Vierundzwanzig Türen

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Inhaltsverzeichnis

mit hier hinter an den Ofen

und vergeßt den Rum nicht.

Es ist gut, es warm zu haben,

wenn man von der Kälte erzählt.

Bertolt Brecht

Adventskalender sind ja so was von mega-out, befand Miriam, verzog dabei das Gesicht zu einer Grimasse aus Abscheu und Verachtung und stülpte sich wieder den Kopfhörer ihres Walkman über die Ohren. Geräuschbrei flirrte durch den Raum, Beatles-Recycling der Gruppe Oasis – der dritte Aufguß. Uncool sind die!

Schrei nicht so, sagte ich. Wir sind doch nicht schwerhörig.

Was hast du gesagt? Sie lüftete überm linken Ohr den Kopfhörer.

Daß du nicht so brüllen sollst.

Muß ich doch. Sie ließ den Kopfhörer wieder ans Ohr flappen. Sonst versteh ich nicht, was ich sage.

Auch gut, sagte Stacy, dann gibt’s dies Jahr wenigstens keinen Streit, wer die Türchen aufmachen darf. Sie nickte Laura aufmunternd zu. Du kannst jetzt Nummer eins aufklappen.

Doch Laura zog die Nase kraus, dachte also intensiv nach, und ließ wie abwägend noch etwas von dem an der Kerze heruntergelaufenen und erstarrten Wachsstrang in die Flamme tropfen. Dann schaute sie zweifelnd zu ihrer großen Schwester hinüber, legte sogar die glatte Stirn in grüblerische Falten und sagte schließlich entschlossen: Nö.

Was heißt denn hier nö? Sollen Mama und ich etwa die Türchen aufmachen?

Als ich in eurem Alter war, sagte ich, also jedenfalls in deinem, da war ein Adventskalender was ganz Besonderes, etwas wie … Oasis-Fetzen fiepten durch Rauchschwaden. Paß doch mit dem Zweig auf! Du zündest uns noch das ganze Haus an!

Ist ja schon gut, Papa, sagte Laura, wenn ich dir damit eine Freude machen kann … Sie ließ den verkohlten Zweigrest auf die Tischdecke fallen, schob im Sitzen den Stuhl zurück, daß er über die Fliesen schepperte, stand auf und schlurfte zum Kaminsims.

Mir eine Freude machen? Für wen veranstalten wir eigentlich den ganzen Advents- und Weihnachtszauber? Weihnachtsgeschenke wollt ihr dann ja vermutlich auch keine mehr haben. Soll mir recht sein, murmelte ich, griff nach dem Teller mit Nüssen und Spekulatius und knackte laut und demonstrativ eine Haselnuß.

Ich wünsch mir auf jeden Fall die neue CD von Alanis Morissette! brüllte Miriam, die meine rhetorischen Fragen offenbar kraft familiärer Telepathie empfangen hatte.

An den weißgekalkten Ziegeln der Schornsteinmauer lehnte wie jedes Jahr, pünktlich zum ersten Dezember, ein Adventskalender. Alle Jahre wieder hatte sich Stacy der Qual ausgesetzt, eine Wahl zu treffen zwischen katholisch-frömmelndem Christkindskitsch und putziger Weihnachtsmannbiederkeit, drolligen Genreszenen aus der verschneiten

Der sieht ja fast aus wie ’ne Diskokugel, staunte Laura und starrte den Kalender an, den Stacy gestern aus der Stadt mitgebracht und vorhin aufgestellt hatte. Sind das Spiegel da drauf? Oder was? Sie nahm den zeitungsseitengroßen, daumendicken Gegenstand vom Sims und legte ihn auf den Tisch. Ist ja voll geil …

Diese Information durchdrang sogar die akustischen Scheuklappen von Miriams Kopfhörer, aus dem jetzt die Gruppe Nirvana lärmte. Spiegel? echote sie wie erwachend, zog den Kopfhörer von den Ohren und griff nach dem Kalender. Zeig mal her das Teil.

In einer Mischung aus selbstverachtender Pickelsuche und erwachender Selbstverliebtheit war Miriam nämlich seit einiger Zeit einem Spiegelfetischismus verfallen; wenn sie nach stundenlanger Identitätssuche das Badezimmer freigab, hätte es mich gelegentlich nicht einmal mehr gewundert, wenn mich statt meines ihr Bild aus dem Spiegel angesehen hätte.

