Kerstin Höckel
Heute müssen wir es tun
Kinderwunsch und andere Kleinigkeiten
Sachbuch
Fischer e-books
Kerstin Höckel studiert Schauspiel an der Hochschule der Künste in Berlin. Sie spielt Hauptrollen in Fernsehspielen und wird am Berliner Maxim Gorki Theater und in Dresden engagiert. Zur Jahrtausendwende zieht es sie in ihre Wahlheimat Berlin, wo sie beginnt, Independentfilme zu drehen und zu schreiben – zunächst Drehbücher für Film und Fernsehen. Höckel lebt abwechselnd in Berlin und auf ihrem Bauernhof im Schwarzwald. 2007 erschien Kerstin Höckels literarisches Debüt »Schalom Schwesterherz«, eine moderne deutsch-jüdische Familiengeschichte.
Covergestaltung: bürosüd, München
Coverabbildung: © bürosüd
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2009
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ISBN 978-3-10-400650-5
für Julia und Tine
Lotte soll mehr essen, wird die Hebamme sagen, ruhig auch Sahne und so. Bekannte werden meckern, dass immer noch nix zu sehen ist. Von wegen. Lotte wird was sehen. Und ihr Kerl, wenn er im Bett wartet, und Lotte zieht ihr Nachthemd über. Wie Lottes flacher Bauch sich sehr wohl ausgebeult hat. Genau wie Lottes Taille und die Brüste. Lotte wird täglich darüber staunen. Mit ihrem Kerl.
Morgens wird Lotte am liebsten liegen bleiben, ihre Hände auf die Wölbung legen und Sachen sagen. Guten Morgen und so. Sie wird auf die ersten Bewegungen lauern. Tag für Tag. Woche für Woche. Wenn ihr Kerl längst arbeitet. Sie wird die ersten Tritte kaum erwarten können.
Vom Bett aus wird Lotte zum Herd watscheln und sich einen Brei kochen. Mit Haferflocken, Rosinen und Sahne. Noch vor der Dusche. Sie wird den Brei löffeln und sich über ihr Wunder freuen. Die Heimsuchung. Jemand hat sich Lotte als Heim gesucht. Lotte und ihren Kerl. Wer mag das sein?
Lotte wird die Hand unter ihr Nachthemd schieben und darüber die Arbeit vergessen. Statt Arbeit wird sie die Aufnahmen aus dem Ultraschall aus der Schreibtischschublade ziehen. Der Schädel im schwarzweißen Tumult der Unschärfe, vielleicht eine Art Bein an den Mutterkuchen gewinkelt. Zerbrechlich noch, Haut und Knochen. Interpretationen in der Frühlingssonne. Zeit der Versonnenheit.
Wie Lotte sich um das Wunder gesorgt hat beim letzten Schall. Wie es das Ding geschüttelt hat, ganzheitlich, Gliedmaßen inklusive, Erdbeben, mitten in Lottes Unterbauch, was ist da los. Es hat Schluckauf, hat die Ärztin gesagt, Ist normal, haben die öfter. Es. Die. Schluckauf. Wenn das jetzt schon anfängt mit den großen Sorgen. Lotte hat gelacht vor Erleichterung. Und geschluckt.
Wie sie die Herztöne gefunden haben. Die Hebamme und Lotte auf der Liege. Fchiufchiufchiu mit Affenzahn, Signale aus dem fremden Universum, Tempo des anderen, das wilde Herz vom Wunder. Lottes Lieblingsspiel. Herztöne suchen mit ihrer Hebamme. Lauschen, staunen. Die beiden können nicht genug davon kriegen. Die drei. Ihr Kerl lässt sich zu Hause alles brühwarm erzählen.
Eines Abends beim Inder wird er zugeben, dass er sich doch darauf freut. Über alle Maßen, wird er sagen. Er wird das Wunder Unser Besuch nennen. Er wird einräumen, dass ihn übermannt, was vorgeht. Auch, wie Lotte sich verändert. Du bist eine andere, du kommst ja jetzt erst zu dir. Er wird sagen, Ich Idiot, ich hätte dich viel früher schwängern sollen. Er wird versehentlich ein bisschen schniefen, was sonst nicht seine Art ist. Und Lotte wird gegen die eigenen Tränen kämpfen und gegen den Impuls, ihrem Kerl auf den Schoß zu hopsen und ihn zu herzen. Damit ihm die Situation nicht zu kitschig wird, damit sie ihn nicht mit ihrem gemeinsamen Glück erstickt.
Stattdessen wird sie ihn aufheitern mit einer Anekdote. Wie sie nämlich morgens ihre Hände auf den Bauch gelegt hat wie jetzt jeden Morgen, und auf einmal, da konnte sie das ganze Wunder ertasten, den Po, den Schädel und alle seine Gliedmaßen einzeln, mit den Händen und Füßen dran. Das war ein Fest, besser als Herztöne war das. Wunderschön. Und wie sie es ihrer besten Freundin und ihrem Kerl erzählt, Seht nur, ich kann es Stück für Stück tasten, hier, schnell, fühlt mal, da ist der Po vom Wunder, oder da, ha, sein Beinchen, da verdrehen die die Augen und gucken sich an nach dem Motto, Puh, jetzt kriegt sie wieder ihren Sentimentalen, und wir sollen interessierte Gesichter machen, Na prost Mahlzeit. Und Lotte selbst fand es aber gar nicht schlimm, dass die beiden sie nicht ernst nehmen, sie, Lotte, fand das sogar amüsant. Richtig amüsiert sei sie aufgewacht und habe gemerkt, Ach so, schade, es war bloß ein Traum. Und nachgefühlt habe sie mit ihren Händen auf dem Ränzlein, das mittlerweile einen zarten Flaum angesetzt hat wie ein Tierwanst. Und konnte aber jetzt tatsächlich die Einzelheiten vom Wunder fühlen, und zwar geradezu so, als sei das Wunder mal eben zwischengeschlüpft, in ihre Hände, mit seinen kleinen Pfoten und den zarten Schultern, in seiner ganzen Zerbrechlichkeit und Schutzbedürftigkeit, in Lottes Hände. Und war gleich wieder überwältigt, Lotte, und wollte es den beiden sagen, dem Kerl und der besten Freundin, und merkte aber rechtzeitig, dass der Traum sie abermals an der Nase rumgeführt hatte. Und fühlte in Wirklichkeit nur ihren leicht gewölbten Bauch vom fünften Monat und die ersten sachten Fußtritte aus dem Weltall vom Wunder.
Und wo ist die Pointe, wird der Kerl Lotte fragen und sich unauffällig das Wasser aus dem Augenlid wischen. Und Lotte wird lachen wie ihr eigenes Kind und rufen, Träume haben keine Pointe, du Idiot.
Who the fuck is Lotte, wie mein Cousin sagen würde. Wir werden sehen. Ich aber kenne Lotte in- und auswendig. Seit Jahren. Jahrzehnten. Angenommen Lotte wäre ich. Wer weiß, was die Zukunft bringt. Dann wäre ich jetzt selig.
