Lian Hearn
Der Clan der Otori. Der Ruf des Reihers
FISCHER E-Books
Lian Hearn wurde 1942 geboren und wuchs in Nigeria und Großbritannien auf. Sie studierte moderne Sprachen und arbeitete anschließend als Filmkritikerin und Redakteurin. Sie ist die Autorin zahlreicher Kinder- und Jugendbücher, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Ein lebenslanges Interesse an Japan und seiner Kultur führte dazu, dass sie Japanisch lernte und das Land unzählige Male bereiste. Lian Hearn lebt heute in Goolwa, Australien.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden sich auf www.fischerverlage.de
Erschienen bei FISCHER E-Books
Originalcopyright © 2006 Lian Hearn Associates Pty Ltd
Originalverlag: Hachette Australia (An Imprint of Hachette Livre Australia Pty Limited)
Originaltitel: »The Harsh Cry of the Heron«
Copyright © der deutschsprachigen Erstausgaben:
2006, 2008 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg
Für die vorliegende Ausgabe:
© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Zero Werbeagentur, München
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-4974-6
Der Klang der Glocken von Gion Shoja spricht von der Endlichkeit aller Dinge.
Die Farbe der Sala-Blume enthüllt, dass allen Wohlhabenden der Niedergang droht.
Die Stolzen haben keinen Bestand, sie gleichen einem Traum in einer Frühlingsnacht.
Am Ende stürzen die Mächtigen, sie sind wie Staub im Wind.
Aus: The Tale of the Heike. Stanford University Press 1988
Übertragung ins Englische: Helen Craig McCullough
Personen
Herrscher der Drei Länder
seine Frau
ihre älteste Tochter, Erbin von Maruyama
ihre Zwillingstöchter
ihre Zwillingstöchter
Dienerinnen im Haushalt der Otori
Takeos Oberbefehlshaber, Lord von Yamagata
seine Söhne
seine Söhne
sein Bruder und Takeos Freund, Hououmeister
Statthalter von Maruyama
Hiroshis Cousin
Lord von Inuyama
seine Frau, Kaedes Schwester
Entdecker und Oberbefehlshaber der Otoriflotte, Takeos Freund
seine Frau
seine Tochter, Freundin von Shigeko
sein Vater
Abt des Tempels von Terayama
sein Nachfolger, Hououmeister und Takeos bester Freund
Takeos Schreiber
Takeos Arzt, Ehemann von Muto Shizuka
Priester und Pferdetrainer der Otori
Hauptmann der Wachen im Schloss von Hagi
ein Holzbildhauer aus Hagi
Oberhaupt des Araiclans, Lord von Kumamoto
seine Frau, Kaedes Schwester
ihre Söhne
ihre Söhne
ihre Söhne
ein Schmied in Kumamoto
Oberhaupt der Mutofamilie und des Stammes
Kenjis Nichte und Nachfolgerin, Mutter von Zenko und Taku
Takeos oberster Spion
seine Frau
Begleiterin von Maya, Takus Geliebte
Sadas Schwester
Kenjis Tochter (g.)
Shizukas Cousin, lebt in Yamagata
Shizukas Informant und Begleiter
Mägde im Mutodorf Kagemura
Mägde im Mutodorf Kagemura
Oberhaupt der Kikutafamilie
sein Sohn, leiblicher Sohn von Takeo und Muto Yuki
Akios Onkel
Akios Begleiter
ein Kaufmann aus Akashi
eine Magd in Hofu
Takeos Leibwächter
Takeos Leibwächter
Händler in Kumamoto, Informant der Arai
ein Edelmann, Sohn von Lord Fujiwara (g.)
der General des Kaisers, Lord der Östlichen Inseln
ein Gefolgsmann
sein Sohn
ein ausländischer Kaufmann
ein ausländischer Priester
ihre Dolmetscherin, Takeos Halbschwester
fett = Hauptpersonen
(g.) = vor Einsetzen der Handlung von »Der Ruf des Reihers« gestorben
»Kommt schnell! Vater und Mutter kämpfen gegeneinander!«
Otori Takeo hörte die Stimme seiner Tochter, die in der Residenz von Inuyama ihre Schwestern herbeirief, so klar und deutlich wie das Geräuschgewirr im Schloss und in der dahinterliegenden Stadt. Doch er beachtete diese Geräusche genauso wenig wie das Lied des Nachtigallenbodens unter seinen Füßen und konzentrierte sich ganz auf seine Gegnerin: Kaede, seine Frau.
Sie kämpften mit Holzstangen: Kaede war Linkshänderin und daher mit jeder Hand gleich stark. Takeo war zwar größer, aber seine rechte Hand war vor vielen Jahren durch einen Messerhieb verkrüppelt worden, weshalb er zwangsweise hatte lernen müssen, die linke zu gebrauchen. Und dies war nicht die einzige Verletzung, die ihn behinderte.
Es war der letzte Tag im Jahr, bitterkalt, der Himmel von blassem Grau, die Wintersonne schwach. Im Winter übten sie oft so, denn es wärmte den Körper und ließ die Gelenke beweglich bleiben, und außerdem bewies Kaede ihren Töchtern gern, dass eine Frau genauso gut kämpfen konnte wie ein Mann.
Die Mädchen kamen angerannt: Shigeko, die Älteste, würde im neuen Jahr fünfzehn werden, die zwei jüngeren dreizehn. Die Dielen sangen unter Shigekos Schritten, doch die Zwillinge gingen leichtfüßig in der Art des Stammes. Von frühester Kindheit an waren sie über den Nachtigallenboden gelaufen und hatten fast unbewusst gelernt, ihn nicht zum Singen zu bringen.
Kaede hatte sich einen roten Seidenschal um das Gesicht geschlungen, so dass Takeo nur ihre Augen sehen konnte. Sie leuchteten, erfüllt von der Energie, die der Kampf freisetzte, und ihre Bewegungen waren kräftig und schnell. Es fiel schwer zu glauben, dass sie die Mutter dreier Kinder sein sollte, denn sie bewegte sich immer noch mit der Kraft und Geschmeidigkeit eines Mädchens. Als Kaede ihn angriff, spürte er deutlich sein Alter und seine körperlichen Schwächen. Die Wucht, mit der Kaede seine Stange traf, ließ seine Hand schmerzen.
»Ich gebe auf«, sagte er.
»Mutter hat gewonnen!«, krähten die Mädchen. Shigeko lief mit einem Handtuch zu ihrer Mutter.
»Für die Siegerin«, sagte sie, verneigte sich und bot das Handtuch mit beiden Händen dar.
»Wir können froh sein, dass Friede herrscht«, sagte Kaede lächelnd und wischte sich das Gesicht ab. »Euer Vater hat die Kunst der Diplomatie erlernt und muss nicht mehr um sein Leben kämpfen!«
»Immerhin ist mir jetzt warm«, sagte Takeo und befahl einer der Wachen, die vom Garten aus zugeschaut hatten, mit einem Wink, die Stangen zu entfernen.
