Valija Zinck
Penelop und der funkenrote Zauber
Mit Vignetten von Annabelle von Sperber
FISCHER E-Books
Valija Zinck, 1976 in Ingolstadt geboren, arbeitet seit über fünfzehn Jahren als Lehrerin für kreativen Kindertanz, Performerin und freischaffende Choreographin. Mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern lebt sie in Berlin. Von Valija Zinck ist bei FISCHER KJB bereits ›Jakob und die Hempels unterm Sofa‹ erschienen.
Annabelle von Sperber arbeitet als freie Illustratorin und Autorin im atelier2gestalten für verschiedene Verlage und Printmedien. Sie studierte Illustration an der HAW Hamburg und lehrt als Dozentin an der Akademie für Illustration und Design in Berlin.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage gibt es auf www.blubberfisch.de und www.fischerverlage.de
Penelop ist ein seltsames Mädchen: Ihr Haar ist so grau wie das ihrer Oma! Und sie weiß immer schon vorher, was ihre Mutter im nächsten Moment fragen wird. Aber eines Morgens ist alles anders: Penelop wacht auf – und hat plötzlich funkenrotes Haar! Und sie spürt eine nie gekannte Kraft in sich. Am selben Tag erfährt sie auch, dass ihr Vater noch lebt. Dabei hat sie immer geglaubt, er sei gestorben. Heimlich macht Penelop sich auf den Weg, um ihn zu finden. Sie ahnt nicht, welches Abenteuer sie erwartet …
Von Annabelle von Sperber liebevoll illustriert.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Regina Solf
unter Verwendung einer Illustration von Annabelle von Sperber
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-4987-6
Penelop Gowinder war ein seltsames Mädchen. Sie hatte bleigraues Haar, das ihr tief ins Gesicht fiel, und sie roch nach Feuer.
Wenn ihre Mutter sie rief, hörte Penelop das manchmal schon, bevor Frau Gowinder überhaupt den Mund aufgemacht hatte, dann sagte sie:
»Ja, Mama, ich habe die Haare heute schon gewaschen«, oder »Okay, okay, ich bringe Oma den Kaffee sofort hinauf.«
Für Penelop war das bleigraue Haar ganz normal, sie kannte es ja nicht anders. Den Feuerduft bemerkte sie kaum, und über das Schon-vorher-Hören machte sie sich auch keine Gedanken. Gedanken machte sie sich nur über ihren Geburtstag. Der war im Sommer, genauer gesagt am dreizehnten August. Jedes Jahr am dreizehnten August regnete es. Immer. Das fiel außer Penelop fast niemandem auf. Und weil die meisten Menschen einen Regenschirm oder ein Cape benutzten, bekamen sie auch nicht mit, dass man von dem Regen am dreizehnten August nicht wirklich nass wurde.
Als Penelop an ihrem siebten Geburtstag ihrer Mutter von der Merkwürdigkeit des Regens erzählt hatte, war die Mutter ganz blass im Gesicht geworden und hatte geschimpft: »Ich will von solchen eigenartigen Sachen nichts hören! Davon habe ich in meinem Leben wahrlich schon genug gehabt!« Penelop hatte sie gefragt, was sie denn damit meine, doch Frau Gowinder war still geblieben, und Penelop hatte geglaubt, dass sie eine Träne im Auge ihrer Mutter glitzern sah. Und weil sie ihre Mutter sehr liebte, sagte sie nichts mehr über diesen eigenartigen Geburtstagsregen. Weder am achten Geburtstag, noch sonst irgendwann.
Zusammen mit Oma Erlinda und der grauen Katze Cucuu wohnten Penelop und ihre Mutter in einem kleinen, etwas zugigen Holzhaus am Ortsrand, gleich neben den Sumpfwäldern. Auch wenn das Haus eng war, liebte Penelop es sehr. Besonders weil es so aussah, als hätte es eine Drachenhaut. Das lag daran, dass das Haus früher knallrot gewesen war, aber Penelops Mutter hatte es mit dunkelgrüner Farbe überstrichen. Jedes Jahr nach dem Sommerregen blätterte grüne Farbe von den Brettern, und mehr rote Farbe kam darunter hervor. Bis das Haus ganz rotgrüngesprenkelt war.
