Zum Buch

Wer die Gegenwart verstehen will, muss die Vergangenheit in den Blick nehmen. Und wer die vergangenen hundert Jahre in den Blick nimmt, sieht eine Geschichte der Kriege. Gregor Schöllgen, einer der führenden deutschen Historiker, spürt dieser Geschichte nach. Ausgehend von der russischen Oktoberrevolution, mit der 1917 alles begann, beschreibt er die vielfältigen Gesichter dieses hundertjährigen Krieges: Revision und Intervention, Raub und Annexion, Säuberung und Vernichtung, Flucht und Vertreibung. Auf der nördlichen Halbkugel fror der Kalte Krieg den heißen Krieg für ein halbes Jahrhundert ein. Die Kriege fanden anderswo statt. Damit ist es nun vorbei. Im Krieg ist die Welt wieder vereint.

Zum Autor

Gregor Schöllgen, Jahrgang 1952, lehrte bis 2017 Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Erlangen. Er war Gastprofessor in New York, Oxford und London und überdies jahrzehntelang für die historische Ausbildung der deutschen Diplomaten verantwortlich. Er ist Mitherausgeber der Akten des Auswärtigen Amtes, konzipiert historische Ausstellungen und Dokumentationen, schreibt für Presse, Hörfunk und Fernsehen und ist Autor zahlreicher populärer Sachbücher und Biographien. Zuletzt erschien bei der DVA seine große Biographie Gerhard Schröders.

GREGOR SCHÖLLGEN

KRIEG

HUNDERT JAHRE
WELTGESCHICHTE

Deutsche Verlags-Anstalt

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1. Auflage
Copyright © 2017 Deutsche Verlags-Anstalt, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat und Satz: Ditta Ahmadi, Berlin
Gesetzt aus der Adobe Jensen Pro
Bildbearbeitung: Aigner, Berlin
Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Umschlagmotiv: © Martyn Aim/Redux/laif
ISBN 978-3-641-21256-8
V001

www.dva.de

Inhalt

PROLOG
Rückblick in die Gegenwart

1 Putsch

2 Revision

3 Säuberung

4 Vernichtung

5 Blitz

6 Teilung

7 Intervention

8 Guerilla

9 Prävention

10 Mord

11 Terror

12 Flucht

13 Raub

14 Annexion

BILANZ
Hundert Jahre Weltgeschichte

Nachwort

ANHANG

Anmerkungen

Personenregister

Geographisches Register

PROLOG
Rückblick in die Gegenwart

Die Gegenwart ist eine Zumutung. Sie wartet nicht auf uns. Sie stemmt sich gegen ihre Entzifferung. Zu komplex, zu vielschichtig, zu undurchsichtig sind die zeitgleich ablaufenden Vorgänge. Will man sie entschlüsseln, hat man nur eine Chance: Man muss die Vergangenheit in den Blick nehmen. Wer das tut, findet sich unvermittelt in der Gegenwart wieder. Denn die erinnert frappierend an jene drei Jahrzehnte zwischen dem Ausbruch des Ersten und dem Ende des Zweiten Weltkriegs, als die Völker und Staaten der Erde versuchten, ihre historisch gewachsenen Konflikte mit buchstäblich allen Mitteln zu lösen. Mit dem Ende des zweiten dieser verheerenden Kriege gelangten sie 1945 – dezimiert und verwundet, ernüchtert und erschöpft – zu der Einsicht, dass sich ihre Gegensätze so nicht aus der Welt schaffen ließen.

Also blieben sie in der Welt – ungelöst und um neue vermehrt. Allerdings war die Menschheit nach dem monströsen letzten Krieg nicht mehr in der Lage, einen neuerlichen Waffengang von unbestimmter Länge zu wagen. Zudem zeichnete sich seit dem Abwurf von zwei Atombomben im August 1945 eine neue Dimension der Vernichtung ab. Daher einigten sich Sowjets und Amerikaner – noch vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs und stellvertretend auch für andere – informell auf einen Waffenstillstand.

Er hielt beinahe 50 Jahre. Denn in Washington ahnte und in Moskau wusste man, dass eine Aufkündigung dieser Übereinkunft unweigerlich in die alten Konfliktlagen zurückführen musste. Dass einer der beiden Vertragspartner einmal ohne jede Vorankündigung und zudem noch mehr oder weniger geräuschlos aus der Weltgeschichte verschwinden könnte, kam niemandem in den Sinn. Mit der Implosion der Sowjetunion trat aber 1991 genau dieser Fall ein. Damit war der 1945 geschlossene Waffenstillstand hinfällig.

Besonders hart traf diese fundamentale Erschütterung der alles in allem bewährten Lage die Russen. Denn mit der Implosion der Sowjetunion fanden sie sich im Dezember 1991 dort wieder, wo sie gewesen waren, als die Bolschewiki im Oktober 1917 die Macht an sich gerissen und wenig später – geschlagen und gedemütigt – beim deutschen Kriegsgegner um Frieden nachgesucht hatten.

Wenige Ereignisse haben sich im russischen Bewusstsein so tief festgesetzt wie das Trauma von 1917. Zugleich hat kein zweites vergleichbares Ereignis das Weltgeschehen so tief und so nachhaltig beeinflusst wie der Putsch der Bolschewiki mit seinen mittelbaren und unmittelbaren Folgen. Die Bolschewiki waren nämlich die Ersten in der neueren Geschichte, die nicht nur einem lokalen, regionalen, nationalen oder internationalen Gegner den Krieg erklärten, sondern der Welt. Das lag an ihrem Anspruch, diese Welt nicht nur revolutionieren zu wollen, sondern sie revolutionieren zu müssen, wenn sie überleben wollten. Seither haben viele andere den Weg der Bolschewiki eingeschlagen, von denen die meisten gar nichts mit ihnen zu tun haben wollten. Die Putschisten von Sankt Petersburg ahnten nicht, dass sie Weltgeschichte schreiben würden. Aber sie taten es.

