Dieter Kühn
Ich war Hitlers Schutzengel
Fiktionen
Fischer e-books
Dieter Kühn, 1935 geboren, lebt heute in Brühl bei Köln. Für seine Biographien, Romane, Erzählungen, Hörspiele und Übertragungen aus dem Mittelhochdeutschen (das ›Mittelalter-Quartett‹) erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Hermann-Hesse-Preis und den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Zuletzt erschienen der Roman ›Geheimagent Marlowe‹, die biographischen Studien ›Ein Mozart in Galizien‹ und die große Biographie ›Gertrud Kolmar‹.
Ein faszinierendes Gedankenspiel gegen alle historische Überlieferung
Hatte Hitler einen Schutzengel? Ausgerechnet Hitler? In Dieter Kühns ebenso provozierenden wie brillanten historischen Szenarios über das Ende Adolf Hitlers wird der Lauf der Geschichte umgekehrt: die Attentate von Georg Elser, Graf Stauffenberg und Henning von Tresckow gelingen, der Krieg kommt zum Stillstand und Hitlers Schutzengel ins Grübeln. Vier sehr verschiedene Varianten von Geschichte und ein faszinierendes Gedankenspiel gegen alle historische Überlieferung
Covergestaltung: Hißmann & Heilmann, Hamburg
Foto: Harald Braun/plainpicture
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2010
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ISBN 978-3-10-400302-3
GEORG ELSER! Kleinwüchsiger Schwabe mit wildem Haarschopf. Jahrgang 1903. Als Schreiner arbeitete er in verschiedenen Orten und Betrieben: in einer Möbeltischlerei, einer Möbelfabrik, bei einem Hersteller von Türen und Türrahmen, in einem Dornier-Werk, das Propeller aus Holz herstellte; er wechselte über in eine Armaturenfabrik, wurde Prüfer in der Versandabteilung, arbeitete in einer Uhrenfabrik. War zurückhaltend und blieb doch gesellig: in frühen Jahren als Mitglied im Trachtenverein »Oberrheintaler«, danach im Trachtenverein »Alpenrose«; trug zuweilen einen alpinen Hut mit Gamshaarpinsel; erwarb eine Konzertzither und nahm Unterricht; kaufte ein Akkordeon, ließ sich damit auch fotografieren; spielte bei Tanzveranstaltungen den Kontrabass.
Und er war Mitglied, obligatorisch, des Holzarbeiterverbandes; trat formell dem RFB bei, dem Roten Frontkämpferbund, wählte KPD, in der Hoffnung auf Verbesserungen der Lage von Arbeitern. Die Nationalsozialisten hasste er: Verweigerte den Deutschen Gruß, verließ den Raum, sobald eine Hitler-Rede übertragen wurde, wandte sich ab, wenn ein Aufmarsch nahte. »Ich lass mich eher erschießen, als dass ich für die Nazis auch nur einen Schritt mache.« Bei Aufforderungen zur Teilnahme an NS-Veranstaltungen konnte er ruppig werden: »Leck mich doch am Arsch!«
Zweierlei warf er der NS-Führung vor. Zum Ersten: Die Situation der Arbeiter wurde nach der Machtübernahme noch schlechter – Löhne blieben eingefroren auf dem Stand von 1932, der Zeit der Weltwirtschaftskrise, die fiskalischen Abgaben stiegen sukzessive an. Eine anonyme Grußbotschaft des Jahres 1935: »Weihnachten ohne Butter, / Vieh ohne Futter, / Führer ohne Frau, / Metzger ohne Sau, / Das ist Weihnachten im Dritten Reich? Heil Hitler!«
Der zweite Punkt, bald dominierend: Die unübersehbaren, unüberhörbaren Vorbereitungen auf einen neuen Krieg – nur zwanzig Jahre nach der Katastrophe des Ersten Weltkriegs. Elser befasste sich nur wenig mit Politik, las kaum Zeitung, doch er wusste: Hitler will Krieg. Diese Angst teilte er mit anderen. »Im Herbst 1938 wurde nach meinen Feststellungen in der Arbeiterschaft allgemein mit einem Krieg gerechnet.«
