Lian Hearn
Die Legende von Shikanoko
Fürst des schwarzen Waldes
Aus dem Englischen
von Sibylle Schmidt
FISCHER E-Books
Lian Hearn wurde 1942 geboren und wuchs in Nigeria und Großbritannien auf. Sie studierte moderne Sprachen und arbeitete anschließend als Filmkritikerin und Redakteurin. Sie ist die Autorin zahlreicher Kinder- und Jugendbücher, für die sie mehrfach ausgezeichnet wurde. Ein lebenslanges Interesse an Japan und seiner Kultur führte dazu, dass sie Japanisch lernte und das Land unzählige Male bereiste. Lian Hearn lebt heute in Goolwa, Australien.
Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden sich auf www.fischerverlage.de
Der zweite und abschließende Band des neuem mitreißenden Fantasyepos von ›Otori‹-Bestsellerautorin Lian Hearn!
Inmitten eines mystisch-mittelalterlichen Japans lebt Shikanoko, das Kind des Hirsches, zurückgezogen und voller Trauer um die umgekommene Prinzessin Aki im Schwarzen Wald. Um ihn herum wird das Land von Katastrophen heimgesucht, und der unerbittliche Kampf um den legendären Lotusthron erreicht seinen Höhepunkt. Diejenigen, die nach Macht dürsten, schrecken vor nichts zurück – nur die Krönung des rechtmäßigen Thronfolgers Yoshimoro kann dem Töten ein Ende bereiten. Doch dieser lebt weiter im Verborgenen. Es bedarf Shikanokos magischer Fähigkeiten, Yoshimoros Existenz aufzuspüren, seine Feinde zu besiegen und das gesamte Reich vor dem sicheren Untergang bewahren.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die australische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel ›The Tale of Shikanoko. Lord of the Darkwood‹ bei Hachette, Australia
© 2016 Lian Hearn Associates Pty Ltd.
Für die deutschsprachige Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Zero Werbeagentur, München
Coverabbildung: © FinePic.de
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-7336-4967-8
Kumayama no Kazumaru, später Shikanoko oder Shika genannt
Nishimi no Akihime, die Herbstprinzessin, Aki
Kuromori no Kiyoyori, Fürst von Kuromori
Fürstin Tama, seine Gattin, Herrin von Matsutani
Masachika, Kiyoyoris jüngerer Bruder
Hina, manchmal Yayoi genannt, Kiyoyoris Tochter
Tsumaru, Kiyoyoris Sohn
Bara oder Ibara, Hinas Dienerin
Yoshimori, auch Yoshimaru, der Verborgene Kaiser, Yoshi
Takeyoshi, auch Takemaru, Sohn von Shikanoko und Akihime, Take
Die Hexerin Tora
Shisoku, der Berghexer
Sesshin, ein alter Weiser
Der Fürstabt
Akuzenji, König des Berges, Räuberhauptmann
Hisoku, Diener von Fürstin Tama
Fürst Aritomo, Oberhaupt des Clans, auch bekannt als Fürst von Minatogura
Yukikuni no Takaakira
Fürstin Yukikuni, seine Gattin
Takauji, deren gemeinsamer Sohn
Arinori, Kapitän und Fürst der Region Aomizu
Yamada Keisaku, Masachikas Adoptivvater
Gensaku, ein Bediensteter von Takaakira
Yasuie, ein Gefolgsmann von Masachika
Yasunobu, Yasuies Bruder
Fürst Keita, Oberhaupt des Clans
Hosokawa no Masafusa, ein Verwandter von Kiyoyori
Tsuneto, ein Krieger von Kiyoyori
Sadaike, ein Krieger von Kiyoyori
Tachiyama no Enryo, ein Krieger von Kiyoyori
Hatsu, Enryos Frau
Kongyo, Kiyoyoris ältester Gefolgsmann
Haru, Kongyos Frau
Chikamaru, später Motochika, Chika, deren Sohn
Kaze, deren Tochter
Hironaga, Bediensteter in Kuromori
Tsunesada, Bediensteter in Kuromori
Taro, ein Diener in Kiyoyoris Haus in Miyako
Der Kaiser
Prinz Momozono, der Kronprinz
Prinzessin Shinmei’in, seine Gattin, Yoshimoris Mutter
Daigen, Prinz Momozonos jüngerer Bruder, später der Kaiser
Fürstin Natsue, Daigens Mutter, Schwester des Fürstabts
Yoriie, ein Bediensteter
Nishimi no Hidetake, Akis Vater, Ziehvater von Yoshimori
