Martin Reichert
Wenn ich mal groß bin
Das Lebensabschnittsbuch für die Generation Umhängetasche
Sachbuch
Fischer e-books
Martin Reichert, Jahrgang 1973, ging 1996 nach Berlin, um erwachsen zu werden. Seitdem er arbeitete als Autowäscher, freier Journalist und Kabelhelfer beim Fernsehen, wurde Assistent des ehemaligen ARD-Chefredakteurs Martin Schulze, studierte nebenbei Geschichte und zog einmal im Jahr um. Seit Abgabe seiner Magisterarbeit über die Deutsche Jugendbewegung arbeitet er als freier Autor und ist Redakteur bei der taz. Dieses Buch zwingt ihn, nun endlich ernst zu machen: Er zieht in eine richtige Wohnung und hängt seine völlig zerschlissene Umhängetasche an den Nagel.
Covergestaltung: Hißmann & Heilmann, Hamburg
Foto: Walter Breitinger
© S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2008
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400830-1
Sie sind 34, tragen Drei-Tage-Bart am ganzen Kopf, ein verwaschenes American-Apparel Sweat-Shirt, Acne Jeans, eine Sonnenbrille, die größere Gläser hat, als Jacqueline Kennedy-Onassis sich jemals hätte vorstellen können – und morgens nach dem Aufstehen tut Ihnen der Rücken weh? Sie sind 33, tragen eine Pony-Frisur für 19,90 Euro, sind in ein weiß-himmelblaues Nachthemd mit Rüschen-Saum gewandet, das sie in diesem abgefahrenen Concept-Store in Berlin-Mitte erworben haben, tragen eine Sonnenbrille mit Gläsern so groß wie CDs – und die Tränensäcke wollen heute trotzdem partout nicht abschwellen?
Mir geht es ähnlich. Das liegt daran, dass uns der biologische Alterungsprozess eingeholt hat, während wir uns gerade mal auf der Schwelle zwischen Postpubertät und Jugend wähnen. Mag sein, dass Sie gefühlt erst vorgestern Abitur gemacht haben, doch die Wahrheit ist, dass Sie eine immer schlechtere Kopie Ihrer selbst werden. Jeden Morgen, wenn Sie aufwachen, werden Sie gerade mal wieder gründlich genetisch durchgexeroxt, und die abgestorbenen Reste Ihrer Jugend liegen als klägliche Hautschuppen auf dem Bettlaken. Tragisch auch der Umstand, dass Sie sich nicht einmal das Fahrzeug leisten können, das Ihrer Generation seinen Namen geliehen hat: Ein neuer VW-Golf kostet wesentlich mehr, als Sie mit Ihrem digitalbohemistischen Kleinunternehmen im Jahr erwirtschaften. Auch wenn Sie über die Künstlersozialkasse versichert sind, Ihr Schlafzimmer untervermieten und ab und an die Hunde Ihrer Nachbarin ausführen. Es reicht einfach nicht.
Ihre Rückenschmerzen rühren wahrscheinlich daher, dass Sie Ihre Tage damit verbringen, eine Umhängetasche grotesken Ausmaßes durch die Gegend zu schleppen. Sie ist der Nachfolger des in Ihrer Kindheit schon schwer überladenen Schulranzens und des später folgenden Rucksacks, den Sie mit einem der Gurte über der rechten Schulter trugen. In meiner Umhängetasche befinden sich zum Beispiel gerade: ein weißer Mac, ein Stadtplan, Schlüssel, eine Flasche Mineralwasser von Vittel, ein Pop-Roman im Taschenbuchformat, ein Moleskine-Notizbuch, die Zeitschrift Neon, ein iPod, ein Fläschchen mit hautstraffender Lotion, ein Sechserpack Red-Bull, eine Schachtel mit stimmungsaufhellenden pflanzlichen Präparaten und eine frische Unterhose, Kondome, ein Pickelstift, eine Packung Kinderschokolade, drei Ladegeräte. Die Tasche ist, obwohl von Ortlieb, unten schon ganz ausgerissen. Fragen Sie sich auch manchmal, warum Sie jeden Tag Ihren halben Haushalt mit sich herumschleppen? Und zwar in einer Tasche, die eigentlich für Fahrradkuriere konzipiert wurde? Sind Sie Fahrradkurier? Haben Sie überhaupt ein Fahrrad? Ich nicht.
Diese monströse Umhängetasche ist in Wahrheit ein Mühlstein, der Sie hinabzieht in einen Abgrund aus romantischer Regression und depressivem Stillstand. Sie ist das Symbol Ihres Status: nicht mehr ganz jung und dafür total gut ausgebildet, nicht mehr ganz dumm und doch nicht so klug, um die Zeichen der Zeit zu erkennen und sich einem verantwortungsvollen, neuen Lebensabschnitt zu stellen: dem Erwachsensein. Mit dieser Tasche auf dem Rücken können Sie stattdessen nicht mal richtig gehen, denn durch das einseitig verlagerte Gewicht wird Ihr Gang schlingernd und notgedrungen tapsig-schlurfend.
Mir wurde die Fragwürdigkeit meines Tuns erstmals während eines Aufenthaltes im Libanon klar. In Beirut, das sich unermüdlich müht, seinem Ruf als »Paris des Nahen Ostens« wieder gerecht zu werden, fragte man mich abends beim Essen in Downtown, warum ich denn heute meine lustige Handtasche nicht dabei hätte. Gemeint war keineswegs ein neckisches Herrengelenkhandtäschchen, sondern meine todernst gemeinte, für mich selbstverständliche Umhängetasche, die in einer der Schönheit und Eleganz zugeneigten Stadt wie Beirut nur amüsiertes Kopfschütteln hervorrief. Ich hatte sie lieber im Hotel gelassen, weil ich mich mit diesem Ausrüstungsgegenstand plötzlich fühlte, als trüge ich aus Versehen eine Damen-Jeans. Alles falsch, und meine Beteuerungen, dass so etwas in Berlin, Frankfurt und München zum alltäglichen Straßenbild gehöre, fanden in etwa so viel Glauben wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht. Als Mann geht man dort aufrechten Schrittes, und als Frau kommt man nicht auf die Idee, sich das Dekolleté mit einem gepolsterten Gurt zu zerpflügen.