Elser sah nur eine Möglichkeit, den Krieg zu verhindern: Hitler musste beseitigt werden. Trotz aller taktischen, aller propagandistischen Vortäuschungen von Friedenspolitik sah er in Hitler den führenden Kriegstreiber. »Ich habe oft genug gehört, wie Georg über Hitler und den damals drohenden Krieg geschimpft hat«, berichtete später sein Bruder. Und Elser: »Ich war der Überzeugung, dass es bei dem Münchner Abkommen nicht bleibt, dass Deutschland anderen Ländern gegenüber noch weitere Forderungen stellen und sich andere Länder einverleiben wird und dass deshalb ein Krieg unvermeidlich ist.«
Seine Folgerung: »Die von mir angestellten Betrachtungen zeitigten das Ergebnis, dass die Verhältnisse in Deutschland nur durch eine Beseitigung der augenblicklichen Führung geändert werden könnten. Unter der Führung verstand ich die ›Obersten‹, ich meine damit Hitler, Göring und Goebbels. Durch meine Überlegungen kam ich zu der Überzeugung, dass durch die Beseitigung dieser drei Männer andere Männer an die Regierung kommen, die an das Ausland keine untragbaren Forderungen stellen, die kein fremdes Land einbeziehen wollen und die für eine Besserung der sozialen Verhältnisse der Arbeiterschaft Sorge tragen werden.«
Weiter: »Ich war davon überzeugt, dass der Nationalsozialismus die Macht in seinen Händen hatte und dass er diese nicht wieder hergeben werde. Ich war lediglich der Meinung, dass durch die Beseitigung der genannten drei Männer eine Mäßigung in der politischen Zielsetzung eintreten wird.«
Sodann: »Der Gedanke der Beseitigung der Führung ließ mich damals nicht mehr zur Ruhe kommen, und bereits im Herbst 1938 hatte ich aufgrund der immer angestellten Betrachtungen den Entschluss gefasst, die Beseitigung der Führung selbst vorzunehmen.« Verkürzt: »Den Hitler jag ich in die Luft!«
Seiner Mutter sagte er, nach der Verhaftung: »Ich hab den Krieg verhindern wollen.« Arthur Nebe, Chef des Reichskriminalpolizeiamtes, resümierte nach Verhören Elsers: »Kein ›Pazifist‹ im üblichen Sinne, dachte er ganz primitiv: Hitler ist der Krieg, und wenn dieser Mann weg ist, dann gibt es Frieden.«
ELSER WAR SICH RASCH IM KLAREN DARÜBER, dass ein Attentat auf Hitler nur bei einer öffentlichen Veranstaltung möglich war. Hier bot sich an: die jedes Jahr wiederholte Feier zum 9. November, in Erinnerung an Hitlers gescheiterten Putschversuch 1923 in München.
Anfang November 1938 fuhr Elser von seinem schwäbischen Geburts- und Wohnort Königsbronn in die bayerische Landeshauptstadt, inspizierte nach der Gedenkfeier den Saal im Bürgerbräukeller, registrierte die Position des Rednerpults vor einer der mittleren Säulen der Längsseite des Saales. »In den folgenden Wochen hatte ich mir dann langsam im Kopf zurechtgelegt, dass es am besten sei, Sprengstoff in jene bestimmte Säule hinter dem Rednerpodium zu packen und diesen Sprengstoff durch irgendeine Vorrichtung zur richtigen Zeit zur Entzündung zu bringen. Wie dieser Entzündungsapparat aussehen müsste, darüber war ich mir damals noch nicht im Klaren. Die Säule habe ich mir deshalb gewählt, weil die bei einer Explosion umherfliegenden Stücke die Leute am und um das Rednerpult treffen mussten. Außerdem dachte ich auch schon daran, dass vielleicht die Decke einstürzen könnte. Welche Personen allerdings um das Rednerpult bei der Veranstaltung sitzen, wusste ich nicht. Ich wusste aber, dass Hitler spricht, und nahm an, dass in seiner nächsten Nähe die Führung sitzt.«
Und Elser begann mit den Vorbereitungen. Als Arbeiter in der Heidenheimer Armaturenfabrik stellte er Presspulverstücke sicher. »Der Diebstahl wurde im Betrieb nicht bemerkt. Ich hatte die einzelnen Stückchen immer aus den Kisten, die bei den Pulverpressen standen, unauffällig und rasch weggenommen. Solange ich noch zu Hause wohnte, habe ich den sich ansammelnden Vorrat an Pulver in meinem Kleiderschrank in meiner Kammer aufbewahrt. Ich hatte das Pulver in ein Papier gewickelt, unten in den Schrank hineingelegt und das Päckchen mit Wäsche zugedeckt. Ich hatte mein Zimmer immer abgeschlossen.«