Kai, Hidetakes Adoptivtochter
Gessho, ein Kriegermönch
Eisei, ein junger Mönch, später einer der Verbrannten Zwillinge
Shigetomo, Shikanokos Vater
Sademasa, sein Bruder, Shikanokos Onkel, jetzt Herrscher über Kumayama
Nobuto, einer seiner Krieger
Tsunemasa, einer seiner Krieger
Naganori, einer seiner Krieger
Nagatomo, Naganoris Sohn, Shikas Kinderfreund, später einer der Verbrannten Zwillinge
Sadako und Masako, Hinas Lehrerinnen
Saburo, ein Stallbursche
Fuji, die Herrin der Lustboote
Asagao, Musikerin und Unterhaltungskünstlerin
Yuri, Sen, Sada und Teru, junge Mädchen im Kloster
Sarumaru, Saru, ein Akrobat und Affendresseur
Kinmaru und Monmaru, Akrobaten und Affendresseure
Kiku, später Meister Kikuta, ältester Sohn der Hexerin Tora
Mu, ihr zweiter Sohn
Kuro, ihr dritter Sohn
Ima, ihr vierter Sohn
Ku, ihr fünfter Sohn
Tsunetomo, ein Krieger und Kikus Diener
Shida, Mus Gattin, eine Fuchsfrau
Kinpoge, deren Tochter
Unagi, ein Kaufmann in Kitakami
Tadashii, ein Tengu
Hidari und Migi, Schutzgeister von Matsutani
Das Drachenkind
Ban, ein fliegendes Pferd
Gen, ein künstlicher Wolf
Kon und Zen, Werhabichte
Nyorin, Akuzenjis weißer Hengst, später Shikanokos Pferd
Risu, eine launische braune Stute
Tan, deren Fohlen
Jato, Schlangenschwert
Jinan, Zweiter Sohn
Ameyumi, Regenbogen
Kodama, Echo
Aus Trauer vielleicht
angesichts des Wiesenklees
in Farben des Herbsts
ruft der Hirsch unermüdlich
bis vom Berg Echo erschallt
aus Kokin-wakashū
Sie konnte nichts sehen. Ihre Lunge schien zu bersten, und im nächsten Augenblick würde Hina den Mund öffnen und das Seewasser einatmen müssen, das den Tod bedeutete. Erinnerungen aus ihrem kurzen Leben rasten vor ihrem inneren Auge vorbei: das Gesicht der Mutter, die letzten Worte des Vaters, der Hilfeschrei des Bruders, bevor Tsumaru verschwand. Außer Hina hatten nur wenige das Blutbad in Miyako überlebt.
Nun sollte ihr Leben also zu Ende sein, und auch den kleinen Takemaru, den sie verzweifelt umklammerte, würde bald der Tod ereilen. Tränen stiegen ihr in die Augen und wurden von den Wogen des Kasumi-Sees davongetragen.
Dann erschienen plötzlich dunkle Schatten neben ihr, und starke Hände packten Hina und zerrten sie ans Licht. Es glich einem Wunder, dass sie den Säugling noch in den Armen hielt. Keuchend und würgend rang sie um Atem, während die Hände nach Take griffen und ihn ins Boot holten. Er war bleich und reglos, doch als Hina selbst an Bord gezogen wurde, hörte sie ihn schreien, wütend und heiser. Takemaru lebte.
Im böigen, starken Westwind schien sich das Boot aufzubäumen wie ein Tier. Das ockergelbe Hanfsegel wurde rasch heruntergeholt und auf Deck gelegt, während der Steuermann im Heck mit dem Ruder kämpfte. Man hievte die Männer, die ins Wasser gesprungen waren, um Hina zu retten, zurück an Bord, und sie entledigten sich ihrer nassen Kleider und liefen lachend nackt herum. Plappernde Affen, an Seilen festgemacht, kreischten bei ihrem Anblick auf und hüpften umher. Die Sonne, die im Osten stand, war blendend grell, und Hina fand sich plötzlich umringt von Menschen. Die Männer, die nicht nackt waren, trugen rote Kleidung, und weil sie aussahen wie Wesen aus einer anderen Welt, glaubte Hina zunächst, sie wäre doch ertrunken. Aber dann befreiten Frauen, deren Hände sich echt und lebendig anfühlten, Hina von ihren schweren Kleidern und stießen mit menschlichen Stimmen entzückte Rufe über die kostbaren Stoffe aus. Take und Hina wurden in Felle von Wölfen und Bären gehüllt, und jemand drückte ihr eine Schale mit einer warmen, seltsam riechenden Brühe in die Hände.