Laß mich doch mal sehen, eyh!

Nö, mauerte Laura, das hab ich jetzt. Das siehste doch. Du findest Adventskalender ja auch was für Babys.

Die Abbildung auf dem Kalender zeigte ein von Bäumen umgebenes, kleines Haus mit einem Stall oder einer Scheune; tief heruntergezogene Dächer berührten fast den Boden; hohe alte Bäume, Buchen und Eichen wohl, umstanden das kleine Gehöft. Und alles war tief verschneit, so tief, daß der Schnee fast bis zu den Fenstern hinaufreichte. Die vierundzwanzig Türchen, über denen kleine Ziffern standen, waren offenbar aus Spiegelglas geschnitten; in unregelmäßigen Abständen über das Bild verteilt, ließen sie die Grundzüge noch klar erkennen, gaben dem Motiv jedoch zugleich das Aussehen eines unvollständigen Mosaiks, in dessen Teilen sich das Licht der Lampe und der Kerzen spiegelte. Und wenn man sein Gesicht darüber hielt, sah man sich selbst aus vierundzwanzig Gesichtern entgegen.

Laura drückte jetzt mit den Fingernägeln an dem Türchen mit der Nummer eins herum, das sich am unteren, rechten Bildrand befand.

Finger weg, schnappte Laura.

Das Türchen öffnete sich. Das Aquarell schien auf eine Sperrholzplatte geklebt worden zu sein, in die Aussparungen für die Quadrate aus Spiegelglas gesägt waren, und ein an die Glasrückseite fixierter, als Scharnier dienender Gazestreifen steckte zwischen dem Holz und der hinteren Schicht.

Das ist ja schon wieder ein Spiegel, sagte Laura verblüfft und merklich enttäuscht. Das find ich aber ätzend, wenn hinter den ganzen Spiegeln immer nur das gleiche steckt.

Dann mach ich jetzt mal Nummer zwei auf, schlug Miriam vor. Vielleicht gibt’s da was zu sehen.

Nummer zwei wird erst morgen aufgemacht, sagte ich. Das ist nun mal so. Das war auch schon immer so.

Och, Papa, maulte Laura, stell dich doch nicht so an …

Die merkwürdige Begebenheit jenes Weihnachtsfestes strahlt immer noch als Fixstern am dunkler werdenden Himmel meiner Erinnerung. Wenn ich heute, nach über dreißig Jahren, an den Winter 1946 zurückdenke, kommt es mir vor, als sei ich damals ein anderer gewesen, ein junger Mann, der mir fremder und fremder wird. Und er war sich damals wohl auch selbst fremd, bis zu jenem Ereignis jedenfalls, von dem ich erzählen will, damit es nicht verschwindet wie das Licht in der Nacht.

Ich sehe jetzt wieder die Dämmerung eines eisgrauen, kalten Morgens durchs Fenster ins Zimmer gähnen. In dieser Zeit voller Not und Zweifel schienen sich selbst die Tage nur widerstrebend aus den Nächten zu lösen. Manchmal beneidet der junge Mann jene Tiere, die den Winter verschlafen. In der Dunkelheit der frühen Stunden hat er schon lange wach gelegen, und bevor noch der Blechwecker in seine scheppernden Zuckungen fällt, steht er auf. Am Röhren und Glucksen der Leitung in der Wand kann er hören, daß das Badezimmer in der ersten Etage bereits besetzt ist.

Es ist eigentlich immer besetzt, leben in den acht Zimmern des Hauses doch vierzehn Personen, und das Bad im

Obwohl er weiß, daß die fünf Torfsoden, mit denen er gestern abend das Zimmer auf knapp zehn Grad geheizt hat, längst zu weißer glutloser Asche zerfallen sind, öffnet er die Klappe des eisernen Kanonenofens und stochert in den schaumigen Resten herum. Das Wasser rumort immer noch in der Wand. Er hängt sich die beiden Wolldecken um die Schultern, hockt auf dem Bett und raucht eine der Zigaretten, die Werschmann ihm geschenkt hat. Als Vorschuß … Röchelnd verstummt die Wasserleitung.