Nachdem er 250 Pulverplättchen gehortet hatte, suchte und fand er Arbeit im heimischen Steinbruch. Er verlud nach Sprengungen Steinbrocken auf eine Lore. Und behielt den Sprengmeister im Blick. Nach fast jeder Sprengung blieben ein paar der bereitgelegten Sprengpatronen liegen, und Elser griff zu. Ging sodann über zu nächtlichen Einbrüchen im »Betonhäuschen« des Sprengstofflagers. »Die Sprengpatronen und Sprengkapseln habe ich in dem stets von mir mitgeführten Rucksack nach Hause getragen und dort in einem Holzkoffer verwahrt, und zwar unter einem Doppelboden. Den Koffer habe ich stets versperrt, den Schlüssel führte ich bei mir.«
Als er insgesamt 105 Sprengpatronen und 125 Sprengkapseln gesammelt hatte, begann er, den Zünd- und Sprengmechanismus zu entwerfen. »Stundenlang bin ich an einzelnen Tagen über Skizzen, die ich immer selbst fertigte, gesessen und habe mir die Möglichkeit einer Sprengwirkung überlegt, d.h. wie der Apparat aussehen könnte.« Bald schon sah er eine Möglichkeit, »mit Hilfe von Gewehrmunition die Zündung einer Sprengkapsel zu bewirken«.
Er baute und erprobte im Garten des Elternhauses ein Modell, das später von Gestapobeamten folgendermaßen beschrieben wurde – hier im Auszug: »Das Brett wurde in dem Garten an einem Holzblock fest montiert, das bewegliche Klötzchen mit einer Schnur von Elser aus größerer Entfernung zurückgezogen und damit die Feder gespannt. Beim Loslassen der Schnur schnellte das auf dem Holzstab bleibende Klötzchen vor. Der an ihm befestigte Nagel schlug in der Art eines Gewehrschlagbolzens auf den Patronenboden und brachte Zündhütchen und Blattpulverladung der Patrone zur Entzündung und entzündete gleichzeitig die Sprengkapsel.«
Elser verschaffte sich Sprengkörper: eine Granathülse, zwei Uhrengewichte, die er ausbohren ließ. Für den Zeitzünder hatte er Uhrwerke bereitliegen. Er kündigte im Betrieb, nahm alle Ersparnisse an sich (350 bis 400 Reichsmark, in der Kaufkraft heute etwa 3500 bis 4000 Euro), fuhr Anfang August 1939 mit der Bahn nach München, mietete sich privat ein. »Während dieser ganzen Zeit von August 1939 bis November 1939 stand ich in keinem geordneten Arbeitsverhältnis. Ich war lediglich mit den vorbereitenden Arbeiten für meinen Anschlag beschäftigt.«
Er soll gleich weiter berichten – wenn auch im Amtsdeutsch, mit dem verhörende Beamte von Kriminalpolizei und Geheimpolizei seine schwäbisch intonierten und artikulierten Sätze überlagerten. »An den Tagen, an denen ich nachts im Bürgerbräukeller gearbeitet habe, begab ich mich jedes Mal gegen 20 bis 22 Uhr in den Wirtschaftsraum des Bürgerbräukellers, um dort mein Abendbrot einzunehmen. Ich aß nach der Karte und habe jedes Mal ein Glas Bier getrunken. Gegen 22 Uhr habe ich bezahlt. Ich verließ anschließend den Wirtschaftsraum, begab mich von da aus durch den Garderobenraum in den nicht verschlossenen Saal, begab mich dort über den hinteren Treppenaufgang auf die Galerie, ging diese bis zur rückwärtigen Front entlang und versteckte mich dort in einem Abstellraum. (…) In dem erwähnten Versteck hielt ich mich so lange auf, bis der Saal abgesperrt worden war. Es war dies stets in der Zeit zwischen 22.30 und 23.30. Ehe der Saal abgeschlossen wurde, wurden von Frau Merkel im Saal die dort sich aufhaltenden Katzen gefüttert. Die Galerie hat sie dabei nicht betreten. Anschließend wurde dreimal abgesperrt. Nach dem Abschließen des Saales begab ich mich von meinem Versteck aus unmittelbar an die Säule, wo ich den Einbau meines Apparates vornahm. Ich verblieb ständig die ganze Nacht im Saal. Der Saal wurde in der Zeit zwischen 7 und 8 Uhr morgens wieder geöffnet. Meine Arbeiten hatte ich zwischen 2 und 3 Uhr stets beendet, anschließend hielt ich mich bis zum Verlassen des Saales wieder in dem bereits erwähnten Versteck auf, in dem sich auch ein Stuhl befand. Dort habe ich bis zum Verlassen des Saales gedöst. Im August 1939 habe ich nach Öffnung des Saales diesen teils durch den Notausgang zum Garten verlassen.«