Bleiben Sie ruhig noch eine Minute liegen, sagt die Ärztin mit dem langen Zopf, eine Minute denke ich, eine einzige Minute, so so, eine Minute. Schwester Angelika ringt sich ein zuversichtliches Lächeln ab und bedeckt meine Scham mit einem frischen Handtuch, die Ärztin desinfiziert sich die Hände und verschwindet. Schwester Angelika verschraubt die durchsichtige Schale mit Viktors Initialen und Geburtsdaten, der Rest von euch landet im Müll, denke ich, während ich die Sekunden zähle, oder in einem Forschungslabor. Bei sechzig ist die Minute um, ich erhebe mich vorsichtig, um die aufbereiteten Spermien nicht zu erschrecken, die die Ärztin mithilfe von Spritze und Kanüle in meine Gebärmutter geschossen hat, tut das weh, hat sie gefragt, ich habe den Kopf geschüttelt. Ich habe nichts gespürt, nichts. Eine Minute ist ein Witz, denke ich.
Zwei Stockwerke unter Berlin, verblichenes Hellgrün an den Wänden, abgewetztes Linoleum, die enge Umkleide von Zimmer 024, Garderobehaken aus den Siebziger Jahren, der Geruch aus dem Badezimmer meiner Tante, als ich noch ein Kind war. Wie viele Schlüpfer hier schon aus- und wieder angezogen wurden, wie viele Frauenbecken dieser Spiegel entblößt gesehen hat, wie viel Hoffnung und Beklemmung tief im Innern der Erde. Ich versuche, schöne Gedanken zu haben, damit das Wesen, das sich in mir aus Eizelle und Samen zu einem neuen Menschenbrei vereinen soll, vom ersten Augenblick an positive Signale erhält, Tag da unten, willkommen auf dem Planeten. Aber die Garderobehaken und der cremefarbene Plastikhocker in der Umkleide deprimieren mich, mir wird weinerlich zumute. Das, denke ich, müssen die Hormone sein, mit denen ich mich seit über drei Wochen vollpumpe. Oder der Duft aus dem Haus der Tante, der im Plusquamperfekt von früher erzählt, mehr als vollendet. Wir waren mit dem Rad gekommen, wir waren im See geschwommen, wir hatten auf der Straße gespielt, wir hatten die Klamotten der Cousins geerbt, wir hatten Gummibärchen genascht, bei meiner Tante hatten andere Gesetze gegolten als zu Hause, wo alles durch sechs geteilt wurde, bei der Tante waren die Dinge im Überfluss vorhanden, jeder hatte sich nehmen dürfen, was sein Herz begehrte, ein jeder nach seiner Façon, Trauben, Mandarinen, vor allem Gummibärchen.
Ich mag Viktor anrufen. Wie kann es sein, dass der Mann des Lebens nicht bei mir ist, dass er nicht vorne im Gang auf mich wartet, um mich gleich grinsend in seine Arme zu schließen, mich zum Aufzug zu drängeln und aufzuheitern mit blöden Fragen, zum Beispiel, Na, wie war ich Liebling, oder, Und, schon angebissen. Zögernd betrachte ich das Display meines Handys, ein Balken zeugt von miserablem unterirdischem Empfang, zehn Uhr sieben, Viktor sitzt in unserem lärmenden Auto und hat sowieso keine Lust zu sprechen, schon gar nicht über Zweifel, Konsistenz der Körpersäfte oder meine Empörung über die eine Minute, erst recht nicht um diese Uhrzeit. Morgens reden wir nie, wir schälen uns kurz nacheinander aus dem Bett, damit wir uns beim Kaffeekochen nicht im Weg stehen, wir duschen jeder für sich und gehen an die Arbeit, jeder in seinem Zimmer an seinen Schreibtisch. Heute musste Viktor das Ritual abblasen, sein geliebtes Rendezvous mit der stillen Geliebten Aurora, denn er muss zur Bauprobe nach Sonstwo, regeln, welches Podest stabiler werden soll wegen der korpulenten Chordamen, welcher Hänger auf der Hinterbühne gespannt wird statt vorne über dem Orchestergraben, ausgerechnet heute, der Termin lässt sich nicht verschieben, hat Viktor behauptet und vorher schnell in einem der Nebenräume von 024 in den Becher gewichst, Tribut genug. Dabei ist das der Morgen, der unser Leben von Grund auf verändern soll, unser angenehmes Leben. Später, am Nachmittag, bevor er sich zu seinem Nickerchen hinlegt, wird Viktor Lösungssätze parat haben, er wird mir zuhören und nachfragen und sich an den Fakten entlanghangeln auf dem schmalen Pfad zu meinem Herzen, wie denn was denn ich hab gedacht, du hast es so gewollt.
Die Gelegenheit war günstig. Wenn dein Mann des Lebens, der nie Kinder wollte, Zitatende, nach einer ausgedehnten Silvesternacht mit Büfett, Sekt, Martini, Bier und Gespräch mit dem guten Freund jetzt doch will, nicht bloß bereit ist dir zuliebe, sondern regelrecht Lust auf das Abenteuer hat. Wenn derselbe Mann am nächsten Tag nicht etwa reumütig von Bierlaune faselt und den zu großen Versprechungen, sondern beschließt, sein Sperma unter die Lupe nehmen zu lassen, da er, der nicht mehr der Jüngste ist, herbe Zweifel an seiner Zeugungsfähigkeit hegt, schließlich hat er vor deiner Zeit munter ungeschützten Verkehr gepflegt und dabei nie seinen evolutionsbiologischen Auftrag erfüllt. Wenn er sich von deinem Referat über die erste sogenannte Kinderwunschsprechstunde, die du Wochen zuvor mutterseelenallein besucht hast, nicht beeindrucken, sondern seinen Worten Heldentaten auf dem Fuß folgen lässt, wenn jener Kerl nicht einmal den Rückzug antritt, da du ihm seinen Termin im Krankenhaus präsentierst, Freitag sieben Uhr dreißig Ejakulation, eine Zeit, zu der er sonst niemals freiwillig das Haus verlassen würde, schon gar nicht, um einer Krankenschwester einen Guten Morgen zu wünschen, die ihm mit mitleidigem Lächeln einen Plastikbehälter in die Hand drückt, wenn ihn die Ergebnisse seines Spermatests nicht etwa aus der Bahn werfen, sondern seinen sportlichen Ehrgeiz in Sachen Familiengründung erst zur vollen Entfaltung bringen, wenn er daraufhin großzüngig erklärt, Puppe, du kümmerst dich ums Organisatorische, ich übernehme die Hälfte der Kosten, da denkst du eben, sofern du ich bist, okay Baby, scheiß auf dein Phlegma, die Gelegenheit ist günstig, Augen zu und durch.
Jetzt bestürmen mich die Gedanken der anderen Art, eine ganze Herde von Sorgen, Ängsten, Defätismus, schwindelig wird mir davon, ich sinke auf den Hocker, nehme den Kopf in beide Hände, vertreiben muss ich sie, solange in meinem Bauch der Funke noch überspringen kann, oder wenigstens zum Schweigen bringen für ein paar Stunden, wie früher die Monster, die unter unserem Etagenbett hausten.