Mit diesem folgenreichen Kapitel beginnt das Buch. Es ist keine umfassende Geschichte der Weltpolitik eines Jahrhunderts. Die würde Bände füllen. Es ist das Porträt einer Welt, die seit 100 Jahren am Abgrund steht. Auch während des Kalten Krieges war das nicht anders. George Orwell, der ein schonungsloses Bild des bolschewistischen Terrors gezeichnet hatte, sprach im Oktober 1945 erstmals davon, dass mit dem Abwurf der beiden Atombomben ein »Kalter Krieg« begonnen habe. Und er sagte vorher, dass ein Friede kommen werde, »der kein Friede ist«.1 Tatsächlich wurde der Waffenstillstand 1945 lediglich für einen Teil der Welt geschlossen. Nur die nördliche Hälfte des Globus – Europa, Nordamerika, außerdem einige Gebiete des pazifischen Raums – blieb während des folgenden halben Jahrhunderts vom heißen Krieg verschont.

Hingegen hat die südliche Halbkugel – oder die »Dritte Welt«, wie man sie damals nannte – auch in dieser Epoche Dutzende von Kriegen aller Art gesehen: Dekolonisierungs- und Befreiungskriege, Bürger- und Guerillakriege, Grenz- und Rohstoffkriege, Staaten- und Stellvertreterkriege – und mit ihnen Genozid und Ökozid, Flucht und Vertreibung, Hunger und Elend. Auch davon wird in diesem Buch berichtet. Nicht zuletzt weil der Norden nach 1945, wenn irgend möglich, die Augen vor dem verschloss, was dort vorging, weil er zudem eskalierende Konflikte gegebenenfalls an die südliche Peripherie verlagerte, dort band und durch andere austragen ließ, war auch der Kalte Krieg der Jahre 1945 bis 1991 ein Weltkrieg. Der dritte in Folge.

Er formte die Brücke zwischen dem Zeitalter der klassischen, weitgehend nationalen Kriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und unserer Epoche der zunehmend transnationalen Krisen, Kriege und Konflikte. Ihre Begleiterscheinungen und ihre Folgen verschonen heute buchstäblich keinen Winkel der Erde. Auch nicht die nördliche Halbkugel. Denn die Konfliktpotentiale, die bis 1945 vor allem durch die Kolonialmächte auf der südlichen Halbkugel angelegt worden sind und nach 1945 als »Dritte Welt« ein Eigenleben entwickelt haben, sind ja 1991 mit dem Ende des Kalten Krieges nicht verschwunden. Im Gegenteil. Sie gehen jetzt eine Verbindung mit jenen Konflikten des Nordens ein, die 1945 eingefroren wurden und seit 1991 wieder aufgebrochen sind.

Wer diese komplexe Lage entschlüsseln will, muss sich ihr gleichermaßen chronologisch und systematisch nähern. Chronologisch deshalb, weil sich, so banal es klingt, heutige Geschehnisse durch frühere erklären lassen, nicht aber umgekehrt. Andererseits trägt die systematische Annäherung an den Komplex, die sich in den Kapitelüberschriften spiegelt, einem unabweisbaren Befund Rechnung: Viele Ereignisse und Entwicklungen – Revision und Intervention, Raub und Annexion, Säuberung und Vernichtung, Flucht und Vertreibung – ziehen sich wie rote Fäden durch die vergangenen 100 Jahre.

Dass manche Themen nicht in eigenen Kapiteln abgebildet werden, heißt nicht, dass sie aus dem Blick geraten. Die Zerstörung der Umwelt oder auch der Kampf um ihre Erhaltung, der Krieg um oder der Raub von natürlichen Ressourcen und andere Prozesse und Entwicklungen werden dort in den Blick genommen, wo sie Einfluss auf das Weltgeschehen genommen haben. Diese Linien in ihrem inneren zeitlichen und kausalen Zusammenhang nachzuzeichnen, ist unerlässlich, wenn es an die Entschlüsselung der Gegenwart geht. Das gilt für den Zeitpunkt, und es gilt für die Orte des Geschehens. Denn die Gegenwart lässt sich nicht mit einem geographisch verengten Rückblick entziffern. Deshalb richtet sich der Blick jeweils auf die Weltgegenden, in denen markante Entwicklungen eine geschichtsmächtige Verdichtung erfahren haben. So zum Beispiel der Nahe Osten im Falle des Präventivkrieges, China, Vietnam, Kambodscha oder auch Afghanistan im Falle des Guerillakrieges, Mittel- und Südamerika im Falle der Intervention oder Zentralafrika am Beispiel des mehr als zwanzigjährigen Mordens, das 1994 mit dem Genozid in Ruanda begann. Dass dieses Morden als der »erste afrikanische Weltkrieg« in die Geschichte eingegangen ist, zeigt, dass wir die Vergangenheit sehen, wenn wir uns in der Gegenwart umschauen.

KAPITEL 1
PUTSCH

Tanz der Putschisten. Deutsche und russische Soldaten feiern Mitte Dezember 1917 den Waffenstillstand. Sie ahnen nicht, dass die kommenden Jahrzehnte alles Zurückliegende in den Schatten stellen werden.

Sie waren wenige. Ihre Führer lebten im Exil. Die allermeisten Russen, die durchweg auf dem Land hausten, hatten nie von ihnen gehört. Aber die Bolschewiki hatten ein Ziel, und sie hatten Wladimir Iljitsch Lenin, der sie mit eisernem Willen und konzentrierter Entschlossenheit zu diesem Ziel führte. So wagten sie in der Nacht auf den 7. November 1917 den Putsch. Als »Oktoberrevolution« ging er in die Geschichte ein, weil man nach russischem, dem julianischen Kalender den 25. Oktober schrieb. Die Umstellung auf den sonst in Europa gebräuchlichen gregorianischen Kalender zum 1. Februar 1918 gehört zu den frühen Entscheidungen der Bolschewiki.

Kein anderer Putsch der jüngeren Geschichte hat derart weitreichende Verwerfungen gezeitigt wie dieser. Es war das erste Mal, dass ein Akteur nicht nur einem lokalen, regionalen, nationalen oder internationalen Gegner den Krieg erklärte, sondern der Welt. Seither hat es keinen universellen Frieden mehr gegeben.

Für Lenin und seine Leute stand von Anfang an fest, dass die russische nur der Beginn der Weltrevolution sein könne. Und diese wiederum musste eher früher als später ins Werk gesetzt werden, weil nur durch den weltweiten Umsturz auch die russische Revolution auf Dauer zu sichern war. Lenin wusste immer schon: Scheitern die Bolschewiki in der westlichen Welt, ist ihnen insbesondere in Deutschland kein rascher, umstürzender Erfolg beschieden, wird über kurz oder lang auch das russische Modell des Sozialismus beziehungsweise Kommunismus am Ende sein.