Doch in Beirut können junge Menschen aufgrund der traditionellen Familienstrukturen meist nur von einem autonomen, erwachsenen Dasein träumen – dort ist es üblich, bis zur Heirat bei den Eltern zu wohnen. Hingegen mutieren junge Erwachsene in Deutschland zu prekären Langzeitadoleszenten, die als Symbol ihres unsteten Lebenswandels zwischen Praktikum und nächster Ausstellung, Projekt und präarbeitsweltlichem Sabbatical bereitwillig – oder doch eher notgedrungen? – das Stigma Umhängetasche auf sich nehmen. Sie gehen in Kneipen, die »So wohl als auch« heißen und genau so gut »Vielleicht oder auch nicht«, »Ja, aber«, »Entweder Oder« oder »Eventuell« heißen könnten und trinken Latte Double Grande, bis der AIPler kommt. Sie sitzen beständig in der Lounge, doch der Flieger hat so viel Verspätung, dass fraglich ist, ob er überhaupt mal abhebt. Oder in Wohnzimmerkneipen, die klassische Einrichtungsgegenstände vom röhrenden Hirsch bis zur gemütlichen Couch ironisch gemeint bereithalten. Doch in Wahrheit sitzen Sie hier nur herum, weil Sie kein gemütliches Heim haben und vielleicht nur über eine Matratze am Boden, einen Schreibtisch und ein paar Ivar-Regale verfügen.
Diese ständige Verwechslung von öffentlichem und privatem Raum führte bei mir neulich dazu, dass ich im Rahmen einer Essenseinladung meine Zigarette auf dem Wohnzimmerteppich austrat. Ich wähnte mich in einer versifften Bar, bloß weil die Gastgeber eine weiche, gepolsterte Sitzgruppe ihr Eigen nannten. Und wurde dafür nicht einmal getadelt, denn eine solch berechtigte Unmutsbekundung hätte das Paar womöglich in den Ruch der Spießigkeit bringen können, was in der Langzeitadoleszenz-Szene schnell den sozialen Tod bedeuten kann.
Man sollte vielleicht doch mal erwachsen werden. Dieser Gedankengang ist Ihnen bestimmt vertraut. Vielleicht wird Ihnen sogar von Ihrer Familie oder Freunden des Öfteren nahe gelegt, doch nun bitte endlich mal erwachsen zu werden – weshalb Ihnen dieses Buch schön verpackt zum Geburtstag geschenkt wurde; vielleicht hat es Ihnen auch jemand als diskreten Hinweis einfach in die Umhängetasche gepackt. Die Frage ist nur: Wie soll das gehen? Erwachsenwerden findet ja gar nicht mehr statt. Das Alter, die Kindheit und die Jugend sind thematisch in Verlauf und Struktur hinreichend problematisiert, analysiert und diskutiert worden – von der Frühförderung bis zum Methusalem-Komplott. Doch ein Lebensabschnitt bleibt völlig im Dunklen: das Erwachsenenalter. Damit verhält es sich so ähnlich wie mit dem Tod, also dem Ende sämtlicher Lebensabschnitte: Der Tod findet gar nicht mehr statt, er scheint nicht zu existieren. Kein Mensch weiß heute mehr, was Erwachsensein bedeutet, denn der Begriff wird im Zeitalter völlig entgrenzter Jugendlichkeit nur noch in ironischen Anführungsstrichen verwendet. Die Zeitschrift Neon, Zentralorgan der Langzeitadoleszenz-Selbsthilfegruppe, warb lange Zeit mit dem Slogan »Eigentlich sollten wir erwachsen werden«, in Berlin jinglet der Akademiker-Sender »Radio Eins« täglich unzählige Male und schmerzhaft-augenzwinkernd mit dem Slogan »Nur für Erwachsene«. Doch tatsächliche Erwachsene existieren in den westlichen Industriegesellschaften anscheinend nur noch als Gerücht, als dunkle Ahnung. Oder als Feindbild bzw. Phantasma des Horrors: Wenn dieser Lebensabschnitt überhaupt wahrgenommen wird, dann höchstens als Vorstufe zum Windelntragen. Es ist richtig, dass am Anfang und am Ende des Lebens Windeln stehen. Aber der Hauptteil liegt zwischen diesen Phasen.
Derweil wird Deutschland von einem permanenten Gammelfleischskandal heimgesucht: Durch verzweifelte Umetikettierung versuchen Mann und Frau, die längst oder zumindest gerade das 30. Lebensjahr überschritten haben, die jugendliche Frische von Jungs und Mädchen vorzutäuschen. Doch der hauchdünne Zellophan-Firnis aus Attitüde und Concealer droht jeden Augenblick zu zerreißen. Da will man nicht gerne daneben stehen.