Er hastet die Mansardenstiege hinunter und kommt gerade noch rechtzeitig, um einer der ausgebombten Schwestern die Badezimmertür vor der Nase zuziehen zu können. In der feuchtkalten Luft hängt der Gestank von Exkrementen. Er reißt das Fenster auf. Draußen ist es kaum kälter als drinnen, der Himmel mit einer hohen, hellgrauen Wolkenschicht

Wo hast du den gekauft, Mama, erkundigte sich Miriam, von ihrem eigenen Spiegelbild offenbar nachhaltig beeindruckt, diesen Kalender oder was immer das sein soll? Der ist ja irnkwie echt irre. Irnkwie geil …

Stacy lächelte. Sie lächelte fast schon geheimnisvoll. Den habe ich gar nicht gekauft, sagte sie. Den habe ich bekommen.

Wieso bekommen? So was bekommt man doch nicht einfach. Oder war das ein Werbegeschenk? Vielleicht steht ja irgendwo Coca-Cola drauf. Oder Parfümerie Douglas oder …

Bestimmt nicht, sagte ich. Das ist ein Einzelstück. Den hat jemand selbst gemalt und zusammengebastelt. Wir haben als Kinder in der Adventszeit auch immer gebastelt. Nicht so tolle Sachen wie diesen Kalender; der ist ja fast schon künstlerisch. Das ist wirklich gut, dieses Aquarell. Sehr gut sogar. Und die Spiegel darauf … seltsamer Effekt.

Ja, und der alte Herr, von dem ich den Kalender bekommen habe, war auch irgendwie so … so seltsam.

Wahrscheinlich der Weihnachtsmann, gluckste Laura. Der läuft ja in mehreren Exemplaren durch die City. Wattebart und rote Zipfelmütze …

Stacy antwortete nicht gleich, sondern stellte den Kalender auf den Kaminsims zurück, rückte den Messingleuchter daneben, der in meinem Elternhaus auf dem Vertiko gestanden hatte, und zündete die weiße Kerze darin an. Ihre Flamme reflektierte zuckend auf der Oberfläche des Kalenders, brach sich in vierundzwanzig Spiegeln, so daß das Bild gar nicht mehr erkennbar war, sondern nur noch das vervielfältigte Flackern. Ich mach uns erst mal einen Tee, sagte sie, und dann erzähl ich euch die Geschichte.

Klingt ja echt spannend, sagte Miriam gedehnt. Der ironische Ton, den sie hatte anschlagen wollen, mißlang – ein ganz klein bißchen spannend fand sie es wohl wirklich. Trotz ihrer gut vierzehndreiviertel.

Stacy goß Tee in die Tassen. Knisternd zersprang der Kandis. Über der goldbraunen Fläche kräuselte sich weißer Dampf zu Mustern des Zufalls.

Gestern, begann sie, bin ich also in der Stadt gewesen. Mit Weihnachtseinkäufen muß man früh anfangen, dann spart man sich den Streß. An einen Adventskalender habe ich übrigens gar nicht gedacht; den hätte ich wahrscheinlich glatt vergessen. Als ich mich auf den Rückweg machte, begann es jedenfalls zu nieseln, und auf den gefrorenen Klinkern des Gehwegs wurde es sofort glatt. Spiegelglatt.

Blitzeis nennt man das, sagte Laura. Hab ich gestern im Fernsehen gesehen. Blitzeis. Massenweise Unfälle und …

So ist es, sagte Stacy. Die Leute auf der Theaterallee sind jedenfalls wie in Zeitlupe gegangen, um nicht zu stürzen,

Und? Hat er sich was gebrochen, der Weihnachtsmann? fragte Laura.

Nein, zum Glück nicht. Ich habe mich zu ihm hinuntergebeugt und gefragt, ob er sich verletzt habe. Er hat sich kopfschüttelnd aufgerappelt, wobei ich ihn gestützt habe. Er hat sich prüfend über die rechte Schulter getastet, ist ein paarmal unsicher mit den Füßen aufgetreten und hat dann gemurmelt, alles sei in Ordnung. Ich habe ihn gefragt, ob er es noch weit habe? Nein, hat er gesagt, er wohne nur wenige Minuten entfernt in der Uferstraße. Ich habe angeboten, ihn zu begleiten, was er erst abgelehnt hat, aber als ich ihm versichert habe, daß ich sowieso durch die Uferstraße gehen müßte, hat er den Vorschlag angenommen. Ich habe seine Sachen von der Straße aufgesammelt, er hat sich den Hut wieder auf die ziemlich langen grauen Haare gesetzt, die ihm etwas irgendwie Künstlerisches geben …

Lange Haare machen künstlerisch? unterbrach Miriam. Papa, laß dir doch mal die Haare wachsen.