Mit dieser radikalen, offensiven Zielsetzung katapultierten sich die Bolschewiki zwangsläufig in die Rolle eines Gegners. Sofern man sie beim Wort nahm, und das tat man bald. Wer nicht von ihnen überrollt werden wollte, musste sie bekämpfen – an jedem Ort und mit allen Mitteln: Die »Sowjets« waren der Feind. Man nannte die Bolschewiki so, weil sie zunächst in den Arbeiter- und Soldatenräten, den Sowjets, die Macht an sich gerissen und von dort aus auf nationaler Ebene konsequent ausgebaut hatten. Schon am 12. März 1918 hatten sie Moskau zur Hauptstadt erklärt, seither residierten ihre Führer im Kreml, der vormaligen Moskauer Residenz der Zaren. Am 30. Dezember 1922 war mit der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken das staatliche Fundament für ihre weltrevolutionäre Mission gelegt.

Das ist ein Grund, warum der Krieg in der Welt und die Welt im Krieg blieb. Die Sowjets konnten ihr Ziel, die Welt zu revolutionieren, nicht aufgeben, weil sie damit ihre Legitimation infrage gestellt hätten. Und die anderen konnten dieses Ziel nicht ignorieren, weil sie damit ihre Freiheit riskiert hätten. Enden konnte dieser Krieg nur, wenn sich die anderen geschlagen gaben oder die Sowjetunion die Weltbühne verließ. Dass sie 1991, sieben Jahrzehnte nach ihrer Gründung, tatsächlich implodierte, war für nicht wenige Russen zu unfassbar und ungerecht, zu demütigend und beängstigend, als dass sie sich damit hätten abfinden wollen. Also machten sie sich an die Wiederherstellung des Zerbrochenen. Und weil das nicht gewaltfrei möglich war, wurde der Kalte Krieg auch in diesem Teil der Welt jetzt wieder heiß geführt.

Zur bitteren Ironie gehört, dass sich die Sowjetunion von ihrem ersten bis zu ihrem letzten Tag in einer Situation erheblicher, mitunter bedrohlicher innerer Schwäche befand. Diese Schwäche zu kaschieren und sich so vor einem vernichtenden Angriff überlegener Gegner zu schützen, war eines der obersten Ziele sowjetischer Hochrüstungspolitik, auch in der Zeit des Kalten Krieges. Da die Rüstung Ressourcen band und verschlang, verschärfte sie den maladen Zustand noch und trug so eher zum Untergang des Ganzen bei. Michail Gorbatschow, letzter Präsident der Sowjetunion, bis auf wenige Tage letzter Generalsekretär ihrer Kommunistischen Partei und Totengräber der einen wie der anderen, hat später berichtet, dass sich die Ausgaben für das Militär auf 40 Prozent des Staatshaushalts beliefen und »buchstäblich allen Zweigen der Volkswirtschaft die Lebenssäfte« entzogen.1 In den frühen Epochen der Sowjetunion dürfte der Prozentsatz eher noch höher gewesen sein.

Nicht dass sich das alte, das zaristische Russland, bis es in der Oktoberrevolution endgültig unterging, in einer stabilen Verfassung befunden hätte, im Gegenteil: Die innere Schwäche des riesigen Landes gehörte zu den Konstanten der europäischen Geschichte. Sie war ursprünglich auch ein entscheidender Grund, warum die Putschisten Ende Oktober 1917 die Kontrolle über die wichtigsten Machtzentren im Handstreich erobern und allen widrigen Umständen zum Trotz dauerhaft sichern konnten.

Im Vergleich mit England und Deutschland, mit Frankreich und selbst mit Italien war das russische Zarenreich ein rückständiges Land, und das in praktisch jeder Hinsicht. Gewiss, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte es Bewegung gegeben. 1861 war die Leibeigenschaft aufgehoben, drei Jahre später die Justiz reformiert worden. Seit 1906 gab es – erstmals in der russischen Geschichte – eine Verfassung und ein Parlament, und die Industrialisierung des Landes machte bis zum Ausbruch des großen Krieges im Sommer 1914 bemerkenswerte Fortschritte, jedenfalls dann, wenn man die Entwicklung am äußerst bescheidenen Ausgangsniveau maß.

Allerdings kamen die Anstöße in der Regel von außen. Sie wurden den Zaren aufgezwungen, vor allem durch schwere militärische Niederlagen wie diejenigen im Krimkrieg der Jahre 1853 bis 1856 oder im Krieg gegen Japan, der 1905 für Russland in einer Katastrophe endete. Viele Errungenschaften wurden auch bald wieder zurückgenommen und verboten, so im Juni 1907 die gerade erst gegründeten Gewerkschaften und die revolutionären Parteien. Unter ihnen auch die radikalere Mehrheitsfraktion der 1898 ins Leben gerufenen Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, die seit der Spaltung von 1903 als »Bolschewiki« firmierte. Die knapp unterlegene Minderheitsfraktion der »Menschewiki« sollte während des Bürgerkrieges zu ihren Gegnern zählen.

Der Ausbruch des großen Krieges im Sommer 1914 gab dem politischen wie dem wirtschaftlichen Frühling dann den Rest. Dabei stand Russland ursprünglich auf der richtigen Seite. Denn nicht Zar Nikolaus II. hatte den Krieg begonnen, sondern sein Vetter Wilhelm II., der deutsche Kaiser und König von Preußen, hatte Russland am 1. August 1914 den Krieg erklärt und so dafür gesorgt, dass sich die Großmächte Frankreich und England auf Russlands Seite einfanden und man gemeinsam gegen Deutschland zu Felde zog. Auch militärisch schien die Gunst zunächst auf Russlands Seite zu sein, denn seine Armeen stießen tief nach Ostpreußen und Galizien vor, standen also kurzzeitig in Deutschland und Österreich-Ungarn.

Doch dann wendete sich das Blatt – auf allen Ebenen und mit einer unerhörten Dynamik, wobei nicht sicher zu sagen ist, was Ursache und was Wirkung war. Jedenfalls geriet Russland auf den Schlachtfeldern sehr bald in die Defensive und im Innern an den Rand des Zusammenbruchs: Die Versorgung großer Teile vor allem der städtischen Bevölkerung war schlicht nicht mehr sicherzustellen. Jetzt schlug die Stunde der oppositionellen und radikalen Kräfte aller Couleur, auch der Bolschewiki.