Keiner weiß also, was Erwachsenwerden bedeutet. Ich habe einfach mal im Lexikon nachgeschaut. Entwicklungspsychologisch bezeichnet man das Erwachsenwerden als »Adoleszenz«, was so viel wie »heranwachsen« bedeutet. Es handelt sich um das Übergangsstadium in der Entwicklung des Menschen von Kindheit (Pubertät) hin zum vollen Erwachsensein und stellt den Zeitabschnitt dar, währenddessen eine Person biologisch ein Erwachsener, aber emotional und sozial noch nicht vollends gereift ist. Das der Adoleszenzphase zugeordnete Alter wird in verschiedenen Kulturen unterschiedlich aufgefasst. In den Vereinigten Staaten gilt man im Allgemeinen bereits bei Pubertätsbeginn als Adoleszenter: Die Phase beginnt im Alter von 13 Jahren und endet etwa um 24 Jahre herum. In Deutschland versteht man die Adoleszenzphase je nach Entwicklungsstadium als die Zeit von 17 bis 24 Jahren. Im Gegensatz dazu definiert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Adoleszenz als die Periode des Lebens zwischen 10 und 20 Jahren. Denn keineswegs überall auf der Welt haben junge Menschen das Privileg, eine ausgedehnte Jugendphase für sich in Anspruch zu nehmen. Im Gegenteil: Die meisten kommen nicht einmal in den Genuss einer ordentlichen Kindheit.
Entscheidend ist also, dass es sich bei der Adoleszenz um ein Übergangsstadium handelt. Das bedeutet: Dieser Abschnitt endet ab einem gewissen Zeitpunkt und kann nicht endlos ausgeweitet werden. Es handelt sich laut dem Verhaltenspsychologen Erik Erikson um ein »psychosoziales Moratorium«, einen vorübergehenden Entwicklungsfreiraum. Die Gewährung und Finanzierung dieses Freiraums, eine Art Partykeller, dessen Miete von den Eltern übernommen wird, in dem gekifft, gesoffen und laute Musik gehört werden darf, ist jedoch mit einer Auflage verbunden: Wenn die Party beendet ist, erfolgt der Eintritt in das bürgerliche Leben: die Übernahme der elterlichen Fleischerei, der Antritt des Lehramtes, die Gründung einer eigenen Familie. Das Erwachsensein.
Die meisten Gäste sind nun schon gegangen, nur wir sitzen hier noch im Partykeller rum. Der harte Kern. Die üblichen Verdächtigen. Und trinken noch einen Absacker: So jung kommen wir schließlich nicht mehr zusammen! Die Chips sind alle, die Musik ist aus wegen der Nachbarn, stattdessen wummern die Kopfschmerzen von morgen bereits leise in Ihrem Schädel. Können Sie noch oder ist Ihnen auch schon irgendwie schlecht? Mir schon länger. Wenn Sie auch das Gefühl haben, dass es so nicht weitergehen kann, mache ich Ihnen einen Vorschlag. Ich gehe mit Taschenlampe und Kompass voraus, und wir veranstalten ein fröhliches und doch auch straff geführtes Boot-Camp mit mir als Erstem Offizier. Gleich morgen früh geht es los. Es gibt auch Exkursionen und kurzweilige Lichtbildvorträge. Sie können sich mir im Rahmen dieser Expedition ruhigen Gewissens anvertrauen. Es ist so ähnlich wie bei den Anonymen Alkoholikern oder Alan Carr, dem Nichtraucherpapst, der ausgerechnet an Lungenkrebs gestorben ist. Betroffene helfen Betroffenen, und meine Recherchen zum Thema Erwachsenwerden haben bislang schon ganze 35 Jahre in Anspruch genommen. Ich habe das Terrain schon mal sondiert und weiß ungefähr, wo die Minen liegen. Einen ersten Schritt in Richtung Erwachsenendasein haben wir ja im Prinzip auch schon getan, ohne dass Sie es mitbekommen haben: Wir sprechen uns mit »Sie« an, statt uns im üblichen Jargon der Berufsjugendlichkeit zu duzen.
Es geht darum, endlich die Schwelle zum nächsten Lebensabschnitt zu überschreiten. Auf der Schwelle, also unter dem Türsturz, ist man zwar sicher vor Erdbeben, kommt aber auch einfach nicht in den nächsten Raum. Sie hängen mit Ihrer Tasche im Türrahmen fest, und es geht weder vor- noch rückwärts. Dabei ist dort drüben im anderen Raum die Bühne des Lebens, auf der man im Licht der Scheinwerfer sein Lied absingen muss – und wenn man Pech hat, kommt hinterher Dieter Bohlen und sagt einem, dass man sich anhört wie eine Kröte. Soll er doch, dabei sein ist alles. Außerdem wird es jetzt langsam Zeit: Auf der Bühne drängelt sich schon seit ewiger Zeit ein riesiger Gospel-Chor verbissen junger Alter, der ständig »Talking about my Generation« zum Besten gibt. Und hinter Ihnen warten schon die tatsächlich Jungen auf Ihren Auftritt und können nichts sehen, weil Sie den Türrahmen versperren. Haben Sie Lampenfieber? Wie sagte doch neulich jemand während der Geburtstagsfeier zum 50. Geburtstag eines Freundes: »Mein Gott, ist Erwachsenwerden schön.« Sie hatte Pippi Langstrumpfs »Krumulus-Pillen« gegen das Erwachsenwerden nach langer Sucht einfach abgesetzt.
Halten Sie nun bitte Ihre Umhängetasche in Griffweite bereit. Wir werden die Tasche gemeinsam Stück für Stück auspacken und die jeweiligen Gegenstände auf ihre Relevanz überprüfen. Vielleicht brauchen Sie den ganzen Kram ja inzwischen gar nicht mehr? Erwachsenwerden bedeutet, loslassen zu können. Loslassen vom bisherigen Lebensabschnitt. Das tut weh, aber danach stehen Sie vielleicht besser und freier da. Erwachsenwerden bedeutet, sein eigenes Leben zu leben: Die Suche ist nicht mehr Selbstzweck, sondern führt zum Auffinden des richtigen Weges. Wir werden versuchen, diese Orientierungsschwierigkeiten gemeinsam zu überwinden. Manchmal sieht man ja den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Ihr Schlüsselbund ist so groß, dass man Sie für einen Mitarbeiter der nächstgelegenen Justizvollzugsanstalt halten könnte, wenn da nicht der klobige Marge-Simpson-Anhänger wäre. Selbstverständlich wohnen Sie schon lange nicht mehr im Hotel Mama und kümmern sich selbst um Ihre Wäsche. Die Schlüssel in Ihrer Tasche gehören nicht zum Elternhaus, sondern zu einer WG in einer Stadt oder Großstadt, vielleicht sogar zu einer Wohnung, die Sie ganz für sich alleine gemietet haben. Oder etwa doch nicht? Noch schön bei Mama und Papa in der Einliegerwohnung wohnen mit »eigenem Eingang« und gemeinsamer Waschmaschine, von der aber nur Mama weiß, wie man sie bedient? Bitte besuchen Sie umgehend www.immobilienscout24.de.