Bange Minuten: »In den ersten Wochen kam es einmal vor, dass der Saal geöffnet wurde, wo, habe ich nicht gesehen, und dass ein Mann mit einer Taschenlampe durch den Saal und durch die Galerie gegangen ist. Ich habe mich damals sofort in meinem Versteck versteckt gehalten. Mein Versteck wurde von diesem nicht kontrolliert. Bis Kriegsbeginn hielten sich in dem Saal auch zwei freilaufende Hunde auf. Diese haben wohl manchmal gebellt, gestellt wurde ich von diesen jedoch nie. Später stellte ich vor die Türe, durch die sich die Hunde in den Saal begeben konnten, einen Stuhl.«
Die erste Arbeit bestand darin, die Holzverkleidung der Säule auf der Galerie zu lösen (auch dort oben standen Tische für Gäste). Der versierte Schreiner: »Ich konnte ein Teilbrett der Säulenverkleidung so aussägen, dass nach Wiederanbringung der Leisten keine Sägeschnittstellen zu sehen waren. Dieses zugeschnittene Brett richtete ich dadurch zu einer Türe ein, dass ich es im Säulenwinkel durch ein je oben und unten angebrachtes Zapfenband drehbar machte. (…) Selbst wenn jemand die Säule tagsüber ganz genau betrachtet hätte, würde er an ihr keinerlei Veränderung bemerkt haben. Die weitere Arbeit an der mit Backstein aufgestellten Säule habe ich mit Meißel, Bohrwinde und Meißelbohrer ausgeführt. Um die Steine später ausbrechen zu können, habe ich mir in einem Werkzeugladen einen Maurermeißel gekauft. Die Backsteine konnte ich nur dadurch entfernen, dass ich in die mit hartem Mörtel ausgefüllten Backsteinfugen mittels Bohrwinde und Meißelbohrer nahe beieinanderliegende Löcher bohrte, den stehengebliebenen Mörtel mit dem Meißel ausbrach und dann die Backsteine mittels längerem Meißel (Hebelarm) stückweise herausbrach. Da in dem Mörtel ziemlich grobe Steine enthalten waren, die jedes Mal, wenn auf sie der Bohrer traf, richtig krachten, habe ich, um den Schall etwas abzudämpfen, ein Stück Tuch um den hinteren Teil des Bohrers gewickelt und bei der Arbeit fest gegen den Stein gedrückt. Ich wollte so den Schall etwas abhalten, da der kleinste Laut in dem leeren Saal bei Nacht ziemlich stark widerhallte. Ich musste überhaupt sehr vorsichtig zu Werke gehen, und deshalb hat die Arbeit auch so lange gedauert. Ich musste bei jedem Brechen und bei jeder Drehung des Bohrers aufpassen, möglichst kein Geräusch zu verursachen. Wenn ich zum Beispiel einen Stein auszubrechen hatte, was immer das größte Geräusch verursachte, habe ich immer gewartet, bis die absolute Ruhe von irgendeinem äußeren Geräusch unterbrochen wurde. Dabei kam mir sehr zustatten, dass ungefähr alle zehn Minuten in den Abortanlagen des Bürgerbräukellers die automatische Spülung einsetzte. Dieses wenige Sekunden anhaltende Geräusch musste ich abwarten, zur Arbeit ausnützen, um dann wiederum bis zur weiteren Tätigkeit zu warten, bis der Spülapparat das nächste Mal die Stille unterbrach.« Mörtelpulver und Backsteinbrocken sammelte er in einem Pappkarton, den er versteckte; war der Karton voll, ging er mit einem Koffer in das Gebäude und holte den Schutt ab.
Tagsüber arbeitete er an Entwicklung und Ausbau der Zeitzünder-Apparatur, der »Höllenmaschine«. Er hat bei Verhören durch die Gestapo das Gerät genau beschrieben. Um wenigstens einen Eindruck zu vermitteln von der Arbeit des Tüftlers, hier drei Ausschnitte.