Die Bolschewiki hatten allerdings ein Problem: Ihr Anführer Lenin – Jahrgang 1870, studierter Jurist, Berufsrevolutionär und Verbannter – war nicht vor Ort, sondern im Schweizer Exil. Wie sollte er von Zürich ins russische Machtzentrum kommen? Dass ihm das gelang, dass Lenin über Deutschland, Schweden und Finnland tatsächlich im Frühjahr 1917 in der Hauptstadt eintraf, lag am Kriegsgegner Russlands, dem Deutschen Reich, und dort wiederum vor allem am Auswärtigen Amt, das diesen Coup unterstützte.

Die Diplomaten in Berlin wussten genau, was sie taten. Dort ging man nämlich davon aus, dass der Import des Agitators das explosive, revolutionäre Potential Russlands stärken und damit seine Kampfkraft im Feld schwächen werde. Ende Februar 1917 eskalierte die Lage im Zarenreich, und als sich die ersten Soldaten den revoltierenden Arbeitern anschlossen, war es um das alte System geschehen: Am 27. Februar demissionierte die Regierung, am 3. März verzichtete Zar Nikolaus II. auf den Thron, am 9. April passierte Lenin mit großem Gefolge Deutschland in Richtung Petrograd – so hieß die russische Hauptstadt Sankt Petersburg, nachdem der ursprünglich deutsche Name mit Kriegsbeginn russifiziert worden war. Nach dem Tod Lenins führte die Stadt als »Leningrad« den Namen des Revolutionsführers, und nach dem Untergang der Sowjetunion erfolgte die Wiederauferstehung als »St. Petersburg«.

Ohne die verfahrene innere Lage des Gegners wären die Deutschen sicher nicht auf die Idee gekommen, Lenin nach Russland zu transportieren. Tatsächlich wurde dieser Mann aber dann zu ihrer »Geheim- und Wunderwaffe«, zur »Atombombe des Ersten Weltkriegs«.2 Mit ihrer Hilfe gelang es Deutschland, sich auf dem Territorium Russlands einen gigantischen Einflussbereich zu sichern und etwa ein Jahr lang zu halten.

Zunächst standen allerdings die Chancen, dass ausgerechnet Lenin und seine Bolschewiki den innerrussischen Machtkampf für sich entscheiden würden, nicht besonders gut. Denn die provisorische bürgerliche Koalitionsregierung, die nach dem Sturz des Zaren ins Amt gekommen war, hielt sich auch deshalb, weil ihr prominente Vertreter des gemäßigten sozialistischen Lagers angehörten. Und diese linke Konkurrenz machte den Bolschewiki mehr zu schaffen als die alten Kräfte, gegen die sie sich zunächst gemeinsam gestellt hatten. Im Ersten Allrussischen Sowjetkongress, der Mitte Juni 1917 zusammentrat, waren die Bolschewiki eindeutig in der Minderheit, und Anfang Juli scheiterte ein Umsturzversuch so kläglich, dass Lenin nach Finnland fliehen musste.

Es war Leo Trotzki, der in den entscheidenden Tagen und Stunden des Oktobers 1917 den Putsch mit Erfolg steuerte. Er brachte es fertig, dass die ersten überfallartigen Aktionen am 24. Oktober, dass die Besetzung der Eisenbahnstationen, Brücken, Telegraphenstationen und anderer strategischer Positionen in Petrograd ohne Kampfhandlungen erfolgten und erst bei der Einnahme des Winterpalais nennenswerte Zusammenstöße gemeldet wurden. Trotzki – Jahrgang 1879, Kriegsberichterstatter, Verbannter und Emigrant – gehörte wie Karl Marx, Friedrich Engels, Mao Tse-tung und andere zu jenen radikalen Sozialisten, die sich in der Geschichte des Krieges und des Kriegshandwerks auskannten. Von März 1918 bis zu seiner Entmachtung durch Josef Stalin im Januar 1925 baute Trotzki die Rote Armee auf. Ihr verdankten zunächst die Bolschewiki die Sicherung ihrer Herrschaft im russischen Bürgerkrieg, dann die Sowjetunion ihr Überleben während des deutschen Eroberungs- und Vernichtungsfeldzugs der Jahre 1941 bis 1945.

Allerdings war der Coup des Oktober 1917 lediglich der Anfang einer gefährlichen Entwicklung. In den Wahlen zur Allrussischen konstituierenden Versammlung, die noch von der provisorischen Regierung ausgeschrieben worden waren, konnten die Bolschewiki gerade einmal ein Viertel der Stimmen holen. Daher mussten sie am 18. Januar 1918 erneut zum Mittel des Putsches greifen und diese Nationalversammlung sprengen. Was sie jetzt vordinglich brauchten, war Ruhe an allen Fronten. An der inneren wie an der äußeren. Schon am Morgen des 26. Oktober 1917 hatten die Bolschewiki – damals noch im Schulterschluss mit der linken sozialrevolutionären Konkurrenz – zwei Dekrete erlassen: über den Grund und Boden sowie über den Frieden. Das erste richtete sich mit der Aufhebung des Privatbesitzes an Grund und Boden an die aus dem Feld heimkehrenden Bauern, das zweite an die unvermindert vorrückenden Kriegsgegner, allen voran natürlich an die zentrale Macht der feindlichen Koalition, das Deutsche Reich.

Somit war Deutschland schon in der Geburtsstunde Sowjetrusslands für dessen Überleben der – alles – entscheidende Dreh- und Angelpunkt. Ohne Deutschland waren ein Waffenstillstand und der Friede nicht zu haben; gegen Deutschland war dieser Friede weder kurz- noch langfristig zu sichern; ohne den erfolgreichen Export der Revolution nach Deutschland war die Revolution auch in Russland zum Scheitern verurteilt; und ohne die technische und wirtschaftliche Unterstützung durch Deutschland konnte das revolutionäre Russland erst gar nicht auf die Beine kommen.