Doch in den Wohnungen längst flügge Gewordener sieht es auch oft aus, als würden Mama und Papa noch mitwohnen. Beide Elternteile stehen permanent mit missbilligendem Blick herum und mahnen, dass Sie doch vielleicht mal den Müll hinuntertragen könnten und dass es doch sinnvoll sein könnte, im Badezimmer ein paar Haken für die Handtücher anzubringen und dass ein richtiges Bett sinnvoll wäre, damit Sie Ihre Nächte nicht in unmittelbarer Nähe jener Wollmäuse verbringen müssen, die als Permant Resident in Ihrer Behausung gemeldet sind, während Sie eigentlich nie zu Hause sind. Ihre Wohnung ist stummes Zeugnis einer Verweigerung und damit eine Antwort auf zwanzig Jahre Einfamilienhaus in München-Daglfing oder 19 Jahre Reihenhaus in Bad Oeynhausen. Doch mit Ihrer passiv-aggressiven Schrankwandverweigerung legen Sie lediglich Zeugnis davon ab, dass Sie mental noch immer der Adoleszenz verhaftet sind, also der Ablösung von Ihrem Elternhaus, an dem Sie kleben, indem Sie es negieren.
Kein Nagel ist in die Wand eingeschlagen, weil Sie Angst haben, daran hängenbleiben zu können. Er könnte Sie aufgrund seiner bedrohlich-fixierten Existenz daran hindern, schon morgen in Richtung London oder Melbourne aufzubrechen, und aus der gleichen Erwägung heraus bleibt ein Großteil der Umzugskisten unausgepackt. Sie sind auf dem Sprung, dabei wohnen Sie mittlerweile schon drei Jahre in dieser Wohnung. Leben Sie hier oder sind Sie auf der Flucht?
Gewiefte Pop-Theoretiker verleihen mit ihrer Wohnung ihrer Persönlichkeit Ausdruck: Menschen Ihrer Generation wohnen nicht einfach. Bei Menschen Ihrer Generation ist schließlich nichts selbstverständlich. Im Gegenteil, es wird um alles ein irres Gewese veranstaltet, sei es eine Tasse Kaffee, die Unterhose und ihre Positionierung unter- oder oberhalb des Hosenbundes unter besonderer Berücksichtigung des jeweiligen Designer-Schriftzuges, die Geburt eines Kindes oder eben die Wohnung. Also fangen wir damit an. Wenn Sie am Ausdruck arbeiten, müsste das dieser Logik folgend auf Ihre Persönlichkeit rückkoppeln. Zudem gibt es bei diesem Projekt auch handwerklich einiges zu tun, und jeder, der weiß, wie es sich anfühlt, wenn man sein Leben gerade so gar nicht in den Griff bekommt, weiß auch: Den Abwasch erledigen hilft. Man hat danach zwar nur die verschimmelten Tassen von letzter Woche bewältigt, aber wenigstens einen greifbaren Anfang gemacht.
Suchen Sie sich also zunächst eine neue Wohnung aus, die Sie sich leisten können. Entscheidend bei der Wahl der unmittelbaren Umgebung ist nicht der Trend-Faktor des Stadtbezirkes, denn dann bekommen Sie wieder nur eine Abstellkammer. Wenn Sie wie die anderen »urbanen Penner« ständig der »Szene« hinterherziehen, bleiben Sie zwangsläufig im Teufelskreis Stadtteilentwicklung hängen, was in etwa bedeutet: Sie ziehen in eine Gegend, in der gerade »schwer was am Start« ist und in der Sie das echte Leben vermuten. Nach und nach ziehen dann noch mehr von Ihrer Sorte in das Viertel, um sich habituell an die exotische, abenteuerliche und vor allem nichtbürgerliche Lebenswelt der »Unterschicht« heranzukuscheln: Man bemüht sich, den so begehrten wie schwer herstellbaren Zustand der Authentizität zu erlangen, indem man versucht, ihn glaubwürdig darzustellen. Astra-Bier im Unterhemd trinken und Dart spielen und mal so richtig prollig in der Wohnküche herumrülpsen. Beim Achmed nebenan abends noch einen Raki als Absacker trinken und sich an den schrägen Originalen erfreuen, die hier »die Straße« bevölkern.