Schwester Angelika klopft zaghaft an die Tür der Umkleide, da draußen bereits die Nächste auf ihre Befruchtung wartet. Ich streife Schlüpfer und Jeans über, jede Erschütterung vermeidend, verstaue das Handy in der Handtasche statt in der Hosentasche, damit das neue Leben nicht schon im Mutterbauch verstrahlt wird, und denke, Daneben, und denke, So darfst du jetzt nicht denken, und husche gesenkten Hauptes aus Zimmer 024. Vorbei an dem nervösen Pärchen im Flur, vorbei an den gerahmten Schnappschüssen glücklicher Familien, die sich bei der Ärztin mit dem Zopf und ihren Kollegen und all den Schwester Angelikas aus der Reproduktionsmedizin im UG 2 bedanken, die erst durch ihre Hilfe vollständig wurden und jetzt zu dritt oder zu viert oder zu fünft in die Kamera strahlen, voller Daseinsberechtigung, von Karottenbrei verschmierte Schnäuzchen, Muttis im Pyjama mit dem neuen Menschen im Arm, stolze Vatis über dem Doppelkinderwagen, selbstverfasste Danke-Gedichte, teilweise im Namen des Zwerges unterschrieben, der noch nicht mal seinen eigenen Fuß von dem seiner Urgroßmutter unterscheiden kann. Er wird nie einen Kinderwagen schieben, hat mir Viktor geschworen. Okay, das ist der Deal, hab ich erwidert, klar Mann, klar klar.
Sachte, bläue ich mir ein, mach zart. Jedes Beben unterbinden, das die wenigen willigen Biester aus meiner Gebärmutterhöhle über den langen Hals in meinen Schlüpfer schwemmen könnte, mehret euch, mehret euch. Ich trete sanft in die Pedale, nehme die Bordsteinkante in Zeitlupe und im Stehen, behutsam. Die Jeans zwickt zwischen den Beinen, ich sollte mich von einem bedächtigen Auto den Hügel hinaufziehen lassen, statt mit jedem Tritt neuen Spielraum zwischen den Beckenbodenmuskeln zu schaffen. Erstens, wieso hab ich ausgerechnet heute eine Hose gewählt, die von den Hormonen viel zu eng geworden ist, würdest du dich in so einem abgeschnürten Bauch wohlfühlen, würdest du in Betracht ziehen, dort neun Monate lang zu verweilen, du, neun Monate kommen dir wie die Unendlichkeit vor, erst recht wenn du gerade am Entstehen bist. Zweitens, warum nehme ich an so einem bedeutenden Tag nicht statt des Fahrrads ein Taxi. Kreuzen Sie eine der vier möglichen Antworten an. Ich habe schon genug Schulden, ich bin ein Idiot, mein Unterbewusstsein boykottiert den Vorgang, es ist alles ein bisschen zu schnell gegangen. Vier von vier. Treffer versenkt. Ich bin ein Idiot.
Mit aller Gewalt pocht das Phlegma auf seine Rechte, es legt sich wabbelig um mich, seine Trägerin auf dem Fahrrad, wie eine Bahn frisch eingekleisterter Tapete, die sich schwer schmatzend von der Decke löst, bekritzelt mit all den Fragen und Fragezeichen, mein Haar voller Klebstoff, Zweifel, da sind sie wieder. Was, wenn Viktor all die Unannehmlichkeiten nur auf sich genommen hat, weil er insgeheim fürchtet, mich zu verlieren. Unbewusst natürlich. Er hat nie verraten, was sein guter Freund ihm bei besagtem Bier erzählt hat, in besagter Silvesternacht, die Viktors Kehrtwende einläutete.
Der gute Freund ist Zipfel einer Flickenfamilie, sein Sohn lebt bei der Ex mit Stiefvater und Halbgeschwistern, einmal pro Woche schläft er beim guten Freund, Weihnachten und Geburtstage verbringen beide im Kreis der zusammengewürfelten Familie, auf dem Teppich. Der gute Freund hängt an seinem einzigen Sohn, der Junge ist ihm Freude und Arbeitsansporn, eine Tochter wünscht sich der gute Freund dazu, doch er ist wählerisch, was deren Mutter angeht, seit Jahren hat er sich auf keine feste Beziehung mehr eingelassen, die eine Vermehrung nahelegte.
Ich habe mir vorgestellt, wie der gute Freund Viktor sein Glück der Vaterschaft beschrieben hat, den Segen, diesen jungen Menschen, seinen Sohn, beim Heranwachsen beobachten zu dürfen, während er selbst die Lebensmitte überschreitet und immer zielstrebiger auf das eigene Grab zuwandert. Den Gewinn, den die Verantwortung mit sich bringt, lebenslange Bindung, die überbordenden Gefühle, die der gute Freund sich niemals zugetraut hätte, empfinden zu können, die Sensationen, die der kleine Mensch aus dem eigenen Fleisch und Blut in sein Leben bringt, tiefe Erfahrungen, die ein kinderloses Dasein nicht zu bieten hat, egal, wie viele Erdteile wir bereisen. Schließlich die Lust, am Leben zu bleiben, allen Anfechtungen, Enttäuschungen, aller Sättigung und Depression zum Trotz, der Wille, so lange wie möglich dabei zu sein, während aus dem Kleinen ein Großer wird, der erwachsene Entscheidungen trifft oder immerfort kindische, während er seinen Weg macht und auf geheimnisvolle Weise den eigenen fortsetzt.
Der gute Freund hat eine Neigung zum Katastrophischen. Was, wenn er nicht geschwärmt hat vom Abenteuer Vaterschaft, sondern Viktor gedroht hat mit Endzeitszenarien, Mach ihr ein Kind, sonst wird sie dich verlassen, mein Lieber, Frauen sind so, glaub mir, hat die biologische Uhr mal zu ticken begonnen, werden sie zu Furien mit einem einzigen Ziel, Arterhaltung, tja, da kannst du froh sein, wenn du überhaupt gefragt wirst, da wirst du früher entsorgt, als du Ichwillesauch sagen kannst. Der gute Freund ist bekennender Hypochonder, unverbesserlicher Pessimist obendrein, ins Schwärmen gerät er höchstens bei Wagner oder einem wohltemperierten Dessert in einem Mehrsternerestaurant. Sollte mein Kerl sich demnach all sein Wollen bloß eingeredet haben, aus Angst, mich zu verlieren, Viktor, Meister der Manipulation. Mir stockt für einen Moment der Atem, als hätte ich all die Varianten nicht schon hundertmal durchgekaut. Heute erreichen sie existenzbedrohende Dimension, jetzt, da wir Nägel mit Köpfen gemacht haben. Sollte ich unser wildfriedliches Zusammenleben mit meinem obskuren Wunsch nach einem unbekannten Dritten für immer zerstört haben. Sollte Viktor sich bereits, unbewusst versteht sich, umschauen nach einer unkomplizierten Freundin, oder wenigstens einer lieben Geliebten für die Zeiten, in denen seine Frau des Lebens, vom Säugen und Wiegen und In-der-Mutterrolle-aufgehen ermattet, kaum noch Nerven hat für seine Belange. Oder für die Zeitspanne, die infolge der Hormontherapie bereits begonnen hat, da ich anschwelle wie Hefeteig, meine Teigzeit, da alles rund wird und prall, sogar die Schultern, Schwangerschaft, demnächst Staumauer an den Beckenknochen, Wasser in den Beinen, Land unter.