»Wir möchten noch mit dir kämpfen, Vater!«, bat Miki, die Zweitgeborene der Zwillinge. Sie ging zum Rand der Veranda und streckte der Wache die Hände hin. Der Mann achtete darauf, sie weder anzuschauen noch zu berühren, als er ihr die Stangen reichte.
Takeo bemerkte seine Scheu. Selbst erwachsene Männer, abgehärtete Soldaten, hatten Angst vor den Zwillingen – ja sogar, dachte er betrübt, ihre eigene Mutter.
»Ich würde gern sehen, was Shigeko gelernt hat«, sagte er. »Jede von euch beiden darf einmal gegen sie kämpfen.«
Seit einigen Jahren verbrachte seine älteste Tochter den Großteil des Jahres in Terayama, wo sie unter der Aufsicht des alten Abtes Matsuda Shingen, einst Takeos Lehrer, den Weg des Houou studierte. Sie war am Tag zuvor in Inuyama eingetroffen, um das Neujahrsfest und ihre Volljährigkeit gemeinsam mit ihrer Familie zu feiern. Takeo beobachtete sie, als sie nach der Stange griff, die er benutzt hatte, damit Miki die leichtere bekam. Schlank und scheinbar zart, wie sie war, ähnelte sie stark ihrer Mutter, hatte aber ein ganz eigenes Wesen, war handfest, fröhlich und standhaft. Der Weg des Houou erforderte strengste Disziplin, und ihre Lehrer ließen weder ihr Alter noch ihr Geschlecht gelten. Trotzdem hatte Shigeko Unterricht und Training und die langen Tage der Stille und Einsamkeit freudig und voller Hingabe auf sich genommen. Sie war aus freien Stücken nach Terayama gegangen, denn der Weg des Houou war ein Weg des Friedens, und von Kindesbeinen an hatte sie ihres Vaters Vision von einem friedvollen Land geteilt, in dem die Gewalt niemals die Oberhand gewinnen sollte.
Ihre Art zu kämpfen unterschied sich sehr von jener, die man ihn gelehrt hatte, und er liebte es, ihr dabei zuzusehen, nahm wohlwollend zur Kenntnis, wie man die traditionellen Arten des Angreifens in eine Selbstverteidigung umgewandelt hatte, deren Ziel darin bestand, den Gegner zu entwaffnen, ohne ihn zu verletzen.
»Schummeln gilt nicht«, sagte Shigeko zu Miki, denn die Zwillinge besaßen alle Stammesfähigkeiten ihres Vaters – seiner Vermutung nach sogar noch mehr. Nun, da sie dreizehn wurden, entwickelten sich diese Fähigkeiten in raschem Tempo, und obwohl man den Zwillingen verboten hatte, sie im Alltag zu gebrauchen, war die Verlockung, ihren Lehrern einen Streich zu spielen oder ihre Diener hinters Licht zu führen, manchmal einfach zu groß.
»Warum darf ich Vater nicht zeigen, was ich gelernt habe?«, fragte Miki, denn auch sie war kürzlich von ihrem Training zurückgekehrt – bei der Mutofamilie im Dorf des Stammes. Maya, ihre Schwester, würde nach den Feierlichkeiten wieder dorthin reisen. Es kam nicht mehr oft vor, dass die ganze Familie beisammen war, denn die unterschiedliche Ausbildung der Kinder und die Tatsache, dass ihre Eltern allen Drei Ländern die gleiche Aufmerksamkeit widmen mussten, bedeuteten ständiges Reisen und häufige Trennungen. Das Regieren wurde immer anspruchsvoller: Verhandlungen mit den Fremden, Expeditionen und Handel, die Instandhaltung und Fortentwicklung der Waffen, die Aufsicht über die Lokalbezirke, die ihre Verwaltung selbst organisierten, landwirtschaftliche Experimente, die Einfuhr neuer Technologien und das Anwerben ausländischer Handwerker, die Gerichtstage, an denen Beschwerden und Sorgen angehört wurden. Takeo und Kaede schulterten diese Last zu gleichen Teilen, sie war in erster Linie für den Westen verantwortlich, er für das Mittlere Land, und gemeinsam kümmerten sie sich um den Osten, wo Kaedes Schwester Ai und deren Mann, Sonoda Mitsuru, über die frühere Tohandomäne herrschten.
Miki war einen halben Kopf kleiner als ihre Schwester, aber sehr kräftig und schnell. Im Vergleich schien Shigeko sich kaum zu bewegen, doch dem jüngeren Mädchen gelang es trotzdem nicht, ihre Abwehr zu durchbrechen, und schon nach wenigen Augenblicken hatte Miki ihre Stange verloren: Es sah aus, als flöge sie aus ihren Fingern, und als sie durch die Luft sauste, fing Shigeko sie mühelos auf.
»Du hast geschummelt!«, keuchte Miki.
»Lord Gemba hat mich diesen Trick gelehrt«, sagte Shigeko stolz.
Der andere Zwilling, Maya, probierte es als Nächstes und mit dem gleichen Ergebnis.
Shigeko, die Wangen gerötet, sagte: »Vater, jetzt möchte ich mit dir kämpfen!«
»Nun gut«, willigte er ein, denn was sie gelernt hatte, beeindruckte ihn, und er war neugierig, ob es der Kraft eines geübten Kriegers standhielt.
Er griff sie rasch an, ohne zu zögern, und sie wurde von seinem ersten Ausfall überrumpelt. Seine Stange berührte ihre Brust. Er dämpfte die Wucht des Schlages, um sie nicht zu verletzen.
»Ein Schwert hätte dich getötet«, sagte er.
»Noch einmal«, erwiderte sie gelassen, und diesmal war sie auf ihn vorbereitet. Sie bewegte sich leichtfüßig und schnell, wich zwei Schlägen aus und traf ihn rechts, an seiner schwächeren Hand, was ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Dann warf sie ihren Körper herum, und seine Stange fiel zu Boden.
Er hörte, wie die Zwillinge und die Wache einen Laut des Erstaunens ausstießen.
»Gut gemacht«, sagte er.
»Du hast dir nicht wirklich Mühe gegeben«, sagte Shigeko enttäuscht.
»Das habe ich sehr wohl. Genau wie beim ersten Mal. Aber natürlich war ich erschöpft vom Kampf mit deiner Mutter, und außerdem bin ich alt und nicht ganz in Form!«
»Nein«, rief Maya. »Shigeko hat gewonnen!«
»Aber das ist wie Schummeln«, sagte Miki ernst. »Wie machst du das?«
Shigeko schüttelte lächelnd den Kopf. »Es hat mit der Kraft der Gedanken, des Geistes und der Hand zu tun, alles zusammen. Ich habe Monate gebraucht, um es zu lernen. Ich kann euch das nicht zeigen.«
»Du hast dich sehr gut geschlagen«, sagte Kaede. »Ich bin stolz auf dich.« Ihre Stimme war voller Liebe und Bewunderung – wie immer, wenn es um ihre älteste Tochter ging.
Die Zwillinge wechselten einen Blick.