Genau genommen schrieb dieses Abhängigkeitsverhältnis eine Konstellation fort, die schon seit der Gründung des Deutschen Reiches im Jahr 1871 bestand. Die Reichsgründung war, von Preußen ausgehend, über den Weg dreier Kriege – gegen Dänemark, Österreich und Frankreich – durchgesetzt worden. Sie war die Antwort auf eine aus deutscher Sicht nicht länger hinnehmbare Lage. Über Jahrhunderte hinweg war das alte, das 1806 untergegangene Heilige Römische Reich Deutscher Nation das Durchzugsgebiet fremder Heere und das Schlachtfeld ihrer Kriege gewesen. Auf seine Kosten hatten die jeweiligen Großmächte der Zeit auch immer wieder zu einer Lösung bei strittigen Fragen finden können.

Für die Deutschen war das ein unhaltbarer Zustand. Ihre prekäre Lage in der Mitte Europas musste in eine stabile, aus eigener Kraft verteidigungsfähige Formation, den Nationalstaat, überführt werden. Dass die anderen das nicht ohne Widerstand hinnehmen würden, war zu erwarten, und ebenso, dass sie das Streben der Deutschen nach einer hegemonialen Stellung nicht dulden konnten. Für die Deutschen bedeutete die Hegemonie möglicherweise eine Sicherheitsgarantie, für die Nachbarn bildete sie die bedrohliche Ausgangslage für eine weit ausgreifende Eroberung.

Und so führte die nationalstaatliche Einigung Deutschlands 1871 zu einem Ergebnis, mit dem weder die einen noch die anderen wirklich leben konnten. Denn von Anfang an befand sich das Deutsche Reich in einer Lage, die man als »halbhegemonial« bezeichnet hat: als europäische Großmacht zu stark, um von den anderen ignoriert oder übersehen werden zu können, und zu schwach, um aus eigener Kraft die Hegemonie über den Kontinent errichten zu können.3

Dass diese Überlegung auch nach der Reichseinigung immer wieder einmal eine Rolle spielte, hatte seine Gründe. Zum einen galt der Krieg nach wie vor als legitimes Mittel der Politik, gewissermaßen als verlängerter Arm der Diplomatie. Und zum anderen hatte die nationalstaatliche Einigung ja nichts an der geostrategisch exponierten Lage des Landes geändert. Deutschland lag da, wo es immer gelegen hatte. Mitten in Europa. Mit acht Staaten hatte das Deutsche Reich eine gemeinsame Grenze. Darunter befanden sich mit Frankreich, Österreich-Ungarn und nicht zuletzt mit Russland drei der übrigen fünf Großmächte jener Zeit. Kein anderes vergleichbares Land der Erde war in einer solchen Lage.

Aus der Mittellage erklärte sich auch, warum die Deutschen nach 1871 immer wieder einmal mit dem Gedanken spielten, dieser Falle durch die Flucht nach vorn zu entkommen. Schon ihrem ersten Kanzler Otto von Bismarck, der bei der Reichsgründung die Regie geführt hatte, war die Vorstellung eines Präventivschlages vertraut. Und das wiederum offenbarte, dass »der höchste Triumph Bismarcks schon die Wurzeln seines Scheiterns enthielt und die Gründung des Deutschen Reiches schon den Keim seines Untergangs«.4 Denn offensichtlich war eine deutsche Großmacht dieses Zuschnitts mit dem Gleichgewicht der Kräfte in Europa nicht vereinbar.

In diesem Licht betrachtet, war auch die Reichseinigung ein Putsch, ein Angriff auf das überkommene europäische Mächtesystem. Hätte Russland in diesem entscheidenden Moment nicht stillgehalten, wäre der deutsche Putsch wohl gescheitert. So aber wurde er zu einem durchschlagenden Erfolg. Für viele Zeitgenossen war diese »deutsche Revolution« sogar »ein größeres Ereignis als die französische Revolution des vergangenen Jahrhunderts«.5 So sah es Benjamin Disraeli, produktiver Romanschriftsteller und konservativer Politiker. Disraeli war damals Oppositionsführer im britischen Unterhaus und übernahm im Februar 1874 zum zweiten Mal das Amt des Premierministers.

Nun wäre es verfehlt, würde man in der europäischen Geschichte seit der Reichsgründung eine Einbahnstraße in den großen Krieg, die »Urkatastrophe« des 20. Jahrhunderts,6 sehen. So war es nicht. Auch vor dem Sommer 1914 waren die Großmächte immer wieder einmal aneinandergeraten, ohne dass sich daraus ein Weltkrieg entwickelt hätte, etwa Engländer und Franzosen im Sudan oder Russen und Japaner in China. Seit 1908 war es den Großmächten sogar gelungen, mehrere schwere Krisen auf dem Balkan, die bis an den Rand eines großen europäischen Krieges führten, auf dem Verhandlungswege beizulegen.

Was die Deutschen im Besonderen angeht, so waren sie mit sich und mit dem, was sie erreicht hatten, lange Zeit im Reinen. Es war ja auch beachtlich und vorzeigbar. Dem spektakulären Erfolg der Reichsgründung folgten andere. Bis zur Jahrhundertwende war man – auf einigen Feldern sogar mit Abstand – die führende Wirtschaftsmacht Europas, zählte zu den stärksten Handelsnationen der Erde, hatte ein weltweit konkurrenzfähiges Bildungssystem, gehörte seit Mitte der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts zu den Kolonialmächten, und eine der schlagkräftigsten Armeen des Kontinents besaß man ohnehin.

Allerdings schienen die Nachbarn Deutschlands zusehends ihre Schwierigkeiten mit dieser atemberaubenden Karriere zu haben. So jedenfalls empfanden das die Deutschen. Im Sommer 1912 kam der deutsche Reichskanzler, Theobald von Bethmann Hollweg, gewiss kein Falke, zu dem Schluss, dass die anderen die Deutschen nicht »liebten«: »Dafür sind wir zu stark, zu sehr Parvenü und überhaupt zu eklig.«7 Das war nicht die Stimme eines Außenseiters. So dachten viele, wenn nicht die meisten. Erst recht nachdem man ihnen, wovon sie allerdings überzeugt waren, den Krieg aufgezwungen hatte.