Hat Viktor mir nicht ungewohnt ausführlich von seiner bevorstehenden Bauprobe, vom Gezeter zwischen den zerstrittenen Gewerken, vom Frust seines armen Bühnenbildners, der beständig zwischen Malersaal und Werkstatt in Scharmützel gerät, vom schwachen Intendanten mit seinen Großmannsideen, ausgerechnet in Sonstwo, berichtet. Am Ende tat er dies nur, um all die Keime meiner Zweifel zu zerstreuen, die sich in letzter Zeit in den staubigen Nischen unserer Wohnung zu bohrenden Eifersüchten auswuchsen. Schellt er womöglich gerade bei seiner unkomplizierten Geliebten, einem coolen jungen Ding mit etwas Bewunderung und viel Schalk in den Augen, mit keiner Lust auf Kinder und ziemlich dicken Dingern, nicht mal am anderen Ende der Republik, sondern gleich hier um die Ecke, aber ja, habe ich nicht vor wenigen Minuten erst einen uralten Benz um die Kurve biegen sehen, der dem unserem zum Verwechseln ähnlich sah, bis auf den dreifarbigen Deutschlandaufkleber auf der Heckscheibe, doch den kann ich mir eingebildet haben. Eben, hat nicht neulich Viktors Telefon geklingelt, und als ich das Gespräch annahm, da ich den Apparat für meinen hielt, unterbewusst auf der Jagd nach Verrat, ein Versehen versteht sich, da war nur jenes Atmen zu hören, leiser Lufthauch, Frauengeräusch, und auf mein ungeduldiges zweites Angebot einer Begrüßung, Ja hallo wer ist da, das Klicken, das mich für immer aus ihrer süßen Komplizerie ausschließen sollte.
Das Phlegma ist erledigt, ich wage einen U-Turn auf der Mehrspurigen, rase zurück bis zur Kreuzung und nehme Kurs auf die breite Straße, in die ich vor wenigen Minuten unseren alten Benz habe abbiegen sehen, Bordsteinkanten und Schlaglöcher nehme ich in Kauf, ich muss ihn auf frischer Tat ertappen, ihn und sie, einer werdenden Mutter den Kerl wegschnappen, dem Jungen seinen Vater, denn dass es ein Junge wird, steht für Viktor außer Zweifel, dass er sich nicht schämt, dass sie sich nicht schämt, dass sie sich nicht schämen, dass ich mich nicht schäme, es so weit kommen zu lassen, mich derart darüber aufzuregen, ich sehe ihn direkt vor mir, wie er braungebrannt in ihrem frisch bezogenen Bett mümmelt, seine knusprigen Schultern in ihren duftenden Kissen, hoffend, dass sie auf eine zweite Runde verzichtet, und sie siegessicher, wie sie sich mitsamt den Pizzakartons splitternackt auf die Matratze plumpsen lässt, während ich, ich. Sieh nur, ihre bescheidene Bleibe, nichts als ein Bett, eine Truhe, ein Tisch aus dem Bast der Unverbindlichkeit, lange Beine, zarte Fesseln, bezaubernde Füße, ihr schmaler Hals, der sich auf dem Federbett seinen Händen darbietet, seine Hände, die stattdessen nach einem Stück Pizza greifen, ewige Berührerei, Streicheln und Gestreicheltwerden sind Viktors Sache nicht, Leg deinen Kopf woanders ab, Puppe, meine Blase ist so voll. Den Text kenne ich, der Film reißt, wo bin ich.
Viel zu früh ist es für Pizza, vor Mittag wird bei uns höchstens im Stehen gefrühstückt, eine Notfallration Toastbrot, doch selbst dafür ist es noch zu zeitig, woher soll die imaginäre Geliebte das wissen, ich muss sie finden, in Kenntnis setzen, vor zwölf essen wir für gewöhnlich gar nichts, damit das Blut nicht aus dem Gehirn in den Bauch schießt, Puppe, he, hörst du nicht, seine Blase ist voll. Vor einem knappen Jahrzehnt war ich die Auserkorene gewesen, Ausbund an Freiheit und Vergnügungssucht, er der braungebrannte Prinz zwischen meinen Laken, allein die bezaubernden Füße passen nicht ins Bild, bitte, wo bin ich hier, hallo, wer ist da. Ich bin die junge Frau, auf die ich eifersüchtig bin, ich will mein altes Leben zurück, noch bevor das neue angefangen hat, was ist nur in mich gefahren. Das fragst du noch.
Statt mich bedächtig den Hügel zu unserer wunderschönen Wohnung hinaufzuschleppen, sause ich durch die Stadtmitte, verheddere mich in Nebenstraßen und Unterstellungen, hetze auf dem Fahrrad einem Automobil nach, das vor über zwei Stunden nach Sonstwo ans andere Ende der Republik aufgebrochen ist, wo es in der Tiefgarage eines Hotels abgestellt wird, sicher nicht vor der Wohnung der fiktiven Geliebten, die unter Umständen ich selbst bin, bis auf die Füßchen. Mir ist heiß geworden, das T-Shirt klebt am Rücken, der Pulli klebt am T-Shirt, der Regenmantel lässt die erwärmte Luft lediglich über den Kragen entweichen, Schweiß und Talg werden der Nase angetragen, der Fahrtwind bläst mir Tränen in die Morgenaugen, wo bin ich, wer bin ich, wie konnte ich zulassen, dass eine fremde Frau auf Bestellung altbekannte Spermien in mich hineinmanövriert, aus mir eine Mutter machen, wie soll das angehen, ich, die nicht mal genug Selbstachtung besitzt, an einem solch bedeutenden Tag der heimlichen Geliebten des Geliebten Zutritt zu meinem Gehirn zu versagen.
Früher hätte ich in solcher Verwirrung umgehend Corinna angerufen, sie hätte beruhigende Worte gefunden, absolut tröstende Sätze, gespickt mit Witz und Weisheit über das Leben und über ihre Freundin, mich, weil sie beide trotz ihrer ewigen Jugend bis zur Neige kennt, Natürlich liebt er dich, natürlich ist er in Sonstwo, wo denn sonst, natürlich freut er sich darauf, natürlich freust du dich, natürlich habt ihr Angst, natürlich wirst du dich danach auch wieder attraktiv fühlen, natürlich wird er dich danach auch wieder attraktiv finden, natürlich trifft er keine heimliche Geliebte in Sonstwo, und wenn schon, lass ihm halt den Spaß, natürlich wirst du auch wieder Freude empfinden, aber natürlich wirst du dein Kind lieb haben, na hör mal, sonst versohl ich dir den Hintern.
Seit fünf Monaten höre ich nichts mehr von Corinna, und sie hört nichts von mir, Corinna weiß von nichts. Fast nichts. Sie ahnt so einiges, Corinna mit ihrem Gespür. Die den Rettungsring auswarf, wenn ich auf hoher See baden ging, und wenn ich hundertmal kopfüber an derselben Stelle ins Wasser hopste, wo bekanntlich gefährliche Strömungen lauerten oder scharfe Klippen. Corinna, die mich aus dem Wasser fischte ohne Ungeduld, die immer Mullbinden da hatte für meine Kratzer und Schrammen. Corinna, die jeden Schmerz teilte und zerlegte, bis nur die Krustenkrümel übrig blieben zwischen uns auf ihrem Küchentisch, die leckten wir gemeinsam auf, staunten über den bitteren Geschmack, der uns nie umbrachte, sondern stärker machte.