»An dem kleinen Zeiger (Stundenzeiger) einer Uhr hatte ich den Fortbewegungshebel D befestigt. Hinter dem Zifferblatt, nicht davor, lag der Hebel D. Auf einer besonderen Achse, die ich erst hinzubaute, hatte ich ein selbstgefertigtes Holzkammrad (Sperrholz mit Buchenholzzapfen) aufgezogen und so in das Gestell des Uhrwerks eingesetzt, dass der Hebel D alle zwölf Stunden einen der zwölf Zapfen B mitnahm und dadurch das Kammrad A um eine zwölftel Umdrehung weiterdrehte. (…) Das Rad J trieb das von mir aufgesetzte Zahnrädchen H, das fest mit einer kleinen Seiltrommel verbunden war, und rollte so das 0,8 mm stark bei K angelötete Drahtseil über die Rolle L1 und L2 laufend auf. Dadurch wurde der Sperrbolzen N, der zwischen den Rollen M locker gehalten wurde, vor der Rolle O weggezogen. Beim Freiwerden der Rolle O konnte der Hebel P, der sich um Q drehte und noch unter Spannung der Feder V stand, wegschnellen. (…) Die Spitzen W schlugen auf die gegenüberliegenden Patronenhülsen (Gewehrmunition ohne Bleikugeln) auf und entzündeten so durch den Aufschlag auf die Zündhütchen der Patronen die mit kleinem Abstand daran anschließend eingesetzten Sprengkapseln Y. Diese Sprengkapseln Y ragten mit ihrem freien Ende durch jeweilige Bohrungen in den Deckel in die Sprengstoffbehälter. (…) Da ich es der Zuverlässigkeit einer einzigen Uhr nicht überlassen wollte, ob mein Plan gelang oder nicht, habe ich dieselben Vorkehrungen, die bereits an der ersten Uhr beschrieben, auch an einer zweiten Uhr angebracht. Aus demselben Grund einer doppelten bzw. dreifachen Sicherheit habe ich auch den Sprengstoff nicht nur in einen Behälter gepackt, sondern 3 Schlagbolzen über 3 Zündhütchen auf 3 Sprengkapseln einwirken lassen.
Entsprechend den 12 Kämmen B des Kammrades A konnte ich also jede der beiden Uhren, die an und für sich eine Laufdauer von 14 Tagen hatten, 144 Stunden oder 6 Tage vorher ungefähr auf eine Viertelstunde genau den Zeitpunkt der Explosion einstellen, in Gang setzen. Durch Ausprobieren hätte ich sogar die Einstellung auf 6 Tage voraus auf die Minute genau vornehmen können.«
Anfang November wurden Sprengladung und Zündvorrichtung in die Säule eingebaut. »In die hinterste Ecke des Hohlraums legte ich zuerst die Granathülse, um die ich bereits zu Hause schon den Bandeisenrahmen gezogen hatte.« Hinzu kamen die ausgebohrten, gleichfalls mit Pulver gefüllten, druckfest verschlossenen Uhrgewichte. Er baute die Schlagbolzenvorrichtung ein. Packte hinzu »das übriggebliebene Schwarzpulver, das in die Behälter nicht hineingegangen war, meinen gesamten Vorrat (104 Stück) Sprengpatronen sowie den Rest (ca. 119 Stück) an Sprengkapseln sowie den übrigen Teil von Gewehrmunition mitsamt den Bleikugeln«, benutzte dazu eine selbstgefertigte »löffelartige Zange«. »Mit dieser Zange gelang es mir, auch den kleinsten letzten Hohlraum im hinteren Teil der Höhle auch mit Sprengpatronen auszufüllen.« Es waren insgesamt 8 bis 10 Kilo Sprengstoff. Zuletzt passte er das »Uhrengehäuse« der Zeitzünder ein. (Zuvor hatte er das Türchen in der Säule mit Kork isoliert, damit das Ticken der Uhren nicht gehört werden konnte.) Die Uhren waren eingestellt auf 21 Uhr 20, die Sprengladung scharf gemacht.