Sie sind eifersüchtig, dachte Takeo. Sie wissen, dass ihre Mutter sie nicht mit der gleichen Kraft liebt. Und wieder überkam ihn das vertraute Bedürfnis, seine jüngeren Töchter zu schützen. Er schien immer zu versuchen, sie vor Schaden zu bewahren – seit der Stunde ihrer Geburt, als Chiyo die Zweitgeborene, Miki, hatte fortbringen und dem Tod überlassen wollen. So verfuhr man mit Zwillingen, und in weiten Teilen des Landes hielt man sich vermutlich noch immer an diesen Brauch, denn man fand es unnatürlich, wenn Menschen Zwillinge gebaren. Dies war etwas, das man eher mit Tieren in Verbindung brachte, mit Katzen oder Hunden.
»Sie mögen das grausam finden, Lord Takeo«, hatte Chiyo ihn gewarnt. »Aber es ist besser, jetzt zu handeln, als später die Schande und das Unglück zu erdulden, die Sie nach Ansicht der Leute als Vater von Zwillingen heimsuchen werden.«
»Wie sollen die Leute je Aberglauben und Grausamkeit überwinden, wenn wir ihnen kein Vorbild sind?«, hatte er zornig erwidert, denn als jemand, der in die Gemeinschaft der Verborgenen hineingeboren worden war, war ihm das Leben eines Kindes mehr wert als alles andere. Er konnte nicht glauben, dass es Missfallen oder Unglück heraufbeschwören würde, wenn man das Leben eines Kindes verschonte.
Doch im Nachhinein überraschte ihn die Macht dieses Aberglaubens. Selbst Kaede war nicht frei davon, und ihr Verhalten gegenüber ihren jüngeren Töchtern spiegelte ihre Zwiespältigkeit. Sie hatte es lieber, wenn die beiden voneinander getrennt lebten, und genauso war es auch die meiste Zeit im Jahr. Normalerweise war immer eine der beiden beim Stamm, und Kaede hatte eigentlich nicht gewollt, dass beide an der Feier zur Volljährigkeit ihrer älteren Schwester teilnahmen, weil sie fürchtete, sie könnten Shigeko Unglück bringen. Doch Shigeko, die den Zwillingen gegenüber die gleichen Beschützerinstinkte hegte wie ihr Vater, hatte auf ihrer Anwesenheit bestanden. Takeo war froh darüber, denn er war am glücklichsten, wenn die ganze Familie zusammenkam und bei ihm war. Er sah sie alle voller Zuneigung an und spürte, dass dieses Gefühl von etwas Leidenschaftlicherem überwältigt wurde: dem Verlangen, neben seiner Frau zu liegen und ihre Haut an der seinen zu spüren. Der Fechtkampf mit den Stangen hatte Erinnerungen daran geweckt, wie er sich damals in sie verliebt hatte, an das erste Mal, als sie in Tsuwano zur Übung gegeneinander gekämpft hatten, er als Siebzehnjähriger, sie als Fünfzehnjährige. Und in Inuyama, fast genau an dieser Stelle, hatten sie zum ersten Mal beieinandergelegen, getrieben von einer Leidenschaft, die Verzweiflung und Trauer entsprungen war. Die frühere Residenz, Iida Sadamus Schloss und der erste Nachtigallenboden waren beim Fall Inuyamas zerstört worden, doch Arai Daiichi hatte alles ganz ähnlich wiederaufgebaut, und nun war Inuyama eine der berühmten Vier Städte in den Drei Ländern.
»Die Mädchen sollten sich vor dem heutigen Abend noch einmal ausruhen«, sagte er, denn um Mitternacht fänden an den Schreinen langwierige Zeremonien statt, gefolgt vom Neujahrsfest. Sie würden nicht vor der Stunde des Tigers schlafen. »Ich lege mich auch ein bisschen hin.«
»Ich lasse Kohlenbecken ins Zimmer bringen«, sagte Kaede, »und komme gleich zu dir.«
Als sie zu ihm kam, war das Tageslicht schon verblasst, und die frühe Dämmerung des Winters war angebrochen. Trotz der Becken, in denen die Holzkohle glühte, war ihr Atem in der eiskalten Luft ein weißes Wölkchen. Sie hatte gebadet und ihre Haut roch nach dem Wasser, das mit Reiskleie und Aloe versetzt worden war. Unter dem gesteppten Wintergewand war ihr Körper warm. Er band ihre Schärpe auf und schob die Hände unter den Stoff, zog sie dicht zu sich heran. Dann löste er den Schal, der ihren Kopf bedeckte, zog ihn herab und strich mit der Hand über das kurze, seidige Haar.
»Lass das«, sagte sie. »Es ist so hässlich.« Er wusste, dass sie sich nie mit dem Verlust ihrer herrlichen langen Haare abgefunden hatte und auch nicht mit den Narben auf ihrem weißen Nacken, die jene Schönheit entstellten, die einst Gegenstand von Legenden und Aberglaube gewesen war. Doch er nahm diese Entstellung gar nicht wahr, sondern nur ihre gesteigerte Verletzlichkeit, die sie in seinen Augen noch schöner machte.
»Mir gefällt es. Es ist wie bei einem Schauspieler. Du siehst damit männlich und weiblich zugleich aus, erwachsen, aber auch wie ein Kind.«
»Dann musst du mir auch deine Narben zeigen.« Sie zog den Seidenhandschuh ab, den er für gewöhnlich an der rechten Hand trug, und hob die Fingerstümpfe an ihre Lippen. »Habe ich dir vorhin weh getan?«
»Eigentlich nicht. Es war bloß das Übliche – jeder Schlag erschüttert die Gelenke und weckt den Schmerz.« Er fügte leise hinzu: »Aber vom Schmerz abgesehen ist noch etwas anderes in mir geweckt worden.«
»Das kann ich lindern«, flüsterte sie, zog ihn zu sich heran, öffnete sich ihm, nahm ihn in sich auf, erwiderte sein drängendes Begehren mit dem ihren und verschmolz voller Zärtlichkeit mit ihm. Sie liebte das vertraute Gefühl seiner Haut, seines Haares, seines Duftes, und sie liebte auch das Fremdartige, das jedes Mal, wenn sie miteinander schliefen, eine neue Erfahrung darstellte.
»Du linderst immer meine Schmerzen«, sagte er hinterher. »Du gibst mir das Gefühl, ganz zu sein.«
Sie lag in seinen Armen, den Kopf an seiner Schulter. Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. An eisernen Haltern brannten Lampen, doch der Himmel jenseits der Fensterläden war dunkel.
»Vielleicht haben wir einen Sohn gezeugt«, sagte sie und konnte die Sehnsucht in ihrer Stimme nicht unterdrücken.