Wir sind uns abhanden gekommen, auseinandergedriftet in zu verschiedene Leben, sie wetterfest in ihrem Ruderboot, ich auf unserer feschen Motoryacht, wo ich mich mit Viktor um das Steuer streite. Verschiedene Sichtweisen, Sehnsüchte, Ansprüche, Ziele, Tempi, Jobs, Wohnungen, Beziehungen, Krisen, als wäre das ein Grund, die Witze der anderen in den falschen Hals zu kriegen. Hat mein wachsender Kinderwunsch den Rahmen unserer Freundschaft gesprengt. Haben meine verstiegenen Hoffnungen ihren Status Quo beleidigt. Habe ich inmitten meiner Zwiespältigkeit ihren sorglosen Spott nicht mehr ertragen.
Seit fünf Monaten Funkstille, während die Hormone in meinem Schädel Amok laufen. Ist das nicht Indiz genug für einen fundamentalen Irrtum, wenn Corinna nicht im Bilde ist. Ich muss sie umgehend anrufen und in Kenntnis setzen von Anfang bis Ende, womöglich weiß sie einen Ausweg aus der Katastrophe, bevor diese menschliche Gestalt angenommen hat.
Corinna hat Erfahrung mit der Pille danach, weil sie die Pille davor nie genommen hat. Womöglich lässt sie alles stehen und liegen, schwingt sich auf ihr Fahrrad, findet mich in der Irre hier, verkeilt zwischen unbekannten engen Gassen in der Stadtmitte, nimmt mich an der Hand, führt mich zu einer Apotheke, wartet, bis wir an der Reihe sind, und sagt, Einmal die Pille danach bittesehr. Die Pharmazeutin ahnt ja gar nicht, für wen die bestimmt ist, wer da was töten will in sich, ob das die Schwarzhaarige ist mit den lustigen Augen oder ich, die Frau an ihrer Hand, mit dem offenstehenden Hosenlatz, aus dem ein Bauch quillt, als wäre ich schon im dritten Monat. Die Pharmazeutin wird mit missbilligender oder mitleidiger Miene, je nach Frömmigkeit, das Päckchen rüberschieben, und auch wenn ich den Geldbeutel zücke, um erneut draufzuzahlen für meine verworrenen Wünsche, wird Corinna uns beide mit ihren lustigen Augen in Schutz nehmen, denn ihrer Ansicht nach gibt es keine Sünde auf dieser Welt, schon gar nicht in Sachen Verkehr, ob künstlich oder voll Lust, weil es nämlich keinen Gott gibt auf dieser Welt.
Ich zücke das Handy und scrolle durch das Adressbuch bis zum C. An Ort und Stelle werde ich Corinna all das erzählen, was inzwischen ohne ihr Zutun und Zuhören vorgefallen ist, meinen Fehltritt beichten und betteln, dass sie mir den Weg aus dem Wahnsinn weist und dass wir wieder Freunde sein mögen, auch wenn der Stolz mir solcherlei Schwachheiten verbietet. Ich rolle ein Stück vor auf die kleine Kreuzung, um die Namen der Straßen zu erkennen, in denen ich mich verirrt habe. C wie Corinna, das Display schreibt sie nach wie vor mit A an zweiter Stelle, Caorinna, damit ihr Name als erster auftaucht, wenn ich bei C suche, vor Caroline und Christian. Ich drücke auf die Taste mit dem grünen Hörer und warte auf das Freizeichen.
Das Hupen hinter mir wirft mich fast vom Rad, deutscher Rechtsabbieger in Rage über Berliner Radfahrerin, die telefonierend in der Kurve zaudert, ungeduldig gestikuliert mich der Schemen hinter der Scheibe von der Straße. Wie ferngesteuert schiebe ich den Drahtesel Richtung Bordstein, um die Fahrbahn zu räumen, im letzten Moment besinne ich mich, Sekunde mal, Blödmann, elender, wütend kann ich selber, und bleibe mitten auf der Straße stehen, in die der Wagen einbiegen will, und zeige dem Fahrer den Mittelfinger, normalerweise nicht meine Art, erst recht nicht unter Zeugen. Das Fenster kurbelt runter, elektrisch, viel zu langsam für den Grad unserer Erregungen, ein Graukopf reckt sich seitlich raus, reißt die Klappe auf, schon mal was gehört von Handy verboten beim Fahren, du brauchst gar nicht so arrogant gucken, ich kann dich auch anzeigen. Hast wohl nix Besseres zu tun, duze ich den Älteren zurück, auch nicht meine Art normalerweise, schon gar nicht in der Lautstärke, bei der Rechtslage und unter Zeugen. Mach Platz blöde Fotze, schreit er zurück, verschwindet hinter der Windschutzscheibe, tritt aufs Gas und rast in knappem Bogen um mich herum.
Perplex schaue ich ihm nach, Fotze hat er mich genannt, Mach Platz blöde Fotze, wiederhole ich leise, bis mich das Freizeichen aus der Betäubung weckt. Die Leute gucken rüber, eine Alte schüttelt den Kopf, ein nächstes Auto will abbiegen, ich drücke die Taste mit dem roten Hörer und haste aus dem Schusswinkel der neugierigen Blicke.
Wenn jetzt nur nicht alles in die Hose gegangen ist, wenn mir nur vor Schreck nicht das Ei von der Leiter gesprungen ist oder die Samen Richtung Notausgang getollt, wenn der Vollidiot schuld ist, dass der ganze Aufwand umsonst war, die Hast, die Spritzen, die Spannungen, die halbe Hoffnung. Im Eingangsbereich eines Supermarkts gehe ich in Deckung und lege die Hand auf den Bauch. Du und ich, wir. Sind jetzt zwei, darum muss ich stark sein, nicht wahr, ich bin nicht mehr allein, du und ich und er, wenn wir Glück haben. Du und ich auf jeden Fall, du. Und einen Glücksmoment lang freue ich mich auf das unsichtbare Du da unten, das mir Kraft verleiht und Unantastbarkeit. Das mich lieb haben wird ohne wenn und aber, und ich es ebenfalls, jedenfalls die ersten Jahre, oder wenigstens bis zum Kindergarten oder zumindest in den ersten paar Monaten, wenn noch alles Geben und Nehmen geschieht wie ein Naturgesetz ohne Kleingedrucktes. Die Macht der Mama, ich spüre sie bereits, ich habe plötzlich mehr zu verteidigen als bloß das Lotterleben einer Großstadtschlampe, die den reibungslosen Vormittagsverkehr stört. Ich werde eine Löwin sein, ich werde zu deiner Geburt brüllen sowie zu deiner Verteidigung. Ich werde dich hüten und an dich glauben, und automatisch werde ich also jetzt mich hüten und an mich glauben, denn du steckst in mir, und ohne mich kein du. Bei dem Gedanken gehen meine Schultern in die Breite, meine Hüfte beult sich aus zum Frauenbecken, die Oberarme werden rund, ich komme hoch, straffe das Kreuz, lerne die ersten Schritte als Muttertier.
Ich werde Corinna natürlich nicht anrufen. Am Ende missbilligt sie unser Handeln, Viktors Art, Fakten zu schaffen, die sie Eile nennt, am Ende stürzt sie mich in neue Zweifel, frisch aufgeworfenen Zwiespalt, gerade jetzt, da ich den Mann des Lebens so ganz auf meiner Seite habe, am Ende zerrt sie mich an der Hand zur nächsten Apotheke und bestellt ohne jede Verklemmung Einmal die Pille danach bittesehr. Nein, ich werde Corinna nicht anrufen. Gut, dass ich angehupt wurde, gut, dass ich so wütend war und das Gespräch wegdrückte, ehe Corinna Einwände vorbringen konnte. Gut, dass ich wieder genau weiß, was ich will und wer ich bin.