AM 6. SEPTEMBER fuhr er nach Stuttgart, besuchte dort seine Schwester. Am 7. kehrte er nach München zurück. »Ich wollte unter allen Umständen noch einmal nachsehen, ob die Uhr nicht vielleicht doch stehengeblieben war. Um die Fahrt nach München antreten zu können, bat ich meine Schwester Maria um Überlassung von 15,– RM, worauf sie mir 30,– geschenkt hat. Von meinen ganzen Ersparnissen hatte ich zu dieser Zeit nur noch 10,– RM. Diese waren bei meinem Münchner Aufenthalt durch die Lebenshaltung und die Anschaffung der Gegenstände für meinen Apparat bis auf die 10,– RM restlos aufgegangen.
Ich fuhr mit dem Schnellzug nach München, wo ich gegen 21 oder 21 Uhr 30 im Hauptbahnhof ankam. Ich führte lediglich eine Beißzange, das Kippmesser und die Sachen, die bei meiner Festnahme vorgefunden wurden, bei mir. Diese Sachen hatte ich in den Taschen meiner Kleidung verborgen. Ferner hatte ich noch ein Paket, in dem sich ungefähr ein halbes Pfund Wurst befand. Vom Hauptbahnhof aus begab ich mich direkt zum Bürgerbräukeller. Ich bin dorthin mit der Straßenbahn gefahren. Es war ungefähr 22 Uhr, als ich dort eingetroffen bin. Durch den Haupteingang in der Rosenheimerstraße ging ich durch den Garderobenraum in den Saal, der leer und nicht beleuchtet war. Ich habe niemanden gesehen. Ich begab mich sofort auf die Galerie und horchte an der Türe der Säule, ob die Uhrwerke sich noch in Gang befinden. Das Ticken der Uhren konnte ich dadurch, dass ich mein Ohr an die Tür gepresst hatte, ganz leise hören. Darauf öffnete ich mit dem Kippmesser die Türen, öffnete die Tür zum Uhrgehäuse und vergewisserte mich mit meiner Taschenuhr, ob die Uhrwerke nicht vor- oder nachgehen. Die Uhr ging richtig. Daraufhin verschloss ich beide Türen, und die Nacht verbrachte ich wieder in meinem alten Versteck.«
Am nächsten Morgen verließ er München, fuhr nach Friedrichshafen, nahm dort einen Dampfer nach Konstanz. »Ich wollte, ohne irgendwelchen Aufenthalt zu nehmen, auf dem möglichst direkten Wege die Grenze nach der Schweiz überschreiten.« Er hatte früher in Konstanz gewohnt, kannte Wege und Schleichwege im Bereich der grünen Grenze. Warum er sich in die Schweiz absetzen wollte, ist nicht überliefert. Offenbar erwartete er nicht, er würde nach einem erfolgreichen Attentat auf Hitler und die Führungsgruppe als Held gefeiert, eher würde man ihn wohl festnehmen, auch unter einer neuen NS-Regierung – Hitler auf dem Höhepunkt von Ansehen und Ruhm, Verständnis für das Attentat wäre in der Bevölkerung gering gewesen.
Der Mann, der wochenlang umsichtig und vorsichtig disponiert und agiert hatte, er war nun erstaunlich sorglos. Die Grenze war nicht stärker bewacht als in den Jahren zuvor, Vorsicht wäre dennoch ratsam gewesen, jedoch: »Beim Eingang von der Schwedenschanze aus in den Wesenberggarten habe ich ein kleines Gartentor, das aber nicht versperrt war, durchschritten. Als ich in diesem Garten auf der Höhe des Wesenberghauses war, wurde ich angerufen, habe daraufhin auch sofort gehalten und wurde dann von einem Beamten, der mir zuerst alles abnahm, was ich in der Tasche hatte, in ein Dienstzimmer verbracht, wo ich festgenommen wurde.
Wenn ich gefragt werde, was mein erster Gedanke in diesem Augenblick war, so muss ich zugeben, dass ich mich im ersten Augenblick über mich selbst und meinen Leichtsinn geärgert habe.« Erstaunlich auch, dass er, bei seiner genauen Ortskenntnis, gehorsam stehen geblieben und nicht einfach losgerannt war, als ihn ein Zollbeamter gesichtet hatte. Erstaunlich auch, dass er noch einige Teile des Zündmechanismus in den Taschen hatte – er habe vergessen, sie in die Isar oder, später, in den Bodensee zu werfen. »Die Beißzange, die bei mir gefunden wurde, hatte ich mit voller Absicht zu mir gesteckt, um etwaige Stacheldrahthindernisse an der Grenze durchschneiden zu können.«
Wiederum: »Das RFB-Abzeichen, das ich bei meiner Festnahme unter dem Rockaufschlag angesteckt trug, stammt aus der Zeit meiner Zugehörigkeit zum RFB während meiner Konstanzer Zeit. Irgendwelchen bestimmten Zweck, etwa der besseren Aufnahme in der Schweiz, verfolgte ich mit diesem Anstecken des Abzeichens nicht.«
Er wurde festgesetzt; Transport nach München; die Bayerische Landeszentrale für Fingerabdrücke nahm im Raster des Formblatts ein Dutzend Abdrücke ab.