»Hoffentlich nicht!«, rief Takeo aus. »Meine Kinder hätten dich zweimal fast das Leben gekostet. Wir brauchen keinen Sohn«, fügte er unbeschwerter hinzu. »Wir haben drei Töchter.«
»Das Gleiche habe ich einmal zu meinem Vater gesagt«, gestand Kaede. »Ich glaubte, es mit jedem Jungen aufnehmen zu können.«
»Shigeko kann das bestimmt«, sagte Takeo. »Sie wird die Drei Länder erben und nach ihr ihre Kinder.«
»Ihre Kinder! Sie kommt mir selbst immer noch vor wie ein Kind, obwohl sie bald alt genug für eine Heirat ist. Ob wir je einen Gatten für sie finden?«
»Da gibt es keinen Grund zur Eile. Sie ist eine Kostbarkeit, ein fast unbezahlbares Juwel. Wir werden sie nicht so einfach fortgeben.«
Kaede wandte sich wieder dem ursprünglichen Thema zu, als könnte sie nicht davon lassen. »Ich sehne mich so danach, dir einen Sohn zu schenken.«
»Trotz deines Erbes und Lady Maruyamas Vorbild! Du redest immer noch wie die Tochter einer Kriegerfamilie.«
Dunkel und Stille brachten sie dazu, sich noch weiter zu öffnen. »Manchmal glaube ich, dass die Zwillinge meinen Leib versiegelt haben. Ich glaube, wenn sie nicht geboren worden wären, hätte ich Söhne bekommen.«
»Du gibst zu viel auf das abergläubische Geschwätz alter Weiber!«
»Wahrscheinlich hast du recht. Aber was soll aus unseren jüngeren Töchtern werden? Sie kommen ja wohl kaum als Erbinnen in Frage, falls Shigeko etwas zustoßen sollte, was der Himmel verhüten möge. Und wen werden sie heiraten? Weder eine Adelsfamilie noch die Familie eines Kriegers wird es riskieren, einen Zwilling aufzunehmen, und dann auch noch jemanden, der den Makel hat – vergib mir –, vom Blut des Stammes zu sein und Fähigkeiten zu besitzen, die so sehr der Hexerei gleichen.«
Takeo konnte nicht leugnen, dass er sich oft die gleichen Sorgen machte, versuchte aber, sie zu verdrängen. Die Mädchen waren noch so jung – wer konnte wissen, was das Schicksal für sie bereithielt?
Nach einer Weile sagte Kaede leise: »Vielleicht sind wir beide ja auch schon zu alt. Jeder wundert sich, dass du dir keine zweite Frau oder eine Konkubine nimmst, mit der du noch mehr Kinder bekommen kannst.«
»Ich will nur eine Frau«, sagte er voller Ernst. »Welche Gefühle ich auch vorgetäuscht habe, welche Rollen ich auch gespielt habe, meine Liebe zu dir ist ehrlich und wahr – ich werde nie bei einer anderen liegen als bei dir. Du weißt doch, dass ich Kannon in Ohama etwas gelobt habe. Dieses Gelöbnis habe ich sechzehn Jahre gehalten. Und ich werde es auch jetzt nicht brechen.«
»Ich glaube, ich würde vor Eifersucht vergehen«, gestand Kaede. »Aber angesichts dessen, was wichtig für das Land ist, zählen meine Gefühle nichts.«
»Meiner Meinung nach besteht die Grundlage unserer guten Regentschaft darin, dass wir in Liebe miteinander verbunden sind. Ich werde ganz bestimmt nichts tun, was das gefährdet«, antwortete Takeo. Er zog sie wieder dichter zu sich heran und strich sanft über ihren vernarbten Nacken, wobei er das harte, schrundige, von den Flammen verbrannte Gewebe spürte. »Solange wir vereint sind, wird unser Land friedlich und stark bleiben.«
Kaede klang schon schläfrig. »Weißt du noch, wie wir in Terayama auseinandergegangen sind? Du hast mir in die Augen geschaut, und ich bin eingeschlafen. Das habe ich dir nie erzählt. Ich habe von der Weißen Göttin geträumt – sie hat zu mir gesprochen. Hab Geduld, hat sie gesagt, er wird dich holen. Und in den Heiligen Höhlen hat sie mir noch einmal das Gleiche gesagt. Ohne diese Worte hätte ich die Gefangenschaft bei Lord Fujiwara nicht überstanden. Dort habe ich Geduld gelernt. Ich war gezwungen zu lernen, wie man wartet, wie man nichts tut, um ihm keinen Vorwand zu bieten, mich zu töten. Und später, als er tot war, wollte ich nur an einen Ort: zurück zu den Höhlen, zurück zur Göttin. Wenn du nicht gekommen wärst, hätte ich ihr dort für den Rest meines Lebens gedient. Aber du bist gekommen: Ich habe dich gesehen, so mager, immer noch mit dem Gift im Körper, deine schöne Hand verkrüppelt. Diesen Augenblick vergesse ich nie – deine Hand auf meinem Nacken, der fallende Schnee, der gellende Ruf des Reihers …«
»Ich verdiene deine Liebe nicht«, flüsterte Takeo.
»Sie ist der größte Segen meines Lebens, und ohne dich kann ich nicht leben. Du weißt ja, dass auch mein Leben im Zeichen einer Prophezeiung stand …«
»Das hast du mir erzählt. Und alles hat sich erfüllt: die fünf Schlachten, wie die Erde dir beisprang …«
Jetzt erzähle ich ihr den Rest, dachte Takeo. Ich erzähle ihr, dass ich keine Söhne will, weil mir die blinde Seherin prophezeit hat, ich könne nur durch die Hand meines Sohnes sterben. Ich erzähle ihr von Yuki und dem Kind, das sie geboren hat, von meinem Sohn, der inzwischen sechzehn Jahre alt ist.
Doch er brachte es nicht über das Herz, seiner Frau weh zu tun. Welchen Sinn hatte es, in der Vergangenheit zu wühlen? Die fünf Schlachten waren in den Mythos der Otori eingegangen, obwohl er natürlich wusste, dass er diese Schlachten auf seine Weise gezählt hatte: Es hätten auch sechs oder vier oder drei sein können. Worte konnte man drehen und wenden, bis sie alles Mögliche bedeuteten. Wenn man an eine Prophezeiung glaubte, erfüllte sie sich oft. Und nun schwieg er, weil er den Worten kein Leben einhauchen wollte.
Er sah, dass Kaede fast eingeschlafen war. In Kürze würde er aufstehen, ein Bad nehmen, die offiziellen Gewänder anlegen und sich auf die Zeremonien vorbereiten, mit denen man das Neue Jahr begrüßte. Ihm stand eine lange Nacht bevor. Allmählich entspannten sich seine Glieder, und auch er schlief ein.
Den Zugang zum Tempel von Inuyama mochten alle drei Töchter Lord Otoris ganz besonders gern, denn er war von Hundestatuen gesäumt, zwischen denen Steinlaternen standen, in denen anlässlich der großen Feste bei Nacht Hunderte von Lampen brannten. In ihrem flackernden Schein wirkten die Hunde fast lebendig. Die Luft war so kalt, dass Gesichter, Finger und Zehen taub wurden. Sie war rauchgeschwängert, erfüllt von Weihrauch und dem Duft frisch geschlagener Kiefern.