Warum leben Sie eigentlich hier? Damit Ihre Eltern schön entsetzt gucken, wenn sie beim nächsten Besuch mit dem Auto aus der Provinz kommen und beim Aussteigen erst mal durch Hundedreck und Müll waten müssen? Doch die eine total angesagte, illegale Bar um die Ecke wird schon bald Gesellschaft bekommen. Denn Authentizitätsdarsteller wollen nicht wirklich in der Eckkneipe sitzen und mit den niederen Ständen Fußball gucken, keinen Tee trinken mit den türkischen Männern im Neon-Café, das sich »Kulturverein« nennt, und keine Schisha rauchen mit den arabischen Männern im Café Hamra – die Statisten übrigens auch nicht unbedingt mit den Authentizitätsdarstellern. Da macht man doch lieber eigene Bars auf, die »Verein« genannt werden, um die Gastro-Auflagen zu unterlaufen. Dort läuft dann Diskurs-Pop zum Astra-Bier. Kaum in meiner neuen Wohnung im verruchten Berlin-Neukölln eingezogen, eröffnete gegenüber schon die erste »Szene«-Bar und schon zwei Wochen später war die erste Galerie zur Stelle. »Kreuzkölln« nennt man das Viertel hier und druckt es sich sogleich als Motto aufs T-Shirt. Schon bald nimmt die Saab-Dichte in Ihrem Viertel zu – bei mir sind es derer schon zwei. Am Anfang sind es noch die gebrauchten, später Neuwagen. Spätestens wenn die gesamte Produktpalette der schwedischen Automobilindustrie (ohne Nutzfahrzeuge) die Straße verstopft, wird es für Sie wieder Zeit auszuziehen. Sie können sich die Gegend mit ihren italienischen Restaurants, Coffee-Shops und Montessori-Kitas nicht mehr leisten. Genau so, wie die authentischen Unterschicht-Menschen, die längst in ein anderes, weniger attraktives Viertel abgedrängt wurden, müssen auch Sie weiterziehen. Tragisch. Sie selbst haben den Anfang gemacht und diesen ganzen Gentrifizierungs-Zirkus mit in Gang gebracht.
Wenn Sie also schon wieder in ein total angesagtes Viertel ziehen wollen, überlegen Sie sich vorher gut, ob Sie innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre in der Lage sein werden, ein eigenes Saab-Turbo-Cabriolet zu finanzieren oder gleich das komplette Dachgeschoss ihres Mietshauses kaufen können. Das wäre dann auch eine Möglichkeit, den Teufelskreis dauerhaft zu durchbrechen. Das Ergebnis werden wir später im Rahmen eines Ausflugs auf den heiligen Prenzlauer Berg noch besichtigen.
Zunächst aber brauchen Sie, wenn Sie alleine wohnen, mindestens zwei Räume, Küche und Bad an einem Ort, der kein Terrain vague ist, sondern stattdessen eine gute Verkehrsanbindung und eine vernünftige lokale Infrastruktur mit Einkaufsmöglichkeiten bietet. Löschen Sie bitte das Wort »Zwischennutzung« aus Ihrem aktiven Wortschatz. Falls Sie heterosexuell sind und mit einem Partner oder einer Partnerin zusammenziehen wollen, planen Sie vorsorglich einen Raum mehr ein. Sie wissen schon. Stichwort Ursula von der Leyen. Wer möchte schon in einer Abstellkammer aufwachsen, auch wenn diese beheizbar ist.
Dreimal umziehen ist einmal komplett abgebrannt, sagt der Volksmund und meint, dass jeder Umzug einen kleinen Tod bedeutet. Positiver formuliert: ein guter Zeitpunkt, um loszulassen. Falls Sie zu jener Gruppe gehören, die die 90er zu ernst genommen haben und tatsächlich nur eine Matratze, einen Laptop und einen Stuhl besitzen, überlesen Sie die nächsten beiden Abschnitte und steigen dann unbedingt wieder ein, denn Sie sind gerade deshalb ein schwerer Fall.
Alle anderen mögen sich zunächst an die letzten fünf Umzüge erinnern, bei denen Sie mithelfen mussten, weil Ihre Freunde sich noch immer keine Umzugsfirma leisten können und bei denen der rückenkranke Lars, der eigentlich versprochen hatte, Brötchen zu schmieren, leider total verpennt hatte und danach noch zu einem Casting musste, weshalb Sie, nachdem Sie Ihren Samstagvormittag geopfert haben, alleine und auf eigene Kosten in einem überfüllten McDonald’s zu Mittag essen mussten. Erinnern Sie sich an die Kisten mit alten Mix-Kassetten, an das einzelne Paar Wanderstiefel, die Berge von Alt-Klamotten, die man alle aufheben kann, weil man heute eh alles tragen kann und man nur auf die nächste Retro-Welle warten muss, den Sperrmüll und Schund, die Yps-Hefte und sonstigen regressiven Gimmicks, die Sie fünf Stockwerke hoch getragen haben?
Heben Sie bitte nur Dinge auf, die Sie für das Verfassen Ihrer Autobiographie dringend benötigen. So viel kann das nicht sein, denn heutzutage schreibt man ein solches Werk im Schnitt schon mit 26 – Sie sind also längst zu alt dafür. Das nach den Prinzipien der Mülltrennung ausgeführte Wegwerfen fällt also unter Loslassen und gehört zum Ritual des Erwachsenwerdens.
Unsere Gesellschaft ist arm an solchen »Rites de Passages«, also müssen Initiationsrituale selbst gebastelt werden. Oder hat Ihnen Ihre Konfirmation oder Jugendweihe ernsthaft geholfen, die Pubertät hinter sich zu lassen? Diesbezüglich sind Sie wie ein Ossi, der mit ein bisschen Draht und einem Hammer ein Auto reparieren kann. Sie bringen die notwendigen Bastelkompetenzen schon mit, Stichwort Bricolage und Patchwork-Biographie. Doch wer in der Lage ist, seine eigene Beerdigung durchzuchoreographieren, ist theoretisch auch fähig, die verschiedenen Abschnitte seines Lebens einigermaßen in Reih und Glied zu bekommen. Leider funktioniert eine moderne Industriegesellschaft nicht wie eine Südseeinsel: Die »Rites de Passage« so genannter »primitiver Völker«, Initiationsrituale, bei denen die Teilnehmer eine Phase der Isolation durchlaufen, um danach mit großem Tamtam und manchmal auch unter Schmerzen in die Gesellschaft der Erwachsenen aufgenommen zu werden, sind in aller Regel mit einer Garantie versehen. Wer den stressigen Zirkus brav mitmacht – eine Art Dschungelcamp ohne »Holt mich hier raus. Ich bin ein Star!«-Notschalter –, bekommt danach auch seinen Platz. In hiesigen Gefilden dauert dieser Zirkus Jahre. Bei Langzeitadoleszenten Jahrzehnte, denn dieses Moratorium, eine Zwischenzeit ohne wirkliche Verantwortung, wurde inzwischen zu einem eigenen Lebensabschnitt mit ungewissem Ausgang. Man kann sich währenddessen im Dschungel verlaufen. Zudem werden Optionsscheine für das Scheitern ausgegeben. Wer Pech hat, erlebt die Reise nach Jerusalem: Die Musik ist aus, und alle Stühle sind besetzt.