Ich hatte mal Haare bis auf die Schultern, sagte ich, aber …

Wollt ihr nun die Geschichte hören oder nicht? fragte Stacy.

Ja, klar, sagte Miriam.

Also gut. Wir sind langsam weitergegangen, wobei ich ihn am rechten Unterarm gestützt habe. Als wir uns dem Haus genähert haben, hat er einen einigermaßen charmanten Scherz gemacht. Hat nämlich gesagt, die Nachbarn würden mich jetzt vermutlich für seine neue Geliebte halten.

Quatsch, sagte Stacy. Der ist wirklich charmant. Und hat ein sehr schönes Haus. Ein mannshoher Gitterzaun aus Schmiedeeisen, hinter dem noch eine dichte Buchsbaumhecke steht, schirmt das Gebäude von der Straße ab. Und durch das Zauntor, das mit so Jugendstilornamenten verziert ist, kann man von außen einen Blick auf die tief im Garten stehende Villa werfen – zweistöckig, aus rotem Backstein, Jugendstil, aufgelockert von Erkern und einem Wintergarten, das Dach verwinkelt und an der Frontseite so aufgezogen, daß dort Platz für eine Mansarde sein muß. An der Messingklingel im Tor ist die Hausnummer angebracht, aber kein Name, was den alten Herrn offenbar daran erinnert hat, sich noch nicht vorgestellt zu haben.

Wie charmant, sagte ich.

Blödmann, sagte sie. Vringsen heißt er, Vringsen mit V. Und ich habe ihm dann auch meinen Namen genannt. Er hat das Tor aufgestoßen, und über einen Weg aus grauem Kies sind wir in den Garten gelangt, während das Tor zugefallen und schnalzend eingeschnappt ist. Der Nieselregen war inzwischen in Schnee übergegangen. Die nassen Flocken haben auf den dunklen Ästen und Zweigen der Kastanienbäume, die den Weg säumen, weiße Ränder gebildet. Das hat dieser kleinen Allee etwas, wie soll ich sagen, etwas Nachdenkliches gegeben.

Eine nachdenkliche Allee? Miriam verdrehte die Augen. Also, ich weiß nicht …

In der Tiefe des Gartens, erzählte Stacy unbeirrt weiter, wo durch entlaubtes Buschwerk ein halb verfallenes Gewächshaus und das schwarze Band des Flusses durch die Dämmerung schimmerten, hat eine Krähe gekrächzt. Oder vielleicht ein Rabe.

Wieso denn nevermore? fragte Laura.

Das ist Lyrik, sagte ich, und zwar von …

Schon gut, winkte Laura ab. Mamas Geschichte ist spannender.

Zur Eingangstür, sagte Stacy, führt eine kleine, geschwungene Steintreppe hinauf. Vringsen hat ein Schlüsselbund aus der Manteltasche genestelt und gefragt, während er die Tür geöffnet hat, ob er mir etwas anbieten könne. Einen Tee vielleicht? Oder einen Sherry?

Wird ja immer charmanter, sagte ich, was Stacy ignorierte.

Wir standen jetzt in einer geräumigen, mit Antiquitäten vollgestopften Diele. Die Wände sind mit Zeichnungen, Aquarellen und Gemälden übersät. Vringsen, der meinen Blick wohl richtig gedeutet hat, ist meiner Frage zuvorgekommen. Ich solle nicht allzu skeptisch hinsehen, hat er gesagt. Das seien alles nur Versuche. Er habe zu spät damit begonnen, eigentlich erst nach seiner Pensionierung. Wie es also mit einem Sherry wäre? Nun war es inzwischen aber so spät geworden, daß ich mich nicht länger aufhalten konnte und also abgelehnt habe, obwohl mir der Alte wirklich sympathisch gewesen ist. Und irgend etwas an ihm oder an dem Haus oder an der ganzen Situation hat mich auch neugierig gemacht. Ich muß noch einen Adventskalender für meine Kinder besorgen, habe ich gesagt, und …

Hast du echt Kinder gesagt, fragte Laura streng.