Gläubige, die den ersten heiligen Besuch des Neuen Jahres machten, standen auf den steilen, zum Tempel führenden Stufen Schlange, und oben schlug die große Glocke und jagte Shigeko einen Schauder über den Rücken. Ihre Mutter war ihr ein paar Schritte voraus, sie ging neben Muto Shizuka, ihrer liebsten Gefährtin. Shizukas Mann, Dr. Ishida, bereiste wieder einmal das Festland. Er wurde nicht vor dem Frühjahr zurück erwartet. Shigeko freute sich darüber, dass Shizuka den Winter mit ihnen verbrachte, denn sie war einer der wenigen Menschen, den die Zwillinge achteten und auf den sie hörten. Und Shizuka wiederum, dachte Shigeko, hatte die beiden in ihr Herz geschlossen und verstand sie.
Die Zwillinge gingen neben Shigeko, eine rechts, eine links. Hin und wieder starrte sie jemand aus der Menge an und wich zurück, um nicht aus Versehen mit ihnen zusammenzustoßen. Doch den meisten Besuchern fielen sie im Zwielicht gar nicht auf.
Shigeko wusste, dass an der Spitze und am Ende des Zuges Wachen marschierten und dass Shizukas Sohn, Taku, auf ihren Vater achtgeben würde, wenn dieser die Zeremonien im Haupttempel ausführte. Sie hatte keine Angst. Shizuka und ihre Mutter waren mit kurzen Schwertern bewaffnet, und sie selbst hatte einen sehr nützlichen Stock in ihrem Gewand versteckt, mit dem sie einen Mann außer Gefecht setzen konnte, ohne ihn zu töten. Ein Trick, den ihr Lord Miyoshi Gemba beigebracht hatte, einer ihrer Lehrer in Terayama. Ein wenig hoffte sie sogar darauf, ihn ausprobieren zu können, aber das war eher unwahrscheinlich.
Trotzdem hatten Nacht und Dunkelheit etwas an sich, das sie auf der Hut sein ließ. Hatten ihre Lehrer ihr nicht ständig eingeschärft, ein Krieger müsse immer bereit sein, damit der Tod – sei es der des Gegners, sei es der eigene – durch Wachsamkeit verhindert werden konnte?
Sie erreichten die Haupthalle des Tempels, in der Shigeko die Gestalt ihres Vaters erblickte, winzig im Verhältnis zur hohen Decke und zu den großen Statuen der Herrscher des Himmels, den Wächtern der nächsten Welt. Kaum zu glauben, dass diese würdevolle Person, die so ernst vor dem Altar saß, derselbe Mann war, gegen den sie am Nachmittag auf dem Nachtigallenboden gekämpft hatte. Sie wurde von Liebe und Achtung für ihn überwältigt.
Nachdem sie vor dem Erleuchteten gebetet und ihre Gaben dargebracht hatten, entfernten sich die Frauen nach links und stiegen auf dem Berg noch ein wenig höher zum Tempel von Kannon, der großen Gnädigen. Dort blieben die Wachtposten draußen vor dem Tor stehen, weil das Betreten des Hofes nur Frauen erlaubt war.
Doch als Shigeko sich auf die Holzstufe vor der glänzenden Statue kniete, zupfte Miki ihre ältere Schwester am Ärmel. »Shigeko«, flüsterte sie. »Was hat der Mann hier zu suchen?«
»Wo ist hier?«
Miki zeigte zum Ende der Veranda. Von dort kam eine junge Frau auf sie zu, die allem Anschein nach ein Geschenk trug. Sie fiel vor Kaede auf die Knie und hielt ihr das Tablett hin.
»Nicht anrühren!«, rief Shigeko. »Wie viele Männer, Miki?«
»Zwei«, rief Miki. »Und sie haben Messer!«
In diesem Moment sah Shigeko die beiden. Sie sausten durch die Luft, sprangen auf die Frauen zu. Sie schrie noch einmal eine Warnung und zog ihren Stock.
»Sie werden Mutter töten!«, schrie Miki.
Doch Kaede war schon durch Shigekos ersten Ruf alarmiert worden. Sie hatte das Schwert in der Hand. Das Mädchen warf ihr das Tablett ins Gesicht und zog seine Waffe, doch Shizuka wehrte den ersten Hieb ab, und als die Waffe im hohen Bogen davonflog, wandte sie sich zu den Männern um. Kaede packte die Frau, warf sie zu Boden und hielt sie fest.
»Maya, ihr Mund!«, rief Shizuka. »Sie darf das Gift nicht schlucken.«
Die Frau schlug und trat, doch Maya und Kaede zwängten ihr den Mund auf, und Maya ertastete die Giftkapsel darin und zog sie heraus.
Shizukas nächster Hieb traf einen der Männer, und sein Blut strömte über Stufen und Fußboden. Wie von Gemba gelernt, schlug Shigeko den anderen seitlich auf den Hals, und als er herumtaumelte, ließ sie den Stock zwischen seinen Beinen nach oben und direkt in seine Genitalien sausen. Er knickte ein und erbrach sich vor Schmerz.
»Nicht töten!«, rief sie Shizuka zu, doch der Verwundete war in die Menge geflohen. Die Wachen holten ihn zwar ein, konnten ihn aber nicht vor dem aufgebrachten Mob retten.
Shigeko war nicht so sehr betroffen wegen des Überfalls, sondern eher erstaunt über dessen Plumpheit und Scheitern. Sie hatte gedacht, dass Attentäter viel gefährlicher seien, aber als die Wachtposten den Hof betraten, um die zwei Überlebenden zu fesseln und wegzuführen, sah sie im Schein der Laternen ihre Gesichter.
»Sie sind jung! Nicht viel älter als ich!«
Der Blick des Mädchens begegnete dem ihren. Den Hass, der daraus sprach, würde sie nie vergessen. Zum ersten Mal hatte Shigeko gegen Gegner gekämpft, die ihren Tod wollten. Sie begriff, dass sie um ein Haar getötet hätte, und empfand sowohl Dankbarkeit als auch Erleichterung, weil sie diesen zwei jungen Menschen, die nur wenig älter waren als sie, nicht das Leben genommen hatte.
»Das sind Gosaburos Kinder«, sagte Takeo, als er sie erblickte. »Als ich sie zuletzt in Matsue gesehen habe, waren sie noch klein.« Ihre Namen standen im Stammbaum der Kikutafamilie, enthalten in den Aufzeichnungen über den Stamm, die Shigeru vor seinem Tod zusammengetragen hatte. Bei dem Jungen handelte es sich um den jüngeren Sohn, Yuzu, bei dem Mädchen um Ume. Der Tote, Kunio, war der Älteste der drei und einer der Jungen, mit denen Takeo trainiert hatte.
Es war der erste Tag im Jahr. Man hatte ihm die Gefangenen in einer der Wachstuben im untersten Geschoss des Schlosses von Inuyama vorgeführt. Sie knieten vor ihm, die Gesichter bleich vor Kälte, aber unbewegt. Ihre Arme waren gefesselt, und sie wirkten hungrig und durstig, waren aber nicht misshandelt worden. Nun musste er über ihr Schicksal entscheiden.