Penelops Vater wohnte nicht mit ihnen im Drachenhaus. Er wohnte überhaupt nirgends mehr, denn er war gestorben, als Penelop noch ganz klein war. Sie vermisste ihn, obwohl sie ihn ja gar nicht kannte. Das Einzige, was sie von ihm hatte, waren seine Katze Cucuu und ein altes Schwarzweißfoto, das allerdings schon ziemlich ramponiert aussah. Auf dem Foto sah man, wie ein langhaariger Mann Penelops Mutter – die noch keine Falten auf der Stirn und einen kugelrunden, schwangeren Penelop-Bauch hatte – lachend umarmte. Sonst gab es im ganzen Haus nichts, was an den Vater erinnerte. Frau Gowinder hatte all seine Dinge weggegeben, weil sie sie zu traurig machten. Das fand Penelop schade. Sie hätte gerne mehr über ihren Vater gewusst, seine Dinge hätten ihr etwas über ihn erzählen können. Manchmal, wenn Penelop fragte, sagte Oma Erlinda zwar »Durchaus bedauerlich, dass der Kerl nicht mehr da ist«, aber die Mutter sprach nie von ihm.
An einem düsteren Freitagmorgen im April wachte Penelop auf, weil ihr etwas über die Nase krabbelte.
»Lass das, Cucuu!«, murmelte sie im Halbschlaf. Aber dann fiel ihr ein, dass die Katze ja als Wärmflaschenersatz auf ihren Füßen lag und dass das, was da krabbelte, sich eher anfühlte wie etwas mit vielen Beinen.
»Heilige Sumpfkuh!« Penelop fuhr hoch und streifte sich angeekelt einen großen gelbgrauen Weberknecht aus dem Gesicht. »Was fällt dir ein?!«
Der Weberknecht wackelte, ohne Antwort und so schnell er es auf seinen dürren Beinen vermochte, unters Bett.
»Unhöflich bist du auch noch!« Penelop hatte eigentlich nichts gegen Weberknechte, Spinnen oder sonstiges Krabbelgetier, nur nicht unbedingt um sechs Uhr morgens auf der Nasenspitze. Dann fiel ihr Blick auf die schlafende Cucuu.
»Nennst du das etwa Wachschutz? Da werde ich in aller Frühe von einem mageren Achtbeiner angegriffen, und du liegst nur da und schnarchst?« Die Katze ihres Vaters öffnete nicht einmal ein Auge. Mit mir redet wohl heute keiner, dachte Penelop. Doch das änderte sich im nächsten Augenblick. Ein durchdringendes »Penelop, Hiiiiiiilffeeeeeeeeee!« hallte durchs Haus.
Aha! Wenigstens die Mutter hatte ihr etwas zu sagen. Wahrscheinlich war die Milch angebrannt, oder ihr waren drei Tropfen Kaffee übers Kleid gespritzt. Aber als Penelop die ausgetretene Holztreppe nach unten tappte, roch es weder nach verbrannter Milch noch nach köstlichem Kaffee, und die Mutter schlief zusammengerollt auf ihrer Schlafcouch. Dieses verflixte Schon-vorher-Hören! Manchmal war es doch zu lästig. Besonders wenn das Vorher mehrere Tage dauerte, brachte es Penelop wirklich durcheinander.
Leise, um ihre Mutter nicht zu wecken, begann sie, sich Frühstück zu machen. Eisenkrauttee und Butterbrötchen. Das gab es immer, wenn sie ohne die Mutter aß. Frau Gowinder arbeitete als Klarinettistin am Theater in der Stadt. Wenn sie abends Vorstellung hatte, kam sie oft erst weit nach Mitternacht zurück. An den darauffolgenden Morgen schlief sie meistens etwas länger, und Penelop frühstückte dann allein. Also auch heute. Sie biss in ihr Brötchen und beobachtete dabei die Regentropfen, die in krunkeligen Bahnen an der Fensterscheibe entlangrannen. Schade, dass es kein Geburtstagsregen ist! Da werde ich bis zum Bus heute ordentlich nass, dachte Penelop und nahm noch einen Schluck Tee.