Als die Männer das Segel wieder hochzogen, flatterte es widerspenstig, und störrische Seile sausten schlängelnd durch die Luft. Die Affen kreischten noch lauter als zuvor. Mitten in diesem lärmenden Durcheinander trat ein Junge, der die Laute in den Händen hielt, zu Hina. Trotz heulendem Wind und dem Plätschern der rauschenden Wellen vernahm Hina die sanften Klänge. Das Palisanderholz mit den kostbaren Verzierungen aus Gold und Perlmutt schimmerte in der Sonne.
»Wer bist du?«, fragte der Junge leise. »Warum hast du Genzo bei dir?«
Wieder erschienen Bilder vor Hinas innerem Auge. Das ist Genzo, die Laute des Kaisers, hatte die Herbstprinzessin, Takes Mutter Akihime, gesagt. Sie hatte auch versprochen, Hina zu offenbaren, wo sich der kindliche Kaiser aufhielt, es dann jedoch nicht getan. Ob es dieser Junge war, der nun vor ihr stand? So musste es sein, denn die Laute verriet ihn. Aber Hina durfte sich nicht anmerken lassen, dass sie wusste, wer er war.
Sie schüttelte den Kopf, als verstünde sie den Jungen nicht, und streckte die Hände nach dem Instrument aus. Mit argwöhnischem Blick hielt der Junge ihr die Laute hin. Hina bemerkte sein Unbehagen und hätte ihn gerne beruhigt, blieb jedoch stumm. Wie hätte sie ihn überhaupt ansprechen sollen? Worte der Hochachtung und Ehrerbietung lagen ihr auf der Zunge, doch dann schrien die Seemänner, er solle zu ihnen kommen und helfen. Ein zweiter Junge trat zu ihr, in Händen eine Schrift aus zusammengenähten Seiten.
»Yoshi hat die Laute aufgefangen und ich das hier«, sagte dieser Junge. »Es ist schwer! Wie konnte ein Mädchen wie du das so weit werfen?«
Hina nahm die Schrift rasch an sich. Wie Der Schatz der Kudzu-Ranke hierhergelangt war, konnte sie auch nicht erklären. Vielleicht hatte die Schrift Flügel bekommen und war geflogen; sie verfügte schließlich über Zauberkraft, das wusste Hina inzwischen. Sie klemmte die Blätter unter den Arm und wandte sich der Laute zu, die einen Seufzer ausstieß, als Hina sie mit beiden Händen umfasste.
Die Seemänner brüllten weitere Befehle, und sobald die beiden Jungen davoneilten, verstummte die Laute. Sie änderte jedoch nicht ihr Äußeres, und als Hina die Saiten zupfte, gab Genzo zwar Töne von sich, spielte aber nicht ihr eigenes überschwänglich freudiges Lied.
»Sie ist Musikantin!«, rief einer der Männer, die Hina aus dem See gerettet hatten. »Wir sollten sie zu Fuji bringen!«
Die anderen blickten hinüber nach Nishimi, das über den aufgewühlten Wellen kaum noch zu erkennen war. »Sie muss von Edelleuten abstammen. Man wird das Mädchen bestimmt vermissen und nach ihm suchen.«
»Dort war das Anwesen von Fürst Hidetake«, rief der Steuermann. »Aber der Fürst ist tot.«
»Könnte sie seine Tochter sein? Die Herbstprinzessin?«
»Die Herbstprinzessin wäre eine erwachsene Frau«, bemerkte eine der Frauen, die Take schon an die Brust gelegt hatte. »Sie hier ist doch noch ein Mädchen. Wie alt seid Ihr?«, fragte sie Hina.
»Ich wurde in diesem Jahr zwölf«, antwortete Hina.