Seine anfängliche Wut über das Attentat auf seine Familie war durch die Hoffnung gemildert worden, dass ihm diese Situation irgendwie von Nutzen sein könnte. Vielleicht würde dieser nach all den anderen Versuchen neuerlich gescheiterte Überfall die Kikutafamilie, die ihn vor Jahren zum Tode verurteilt hatte, doch noch zur Aufgabe, zu irgendeinem Friedensschluss bewegen.
Ich bin ihnen gegenüber zu träge gewesen, dachte er. Ich habe mir eingebildet, ihre Überfälle könnten mir nichts anhaben. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie mich auf dem Umweg über meine Familie treffen könnten.
Beim Gedanken an das, was er gestern Kaede gesagt hatte, überkam ihn eine ganz neue Angst. Er glaubte nicht, dass er ihren Tod, ihren Verlust überleben würde. Genauso wenig wie das ganze Land.
»Haben sie euch etwas erzählt?«, fragte er Muto Taku. Taku, inzwischen im sechsundzwanzigsten Lebensjahr, war der jüngere Sohn Muto Shizukas. Sein Vater war Arai Daiichi gewesen, der große Kriegsherr, Takeos Verbündeter und Rivale. Takus älterer Bruder, Zenko, hatte die Ländereien seines Vaters im Westen geerbt, und Takeo hätte Taku gern auf ähnliche Art belohnt. Doch der jüngere Mann lehnte ab und sagte, es verlange ihn nicht nach Land und Ehren. Er zog es vor, gemeinsam mit Kenji, dem Onkel seiner Mutter, das Netzwerk von Spionen und Spitzeln zu kontrollieren, das Takeo innerhalb des Stammes aufgebaut hatte. Taku war eine Zweckehe mit einem Tohanmädchen eingegangen, das er mochte und das ihm bereits einen Sohn und eine Tochter geschenkt hatte. Man unterschätzte ihn gern, was ihm sehr gelegen kam. In Statur und Aussehen kam er nach der Mutofamilie, in seinem Wagemut und seiner Tapferkeit nach den Arai, und das Leben im Allgemeinen schien eine unterhaltsame und angenehme Erfahrung für ihn zu sein.
Nun lächelte er, als er antwortete. »Nichts. Sie verweigern jede Auskunft. Mich überrascht nur, dass sie noch leben – Sie wissen ja, die Kikuta töten sich, indem sie sich die Zunge abbeißen! Aber natürlich habe ich noch nicht alles versucht, um sie zum Reden zu bringen.«
»Ich muss dich wohl nicht daran erinnern, dass Folter in den Drei Ländern verboten ist.«
»Natürlich nicht. Aber gilt das auch für die Kikuta?«
»Das gilt für alle«, erwiderte Takeo milde. »Sie haben sich des versuchten Mordes schuldig gemacht, und dafür werden sie hingerichtet. In der Zwischenzeit sollen sie anständig behandelt werden. Warten wir erst einmal ab, wie sehr sich ihr Vater um ihre Rückkehr bemüht.«
»Woher sind sie gekommen?«, fragte Sonoda Mitsuru. Er war mit Kaedes Schwester Ai verheiratet, und obwohl seine Familie, die Akita, Gefolgsleute der Arai gewesen waren, hatte man ihn während der allgemeinen Aussöhnung, die auf das Erdbeben gefolgt war, überzeugen können, den Otori die Treue zu schwören. Im Gegenzug hatten er und Ai die Domäne von Inuyama erhalten. »Wo hält sich dieser Gosaburo auf?«
»Wahrscheinlich in den Bergen hinter der östlichen Grenze«, sagte Taku, und Takeo sah, wie die Augen des Mädchens unmerklich die Form änderten.
»Dann werden vorerst keine Verhandlungen möglich sein, denn für die nächste Woche wird der erste Schnee erwartet«, bemerkte Sonoda.
»Im Frühling werden wir ihrem Vater schreiben«, entschied Takeo. »Es kann nicht schaden, wenn Gosaburo von der Ungewissheit über das Schicksal seiner Kinder geplagt wird. Vielleicht facht das seinen Eifer an, sie zu retten. Haltet ihre Identität in der Zwischenzeit geheim und sorgt dafür, dass sie zu niemand anderem als zu euch Kontakt haben.«
Er wandte sich an Taku. »Dein Großonkel ist in der Stadt, oder?«
»Ja. Er hätte gern im Tempel an den Feierlichkeiten zum Neuen Jahr teilgenommen, aber seine Gesundheit ist angegriffen, und von der kalten Nachtluft bekommt er Hustenanfälle.«
»Ich werde ihn morgen aufsuchen. Hält er sich im alten Haus auf?«
Taku nickte. »Er mag den Geruch der Brauerei. Er meint, dort falle ihm das Atmen leichter.«
»Ich nehme an, dabei hilft ihm auch der Wein«, erwiderte Takeo.
»Es ist die einzige Freude, die mir geblieben ist«, sagte Muto Kenji, der Takeos Becher füllte und ihm anschließend den Krug reichte. »Ishida rät mir zwar, weniger zu trinken, und meint, Alkohol sei schlecht für meine kranken Lungen, aber … er heitert mich auf, und ich schlafe auch besser.«
Takeo schenkte seinem alten Lehrer vom klaren, tückischen Wein ein. »Mir rät Ishida auch, weniger zu trinken«, gestand er, als sie beide einen tiefen Schluck nahmen. »Aber in meinem Fall lindert er die Gelenkschmerzen. Außerdem kann man nicht unbedingt behaupten, dass Ishida seinen eigenen Rat beherzigt. Warum also wir?«
»Wir sind zwei alte Männer«, sagte Kenji lachend. »Wer hätte damals, vor siebzehn Jahren, als du versucht hast, mich hier in diesem Haus zu töten, gedacht, dass wir einmal hier sitzen und uns über unsere Gebrechen unterhalten würden?«
»Sei dankbar, dass wir so lange überlebt haben!«, antwortete Takeo. Er ließ seinen Blick durch das kunstvoll gebaute Haus mit den hohen Decken, den Säulen aus Zedernholz und den Veranden und Fensterläden aus Zypressenholz schweifen. Es steckte voller Erinnerungen. »Dieses Zimmer ist viel gemütlicher als diese jämmerlichen Kammern, in denen ich eingesperrt war!«
Kenji lachte wieder. »Aber nur, weil du dich ständig wie ein wildes Tier aufgeführt hast! Die Mutofamilie hat den Luxus immer gemocht. Und die Jahre des Friedens, die Nachfrage nach unseren Waren haben uns sehr reich gemacht – dank dir, mein lieber Lord Otori.« Er prostete Takeo zu. Beide tranken noch einen Schluck und schenkten einander danach wieder ein.