Als sie aus dem Haus trat, blies ihr eiskalter Wind ins Gesicht. Sie zog den Kopf zwischen die Schultern und holte ihr Fahrrad aus dem Schuppen. Der Weg, der von dem rotgrüngesprenkelten Haus zur Dorfstraße führte, war ein buckeliger Sandpfad, an dessen Rand Gewürzsträucher wuchsen. Hier schob Penelop meistens, und erst wenn sie bei der alten Rotbuche auf die gepflasterte Straße trat, stieg sie aufs Rad und strampelte den steilen Hügel zum Dorf hinauf.
An diesem Morgen kam ihr ein fremder Traktor entgegen. Er rollte schnell und polternd auf sie zu, und genau als Penelop mit ihrem Rad eine riesige Pfütze umfuhr, beschleunigte das Gefährt und preschte mitten in die Pfütze hinein. Wasser und Sand spritzten in einem dicken Schwall zur Seite. Penelop kam sich vor, als hätte man sie eben aus einem schmutzigen Teich gezogen.
»Du blödes Beulengesicht! Das wirst du doppelt und dreifach zurückbekommen. Verlass dich drauf!«, schrie sie dem Traktor hinterher und wischte sich übers Gesicht. Was war das nur für ein Tag? Erst ein Spinnentier auf der Nase und dann eine dreckige Traktordusche.
»Und du!«, schimpfte sie die Straße. »Hättest du ihn nicht um eine andere Kurve fahren lassen können?«
Die Straße antwortete natürlich nicht, und Penelop strampelte weiter bergauf zur Bushaltestelle.
»Hast wohl im Sumpfwald gebadet, was?«, fragte der Busfahrer grinsend, als sie einstieg. Penelop hatte keine Lust, darauf zu antworten.
In der Schule zerrte sie sich die nassen Kleider vom Leib, hängte sie über eine Schranktür und zog sich stattdessen das müffelnde T-Shirt und die müffelnde kurze Hose aus ihrem Turnbeutel an. Das war zwar viel zu wenig für diesen nasskalten Apriltag, aber besser als nackt, befand sie, und irgendwie würde es schon gehen, sie war schließlich kein Gänseblümchen. Als dann aber ihr Zähneklappern den Unterricht von Herrn Pumpf derart störte, dass dieser eine zitterige Zickzacklinie anstatt einer Geraden zog, rief der Lehrer laut:
»Schluss mit dem Geklapper! Jungs und Mädchen der 5b, Solidarität ist gefragt! Sowohl mit mir, eurem armen Mathematiklehrer, als auch mit unserer verehrten Miss Gowinder. Wer möchte ihr eine schützende Schicht gegen eine heraufziehende Lungenentzündung als Spende darbieten?«
Die Frage hätte wohl eher lauten müssen, wer möchte nicht? Denn jeder mochte. Und so saß Penelop wenig später in einem halbseidenen Unterhemd, einem mintgrünen Rollkragenshirt, einem Kapuzenpulli, einer Strickweste, einem rotorangegestreiften sowie einem schwarzen Schal, einer leicht kratzenden Strumpfhose, einer violetten Haarschleife, einem Stirnband, einem Silberring mit Rosenmuster, einem gestopften Strumpf und beigefarbenen Leggins in der Bank.
»Fehlen nur noch Schuhe«, meinte Herr Pumpf halb im Scherz. Da sprangen zwei spindeldünne strohblonde Jungen vom hinteren Tisch auf und wieselten nach vorn. Tom und Pietsch. Sie hatten die gleiche Zahnlücke, die gleiche Art zu grinsen und die gleichen grellblauen Turnschuhe, und diese boten sie Penelop nun in Größe 38 links und rechts in Größe 39 an.
»Wir können bis morgen auch mal einbeinig hüpfen!«, rief Pietsch, legte die Schuhe vor Penelop auf den Tisch und sprang dann Arm in Arm mit Tom zurück an seinen Platz. Alle Schüler und Schülerinnen in der Klasse lachten, und Penelop wusste gar nicht, was sie sagen sollte. Sie fühlte sich reich beschenkt. Zwar schwitzte sie in all den Sachen, und die Schuhe waren ihr natürlich viel zu groß, aber was machte das schon?