Tatsächlich war es aber so, dass die Deutschen einiges zu ihrer zusehends unkomfortablen Lage beigetragen hatten. Großspurige Auftritte in Ton und Tat, zum Beispiel in Afrika, aber auch handfeste rüstungspolitische Aktivitäten, wie der Aufbau einer deutschen Schlachtflotte, zeitigten nicht minder handfeste Reaktionen. Vor allem brachten die Deutschen ungewollt etwas zustande, was im Lichte der europäischen Geschichte, bis es passierte, höchst unwahrscheinlich, ja geradezu revolutionär war. Zunächst Frankreich und Russland, die Gegner in den großen Kriegen am Beginn und in der Mitte des 19. Jahrhunderts, und dann sogar England und Frankreich, die weltpolitischen Erzrivalen und Gegner in etlichen Krisen und Kriegen, fanden sich zusammen und nahmen die Deutschen in die Zange. Als sich 1907 auch noch England und Russland in sensiblen weltpolitischen Fragen einigten, war die »Einkreisung« des Deutschen Reiches perfekt.

Die Deutschen wähnten sich jetzt in einer Situation, die sie in ihrem historischen Gedächtnis seit den Tagen Friedrichs des Großen als bedrohlich abgespeichert hatten. Damals, im alles entscheidenden Siebenjährigen Krieg der Jahre 1756 bis 1763, hatte man, von indirekter britischer Hilfe abgesehen, keinen Verbündeten. Jetzt hatte man immerhin Österreich-Ungarn. Die Doppelmonarchie mochte in einem beklagenswerten inneren Zustand sein und namentlich auf dem Balkan eine Politik betreiben, die den deutschen Interessen abträglich war. Aber Österreich-Ungarn durfte keinesfalls geschwächt werden oder gar in eine existentielle Krise geraten. Und eine solche bahnte sich an, nachdem Ende Juni 1914 der österreichisch-ungarische Thronfolger in Sarajevo ermordet worden war. Als die Wiener Regierung Serbien für das Attentat verantwortlich machte und Russland unzweideutig zugunsten Serbiens Position bezog, hatte die deutsche Politik kaum noch Spielräume.

In Berlin setzten sie auf den Befreiungsschlag, die Flucht nach vorn. Nicht dass man im Sommer 1914 den Krieg um jeden Preis gewollt hätte. Aber man war bereit, einen hohen Preis zu zahlen und den Krieg – sofern unvermeidlich auch gegen Russland – zu führen. Und so ließ sich die Reichsleitung auf ein hochriskantes Spiel ein. Wissend, dass die russische Regierung die serbische nicht fallenlassen konnte, provozierten sie in Berlin russische Maßnahmen in rascher Serie. Sie gipfelten am 30. Juli in der russischen Generalmobilmachung, auch gegen Deutschland. Hinter dieser deutschen Eskalationsstrategie steckte das Kalkül, dass ein offensives Russland nicht auf die Unterstützung seiner Partner würde zählen können.

Das Kalkül ging nicht auf. Und nun ging alles rasend schnell. Nachdem das Zarenreich der ultimativen Aufforderung des Deutschen Reiches, die Mobilmachung zurückzunehmen, nicht nachgekommen war, erklärte Deutschland zunächst am 1. August Russland, zwei Tage später auch dessen Bündnispartner Frankreich den Krieg und eröffnete ihn mit dem Einmarsch ins neutrale Belgien. Zu diesem riskanten Zug gab es in den deutschen Planungen keine Alternative. So wollte man einen schnellen Sieg über Frankreich herbeiführen, um sich dann ganz auf den – wie man annahm – weitaus gefährlicheren Gegner Russland konzentrieren zu können.

Als auf den Einmarsch in Belgien hin am 4. August auch England Deutschland den Krieg erklärte, fanden sich gleichsam über Nacht sämtliche europäische Großmächte, von Italien einstweilen abgesehen, auf dem Schlachtfeld wieder. Damit hatte bei Ausbruch der Krise sechs Wochen zuvor kaum jemand gerechnet. Und schon gar nicht hatte man es für möglich gehalten, dass sich dieser europäische Krieg über Jahre hinziehen und im Frühjahr 1917 mit dem Kriegseintritt der USA schließlich in einen weltumspannenden Krieg münden könnte.

Dass es dahin kam, lag vor allem am Geschehen auf dem westlichen Kriegsschauplatz. Seit die deutsche Offensive in Frankreich Mitte September 1914 ins Stocken geraten war, wurden hier zwar etliche Schlachten mit immensen Verlusten geschlagen, aber nennenswerte Fortschritte konnten weder die deutschen noch die Truppen der Gegner verbuchen. Ohne entscheidende Hilfe von außen, die nur von den USA kommen konnte, mussten die Westmächte auf Dauer ins Hintertreffen geraten. Das galt auf beiden Seiten der Front als ausgemacht.

Eine militärische Intervention der USA in Europa hielt man aber für ausgeschlossen – bis es tatsächlich dazu kam. Die konsequente amerikanische Abstinenz beruhte auf der nach ihrem Präsidenten James Monroe benannten Doktrin. Darin hatten sich dieVereinigten Staaten 1823 jedwede Intervention der Europäer in Mittel- und Südamerika verbeten, was im Gegenzug bedeutete, dass die USA sich ausdrücklich nicht in die kolonialen Angelegenheiten der Europäer und faktisch auch nicht in deren heimische Konflikte einmischen wollten.

Und dann taten sie es im Frühjahr 1917 doch und mit aller Macht. Auslöser für den Kriegseintritt gegen Deutschland waren zum einen die Wiederaufnahme des uneingeschränkten U-Boot-Krieges, dem auch amerikanische Schiffe und amerikanische Staatsbürger zum Opfer fielen, und zum anderen ein von den Briten abgefangenes Telegramm. Darin bot Arthur Zimmermann, der Chef des deutschen Auswärtigen Amtes, Mexiko – und beinahe zur gleichen Zeit auch Japan – am 19. Januar 1917 ein Bündnis an. Mit der Aussicht auf eine Rückeroberung von Texas, Arizona und New Mexico sollte der südliche Nachbar der USA zum Kriegseintritt gegen die Vereinigten Staaten bewegt werden.

Diese Maßnahmen und Aktivitäten gaben im Umfeld des amerikanischen Präsidenten jenen Kräften entscheidenden Auftrieb, die das Land im Krieg gegen Deutschland und dessen Verbündete sehen wollten. Der Kriegseintritt war kein selbstloser Akt. Mit ihm beugte Amerika auch und gewiss nicht zuletzt der Gefährdung seiner globalen Wirtschafts- und Handelsinteressen vor. Und so wurde, gewissermaßen mit deutscher Unterstützung, Woodrow Wilson – Jahrgang 1856, Ökonomieprofessor und vormaliger Gouverneur von New Jersey – zu dem Mann, in dessen Händen Deutschlands Zukunft lag. Am 6. April 1917 erklärten die Vereinigten Staaten von Amerika dem Deutschen Reich den Krieg und erschienen dann mit ihrer geballten militärischen Macht auf den Schlachtfeldern Frankreichs.

