. Ich verdrehte die Augen. Dann wohl kein Skandal. Vermutlich machte er sich nur ein weiteres Mal über die Fashion- und Beauty-Szene lustig, und dieses Mal war ich eben dran. Das war ich von anderen Kanälen und sogar aus dem Fernsehen schon gewohnt. Doch Anitas Blick, der mit einer Mischung aus Strenge und Sorge auf mir lag, zwang mich, weiter zuzuhören.
»Dylan Bennett, Natalie Graham, Zane Middleton und Fiona Harris. War es nicht süß, wie sie sich bei diesem Christmas-Charity-Event für andere einsetzten? Zugegeben, es hat selbst mein Herz erwärmt …«
Ich stutzte. Es ergab keinen Sinn, dass Demian meinen Namen in einem seiner Videos erwähnte. Nicht in diesem Format, nicht in De(x)posed.
»… heute muss ich euch leider die traurige Wahrheit über diesen ganzen Schwindel erzählen.«
Mein Blick schoss von Demian zu Anita. »Was meint er damit?«
»Guck gern weiter«, erwiderte Anita, und ihr angespannter Tonfall jagte mir einen Schauer über den Rücken. »Wir stecken gewaltig in der Scheiße.«