Äh, nein, natürlich nicht. Mädchen habe ich gesagt, Mädchen. Aber es ist wirklich sehr merkwürdig, daß mir das mit dem Adventskalender ausgerechnet in diesem Moment eingefallen ist. Er hat mich nachdenklich angesehen, hat sich mit der Hand über die Stirn und die buschigen grauen Augenbrauen gestrichen, als erinnere er sich an etwas. Ich

Wieso ausgedacht? Da steht der Kalender doch.

Naja, aber ich mein’, ausgerechnet so’n netter alter Mann mit grauen Haaren? Fehlt nur noch der Rauschebart. Und dann so’n Märchenhaus mit Märchengarten? Und Gruselraben? Und dann auch noch ’ne Geschichte, die er angeblich aufgeschrieben hat? Ist ja voll herbe. Wer’s glaubt …

Ich stehe auf, wenn die Haustür hinter Stacy, Miriam und Laura zufällt. Bei den morgendlichen Dusch- und Schminkorgien gelte ich nämlich als männlicher, also unerwünschter Störfaktor. Da ihr Zentralorgan Young Miss (das die inzwischen als präpubertär, sprich: uncool, abgelegte Bravo beerbt hatte) den Mädchen vorschreibt, welche hygienisch-kosmetischen und modischen Bedingungen erfüllt sein müssen, um im Schulalltag »in« und »cool« zu sein, folgt dem besonders zur Winterszeit eher widerstrebenden Aufstehen ein temperamentvoller Kampf ums Bad, den gewinnt, wer als erster die Dusche besetzt hält, um sich dort bis zur Abflußverstopfung von allerlei Shampoos und Lotions berieseln zu lassen. Als zeitraubend erweist sich ferner die Anpassung ans cliquen-korrekte Outfit, die nur durch mehrfaches An-, Um- und Durchprobieren diverser Kombinationsmöglichkeiten erreicht werden kann, wobei recht regelmäßig festgestellt wird, daß man eigentlich gar nichts zum Anziehen hat und endlich und unbedingt neue Klamotten braucht.

Durch meinen Dämmer zieht halblautes Gemurmel vom Frühstückstisch, das Flair eines radebrechend geeinten Europas, wachgerufen durchs seit vorgestern fällige, in diesem allerletzten Moment jedoch erst realisierte Repetieren französischer und englischer Vokabeln. Bei Fragen nach

Im Badezimmer war trotz der Kälte das Fenster aufgerissen. Zum Ausgleich röhrte die Heizung auf Hochtouren. Ich schloß das Fenster und dachte an die einschlägigen Merk- und Kernsätze meiner Kindheit. Lieber warmer Mief als kalter Ozon. Oder auch: Erstunken ist noch niemand, erfroren sind schon viele.

Vielleicht lag es an der klaren, klirrenden Kälte dieses Morgens, dessen Licht rosig durch die Dämmerung brach und die Baumschatten als Hieroglyphenschrift auf mich zufallen ließ, daß bestimmte Momente meiner Kindheit in mir wach wurden. Selbst die Zeitung, die ich beim Frühstück aufschlug, erinnerte mich an jene fernen Tage des Behelfs und Ersatzes. Damals war die Funktion der Tageszeitung freilich nicht nur auf Information und Meinungsbildung, Werbung und Unterhaltung beschränkt. Richtig brauchbar wurde das Blatt erst, wenn es von gestern war. In seine Seiten konnten dann die Briketts eingewickelt werden, damit sie über Nacht die Glut besser hielten. Auch Gemüse- und Fischhändler wußten die Saugfähigkeit des Zeitungspapiers als

Nachdem ich die heutige Ausgabe überflogen und mein Frühstück beendet hatte, räumte ich die Lebensmittel in den Kühlschrank und das Geschirr in die Spülmaschine. Auf dem Weg ins Arbeitszimmer fiel mein Blick auf den Adventskalender. Die Mädchen hatten die zweite Tür aufgeklappt. Das Motiv zeigte ein Paar Schuhe. Ich sah genauer hin. Eine Bleistiftzeichnung offenbar. Sehr fein ausgeführt. Ich hatte solche Schuhe schon einmal gesehen. Aber wo? Wann? Ich setzte die Lesebrille auf. Hochschäftige schwarze Schnürschuhe mit derber Sohle. Abgetragen, zerschlissen. Krumme Hacken. Möglicherweise Militärschuhe. Woher kannte ich diese Schuhe? Sie schienen mir plötzlich so vertraut, als hätte ich sie einmal selbst getragen. Sie hatten etwas mit der Erinnerung an die Zeitung zu tun, mit Mangel und Kälte. Aber auch mit Unbeschwertheit und Glück. Mit Kindheit jedenfalls, der versunkenen Landschaft. Es würde mir schon wieder einfallen. Ich durfte nur nicht darüber nachdenken.