»Es wird mir vermutlich leidtun, all dies zu verlassen. Ich glaube nicht, dass ich noch ein Neujahr erlebe«, gestand Kenji. »Aber du – du weißt, die Leute glauben, du wärst unsterblich!«
Takeo lachte. »Niemand ist unsterblich. Der Tod wartet auf mich wie auf jeden anderen. Aber meine Zeit ist noch nicht gekommen.«
Kenji war einer der wenigen Menschen, die über alles Bescheid wussten, was Takeo prophezeit worden war, einschließlich des Teils, den er geheim hielt: dass er nur durch die Hand seines eigenen Sohnes sterben konnte. Alle anderen Voraussagen hatten sich in gewisser Weise bewahrheitet: Fünf Schlachten hatten den Drei Ländern Frieden gebracht, und Takeo herrschte von Meer zu Meer. Das verheerende Erdbeben, das die letzte Schlacht beendet und Arai Daiichis Heer vernichtet hatte, konnte durchaus als himmlischer Wille gedeutet werden. Und bisher war niemand imstande gewesen, Takeo zu töten, was dem letzten Teil der Prophezeiung noch mehr Glaubwürdigkeit verlieh.
Takeo teilte viele Geheimnisse mit Kenji, der in Hagi sein Lehrer gewesen war und ihn in den Stammeskünsten unterrichtet hatte. Mit Kenjis Hilfe war Takeo in das Schloss von Hagi eingedrungen und hatte Shigerus Tod gerächt. Kenji war ein kluger, listiger Mann und bar jeder Sentimentalität, doch mit mehr Ehrgefühl als üblich im Stamm. Hinsichtlich der Natur des Menschen gab er sich keinen Illusionen hin und erkannte die schlechtesten Seiten der Menschen, sah hinter ihren edlen und hochherzigen Worten den Egoismus, die Eitelkeit, die Dummheit und die Gier. Daher war er ein fähiger Diplomat und Verhandlungsführer, und Takeo vertraute ihm seit langem voll und ganz. Kenji hatte keine persönlichen Bedürfnisse außer seiner Vorliebe für Wein und die Frauen der Vergnügungsviertel. Besitz, Reichtum oder Rang waren ihm offenbar gleichgültig. Er hatte sein Leben Takeo gewidmet und geschworen, ihm zu dienen. Und er empfand eine besondere Zuneigung für Lady Otori, die er bewunderte, eine tiefe Verbundenheit zu seiner Nichte Shizuka und eine gewisse Achtung für ihren Sohn Taku, den Herrn der Spione. Von seiner inzwischen verstorbenen Frau Seiko hatte er sich nach dem Tod seiner Tochter Yuki entfremdet, und an andere Menschen banden ihn weder Liebe noch Hass.
Seit dem Tod Arais und der Otorilords vor sechzehn Jahren hatte Kenji langsam und mit viel Geduld auf Takeos Ziel hingearbeitet: alle Quellen und Mittel der Gewalt der Regierung zu übertragen, um die Macht einzelner Krieger und die Gesetzlosigkeit von Räuberbanden einzudämmen. Kenji war es, der von der Existenz jener alten, geheimen Bünde gewusst hatte, die Takeo unbekannt gewesen waren – Treue zum Reiher, Wut des Weißen Tigers, Schmale Pfade der Schlange. Bauern und Dorfbewohner hatten sie während der Jahre der Anarchie gebildet. Diese Bünde nutzten und bauten sie nun so weit aus, dass sich das Volk auf dörflicher Ebene selbst organisieren, seine eigenen Anführer wählen und seine Klagen den Provinzgerichten vortragen konnte.
Diese Gerichte wurden von der Kriegerklasse verwaltet. Deren eher unmilitärisch gesinnte Söhne, gelegentlich auch Töchter, wurden an die großen Schulen von Hagi, Yamagata und Inuyama geschickt, damit sie dort das Ethos des Dienens, Buchführung und Wirtschaft, Geschichte und klassische Literatur studierten. Wenn sie dann in ihre Provinzen zurückkehrten, um ihre Ämter zu übernehmen, erhielten sie einen Rang und ein angemessenes Einkommen. Sie waren den Ältesten ihres jeweiligen Clans direkt verantwortlich, diese wiederum dem Oberhaupt des jeweiligen Clans. Die Oberhäupter trafen sich regelmäßig mit Takeo und Kaede, um über Politik zu diskutieren, Steuersätze festzulegen und für Ausbildung und Ausrüstung der Soldaten zu sorgen. Ein jeder musste einen Teil seiner besten Männer an die zentrale Truppe überstellen, halb Armee und halb Polizei, die gegen Räuber und andere Verbrecher vorging.
Kenji erledigte diese Verwaltungsarbeit mit großem Geschick und meinte, sie sei der uralten Hierarchie des Stammes nicht ganz unähnlich – und tatsächlich gelangten viele Netzwerke des Stammes jetzt unter Takeos Herrschaft, wenn auch mit zwei grundlegenden Unterschieden: Folter war verboten, und Mord und Bestechung wurden mit dem Tod bestraft. Letzteres war innerhalb des Stammes am schwersten durchzusetzen, und die Stammesangehörigen fanden wie immer Listen, um das Verbot der Bestechung zu umgehen, wagten jedoch nicht, mit großen Geldsummen zu handeln oder ihren Reichtum zur Schau zu stellen. Als Takeos Entschlossenheit, die Korruption auszurotten, sich immer mehr verstärkte und nachdrücklicher wurde, nahm selbst die Bestechung auf niedrigem Niveau ab. Da der Mensch nun einmal schwach ist, wurde sie durch etwas anderes ersetzt: den Austausch schöner und geschmackvoller Geschenke von verstecktem Wert, was wiederum Scharen von Handwerkern und Künstlern in die Drei Länder lockte, und zwar nicht nur von den Acht Inseln, sondern auch vom Festland, aus Silla, Shin und Tenjiku.
Nachdem das Erdbeben den Bürgerkrieg in den Drei Ländern beendet hatte, versammelten sich die Oberhäupter der verbliebenen Familien und Clans in Inuyama und huldigten Otori Takeo als ihrem Anführer und obersten Lord. Alle Blutfehden gegen ihn oder untereinander wurden für beendet erklärt, und es ergaben sich viele bewegende Szenen, als sich Krieger nach Jahrzehnten der Feindschaft aussöhnten. Doch sowohl Takeo als auch Kenji war bewusst, dass Krieger zum Kämpfen geboren waren, und die Frage war, gegen wen sie nun kämpfen sollten. Und wie sollte man sie beschäftigen, wenn sie nicht kämpften?
Einige kümmerten sich um die Grenze im Osten, doch dort tat sich wenig, und ihr größter Feind war die Langeweile. Einige begleiteten Terada Fumio und Dr. Ishida auf deren Entdeckungsreisen, beschützten die Handelsschiffe auf See und die Geschäfte und Speicherhäuser der Händler in fernen Häfen. Einige widmeten sich den Herausforderungen, die Takeo in Schwertkampf und Bogenschießen aufstellte, und stritten im Kampf von Mann zu Mann. Und einige wurden auserwählt, um sich der edelsten Form des Kampfes zu widmen: der Beherrschung des Selbst, dem Weg des Houou.