Sonst passierte an diesem Vormittag nicht mehr viel, und als sie sich am Mittag auf den Heimweg machte, hätte sie eigentlich ihre schon fast trockenen Kleider wieder anziehen können. Aber sie wollte das wohlige Gefühl, von der ganzen Klasse umhüllt zu sein, nicht schon wieder hergeben.
Der Regen hatte nachgelassen und sich in ein leichtes Nieseln verwandelt. Penelop nahm die Abkürzung durch den Sumpfwald. Durch den Ort brauchte sie nämlich einundzwanzig Minuten, von der Bushaltestelle bis zum Drachenhaus, durch den Wald nur zwölf. Wer schon einmal in einem Sumpfwald gewesen ist, weiß, dass es dort nur vereinzelte, äußerst schmale Wege gibt, die man auf keinen Fall verlassen darf. Wer sie doch verlässt, versinkt sogleich bis über die Brust oder noch tiefer im kalten Sumpf. Und wer das unwahrscheinliche Glück hat und wieder herauskommt, muss strumpfsockig weitermarschieren. Der Morast saugt einem die Stiefel von den Füßen, verschluckt sie und gibt sie nicht mehr her.
Als Penelop ihr Fahrrad vorsichtig über eine knorrige Wurzel lenkte, rutschte ihr beinahe der Reifen weg, so glitschig war heute der Weg. Sie fasste den Lenker fester, krallte sich mit den Zehen in die zu großen Turnschuhe, kurvte mit äußerster Sorgfalt um den nächsten Baum und erschrak.
Auf dem Weg vor ihr lag etwas. Etwas, das nicht in einen Sumpfwald gehörte, sondern um einen Hals. Ein dunkelgrünes Stück Stoff mit rosa Rosen darauf. Penelop erkannte das Halstuch ihrer Mutter sofort.
Warum liegt das Ding hier auf dem Weg?, fragte sie sich und hob es auf. Sie sah sich nach allen Seiten um, aber da waren nur die Bäume, das Sumpfgras und der Wind, der an ihren grauen Haaren zupfte.
»Mama?«, rief sie leise, »bist du hier?«
Niemand antwortete. Penelop stopfte das Halstuch in die Tasche der Strickweste, blickte sich noch einmal um und fuhr dann, so schnell es der nasse Pfad erlaubte, weiter.
Mit klammen Fingern klopfte sie an die grünrotgesprenkelte Haustür, aber aus dem Inneren kamen keine Geräusche.
»Mama!«, rief Penelop, »Oma Erlinda! Bitte macht auf.« Es antwortete keiner. Penelop ging einmal um das Haus herum und sah durch die Fenster. Kein Kochtopf, der auf dem Herd dampfte, keine Frau Gowinder die Klarinette übte, keine Oma Erlinda über ihrer Münzsammlung, nur die graue Cucuu lag zusammengerollt auf einem Sessel.
Was hat das nur zu bedeuten?, fragte sich Penelop und ließ sich auf der kleinen Holzstufe vor der Eingangstür nieder. Augenblicklich begann ihre Zunge wie von selbst zu schnalzen. Das tat die Zunge immer, wenn Penelop angestrengt nachdachte. Eigentlich nicht weiter schlimm, nur manchmal etwas lästig.
»Grundgütiger Himmel, Kind, da bist du ja endlich!«
Oma Erlinda stand auf einmal vor der Holzstufe. Dass es Oma Erlinda war, erkannte Penelop an dem abgewetzten olivgrünen Regenmantel und dem dicken Bauch darunter, sonst aber sah die Oma völlig anders aus. Die Haut grau, die braungefärbten Haare völlig zerzaust, die Augen verschwollen und die Nase rot. Was war passiert?
»Deine Mutter hatte einen Unfall.« Oma Erlinda ließ sich neben Penelop auf die kleine Stufe sinken.
»Was?« Penelop sprang auf.
»Beruhige dich, beruhige dich. Es ist nicht so schlimm. Wir können sie gleich besuchen fahren.«
Auf der langen Busfahrt zum Krankenhaus erzählte Oma Erlinda, dass die Mutter im Dorf von einem Traktor angefahren worden war. Sie hatte nur ein paar Prellungen abbekommen, aber sie konnte immer nur für ein paar Minuten wach sein, dann wurde sie wieder ohnmächtig.