Den Abschluss meines Studiums feierte ich zum Beispiel auf einem örtlichen Wertstoffhof. Mein persönliches Ritual bestand mangels offizieller Rituale darin, die gesammelten Ordner mit Aufsätzen über computergesteuerte Datenlinguistik in Papua-Neuguinea und den Kopien des Original-Sitzplanes des Baseler Konzils aus dem Nachlass des legendären Mediävisten Erich Meuthen ganz einfach wegzuwerfen. Mit Hilfe dieser reinigenden Zeremonie versuchte ich mir meinen neuen gesellschaftlichen Aggregatzustand besser vorstellen zu können. Ich war nun Akademiker und auf der Schwelle zum Berufsleben. Theoretisch.
Praktisch zog ich zunächst in eine Wohngemeinschaft, zusammen mit einer Freundin aus Studientagen, und machte das, was ich schon zuvor getan hatte: Ich widmete mich dem Leben der Boheme.
Freiheit zu nutzen ist nicht leicht, Pessimisten sagen sogar, dass Freiheit die Menschen überfordert. Bei mir folgte nach dem Studium erst mal ein langer, langer »Sommer vor dem Balkon«. Geschlagene sechs Wochen am Stück saß ich den lieben langen Tag auf meinem kleinen Balkon, trank Kaffee und blickte rauchend auf den Berliner Landwehrkanal. Kein Geld, keinen Job, keinen Plan und dafür eine Menge Zukunftsangst. Ich war wie gelähmt. Nur nachts traute ich mich aus meinem Bunker und ging mit Freunden aus, um mich zu betrinken. Im Nachtleben fühlte ich mich sicher, dort konnte ich bestehen, stellte sogar etwas dar, war jemand, den man ernst nehmen musste. Zusammen mit all den anderen, denen es mehr oder weniger offensichtlich ganz genauso erging, ohne dass sie es offen zugegeben hätten.
Nein, unsere Wohngemeinschaft war keine Fortführung der »Kommune 1«, sondern eine trotzige Trutzburg der Langzeitadoleszenz ohne Gardinen, Deckenlampen und Bilder an der Wand. Mit nicht ausgepackten Kartons und jeder Menge Chaos, für das – so war es still verabredet – jeweils der andere verantwortlich war. Wir hatten es uns in unserem Provisorium der Ohnmacht dennoch so gemütlich wie möglich gemacht. So lange, bis uns niemand mehr besuchen kommen wollte. Die Angst vor dem sozialen Abstieg kann recht schnell zu selbigem führen. Deshalb sollten gerade Sie als Langzeitadoleszenter die »Broken Windows«-Theorie streng beachten. Sie beruht auf Erkenntnissen des urbanen Quartiermanagements: Wenn in einer Straße irgendwo ein Fenster zerbrochen ist, werden dieser Beschädigung schnell weitere folgen. Das Nachbarfenster wird zerdeppert, dann lagert jemand seinen Müll darunter ab, als Nächstes brennt der Müll, und die Ratten tanzen Tango. Sie müssen dieses Fenster also sofort reparieren, um einer weiteren Verwahrlosung vorzubeugen. Das gilt insgesamt für Ihr Leben und insbesondere für Ihre Wohnung.
Der Leitspruch beim Einzug in Ihre neue Wohnung ist wiederum autoritärer Herkunft, denn er stammt von Erich Honecker persönlich: »So wie wir heute arbeiten, werden wir morgen leben.« Entspricht nicht unbedingt den reformpädagogischen Summerhill-Lehrsätzen des A. S. Neill, nach denen »Freiheit heißt, tun und lassen zu können, was man mag, solange die Freiheit der anderen nicht beeinträchtigt ist«. So ungefähr sind Sie wahrscheinlich erzogen worden, auch wenn Sie gar nicht wissen, wer A. S. Neill ist. Weshalb Sie leider auch nicht wissen, wie der Satz weitergeht: »Das Ergebnis ist Selbstdisziplin.« Man hat vielleicht auch einfach vergessen, Ihnen das zu sagen. Ich kann zum Beispiel das Alphabet nicht richtig, weil mein Grundschullehrer gerade ein Loch in seinem Kontrollnetz hatte.
In Ihrer neuen Wohnung gibt es – hoffentlich – keine zerbrochenen Fenster, aber zu tun gibt es eine Menge. Und wenn Sie diese Dinge nicht gleich am Anfang erledigen, dann werden gewisse Leitungen noch in drei Jahren aus der Wand gucken. Weil Sie eine irrationale Angst vor der Endgültigkeit von Nägeln haben, sollten Sie sich gleich an die nächst höher gelegene Ebene wagen. Es handelt sich dabei um den Dübel. Es gibt ihn in allen möglichen Varianten, vom Hohlraum- bis zum Kippdübel, und seine Verwendung zieht ernsthafte Konsequenzen nach sich. Zum einen verfügt er über Widerhaken und krallt sich regelrecht in dem für ihn aufwändig und unter Verwendung einer entsprechenden Maschine gebohrten Loch in der Wand fest. Bombenfest. Will man wieder ausziehen, weil man zum Beispiel für ein Jahr den Kaukasus erkunden möchte, muss man die durch Dübeln entstandenen Löcher zuspachteln. Dem Dübel wohnt also eine atemberaubende Aura der Ewigkeit inne. Er ist auch genauso gedacht. Er soll Regale halten, für deren Standort Sie sich fest entschieden haben, Möbel fixieren, deren Position fortan unverrückbar ist.