Während ich aus dem Dickicht der kurzen Straßen mit den hippen Läden den Weg zur wunderschönen Wohnung finde, verkläre ich den graukopfigen Grobian zu meinem Schutzengel, meinem und deinem, manchmal muss selbst ein Arschloch dafür herhalten. Corinna werde ich erst anrufen, wenn alles vorbei ist, beziehungsweise wenn alles hundertprozentig angefangen hat, verzeih. Im Übrigen hab ich mir geschworen, abzuwarten, bis sie sich von sich aus meldet, sie hat meine Nummer, ihr Telefon hat Tasten, wir werden sehen. Und wenn es sieben Jahre dauert, schwöre ich mir in akuter Hochstimmung, ich habe schon andere Täler der versehrten Freundschaft durchwandert, in sieben Jahren, sieh mal, da wirst du gerade eingeschult worden sein, da haben wir das sogenannte Gröbste hinter uns, da erkenne ich sie kaum wieder, Corinna, was hast du denn mit deinen Haaren gemacht.
In sieben Jahren hat Corinna die Menopause hinter sich, die bohrenden Fragen, die uns jetzt trennen, sind sodann obsolet, da müssen wir uns neue Probleme ausdenken. Neu entdecken werden wir uns, wie beim ersten Mal.
Mein Cousin war im Getümmel verschwunden. Der Keller stank nach verschüttetem Bier vom Vorabend, Zigaretten, Moder und dicken Tüten, ich tastete mich von Gang zu Gang durch das Dunkel. Im Hauptkeller lief Aavikko, ein paar Eingeweihte wippten ekstatisch im Rhythmus der Synthesizerriffs. Wo sich normalerweise in Kellerabteilen Kohle oder abgelegte Stereoanlagen stapelten, hockten Liebespaare eng umschlungen, junge Leute zwängten sich auf umgedrehte Bierkisten und starrten in die Schattenspiele der Teelichte, sie alle waren Teil von etwas Besonderem, das sich im Untergrund der Hauptstadt abspielte.
Mir taten die Füße weh von den hohen Absätzen, ich verfluchte meinen Cousin, Bernd war zum Glück nur für ein paar Tage zu Besuch, er hatte seinen Zivildienst beendet und bewarb sich um einen Studienplatz für Kommunikationswissenschaften. Wenn jemand Kommunikation nicht zu studieren brauchte, dann Bernd. Im Nu hatte er herausgefunden, wo die Coolsten der Republik ihre verbotenen Partys steigen ließen, und mich überredet, ihn dorthin zu begleiten, obwohl ich für die Zwischenprüfung einen dreiseitigen Monolog auswendig zu lernen hatte. Wahrscheinlich hoffte er, dass wir uns nachher das Taxi teilen würden, aber da hatte er sich geschnitten, ich hatte gerade genug Geld, meine Miete zu zahlen und meinen Freund einmal im Monat auf einen Döner einzuladen, ich würde auf den Nachtbus warten oder zu Fuß nach Hause gehen, egal, wie sehr die Stiefel drückten.
Im Gang vor mir hatten sich ein paar Leute um eine Bierkiste geschart, auf der eine Frau in einer engen roten Lederjacke tanzte, ihr Becken zuckte kontrapunktisch, und wenn ich Becken sage, meine ich, wow, Becken, mehrere Sekunden lang starrte ich fasziniert auf das, was sich unterhalb der tanzenden Taille abspielte, die diesen Körper in zwei Hälften zu schnüren schien. Noch nie hatte ich einen derart gigantischen Hintern an einer so zierlichen Person wie der Tänzerin gesehen. Geschickt wand sie sich aus ihrer Lederjacke und begann, sie dicht über ihrem Kopf im Kreis zu schleudern, so dass ihren Zuschauern der Kellerputz in die Augen rieselte. Ich senkte den Kopf und versuchte, mir einen Weg durch den Pulk zu bahnen, als mich ihr Jackenärmel am Hals traf. Die Menge gröhlte, die Tänzerin schlug kichernd die Hände vor den Mund und warf mir einen Blick zu, der mich an die Zeiten erinnerte, da uns die Nachbarn beim Klingelstreich ertappt hatten. Im nächsten Moment fiel ihr wieder die dunkle Mähne vor die Optik, und sie versank mit ernstem Ausdruck in den ausufernden Kreisbewegungen ihres wow Beckens und den hypnotischen Schlangenlinien, die ihre Gliedmaßen begleitend in die Luft malten.
Die Stelle am Hals brannte. Ich beschloss, dass der Abend für mich gelaufen war, dass ich Bernd Bernd sein lassen und nach Hause aufbrechen würde, um die Stelle zu verarzten und meinem Freund zu erklären, dass er nichts verpasst hatte. Neben mir rissen sich zwei Halbstarke um die rote Lederjacke, während die Tänzerin sich daran machte, Knopf für Knopf ihren Hosenstall zu öffnen. Sie erntete Pfiffe und Gejohle von Männern und Frauen gleichermaßen und warf lachend den Kopf zurück, unter der hautengen Jeans lugte vorne eine graue Nylonstrumpfhose hervor, die mehr verhieß. Jemand reichte der Tänzerin über meinen Kopf hinweg einen Fünfer, sie versenkte ihn zwinkernd in ihrem Dekolleté und ließ ihre Hüften für fünf Mark eine Extrarunde drehen, bevor sie mit dem Entkleiden fortfuhr. Ich musste rückwärts ausweichen, um ihren Arsch nicht ins Gesicht zu kriegen, und landete in den Armen des seligen Geldgebers. Nichts wie weg wollte ich, jedoch hatte sich das Publikum mittlerweile so verdichtet, dass eine Feuersbrunst der einzige Ausweg gewesen wäre, eine Feuersbrunst war nicht in Sicht, dachte ich, und hatte nicht den Mumm, sie zu entfachen.
Als die Tänzerin sich unter Beifall aus ihrer hautengen Jeans geschält hatte und ich mich fragte, ob die Löcher in ihrer Nylonstrumpfhose Absicht waren oder Alterserscheinungen, hielt Bernd mir eine Bierflasche vor die Nase und stellte mir seine Eroberung des Abends vor, heute eine schöne Asiatin. Ich hatte es aufgegeben, mir die Namen der Rehe zu merken, in die Bernd sich Abend für Abend unsterblich verliebte. Wie hatte der Cousin es von der Bar bis hierher in die erste Reihe geschafft. Vermutlich so, wie Bernd alles erreichte, was er sich vornahm, indem er nicht lang fackelte, sondern zur Tat schritt. Haste mal ne Mark, zerstörte er meine Illusion, dass er sich mit dem Bier für meine Gastfreundschaft revanchieren wollte, und ich reichte ihm meinen letzten Zwanziger, den er prompt der Tänzerin in den Schaft ihrer Schnürstiefellette schob. Ich schluckte meinen Protest runter, um mich nicht vor versammelter Mannschaft zu blamieren, den Zuschauern, Bernds Reh, vor allem aber vor der Tänzerin, die Bernd zum Dank kaum eines Blickes würdigte, während sie den Zwanziger mit einer kühnen Biegung ihrer Wirbelsäule rittlings aus dem Schuh in den Ausschnitt wandern ließ.