Diese Gemeinschaft, angesiedelt im Tempel von Terayama, dem spirituellen Mittelpunkt der Drei Länder, und geführt von Matsuda Shingen, dem uralten Abt, und Kubo Makoto, war eine Bergsekte, eine esoterische Religion, deren Lehren und Disziplin nur von Männern – und Frauen – von großer körperlicher und seelischer Stärke befolgt werden konnten. Die Gaben des Stammes waren angeboren – das hervorragende Sehvermögen, das scharfe Gehör, die Unsichtbarkeit, der Einsatz des zweiten Ichs –, aber auch viele andere Menschen besaßen ungeahnte Fähigkeiten, in deren Aufspürung und Verfeinerung die Aufgabe der Sekte bestand, die sich nach dem tief in den Wäldern um Terayama lebenden heiligen Vogel Weg des Houou nannte.
Als Erstes mussten die ausgewählten Krieger schwören, kein lebendes Geschöpf zu töten, weder Mücke noch Motte noch Mensch, selbst dann nicht, wenn es um ihr eigenes Leben ging. Kenji hielt dies für Irrsinn, denn er konnte sich nur allzu gut an die vielen Male erinnern, als er ein Messer in Herz oder Arterie gestoßen, die Garrotte zugezogen, Gift in einen Becher oder eine Schale, ja sogar in den offenen Mund eines Schlafenden geträufelt hatte. Wie viele? Er konnte sie nicht mehr zählen. Er empfand keine Reue wegen all der Menschen, die er in das nächste Leben geschickt hatte – denn irgendwann musste jeder Mensch sterben –, doch er begriff, welchen Mut es erforderte, sich der Welt unbewaffnet zu stellen, und erkannte, dass die Entscheidung, nicht zu töten, viel schwerer sein konnte als die Entscheidung, zu töten. Er war nicht unberührt vom Frieden und von der spirituellen Kraft Terayamas. In letzter Zeit bestand seine größte Freude darin, Takeo dorthin zu begleiten und Matsuda und Makoto Gesellschaft zu leisten.
Das Ende seines Lebens war nah, das wusste er. Er war alt, und allmählich verließen ihn Gesundheit und Kraft – seit Monaten plagte ihn ein Lungenleiden, und er spuckte regelmäßig Blut.
Also hatte Takeo sowohl den Stamm als auch die Krieger gezähmt. Nur die Kikuta widerstanden ihm, und sie versuchten nicht nur, ihn zu töten, sondern starteten immer wieder Angriffe von jenseits der Grenze, schmiedeten Bündnisse mit unzufriedenen Kriegern, verbreiteten haltlose Gerüchte und begingen wahllos Attentate, weil sie hofften, die Gemeinschaft so ins Wanken bringen zu können.
Takeo sprach wieder, diesmal ernster: »Dieser letzte Überfall hat mich mehr aufgerüttelt als jeder andere, denn er war nicht gegen mich, sondern gegen meine Familie gerichtet. Wenn meine Frau oder meine Kinder ums Leben kämen, würde das mich und die Drei Länder zerstören.«
»Genau das ist das Ziel der Kikuta, nehme ich an«, sagte Kenji gelassen.
»Werden sie jemals aufgeben?«
»Akio niemals. Sein Hass auf dich wird erst mit seinem Tod enden – oder deinem. Diesem Ziel hat er sein ganzes Leben gewidmet.« Kenjis Miene erstarrte und seine Lippen zuckten verbittert. Er trank noch einen Schluck. »Aber Gosaburo ist Kaufmann und daher von pragmatischem Wesen. Die Aussicht, sein Haus in Matsue und sein Geschäft zu verlieren, wird ihm nicht schmecken, und der mögliche Verlust seiner Kinder wird ihn schrecken – ein Sohn tot, der zweite Sohn und seine Tochter in deiner Hand. Wir müssten einen gewissen Druck auf ihn ausüben können.«
»Genau das dachte ich auch. Wir werden die beiden bis zum Frühling verschonen und dann abwarten, ob ihr Vater zu Verhandlungen bereit ist.«
»In der Zwischenzeit könnten wir ihnen ein paar nützliche Informationen entlocken«, brummte Kenji.
Takeo sah ihn über den Rand seines Bechers hinweg an.
»Schon gut, schon gut, vergiss meine Worte«, brummelte der alte Mann. »Aber du bist dumm, wenn du nicht die gleichen Methoden anwendest wie deine Feinde.« Er schüttelte den Kopf. »Ich wette, dass du immer noch Motten vor der Kerzenflamme rettest. Diese Sanftmut hat man dir nie austreiben können.«
Takeo lächelte nur leise. Die Lehren seiner Kindheit abzuschütteln war ihm schwergefallen. Durch die Erziehung bei den Verborgenen hatte er große Hemmungen, was das Töten von Menschen betraf. Doch im sechzehnten Lebensjahr hatte ihn das Schicksal auf den Pfad des Kriegers geführt. Er war Erbe eines großen Clans geworden, und nun war er das Oberhaupt der Drei Länder. Er hatte lernen müssen, den Weg des Schwertes zu gehen. Außerdem hatte ihn der Stamm, ja Kenji selbst viele Arten des Tötens gelehrt und versucht, sein angeborenes Mitgefühl zu ersticken. Bei seinem Bemühen, Shigerus Tod zu rächen und die Drei Länder im Frieden zu vereinen, hatte er zahllose Gewalttaten verübt, von denen er inzwischen viele tief bereute, und es hatte lange gedauert, bis er gelernt hatte, Härte und Mitgefühl miteinander zu vereinbaren. Im Grunde hatten sich erst durch Wohlstand und Stabilität der Länder sowie durch die Herrschaft des Rechts verlockendere Alternativen zu den blindwütigen Machtkämpfen der Clans ergeben.
»Ich würde gern den Jungen wiedersehen«, sagte Kenji unvermittelt. »Vielleicht ist es meine letzte Gelegenheit.« Er sah Takeo scharf an. »Weißt du schon, was du mit ihm anfängst?«
Takeo schüttelte den Kopf. »Was kann ich schon tun? Vermutlich möchte die Mutofamilie – ja, möchtest du selbst – ihn zurückhaben?«
»Natürlich. Aber wie Akio meiner Frau erzählt hat, die vor ihrem Tod Kontakt zu ihm hatte, würde er den Jungen eher töten als hergeben, ob an die Muto oder an dich.«
»Armer Junge. Welche Erziehung mag er gehabt haben!«, rief Takeo aus.
»Nun ja, selbst im besten Falle ist die Erziehung im Stamm sehr hart«, antwortete Kenji.
»Weiß er, dass ich sein Vater bin?«
»Das ist eines der Dinge, die ich herausfinden kann.«
»Für einen solchen Auftrag bist du nicht gesund genug«, sagte Takeo, aber da ihm niemand anderer einfiel, den er schicken konnte, klang er zögerlich.
Kenji grinste. »Meine schlechte Gesundheit ist noch ein Grund zu gehen. Wenn ich das Jahr sowieso nicht überlebe, kann ich dir wenigstens noch von Nutzen sein! Außerdem möchte ich meinen Enkelsohn noch einmal sehen, bevor ich sterbe. Sobald das Tauwetter einsetzt, breche ich auf.«