»War Mama heute auch« – schnalz – »im Sumpfwald?«
»Nein, wieso?«, fragte Oma Erlinda.
»Weil – ach, nur so«, sagte Penelop und sah aus dem Fenster über die Wiesen zum Wald.
In den nächsten Wochen musste Penelop sich daran gewöhnen, ihre Mutter nur am Wochenende zu sehen, und sie litt sehr darunter. Der Weg mit dem Bus zum Krankenhaus dauerte über zwei Stunden. Zu weit, um unter der Woche dort hinzufahren. Bei den Besuchen schlief die Mutter meistens, aber wenn sie wach war, lächelte sie Penelop tapfer an und meinte: »Es wird bald wieder. Ich fühle mich schon viel kräftiger, und bald komme ich nach Hause«.
Penelop hoffte innig, dass das stimmte.
An Oma Erlindas Kochkunst musste sie sich auch gewöhnen. Wobei man zu den schranktrockenen Leberknödeln oder den halbschwarzen Spiegeleiern, oder was die Oma sonst zusammenrührte, eigentlich weder Kochen noch Kunst sagen konnte.
Rezept
Spiegelei à la Erlinda Erk
Zutaten:
zwei Eier
eine Pfanne
eine Sammlung alter Münzen
Schlagen Sie die Eier ohne Fett in eine kalte Pfanne.
Stellen Sie die Pfanne auf den Herd (höchste Stufe)
und beginnen Sie dann, Ihre Münzen zu sortieren.
Sobald sich der Qualm in der Küche gut verteilt hat,
können der Herd abgestellt und das Fenster laut kreischend
geöffnet werden. Servieren Sie die verkohlten Eier erst vollständig erkaltet.
Guten Appetit
Und dass es schwierig war, ein grellblaues Schuhband aufzutreiben, daran gewöhnte sie sich auch. Der Schnürsenkel aus dem linken geliehenen Turnschuh war nämlich am folgenden Tag völlig zerrissen gewesen. Wahrscheinlich war das irgendwie im Sumpfwald passiert. Pietsch hatte zwar gemeint, er bräuchte kein neues, er hätte noch orangefarbenes Ersatzband, aber das kam für Penelop überhaupt nicht in Frage. Wenn sie etwas auslieh, dann gab sie es auch zurück. Auch wenn es, wie jetzt, wohl etwas dauern würde.
An einem Freitagabend – Penelop war am Nachmittag im Krankenhaus gewesen, und der Arzt hatte gemeint, am nächsten Tag könne Frau Gowinder nach Hause – an diesem Abend also lag Penelop im Bett und merkte auf einmal, dass sich etwas in ihrem Zimmer verändert hatte. Etwas fehlt, dachte sie, etwas, das immer da gewesen ist, ist verschwunden. Aber ihr wollte nicht einfallen, was dieses Etwas war. Sie knipste die Klemmlampe wieder an und sah sich um. Der Tisch mit den geschwungenen Beinen stand wie immer unter dem Fenster, der rostbraune Sessel war an seinem Platz, der Schrank fehlte offensichtlich auch nicht, und im Bett lag sie drin, das konnte es ja sowieso nicht sein.
Vielleicht ist es etwas ganz Kleines, was ich gar nicht sehen kann, überlegte Penelop und gähnte. Aber das kann ich auch morgen herausfinden. Jetzt wird geschlafen. Sie knipste das Licht wieder aus und grübelte nicht mehr weiter. Als sie schon im Halbschlaf lag, kam Cucuu ins Zimmer geschlichen, sprang aufs Bett und wühlte sich unter die Decke. Aber im nächsten Moment kroch die Katze wieder unter der Decke hervor, tappte zu Penelops Gesicht und schnupperte.
»Lass das«, knurrte Penelop und schob sie zur Seite. Cucuu maunzte und robbte zurück unter die Decke. Penelop spürte die wohlige Wärme des Katzenkörpers an ihren Füßen und glitt hinüber ins Reich der Träume. Wenig später nieste Cucuu dreimal laut, und Penelop murmelte im Schlaf:
»Der Feuerduft – Ich rieche nicht mehr nach Feuer!«
Wenn man sein Leben lang nach Feuer gerochen hat und dann auf einmal nicht mehr danach riecht, dann kann einen das schon durcheinanderbringen. Am nächsten Morgen war Penelop jedenfalls sehr durcheinander. Aber das Durcheinandersein kam nicht vom fehlenden Feuerduft, es brach ja erst aus, als Penelop ins Badezimmer ging. Denn aus dem Spiegel über dem Waschbecken schaute sie ein fremdes Mädchen an.