Wie war sie eigentlich ihre Jeans losgeworden, ohne die Schuhe auszuziehen, wieso schienen alle Menschen, die mich umgaben, so viel lebenstüchtiger veranlagt, Klettverschluss, schoss es mir durch den Kopf. Staunend beobachtete ich, wie die Tänzerin mit anzüglichen Bewegungen die Risse ihrer Nylonstrumpfhose vergrößerte, bis hier ein nacktes Knie zum Vorschein kam, dort ein Stück Haut am Oberschenkel oder ein Ausschnitt Spitzenhöschen, das ihr Hinterteil notdürftig bedeckte. Die Löcher waren Kalkül, die Knie der Tänzerin waren spitz, die Beine der Tänzerin lang, die Waden der Tänzerin schmal und voller Tattoos. Die Hände der Tänzerin waren die eines Kindes, das seinen reifenden Körper durch die Durchschlüpfe im Nylon ertastete. Mit einer flinken Bewegung öffnete die Tänzerin den Reißverschluss ihres ärmellosen Kapuzenpullis und wirbelte ihn über ihren Kopf in die Menge. Ich ging in Deckung, während Bernd nach dem Pulli schnappte. Den Nabel der Tänzerin zierte ein buntes Echsentattoo, ihr kleiner Busen steckte in einem schwarzen Spitzen-BH, der wiederum von löchrigem grauen Nylonstoff umhüllt wurde, den wiederum die Tänzerin nach und nach zerriss, bis sie ihn sich mit einer überraschenden Geste vorn über den Kopf stülpte wie ein Bankräuber. Ein Bankräuber im Spitzen-BH. Ich reichte Bernds Reh meine Bierflasche, um zu applaudieren, dann nahm ich die Bierflasche zurück und genehmigte mir einen großen Schluck. Was für ein Abend. Nach weiteren zwanzig Minuten hatte die Tänzerin alles ausgezogen bis auf den Stringtanga unter ihrem Spitzenhöschen und den Nylonstrumpf über ihrem Gesicht. Bernd hatte neues Bier besorgt, obwohl er angeblich keinen Pfennig mehr bei sich hatte. Sein asiatisches Reh bewegte sich erstaunlich selbstbewusst durch die erotisierte Menge, um die Klamotten der Tänzerin einzusammeln.
Irgendwann war mir von einem rumgereichten Joint schwindelig geworden, ich war grün angelaufen und hatte mich in einem der Kellerverliese so waagerecht wie möglich auf den Boden gelegt, der wankte wie ein Schiffsdeck bei bedenklich hohem Seegang. Waagerecht, waagerecht. Wir mussten uns irgendwo vor Skandinavien befinden, denn am Oberdeck hämmerte ein finnisches Trio auf die Schiffsorgel ein. Vage bekam ich mit, wie die Asiatin den Kleiderstapel neben meinem Kopf deponierte, und wie in der Kajüte gegenüber mein Cousin eine Bierkiste zum Knutschen bereitstellte und das Reh auf seinen Schoß zog. Ja, ja, knutschen, dachte ich, und schloss aus dem Geschaukel, dass ich in einer Hängematte lag, und überlegte, mit welchem meiner Kommilitonen ich meinen Freund hier an Bord in der Hängematte betrügen könnte, doch die Männer in meinem Jahrgang waren entweder schwul oder so witzig, dass man sie unmöglich ernsthaft küssen konnte, blieb nur Elisabeth, die Klassenälteste mit den engen Röcken, der großen Stimme und den weichen Lippen, doch sie war nicht an Bord, genau wie die anderen nicht an Bord waren. Niemand war an Bord. Nicht mal ich. Ich war eine Illusion. Über uns am Himmel bewegte sich eine schwarze Sonne. Sie würde im Meer versinken und alles Lebendige und Eingebildete mit sich in den Abgrund ziehen. Das war die Lösung. Als ich nach einer halben Ewigkeit die Augen erneut öffnete, erkannte ich, dass die schwarze Sonne der Hintern der Tänzerin war, die sich neben mir ankleidete. Ihre Bewegungen wirkten jetzt unelegant, beinahe gehetzt, vielleicht lag es auch an der Perspektive. Ich schloss die Augen, um ihr den intimen Moment nicht zu stehlen.
Als ich sie das nächste Mal aufschlug, saß ich neben der Tänzerin an die Kellerwand gelehnt, vor uns zwei Teelichte, sie hielt eine Flasche Wodka im Schoß und bot mir eine Zigarette an. Wir unterhielten uns offenbar prächtig, jedenfalls war ich mit Kichern beschäftigt, Kichern ohne Ende, und der einzige Mensch auf der Welt, der etwas davon verstand, was lustig war, war diese Tänzerin. Bernd war unsichtbar geworden, genau wie das Reh. Ich murmelte Nach Hause telefonieren und versuchte, eigenständig aufzustehen, doch die Tänzerin lachte mich aus, zog mich zurück neben sich an die Wand und sagte, dass ich noch mindestens zwei Stunden bräuchte, um aufzustehen, und fragte, ob ich genug Kohle für ein Taxi dabei hätte. Ich schüttelte desolat den Kopf und verschwieg ihr, dass meine Lebensmittelration der ganzen nächsten Woche irgendwo zwischen den Trägern ihres BHs klemmte.
Wäre mein Cousin nicht gewesen, hätte ich die Tänzerin nie wieder gesehen. Das asiatische Reh, dem Bernd hartnäckig den Hof machte, entpuppte sich als Corinnas blutjunge und ziemlich schlagfertige Untermieterin aus Korea. Als ich Bernd ein paar Tage später im Café abholte, saßen sie zu dritt am Tisch, die Tänzerin grinste mir spöttisch entgegen, da kommt die Schauspielerin, die grün wird, wenn sie Gras raucht, hallo, ich bin Corinna, du erinnerst dich wahrscheinlich nicht mehr an mich. Und ob, gab ich zurück und errötete im selben Moment, weil ich sie so gut wie nackt gesehen hatte. Wir redeten eine Weile unnötiges Zeug, mit dem jeder beweisen konnte, dass er nicht auf den Mund gefallen war, dann stand Corinna plötzlich auf, strich ihrer Mitbewohnerin liebevoll über den Kopf, warf mir einen vielsagenden Blick zu und sagte, Ich geh dann mal Katzen füttern, kommst du mit. Und ich war so auf den Mund gefallen, dass ich keinen Ton herausbekam, woraufhin sie deutlicher wurde, Komm die wollen knutschen, und mich hochzupfte.
Wir gingen im Park spazieren statt Katzen füttern und danach waren wir Freunde. Jedenfalls was mich anging. Was Bernd anging, bekam er nach zwei Wochen telefonisch den Laufpass von der Koreanerin und musste sich in seiner Heimatstadt ein neues Reh suchen.