Die Klinke der verriegelten Tür wird heruntergedrückt. Zwei Faustschläge wummern dumpf gegen das Holz der Füllung. Bißchen Beeilung da drin! Der beinamputierte Ex-Leutnant und Lehrer in spe. Wer scheißt denn da so lange?

Und so weiter, das übliche Grauen dieser Tageszeit. Der junge Mann, der ich war, wischt sich mit dem Handtuch die kalten Schaumreste aus dem Gesicht, klebt einen Fetzen Zeitungspapier auf die blutende Schnittwunde am Kinn, rafft seine armseligen Toilettenartikel zusammen und geht wortlos an dem Mann vorbei.

Grüßen ist hier wohl ein Fremdwort geworden, was? brüllt der ihm nach. Armes Deutschland! und knallt die Tür zu.

Armes Deutschland, murmelt er wie ein tonloses Echo, als er sich im Mansardenzimmer an den sechseckigen Spieltisch hockt, der früher im Salon stand. An diesem Tisch haben seine Eltern mit ihren Freunden Doppelkopf und Rommé, Bridge und Canasta gespielt, und zu Weihnachten hat der Tannenbaum strahlend und funkelnd neben diesem Tisch gestanden, die Mahagoniplatte mit einer purpurroten Samtdecke überzogen, auf der die Geschenke ausgebreitet lagen.

Der junge Mann stöpselt ein stoffumwirktes Elektrokabel in einen Tauchsieder, hängt ihn in einen Topf, starrt teilnahmslos hinein, bis das Wasser Blasen wirft und zu sprudeln beginnt, und gießt sich in einer abgestoßenen Tasse Ersatzkaffee aus Gerstenmalz und gemahlenen Eicheln auf. Dann öffnet er die Blechdose, in der früher, in unerreichbarer Höhe für naschende Kinderhände, auf dem Küchenschrank, selbstgebackene Kekse und Biscuits verwahrt wurden, und entnimmt ihr die letzten zwei Scheiben Maisbrot. Die gelbe, klebrige Masse ist bereits angetrocknet und zerbröselt in den Händen, klebt aber zwischen den Zähnen.

Würgend sieht er sich im Zimmer um. Bett, Kommode, Tisch, zwei Stühle. Von der Decke baumelt an einem Kabel eine nackte Glühbirne. An der Kommodenwand lehnen mehrere Mappen aus leinenüberzogener Pappe. Sie enthalten, was er einmal für die Anfänge seiner Kunst hielt. Für Kunst ist dies nicht mehr die Zeit. Mit einigen der Blätter hat er einmal den Ofen angeheizt. Aber als die Flammen das Porträt von Marion verzehrten, wie sie im Blütenrausch des Frühjahrs auf der Gartenbank saß und las, schreckte er wie aus einem Alptraum auf und legte die Skizzen wieder in die Mappen.

Am Haken neben der Tür sein Mantel. Die Mütze. Der Schal. Auf dem Fußboden die Schuhe. Damals hätte er sie vielleicht gezeichnet in ihrer stummen und doch eigentümlich belebten Traurigkeit. Die abgetretenen Absätze. Das vergraute Schwarz des Leders zerschlissen, schründig, von Schneewasser weiß gerändert. Die Schuhbänder mehrfach gerissen, mehrfach wieder geknotet. Die Schuhe haben einen langen Weg hinter sich. Im Herbst, als ihm der Regen die Halbschuhe

Er zieht die schweren Schuhe zu sich heran, fährt mit den Füßen hinein, schnürt die Bänder fest. Schal. Mantel. In den löchrigen Taschen verfilzte Wollhandschuhe. Mütze. Er schließt die Tür hinter sich ab und steigt mit schweren Schritten die Treppe hinunter.