Vor diesem Hintergrund traten die Ereignisse auf dem östlichen Kriegsschauplatz beinahe in den Hintergrund. Dabei stellte sich die Lage hier insofern ganz anders dar, als die deutschen Truppen die anfänglichen Erfolge der russischen Armeen ins Gegenteil verkehren, erhebliche Geländegewinne verbuchen und bis Herbst 1915 große Teile des Baltikums und Polens besetzen konnten. Je länger sie diese Stellungen halten und je weiter sie dann von hier aus vorrücken konnten, umso unübersichtlicher wurde die Lage im Innern Russlands. Und je unübersichtlicher diese wurde, umso größer war die Chance, durch den Transport Lenins nach Petrograd den inneren Kollaps und mit ihm den militärischen Zusammenbruch zu beschleunigen. Im Grunde war dieses Ziel erreicht, als die Bolschewiki am 26. Oktober alter Zeitrechnung in ihrem Dekret über den Frieden den Gegnern einen sofortigen Waffenstillstand und einen »demokratischen Frieden … ohne Annexionen … und ohne Kontributionen« vorschlugen.8

Am 15. Dezember 1917 schlossen Sowjetrussland und Deutschland den Waffenstillstand. Als sich die Vertreter beider Länder, auf deutscher Seite flankiert von Vertretern der Bündnispartner Bulgarien, Österreich-Ungarn und der Türkei, sieben Tage später in Brest-Litowsk zu Friedensverhandlungen einfanden, war klar, wer in der stärkeren und wer in der schwächeren Position war. Wie ultimativ die deutsche Seite ihre Forderungen vortrug, zeigte unter anderem der wiederholte Wechsel der sowjetischen Verhandlungsführer, zu denen für einige Monate auch Trotzki zählte. Am Ende blieb den Sowjets nichts anderes übrig, als am 3. März 1918 den Vertrag und am 27. August ein Zusatzabkommen zu unterzeichnen, das ihre Lage weiter verschlechterte. Russland verlor riesige Gebiete, darunter die Ukraine, und mit ihnen ein Drittel seiner Bevölkerung sowie die Hälfte seiner Industrie. Darüber hinaus musste es erhebliche Entschädigungsleistungen erbringen.

Trotz dieses demütigenden Diktats und obgleich die deutschen Truppen auch nach Brest-Litowsk ihren Vormarsch fortsetzten, war der Pakt mit den Deutschen für Russland die beste unter lauter schlechten Alternativen. Denn die Bolschewiki standen mit dem Rücken zur Wand. Sie waren von Gegnern umstellt. Zu ihnen gehörte im Innern ein heterogenes Bündnis aus Angehörigen der alten zaristischen Armeen, liberalem Bürgertum, Menschewiki, Sozialrevolutionären und anderen Gruppen. Und von außen zogen amerikanische und japanische, englische, französische und italienische, außerdem polnische, griechische, rumänische, serbische, ja selbst tschechische Truppen, die einmal zur österreichisch-ungarischen Armee gehört hatten, gegen die Bolschewiki zu Felde. So unterschiedlich die Motive all dieser inneren und äußeren Gegner auch gewesen sein mögen, einig waren sie sich darin, wer der Gegner war: Lenin und seine Leute. Dass die Deutschen sich in dieser schier ausweglosen Situation holten, was zu holen war, aber den Machtanspruch der Bolschewiki nicht infrage stellten, hat deren Herrschaft gerettet.

So retteten die Deutschen die Revolution. Wenn man so will, kamen die deutschen Putschisten des Jahres 1871 den russischen Putschisten des Jahres 1917 zur Hilfe. 1871 hatte Russland Preußens Anspruch auf die führende Rolle in Deutschland akzeptiert. Jetzt akzeptierte Deutschland die führende Rolle der Bolschewiki in Russland. Das war schon deshalb nicht ohne Ironie, weil Lenin immer wieder erklärt hatte, dass die russische Revolution die Voraussetzung für die deutsche und die erfolgreiche Revolutionierung Deutschlands die Voraussetzung für das Überleben der Revolution in Russland sei.

Und tatsächlich deutete für einen Moment einiges auf einen bevorstehenden Erfolg der Revolution in Deutschland hin. Denn dort gab es mit der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD) und dem Spartakusbund, die beide Ende 1919 zu großen Teilen in der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) aufgingen, starke Bolschewiki-affine Kräfte. Und die hatten nicht nur mittelbar einen erheblichen Anteil daran, dass am 9. November 1918 die erste deutsche Republik das Licht der Welt erblickte. Vielmehr sah es in den kommenden Wochen so aus, als könnten sie in Berlin das Heft des Handelns in die Hand bekommen und Deutschland auf den sowjetischen Weg bringen. Im April und Mai 1919 zeigte dann die Münchener Räterepublik noch einmal, was vorstellbar war.

Fasste man den Revolutionsbegriff weiter und bezog ihn nicht vornehmlich oder gar ausschließlich auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, dann musste man sogar bilanzieren, dass die Revolution in ganz Europa obsiegt hatte. Denn infolge des Weltkriegs hatte sich die politische Struktur des Kontinents derart radikal geändert, dass die Zeitgenossen die Orientierung verloren. So verschwand die Monarchie als Staatsform nicht nur in Russland, sondern auch in Österreich-Ungarn, in der Türkei und im Deutschen Reich. Dort traten im Herbst 1918 der Deutsche Kaiser und König von Preußen ab und ebenso die Monarchen aller übrigen Einzelstaaten.

Dieser revolutionäre Prozess ging mit der territorialen Auflösung oder doch Amputation der vier Großreiche einher. Und das wiederum hatte zur Folge, dass sich diese beziehungsweise die Rumpfstaaten, die von ihnen übrig blieben, an ihren Grenzen einer Reihe neuer Nachbarn gegenübersahen. Im Westen Russlands waren das Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen sowie – als Folge der Annexion Bessarabiens von Russland – ein deutlich vergrößertes Rumänien. In allen Fällen waren die neuen Grenzen umstritten, in den meisten Fällen von beiden Seiten. Davon ist im nächsten Kapitel zu berichten.