Das war natürlich Quatsch. Natürlich war es kein fremdes Mädchen, das da aus dem Spiegel herausschaute, denn es war ja auch Penelop selbst, die in den Spiegel hineinschaute. Aber das Mädchen im Spiegel hatte keine grauen Schnittlauchhaare, es hatte einen funkenroten Struwwelkopf.
»Wer bist denn du?«, fragte Penelop das Mädchen im Spiegel. Das Mädchen hatte die gleiche kleine Nase, die gleichen dunkelgrünen Augen und die gleiche blasse Haut wie sie selbst.
Penelop griff sich ins Haar und zog eine der roten Strähnen vor das rechte Auge. Sie blinzelte.
»Das gibt es nicht«, murmelte sie. Das Spiegelmädchen sagte nichts, aber es bewegte die Lippen. Penelop setzte sich auf den geschlossenen Klodeckel und versuchte, ruhig zu atmen. Sie zählte dreimal bis zehn. Das tat sie oft, wenn sie sich beruhigen wollte. An diesem Morgen half das Zählen nichts. Was war denn nur auf einmal los? Kein Feuerduft mehr, dafür aber feuerrotes Haar. Wie kam das? Was hatte das zu bedeuten?
Plötzlich vermisste Penelop ihre Mutter, wie sie sie die ganzen Wochen noch nicht vermisst hatte. Sie wollte sich in ihre Arme werfen und das Ohr an ihre Brust legen. Sie wollte den Herzschlag ihrer Mutter hören, wie sie es als kleines Kind immer getan hatte. Sie wollte, dass ihre Mutter ihr über die roten Haare strich und sagte:
»Penni, meine Penni, du bist meine Tochter, du riechst gut, so oder so! Und ob Grau oder Rot, das ändert nichts am Inneren.«
Aber genau das war es ja! Ob sich am Inneren wirklich nichts geändert hatte, da war Penelop sich überhaupt nicht sicher, sie fühlte sich nämlich ganz anders als sonst. Ganz leicht, durchlässig und auch viel wacher als bisher. Vor allem in der Körpermitte war auf einmal so eine Kraft, die ihr durch die Wirbelsäule loderte. Das ist ja nun nicht unbedingt schlecht, aber es war eben nicht so, wie Penelop es gewohnt war, und deshalb machte ihr es ein wenig Angst.
Cucuu kam ins Bad geschlichen, sah sie an und strich um ihre Beine. Penelop bückte sich und war froh, dass die Katze da war. Sie streichelte über das alte graue Fell und wischte sich eine Träne von der Wange. Cucuu stupste ihr kräftig die Nase in die Hand. Das bedeutete, dass sie Hunger hatte und dass Penelop gefälligst nach unten gehen und ihr etwas in den Katzennapf schütten sollte.
»Ist ja gut, meine Liebe.« Penelop richtete sich auf und atmete tief. Also dann! Wenn Cucuu so tun konnte, als sei das hier ein ganz normaler Morgen, konnte sie das doch auch.
Energisch nahm sie den Kamm von der Spiegelablage, fuhr sich durch die roten Struwweln, wusch sich das Gesicht mit kaltem Wasser und stieg dann die Treppe nach unten. Katzenfutter in die Schüssel, Eisenkraut in die Teekanne. Was noch? Zum Glück war heute Samstag, also keine Schule. Nach draußen wollte sie aber trotzdem. Sie musste unbedingt in den Wald oder zum Steinkreis, oder einfach nur über die Felder rennen, irgendetwas, nur nicht hier drinnen sitzen und nachdenken. Plötzlich klopfte es an der Haustür.
»Herein, wenn’s kein Schneider ist«, rief Penelop. Und weil er kein Schneider war, stand im nächsten Moment der Postbote im Drachenhaus.