Ein Kriminalbeamter nahm die »Personalien des politisch in Erscheinung getretenen« Elser auf; anschließend die »Personenbeschreibung«: »Größe mit Fußbekleidung: 164 cm, Schuhgr. 40; Gestalt: schlank; Haltung: straff; Gang: lebhaft, kleine Schritte; Gesichtsform: lgl. eckig, Stirnfalten; Kopfhaar: dunkelblond, sehr dicht, lang, ungescheitelt, leicht wellig; Augen: blau-grau-hell; Augenbrauen: dkl.bl., bogenförmig, breit; Stirn: zurückweichend, sehr hoch; Nase: gradlinig, klein; Ohren lgl.rd., groß abstehend; Mund: groß, dünne Lippen; Zähne: lückenhaft, Goldzähne, OK-Gaumenplatte 7 Z.; Sprache: schwäbisch; Kennzeichen: r. Hand fehlt d.kl. Finger; Kleidung: grau gewürfelter Anzug, rote Strickweste, grauer Hut, dkl.bl. Mantel.«
9. NOVEMBER 1939. Während sonst Hitler und Gefolge gegen 20 Uhr 30 in den Saal einzogen, begann der »Führer« diesmal schon kurz nach acht mit seiner Rede.
Die Anreise war mit dem Flugzeug erfolgt. Der Pilot, Flugkapitän Hans Baur, wurde vom Wetteramt gewarnt: voraussichtlich Nebel für den Zeitraum des geplanten Rückflugs. Hitler aber wollte am nächsten Morgen in Berlin sein; nach dem Polenfeldzug wurde der »Westfeldzug« vorbereitet.
Die Reichsbahn stellte einen Sonderwagen bereit, der an einen fahrplanmäßigen D-Zug angekoppelt wurde; Abfahrtszeit: 21 Uhr 31. Um pünktlich am Bahnhof zu sein, wollte der Diktator kurz nach 21 Uhr Schluss machen; danach die üblichen Sieg-Heil-Rufe, das Absingen von Hymnen; schließlich sollte ihn die Parteiprominenz aus dem Saal begleiten, Limousinen standen bereit.
Hitlers Rede lief mäandernd an. »Das, was wir Nationalsozialisten als Erkenntnis und als Gelöbnis vom Totengang des 9. November in die Geschichte unserer Bewegung mitgenommen haben, nämlich dass das, wofür die ersten 16 gefallen sind, wert genug war, auch viele andere, wenn notwendig, zum Sterben zu bringen – diese Erkenntnis soll uns auch in der Zukunft nicht verlassen.« Und, noch einmal, zum Thema Sterben: »Weder Franzosen noch Engländer hatten mehr Mut, hatten mehr Todeskraft aufgebracht als der deutsche Soldat!«
Zweimal wurde vom Chefadjutanten Schaub ein Zettel aufs Rednerpult gelegt mit dem Hinweis auf die Abfahrtszeit des Zuges. Den ersten Zettel schob Hitler nach kurzem Blick auf Seite, den zweiten Zettel hob er hoch: Ihm werde hier von der Ordonnanz im Auftrag der Reichsbahn mitgeteilt, sein Zug nach Berlin werde pünktlich halb zehn abfahren; der Zug fahre aber erst, wenn er als Führer des Deutschen Reiches das bestimme; von subalternen Reichsbahnbeamten lasse er sich keinerlei Vorschriften machen, »das wäre ja noch schöner!«
Anhaltendes Gelächter, starker Beifall der etwa zweitausend »Alten Kämpfer« der SA. Hitler zerknüllte demonstrativ den Zettel, ließ ihn betont achtlos neben das Rednerpult fallen, setzte die Rede fort, bald wieder mit gewohnter Intensität: »Was immer auch im Einzelnen uns an Opfern zugemutet wird, das wird vergehen, es ist belanglos. Entscheidend ist und bleibt nur der Sieg. Es kann hier überhaupt nur einer siegen, und das sind wir!«
Zwanzig Minuten nach neun löste der Zündmechanismus die Sprengung aus. Es war, laut Polizeibericht, eine »außerordentlich umfangreiche Einsturzwirkung erzielt«. Die Saaldecke kippte herab; dort, wo das Rednerpult gestanden hatte: drei Meter hoch Schutt mit Stahlträgern. Mit Hitler wurde fast die gesamte, zu Füßen des erhöhten Rednerpults zusammengerückte Führungsspitze getötet: Bormann, Frick, Goebbels, Himmler, Rosenberg. Das System war enthauptet.