Im Herbst 1919 eröffnete einer dieser neuen russischen Nachbarn den Krieg gegen Sowjetrussland. Der polnische Staat war in der Endphase des Ersten Weltkriegs aus russischen, deutschen und österreichischen Territorien gegründet oder genauer: wieder gegründet worden. Der polnische Angriff traf die Sowjets in einer Situation, in der sie ums Überleben kämpften. Denn weder die alliierte Intervention noch der Bürgerkrieg waren beendet. Gleichwohl gelang es den Sowjets, die von Józef Piłsudski kommandierten polnischen Armeen bei Kiew aufzuhalten und bis Warschau zurückzuwerfen. Trotzki hatte vor dem Marsch auf Warschau gewarnt; Lenin, unterstützt unter anderem von Stalin, wollte ihn. Trotzki behielt recht. Die noch im Aufbau befindliche Rote Armee wurde an der Weichsel erneut zum Rückzug gezwungen, weil eine französische Militärmission den Polen zur Hilfe eilte.

Am 12. Oktober unterzeichneten die beiden völlig erschöpften Gegner einen Waffenstillstand, am 18. März 1921 folgte in Riga der Friedensschluss. Mit der Grenze, die sie vereinbarten, konnten weder Polen noch Sowjets leben. Die Frage war nicht, ob die Grenze von Riga infrage gestellt werden würde; die Frage war auch nicht, mit welchem Mittel das geschehen würde, denn das stand fest: Es war der Krieg. Die Frage war lediglich, wann das geschehen, wer als Erster losschlagen und mit welchem Partner er diesen Krieg führen würde. Beantwortet worden sind diese Fragen im Sommer 1939, als Josef Stalin mit Adolf Hitler einen Pakt einging.

So dramatisch der polnische Überfall die militärische Lage der Bolschewiki kurzfristig verschlechterte, so unschätzbar war mittelfristig sein politischer Wert. Denn jetzt waren sie es, die den russischen Boden gegen die Eindringlinge aus dem Westen, also die Polen und ihre französischen Helfershelfer, verteidigten. Dass sich vor diesem Hintergrund auch eine ganze Reihe von Offizieren der Zarenarmee in den Dienst der Roten Armee stellte und dort blieb, sprach für sich und half den Sowjets in Zeiten, die noch schwieriger sein sollten.

Da sie militärisch und politisch im Osten schon deshalb zu einer Intervention nicht fähig waren, weil der Krieg gegen Polen alle Kräfte im Westen band, veranlassten die Bolschewiki im Frühjahr 1920 hinter den Kulissen die Gründung einer sogenannten Fernöstlichen Republik. Deren Führer gaben vor, einen von Russland unabhängigen Staat etablieren zu wollen. Damit war dem weiteren Vordringen der Japaner ein Riegel vorgeschoben, denn deren Intervention war ausschließlich als Mission gegen die Bolschewiki legitimiert. Als die jetzt die Unabhängigkeit der Fernöstlichen Republik anerkannten, zwangen sie die Japaner, ihrerseits diesen Schritt zu tun. Damit entfiel jeder Grund für ihre militärische Präsenz.

Das war einer der wenigen Momente dieser frühen Jahre, in denen die Bolschewiki und die Westmächte an einem Strang zogen. Denn diese, allen voran die USA, aber auch Großbritannien, drängten Tokio zum Rückzug aus Russland. Ihnen konnte nicht daran gelegen sein, dass sich Japan die Umbrüche in Russland und China zunutze machte und zur dominanten Macht im ostasiatisch-pazifischen Raum aufstieg. Nicht zufällig zwangen die Westmächte die Japaner auch zur Aufgabe ihrer ungleich größeren chinesischen Kriegsbeute. Kaum war der Rückzug der Japaner aus Russland abgeschlossen, sorgten die Sowjets dafür, dass die unabhängige Fernöstliche Republik Mitte November 1922 ihren Geist aufgab, als Staatswesen aufgelöst und wieder in den nunmehr sowjetischen Staatsverband eingegliedert wurde.

Die Bolschewiki waren so gesehen »innovative Eroberer«,10 und das nicht nur im Fernen Osten. Genauso operierten sie in anderen zeitweilig unabhängigen Republiken wie der Ukraine und Georgien, Armenien und Aserbaidschan, Usbekistan oder Kasachstan. Alle diese Länder waren auf dem Weg zurück in den sowjetischen Staatsverband, als die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken UdSSR Ende 1922 das Licht der Welt erblickte. Und es waren die Bolschewiki, die diese patriotische Großtat vollbracht hatten. Wenn es ein Motiv gab, das die Reihen hinter ihrer Führung schließen ließ, dann war es dieser russische Patriotismus. Wer die hohe Zustimmung der Russen zu den Manövern ihres Präsidenten Putin in Georgien oder in der Ukraine verstehen will, findet in den Ereignissen zu Beginn der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts eine historische Erklärung.

Begreiflicherweise nahmen viele Georgier und Ukrainer den russischen Patriotismus zu jener Zeit ganz anders wahr. Für sie und viele außenstehende Beobachter handelte es sich beim Vorgehen der Sowjets um Nationalismus oder auch Chauvinismus in Reinkultur. Die Sowjets aber wussten fortan, wie weit sie der patriotische Impuls ihrer Landsleute tragen konnte. Schon deshalb stand für sie außer Frage, dass sie die Gebiete, die sie bis Ende 1922 nicht hatten zurückholen können, dem Staatsverband so bald wie irgend möglich einverleiben würden – ganz gleich zu welchem Preis und mit welchem Partner, sollte man einen solchen benötigen.

Im Lichte der Geschichte war es konsequent, dass diese Rolle 1939 Deutschland zufiel. Ohne den Waffenstillstand mit den Deutschen am Jahresende 1917 und ohne die pragmatische Zusammenarbeit der folgenden Monate hätten die Sowjets die dramatische Zeit des Alles oder Nichts niemals überstanden. Und ohne die unfreiwillige Hilfe der Westmächte hätten die beiden so unterschiedlichen Partner, hätten das Deutsche Reich und die UdSSR während der zwanziger Jahre wohl kaum erneut zusammengefunden. Schon mit der Pariser Friedenskonferenz stellten die Westmächte dafür die Weichen.