»Und wie nennt man Euch?«
Doch Hina wollte ihren Namen nicht preisgeben. Unversehens kam ihr ein Gedicht in den Sinn, und so sprach sie das Wort für Frühling aus: »Yayoi«, antwortete sie.
»Ist dieser kleine Mann hier Euer Bruder?«, fragte die Frau und strich sachte über Takes schwarzes Haar.
Dass Take der Sohn der Herbstprinzessin war, durfte niemand erfahren. »Nein, meine Mutter ist schon vor langer Zeit gestorben«, antwortete Hina. »Der Kleine ist der Sohn einer meiner Zofen.« Rasch erfand sie den Rest der Geschichte. »Sie ist bei der Geburt gestorben. Ich spiele gern mit dem Kleinen und hielt ihn gerade im Arm, als ich weglaufen musste.«
»Wovor musstet Ihr weglaufen?« Diese Leute waren mitfühlend, aber Hina spürte nun, dass sie unruhig wurden.
»Ein böser Mann ist gekommen«, antwortete sie, ärgerte sich aber über den kindlichen Ausdruck. »Ich hatte Angst, er würde mich töten.«
»Wir sollten sie zurückbringen«, schlug einer der Männer vor.
»Kinmaru«, sagte ein anderer vorwurfsvoll. »Jemand wollte das Mädchen töten!«
»Und dieser Jemand könnte sehr wohl nach der Kleinen suchen, Monmaru, und wer wird dann getötet? Wir!«
»Wir können bei diesem Wind nicht umkehren«, rief der Steuermann. »Ausgeschlossen!«
Am späten Nachmittag erst erreichten sie das Ufer bei der Regenbogenbrücke. Der Markt war schon fast zu Ende. In den Straßen von Aomizu, auf Majima und entlang der Brücke wurden Laternen angezündet. Sobald das Boot anlegte, sprangen die Akrobaten mit den Affen an Land.
»Für ein paar Kunststücke ist noch Zeit«, rief Kinmaru. Monmaru begann zu trommeln, und die Jungen schlugen mit den Affen Purzelbäume, bildeten einen Turm mit drei Affen auf der Spitze und führten einen wilden Tanz auf, bei dem die Tiere zwischen den Männern und den Jungen hin und her sprangen. Schnell waren sie umringt von einer Menschenmenge. Die Zuschauer kannten die Namen der Affen, riefen Shiro, Tomo, Kemuri und spendeten ihren Lieblingen besonders viel Beifall. Benommen vom Lärm, den leuchtend bunten Kleidern, den Schreien in einer Mundart, die sie kaum verstand, drückte Yayoi die Laute und die Schrift so fest an sich, als könnte beides sie vor dieser verwirrend fremden Welt beschützen.
»Kommt«, sagte die Frau, die Take gestillt hatte und den schlafenden Jungen jetzt in den Armen hielt. »Ihr könnt über Nacht bei uns bleiben. Morgen werden wir Fuji fragen, was wir wohl mit Euch machen sollen.«
Yayoi schlief unruhig auf einer dünnen Matte in einem Raum mit drei Frauen und einer Kinderschar – einem weiteren Säugling und drei kleinen Kindern, die schon laufen konnten. Die drei schlummerten friedlich wie Kätzchen, aber Take wachte einmal schreiend auf, und der andere Säugling hatte Krämpfe und weinte immer wieder. Kaum war Yayoi eingedöst, schrie das Kind, und sie fuhr aus dem Halbschlaf wieder hoch, voller Angst, Take sei ihr unter Wasser aus den Armen geglitten oder Affen hätten ihn gestohlen. Später hörte sie, wie die Männer mit den Jungen zurückkamen, die sich bemühten, leise zu sein, ihr Lachen aber kaum unterdrücken konnten. Die Affen plapperten aufgeregt, als sie in ihre Käfige gesperrt wurden. Danach war es ein paar Stunden lang still im Haus, doch noch bevor sich die Hähne rührten, vernahm Yayoi einen langen, flötenden Vogelruf, wie ein Echo aus der Vergangenheit.
Im Morgengrauen standen die Frauen auf, um die erste Mahlzeit zuzubereiten. Yayoi, die noch nie im Leben Essen gemacht hatte, hielt unterdessen Take im Arm. Der Kleine war jetzt fast zwei Monate alt und lächelte, als er sie aufmerksam betrachtete.