DER GEFÄHRLICHSTE unter Hitlers potentiellen Nachfolgern wäre der Reichsführer-SS gewesen. Unter einem Himmler als Reichskanzler wäre die Verfolgung der Juden fortgesetzt, ja weiter forciert worden.
Ein ebenfalls gefährlicher Nachfolger wäre Goebbels geworden, vielfach als der intelligenteste der Führungsriege eingestuft. Da auch Goebbels zu den Opfern zählte, gab es nur einen Nachfolger: Hermann Göring, von Hitler ohnehin zum »ersten Nachfolger« ernannt, in einer Rede vor dem Reichstag, dies nur zwei Monate vor dem Attentat: »Sollte mir in diesem Kampf etwas zustoßen, dann ist …«
Der preußische Ministerpräsident, der Beauftragte für den Vierjahresplan der Aufrüstung, der Luftfahrtminister und Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Generaloberst Göring befand sich zu jenem Zeitpunkt in seiner Residenz Carinhall in der Schorfheide nordöstlich von Berlin. Kurz vor 22 Uhr wurde er vom Münchner Polizeichef telefonisch über das Attentat informiert. Eine Stunde lang soll Göring »wie gelähmt« in einem Sessel gehockt haben, dann ließ er sich zum Funkhaus in der Masurenallee fahren. Das Radioprogramm war bereits auf Trauermusik umgestellt worden, die Nachricht selbst wurde allerdings noch zurückgehalten, Göring hatte darauf bestanden, sie den Volksgenossen persönlich zu übermitteln.
Nach der zweiten Wiederholung des Trauermarschs aus Beethovens »Eroica« ging Görings Rede live über den Sender. Er sprach frei. Man hörte ihm die Erschütterung an, zweimal brach ihm die Stimme: Der Führer ist nicht mehr unter uns … Ruchlose Ermordung durch polnische Exilanten aus London, vom Britischen Geheimdienst eingeschleust und unterstützt … Bewährte Mitkämpfer der ersten Stunde mit in den Tod gerissen …
Seine Rede gewann jedoch bald wieder den »schneidenden Ton«, den man bei Göring gewohnt war: Rücksichtsloses Vorgehen gegen alle äußeren und inneren Feinde, die da möglicherweise wähnten, die Situation ausnutzen zu können … die Wehrmacht sei von ihm umgehend in Alarmbereitschaft versetzt worden … höchste Wachsamkeit von Schutzpolizei und Staatspolizei … verstärkte Patrouillen … jegliche Form der Zusammenrottung werde augenblicklich aufgelöst, notfalls unter Schusswaffengebrauch, für den er, Göring, vorab die Verantwortung übernehme. Er werde eine neue Regierung der Tatkraft bilden und bereits in den nächsten Tagen dem deutschen Volke vorstellen. Diese Regierung werde im Geiste Hitlers handeln – wenn es sein müsse, rücksichtslos und gnadenlos. Drei Tage Staatstrauer, Geläut aller Glocken des Reiches. Die Totenfeier an der Feldherrnhalle zu München: Aufbahrung der Gefolgsleute unter den Opfern des Anschlags.
Vom Funkhaus ließ sich Göring mit Entourage zur Reichskanzlei fahren. Auf seine Anweisung wurde in sämtlichen Räumen die Beleuchtung eingeschaltet. Die »Ehrenwache« wurde verstärkt. Zahlreiche Berliner fanden sich zur späten Stunde in der Wilhelmstraße ein. Göring zeigte sich kurz an einem Fenster des ersten Stocks.
Sobald es am nächsten Tag die Witterungslage zuließ, flog er nach München. Er verzichtete auf das übliche Arrangement von Orden auf seiner Uniform, trug nur den Pour-le-Mérite.