»Ich bringe eine Lieferung für die werte Frau Erlinda Erk.« Er setzte ein großes Paket ab und wischte sich über die Stirn. »Und die übliche Post«, er legte zwei Briefe oben auf das Paket. »Also, ich muss dann wieder, und übrigens: Sehr hübsche Haarfärbung. Gewagt, aber hübsch.« Schon war er wieder draußen.
»Haben Sie nicht noch was vergessen?«, rief Penelop ihm hinterher, »einen Brief? Ich meine den in dem dunklen Umschlag!«
»Was?« Der Postbote drehte sich um. »Nicht dass ich wüsste.« Aber er begann doch in seiner Briefträgertasche zu kramen. Tatsächlich kam ein dunkelgraues Kuvert zum Vorschein.
»Heiliges Lieschen! Woher wusstest du das?« Seine Stirn kräuselte sich, aber Penelop zuckte nur mit den Schultern, und so reichte er ihr schnell den Brief und machte, dass er zu seinem Auto kam.
Dieser Brief kommt von meinesgleichen, dachte Penelop, und ihre Zunge schnalzte. Was genau sie mit meinesgleichen meinte, wusste sie eigentlich gar nicht, aber dass der Brief etwas Ungutes enthielt, das wusste sie irgendwie schon.
An Lucia und Penelop Gowinder stand auf einem gedruckten Aufkleber vorne drauf. Absender: L. Gowinder. Auch ein Aufkleber. L. Gowinder? Wer sollte das sein? Sie hatten keine Verwandten, nur einen Großonkel, aber der hieß Benno Herbst. Ein Unbekannter, der denselben Namen trug, hatte ihrer Mutter und ihr einen Brief geschrieben, einen Brief in einem scheußlichen Umschlag.
»Also gut«, murmelte Penelop, »dann mache ich das Ding doch mal auf, dann weiß ich mehr über diesen L. Gowinder.« Aber dann hielt sie inne. Der Brief war ja auch an ihre Mutter. Durfte sie ihn überhaupt alleine lesen? »Ich werfe nur einen kurzen Blick rein«, sagte sie sich und hielt das Kuvert über den Wasserkocher. »Und wenn ich ihn mit Wasserdampf öffne, kann ich ihn ja auch gleich wieder zukleben, und Mama wird gar nichts merken.« Cucuu maunzte, machte einen Buckel und schlug mit ihrem Schwanz durch die Luft.
»Reg dich ab«, schimpfte Penelop. »Es wird schon kein wilder Hund rausspringen!« Der Deckel des Kuverts löste sich. Sie sah hinein. Nanu? Kein Brief. Auch keine Karte. Ein Fünfeuroschein steckte in dem grauen Umschlag. Sonst nichts.
»Ts«, machte Penelop, »was soll denn das?«
»Peneloooppp!« Eine schrille Stimme hallte durchs Haus. Oma Erlinda stand auf der Holztreppe. Sie trug ein weißes Leinennachthemd, und ihr Gesicht hatte die gleiche Farbe. Hastig klebte Penelop den Umschlag zu und schob ihn unter die anderen Briefe.
»Dein Haar! Grundgütiger Himmel! Dein Haar!« Die Oma starrte sie an, als stünde nicht ihre Enkelin, sondern ein Verbrecher in der Küche.
Ach ja, richtig, sie hatte ja rote Haare, das hatte sie glatt vergessen vor lauter Fünfeurobrief. Aber sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Meine Haare sind hübsch. Das findet jedenfalls der Postbote. Magst du einen Tee?«
»Es hat dich also schon jemand damit gesehen?«, rief die Oma. »Grundgütiger Himmel!«
Penelop konnte es nicht glauben. Sie stampfte mit dem Fuß auf den Holzboden, dass der Staub der letzten Wochen nur so in die Höhe hüpfte. Das ist doch wirklich das Letzte, dachte sie. Da schläft Oma bis in die Puppen, und das Einzige, was sie macht, wenn sie dann endlich aufsteht, ist herumzukrakeelen. Und überhaupt könnte sie ja erst mal fragen, wie ich mich eigentlich fühle und …
»Wir schneiden sie ab. Ich hole sofort die Schere«, sagte Oma Erlinda und verschwand in Richtung Badezimmer.