Das macht Ihnen nun wirklich Angst? Wer sagt denn eigentlich, dass Sie sich durch eine Entscheidung geradezu schicksalhaft binden? In Wirklichkeit ist es mit dem Regalstandort so wie mit Ihrem Leben. Wenn Sie sich dazu entschlossen haben, ein Regalsystem an einem bestimmten Standort zu fixieren, dann können Sie sich vernünftig einrichten und die Bücherkisten auspacken. Aber wenn Sie nach einer gewissen Zeit merken, dass Ihnen diese Lösung nicht gefällt und Sie ganz einfach die falsche Option gewählt haben, dann hindert Sie doch niemand daran, den Standort zu wechseln. Es kostet nur einen gewissen Aufwand, den zu bewältigen keineswegs unmöglich ist. Dübel raus, Loch zuschmieren, neuen Standort wählen, dübeln. Fertig. Kaffee trinken.
Wer diese Entschiedenheit scheut, bekommt die Quittung. Und auf der steht: Haltlosigkeit. Je nachdem, wie groß Ihr Bücherregal ist, kann es Sie bei mangelnder Fixierung erschlagen. Auf Ihr Leben bezogen: Je nachdem, wie labil Sie sind, werden Sie Opfer von Alkohol-, Nikotin-, Kalorien- oder sonstigem Abusus und verlieren sich im Zirkus des »Anything goes«, der bei Licht betrachtet gar nicht so viele Möglichkeiten bietet, denn schon so mancher wilde Löwe fand sich plötzlich in einem Käfig wieder und musste fortan zum Knallen der Dressurpeitsche Kunststückchen in der Manege vorführen. Ich will Ihnen natürlich nicht drohen und deute daher nur zart an: Call-Center lebenslänglich. Davor lohnt es sich tatsächlich, Angst zu haben.
Falls es sich bei Ihnen übrigens um eine männliche Person handeln sollte und Sie feststellen sollten, dass Sie dem hegemonialen Männlichkeitsbild auch insofern nicht entsprechen, als dass Sie einfach nie gelernt haben, wie man dübelt, scheuen Sie sich nicht, Ihre Freundin um Rat zu fragen. Sie können Ihr ja nach Anbringung des Spiegels im Flur zum Dank ein leckeres Abendessen kochen. Wozu sie vielleicht nicht in der Lage ist, weil sie in dem Glauben aufgewachsen ist, dass eine solche Fertigkeit ein Ausweis mangelnder Emanzipation sei. Sowohl die Dübel-Impotenz als auch das Versagen am Herd sind Spätfolgen der Geschlechterkriege aus den 70er und 80er Jahren, die Sie nun behindern – doch dazu mehr im Verlaufe der Lektion. Jetzt wird erst mal gebohrt.
So, die Dübel sind nun an Ort und Stelle, zuvor haben Sie die Wände geweißt. Selbstverständlich haben Sie die Wände geweißt, weil Ihnen diese Aufgabe nämlich von Ihrem Vormieter bzw. Ihrem Vermieter aufs Auge gedrückt wurde. Das liegt daran, dass Sie weder Mitglied im Mieterschutzbund sind, noch die Muße hatten, sich mit den vertrackten Paragrafen Ihres Mietvertrages auseinanderzusetzen. Sie sind der Ansicht, sich ja mit so etwas nicht auseinandersetzen zu müssen, weil so etwas höchstens das Hobby von Kleinbürgern und Prozesshanseln ist. Solcherlei Unbill wird von Langzeitadoleszenten ungefähr so ernst genommen wie früher die mütterliche Forderung, doch endlich mal das Zimmer aufzuräumen. Ein Mietvertrag ist ein Wisch, der genauso bedeutsam ist wie der universitäre Stundenzettel. Man füllt ihn eben kurz vor Abgabetermin beim Prüfungsamt mit irgendwelchen Fantasie-Veranstaltungen aus den Vorlesungsverzeichnissen der letzten zehn Jahre aus. Zehn Jahre!
Selbstverständlich fordert Ihr Vermieter eine Kaution in Höhe von drei Monatsmieten von Ihnen, was ungefähr der Summe entspricht, die Ihr vorheriger Vermieter nun nicht herausgeben will, weil Sie angeblich erforderliche Schönheitsreparaturen nicht oder nicht ordnungsgemäß ausgeführt haben oder er sie für einen Brandflecken auf dem 1952er Linoleum in der Küche verantwortlich macht. Wüssten Sie wie ein erwachsener, mündiger Bürger über das geltende Recht Bescheid – Bürgerliches Gesetzbuch! –, dann wüssten Sie, dass diese Vorgehensweise in der Regel nicht rechtmäßig ist. Sie könnten Ihre Kaution einklagen, aber das würde für Sie einen Stress bedeuten, den auszuhalten Sie sich nicht einmal ausmalen wollen. Stattdessen lassen Sie sich wieder über den Tisch ziehen und fühlen sich auch noch gut dabei. Und pumpen wegen der Kaution lieber Ihre Eltern an, die sowieso klammheimlich, also ohne dass Sie das Ihren Freunden mitteilen würden, den Großteil Ihrer Miete per Dauerauftrag der Sparkasse Sindelfingen begleichen, weil Sie sonst schon längst auf der Straße stünden.