Corinna hatte zu der Zeit dreizehn Katzen. Sie hatte sie aus dem Tierheim, in dem sie freitags ehrenamtlich aushalf, mit in ihre dunkle Zweizimmerwohnung genommen. Vier päppelte sie in der Badewanne mit der Flasche hoch, die anderen spielten in dem elf Meter langen Flur zwischen ihrem Zimmer und dem der Koreanerin Nachlauf oder kletterten von der Küche aus über den Balkon in den tristen Hinterhof, um in den Mülltonnen zu kramen. Corinnas Wohnung stank nach einer Mischung aus Katzenfutter, Katzenklo und den Exkrementen der Katzenbabys, die im Bad mit ihrer Scheiße spielen durften. Manchmal roch Corinna noch Stunden, nachdem sie die Wohnung verlassen hatte, wie ihr Flur. Es verging ein halbes Jahr, bevor ich Corinna gestand, dass ich eine Katzenallergie hatte. So sehr wollte ich mit dieser Frau befreundet sein, dass ich mir einredete, mich an den langen Abenden in ihrer Küche durch den Kontakt mit ihren vierbeinigen Mitbewohnern zu immunisieren.
Corinna war ein Wesen der Nacht. Gegen null Uhr lief sie zur Hochform auf, physisch sowie intellektuell. Ich musste morgens um acht am anderen Ende der Stadt zum Fechtunterricht auf der Matte stehen, Singen, Tai Chi, Akrobatik. An den Schnittstellen unserer Welten trafen wir uns zum Spazierengehen, Kakaotrinken und Wodka, spät abends, wenn ich vom Szenischen Unterricht kam und sie sich rüstete für einen Auftritt. An den Wochenenden nachmittags, sobald sie aus dem Bett gekrochen war, um die Katzen zu füttern. Corinna hatte ein paar Semester Medizin studiert, bis sie resignierte, da Ohnmacht sie überkam, sobald sie Blut sah, halbherzig hatte sie bekundet, sich Richtung Psychiatrie zu spezialisieren, doch Studium blieb Studium, und Blut Blut. Corinna versicherte öfters, dass sie schon noch eines Tages ihren Doktor machen würde, allein, um die Prophezeiungen ihrer missratenen Eltern Lügen zu strafen.
Keiner ihrer Freunde konnte sich eine Corinna bei der Frühschicht vorstellen, überhaupt eine Corinna, die einem geregelten Leben nachging. Corinna war dazu geboren, sich treiben, sich von der Nacht in den Nachmittag spülen zu lassen, an ihrem Küchentisch bei einer Tasse Kakao über den Charakter ihrer Katzen zu philosophieren, sich über die Essgewohnheiten ihrer Untermieterin lustig zu machen, oder deren Angewohnheit, sich dreimal täglich die Zähne zu putzen. Corinnas Zähne bedurften keiner besonderen Zuwendung, mit kurz vor dreißig hatte sie kein Stück Amalgam oder Kunststoff im Mund, und sie behauptete steif und fest, das liege am Wodka, dem reinsten Getränk der Welt, noch vor Quellwasser.
Corinna weigerte sich, Geld anzuschaffen, bevor der Kühlschrank hungrig wurde. Sie weigerte sich, Studienabschlüsse ernst zu nehmen oder das, was in bestimmten Zeitungen stand, zu glauben. Sie verachtete Statistiken, wodurch sie schon an der Uni unangenehm aufgefallen war. Dafür konnte sie dem Einzelfall stundenlang ihre Aufmerksamkeit widmen, sie lieh ein Ohr und stellte die erlösenden Fragen, wenn eine Freundin Krach mit ihrem Liebsten hatte oder entschlossen war, ihn zu verlassen oder ihm wenigstens mal die Meinung zu sagen, oder erst die Meinung sagen und dann gehen, für immer. Corinna wusste, das Schlimmste abzuwenden, wenn es Not tat, oder das Nötige erträglich zu machen, auch wenn es schlimm war. Ihre Neugier und Geduld waren ein Jungbrunnen für die Beziehungen ihrer Freunde.
Ihr eigenes Liebesleben beschränkte sich auf die Vergangenheit, über die sie kaum Auskunft gab, einen eher trostlosen One-Night-Stand pro Jahr in der Gegenwart und eine unbestimmte Sehnsucht, bei allem Freiheitsdrang eines Tages in ferner Zukunft mit einem tollen Kerl über einem Lieblingsfilm einzuschlafen, während die Katzen mit seinen Eiern Pingpong spielten. Corinna hing auf morbide Weise am Status quo, wie sie ihr Leben nannte, das verursachte ihr bei Tag manchmal Depressionen.
Corinna wurde meine Rettung im letzten Jahr der Schauspielausbildung, als die Kollegen, allen voran Elisabeth mit ihrer gewinnenden Stimme, die Ellbogen ausfuhren, der Arbeitsmarkt kümmerliche Gestalt annahm und ich vom Lehrpersonal aufgefordert wurde, mich zu entscheiden, ob ich der Bühne Adieu sagen wollte oder endlich die Sau rauslassen. Corinna mochte die Sau. Als ich nach drei Jahren in der Provinz Abschied vom Theater nahm und mit wehenden Fahnen, einem neuen Freund und hehren Zielen zurückkehrte in die Hauptstadt, mochte sie mich immer noch. Nach wie vor war Corinna damit beschäftigt, ihr Studium aufzuschieben und jungen Katzen zu erklären, wohin sie zu scheißen hatten. Sie wohnte immer noch mit der Koreanerin zusammen, die inzwischen esoterisch draufgekommen war, und rätselte, ob Psychiatrie das Richtige für sie war, während ihre unzähligen Freunde einschließlich mir und der Mitbewohnerin sie dazu drängten, wenigstens ihren Facharzt zu machen, da niemand so gut zuhören konnte wie Corinna, niemand, da sie sich seit jeher mehr für die Sorgen anderer interessiert hatte als die eigenen, da sie auf Dauer von der Sozialhilfe das Katzenfutter nicht bezahlen konnte und das Tanzen auf umgedrehten Bierkisten aufgegeben hatte. Nackig tanzen ist was für Leute unter dreißig, hatte sie erklärt, ihrem eigenen Grundsatz widersprechend, wonach Menschen schön werden, indem das Begehren sie findet, Dein Arsch darf da oben nicht so wabbeln. Auch wenn wir Einspruch erhoben und ihren Po lobten. Ab Mitte dreißig seht ihr das anders, wartets ab.
Corinna war eine feste Konstante in meinem Leben geworden. Wir verbrachten so viel Zeit miteinander, dass mein neuer Freund regelmäßig meine Bettdecke aus dem Schlafzimmer Richtung Sessel schleuderte, wenn ich gegen halb drei nach Katzenklo und Zigaretten duftend die Wohnungstür aufsperrte, nicht mehr ganz sicher auf den Beinen von all dem Wodka mit Zitrone und den neuesten Erkenntnissen über den Unsinn des Lebens und die Schwierigkeiten, ein bisschen Geld zu verdienen.
Corinna mochte meinen braungebrannten Freund, seinen Zynismus, seinen gesunden Egoismus, seinen Humor, wir bewunderten seine Disziplin und seine Ignoranz gegenüber Autoritäten, auch wenn Corinna Zweifel hegte, dass ich ihn deswegen gleich zum Mann des Lebens erklären sollte, immerhin war er viel älter als ich, extrem menschenscheu, klaustrophobisch, dominant, er hatte kuriose Arbeitsrituale und hasste Zigaretten.