Mit einer nordöstlichen Strömung sorge das umfangreiche Rußlandhoch in den kommenden Tagen für die Zufuhr sehr kalter Festlandsluft, die in ganz Deutschland zu Dauerfrost führen werde. Soweit, verehrte Zuschauer, das Wetter für die nächsten Tage, womit der halbkahle Meteorologe Wesp vom ZDF bescheiden den Bildschirm räumte und dem vollkahlen Werbemanfred Raum für seinen vorweihnachtlichen Telekomkäse gab. Cool, sagte Miriam. Dann kriegen wir eisfrei.

Was eisfrei sei? erkundigte sich Stacy, und wurde belehrt, es handele sich um das Gegenteil von hitzefrei, um den Schülern Gelegenheit zum Schlittschuhlaufen zu geben.

Hat’s aber noch nie gegeben, seufzte Laura. Ist vielleicht bloß so ein Gerücht.

Schlittschuh laufen könnt ihr ja wohl auch nach der Schule, sagte ich.

Ich auch, setzte Laura nach. Und die Fersen dazu.

Dir passen mit Sicherheit noch Miriams, sagte Stacy.

Igitt! schrie Laura, die sind ja schwarz. Ich will weiße. Außerdem steck’ ich doch meine Füße da nicht rein, wo Miriam ihre Käsemauken dringehabt hat.

Mein Gott, sagte ich, ihr seid aber wirklich sowas von …

… verwöhnt! riefen die Mädchen im Chor und grinsten sich an.

War dies verständnisinnige Grinsen Indiz für die Wiederkehr des Immergleichen? Hatten meine Eltern nicht auch uns als notorisch verwöhnt empfunden, nachdem sie selbst der nackten Existenznot ausgesetzt gewesen waren? Tod, Zerstörung, Hunger, Kälte? Aber war der Verdacht, verwöhnt zu sein, nicht schon schnell zur stereotypen Phrase geronnen, je mehr sich die hageren Falten der Not glätteten und unter den Nyltesthemden die Wohlstandsbäuche strafften? Kinder, ihr wißt ja gar nicht, wie gut ihr’s habt! Und in der Tat, wir hatten genug zu essen und froren nicht, aber um Milch mußte man, die Blechkanne in der Hand, in langer Reihe anstehen, und Slogans wie »Eßt mehr Obst und ihr bleibt gesund« klangen höhnisch, wenn ich mir mit meinem Bruder eine saure Apfelsine teilen durfte und als Festmahl empfand. Manche Dinge erwiesen sich bereits in der Art und Weise, in der Erwachsene davon redeten, als der pure Luxus: Wenn meine Mutter »echter Bohnenkaffee« sagte, dann tremolierte das wie ein Ding aus Tausendundeiner Nacht; und »gute Butter« – das klang fast wie »echtes Gold«. Wenn es im Winter für uns Kinder nicht für lange Hosen reichte, trugen wir ersatzweise lange Wollstrümpfe zu kurzen Hosen, und manche Besucher brachten als Gastgeschenk ein paar Briketts mit.

Libby’s-

Das Gefühl kenn ich, sagte Miriam. Aber wieso Glück?

Vielleicht, sagte ich, weil etwas Selbstverständliches, über das man sonst nie nachdenkt, das Gehen auf eigenen Füßen nämlich, für einige Momente ins Bewußtsein drang.

Na ja, sagte Laura, vielleicht freut man sich auch nur, daß dann nix mehr weh tut. Hauptsache, die Schlittschuhe sind nicht zu klein.

Vom Schnee- und Eiswasser waren die Schuhe dann meistens aufgeweicht, hatten weiße Schlieren und rochen streng.

Die Schuhe, die alten Zeitungen, der Geruch nassen Leders. Irgend etwas fehlte noch …

Wie gefällt euch denn das Bild auf dem Adventskalender? fragte ich.

Diese abgelatschten Springerstiefel? Miriam zuckte mit den Schultern. Na ja, ganz schön irgendwie …

Im Lauf des Abends hatte der Ostwind beständig zugenommen, und als ich im Bett lag, orgelte er durch die Baumkronen und ballte sich zu dumpfen Stößen gegen das Fenster zusammen. Der Mond sichelte eisblank durchs Geäst der großen Kiefer, warf fahles Licht und schwankende Schattenrisse gegen Wände und Zimmerdecke. Irgendwo im Dachgebälk baumelten die Schuhe.