Erwachsensein bedeutet per definitionem, seine Existenz ohne Subsidien zu bewerkstelligen. Wenn Sie Ihre Miete nicht zahlen können, droht Ihnen Obdachlosigkeit. Und wenn Sie mit ernsthaften Schwierigkeiten konfrontiert sind, rufen Sie bitte nicht Mama und Papa an. Das tut man nur, wenn man mit dem Bonanza-Rad auf die Fresse geflogen ist und die Speichen so krumm sind, dass man nicht mehr fahren kann. Man wendet sich stattdessen an jene Leute, die an der Universität immer »die Anderen« waren. »Die Anderen« trugen alle Barbour-Jacken, weiße Hemden und Jeans bzw. graue Rollkragenpullover mit Perlenkettchen: Juristen. Wenn Sie sich mit dem Zug der Stadt Bonn nähern, können Sie im Waggon recht bald eine hohe Dichte dieses Typus messen. Doch wenn diese Leute mal in Lohn und Brot sind – was sie übrigens in der Regel tatsächlich viel früher als Sie mit ihren hübschen Orchideen-Fächern bewerkstelligen –, können sie recht nützlich sein. Es handelt sich um so genannte Funktionseliten. Gegen entsprechendes Entgelt funktionieren die Damen und Herren und holen Ihre Kaution zurück. Damit Sie wegen des Honorars nicht Mutters Haushaltskasse anzapfen müssen, schließen Sie am besten gleich eine Rechtschutzversicherung ab. Nur für den Fall, dass Ihr persönliches Paralleluniversum mal mit dem richtigen Leben kollidieren sollte. Gegen Honorar pusten die Funktionseliten auch ein bisschen, wenn Sie sich das Knie aufgeschlagen haben.
Doch nun wird erst mal geweißt, nach allen Regeln der Kunst und ohne juristischen Beistand. Um Geld zu sparen und der Umwelt einen Gefallen tun zu können, greift man zum Beispiel zur Kreidefarbe aus Rügen, ein weißes Pulver, das schlicht mit Wasser verrührt wird. Sie haben dann quasi einen eigenen Caspar David Friedrich an den Wänden und vermeiden zugleich, in die Trend-Farb-Falle zu tappen. Im Moment tendiert man zwar zu deckend-satten Grün-, Orangeund Rottönen an den Wänden, doch schon in ein bis zwei Jahren könnte es dieser Mode ergehen wie der Schwammtechnik der 90er. Man kann es nicht mehr sehen, und Sie stehen schon wieder auf der Leiter. Versuchen Sie mal, eine dunkelrote Wand wieder weiß zu kriegen. Ach, wissen Sie was? Streichen Sie Ihre Wände doch, wie Sie wollen. Es ist genau wie mit den Dübeln. Solch ernsthafte Entscheidungen sind nicht wirklich final, sollten aber ernsthaft umgesetzt werden.
Nach Durchführung dieser Maßnahmen, wie das so schön im Behördendeutsch heißt, haben Sie zumindest das Fundament für Ihre Existenz als Erwachsener geschaffen. Sie haben dabei viele neue Erfahrungen gemacht, zum Beispiel einen Baumarkt auch mal von innen gesehen. Sie wissen nun, was Turbo-Silikonmasse ist und dass man Nägel und Schrauben erst abwiegen und in ein kleines Tütchen packen muss, bevor Sie zur Kasse gehen. Sie haben viele nette Herren kennengelernt, die Ihnen erklärt haben, was ein Bohraufsatz ist und warum man in Nassräumen nur nassraumkompatible Leuchtmittel einsetzen darf. Das war ein großer Schritt für Sie. Seien Sie mal ein kleines bisschen stolz auf sich. Sie sind gerade nochmal an der peinlichen Situation vorbeigeschrammt, auf die Hilfe von dicken Fernsehfrauen angewiesen zu sein, die Ihr Miet-Etablissement in eine Rigips-basierte Ikea-Hölle verwandelt hätten. Und zum Dank müssten Sie auch noch vor der kompletten Fernsehnation in Tränen ausbrechen.
Ihre alten Hausschlüssel geben Sie nun bitte zusammen mit dem klobigen, platzfressenden Marge-Simpson-Anhänger an Ihren ehemaligen Vermieter zurück – bitte ohne dessen handverfertigtes Übernahmeprotokoll zu unterschreiben, denn sonst übernehmen Sie ernsthaft die Verantwortung für den Brandfleck auf dem Linoleum und zahlen mit Ihrem guten Namen. Das soll ich Ihnen von meiner Anwältin vom Mieterschutzbund dringend mit auf den Weg geben.
Die neuen Wohnungsschlüssel binden Sie zu einem Schlüsselbund zusammen, der nur die existenziell notwendigen Elemente enthält. Dazu gehören weder die Schlüssel zu Ihrem Elternhaus in der westfälischen Provinz noch die zu dem Vorhängeschloss, das Sie vor über acht Jahren an einem Göttinger Uni-Locker vergessen haben. Ihre Ausbildung ist beendet, nunmehr sind Sie nur noch dem lebenslangen Lernen verpflichtet, so wie alle anderen Menschen auch. Die Schlüssel zu Ihrem Elternhaus geben Sie sofort zurück, und sei es per Einschreiben mit der Post. Sie können dort nicht mehr einfach mitten in der Nacht auftauchen und Mutter Ihre Wäsche vorbeibringen oder einen Nervenzusammenbruch im Esszimmer haben, weil Sie Liebeskummer haben oder Angst vor dem Finanzamt. Ihre Eltern führen, so wie Sie auch, ein eigenes Leben. Man kündigt sich telefonisch an und klingelt dann an der Haustür.
Das Ergebnis, ein handlicher Schlüsselbund, können Sie in der Jackentasche transportieren. Sie brauchen dazu kein Extrafach in der Umhängetasche.