Niemals wird er seine Mutter kennenlernen, dachte Hina und spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Was würde dieser Tag für sie beide bringen? Sie fühlte sich schwach und kränklich vor Angst.
»Nicht weinen!«
»Schaut nur, wie blass sie ist, bleich wie ein Geist.«
»Ihr müsst schön sein für Fuji!«
Die Stimmen der Frauen schienen um Hina herumzuwirbeln.
»Wird Fuji mir erlauben, Takemaru zu behalten?«, fragte sie.
Die Frauen tauschten verstohlene Blicke aus.
»Der Kleine kann bei uns bleiben.«
»Ja, ich habe genug Milch für zwei.«
»Ihr könnt nicht für ihn sorgen, Ihr seid ja selbst noch ein Kind.«
»Dann lasst mich bei euch bleiben!« Yayoi gelang es nicht mehr, die Tränen zurückzuhalten.
»Das hier ist kein Ort für eine junge Edeldame wie Euch«, erwiderte die Frau, die Take gestillt hatte.
Am frühen Morgen war es noch kühl, doch als Fuji eintraf, stand die Sonne hoch am Himmel, und die Luft wurde warm. Das Säuseln von Seide war zu hören, als Fuji hereinkam, mit Kirschblüten im Haar, umhüllt von einer Wolke süßer Frühlingsdüfte.
Die Frauen begannen eilig, sich für Yayoi zu entschuldigen.
»Ihre Kleider sind noch nicht ganz trocken.«
»Weil sie geweint hat, sind ihre Augen rot.«
»Man kann nicht erwarten, dass sie heute liebreizend aussieht, denn gestern ist sie fast ertrunken.«
Fuji betrachtete Yayoi eingehend, nahm ihren Kopf in beide Hände und drehte ihn hin und her. »Ich kann alles gut erkennen. Was für ein schönes Mädchen. Wer bist du, liebes Kind, und woher kommst du?«
Eine innere Stimme warnte Yayoi, dass ihr vergangenes Leben vorüber sei und dass sie niemals darüber sprechen dürfe. Sie schüttelte den Kopf.
»Du kannst es mir nicht sagen? Nun, das ist vielleicht auch am besten so. Du siehst aus, als könntest du eine Kakizuki sein. Bist du Überlebende des Blutbads in der Hauptstadt?«
Yayoi blieb stumm, aber Fuji lächelte, als habe das Mädchen zugestimmt.
»Jemand hat dich in Nishimi versteckt, aber du wurdest entdeckt und bist deshalb weggelaufen?«
Diesmal nickte Yayoi.
»Könnt ihr euch vorstellen, dass jemand etwas ermorden will, das so kostbar ist?«, sagte Fuji. »Und dennoch wurden letztes Jahr in Miyako Hunderte Frauen und Kinder getötet, als die Krieger der Kakizuki flohen und ihre Familien zurückließen. Ich bin fest entschlossen, dieses Kind hier zu schützen.«
Sie sah sich um, entdeckte die Laute und die Schrift. »Das hier hattest du bei dir? Und den Säugling?« Fuji griff nach der Laute und betrachtete sie mit ausdrucksloser Miene. Obwohl die Laute wieder ihre schäbige äußere Form angenommen hatte, schien es Yayoi, als wisse Fuji, was sie in Händen hielt.
»Was soll ich nun mit dir machen?«, fragte Fuji schließlich. »Wirst du verfolgt?«
»Ich weiß nicht«, antwortete Yayoi. »Vielleicht.« Sie hielt sich aufrecht, angestrengt bemüht, nicht zu zittern.
»Gewiss hat man gesehen, wie du in den See fielst, aber hat auch jemand bemerkt, dass du gerettet wurdest? Falls jemand nach dir sucht, wird er gewiss bei unseren Booten beginnen. Deshalb werde ich dich wohl an einen Ort bringen, an dem du gut verborgen bist. Und wir werden eine Bestattungszeremonie für die armen Kinder abhalten, die im See ertrunken sind.«
Hina ist ertrunken, Yayoi wurde gerettet.
»Kann Take mitkommen?«
»Wie kann denn ein Mädchen wie du sich um einen Säugling kümmern? Außerdem würde er nur unerwünschte Aufmerksamkeit auf dich lenken. Take kann hierbleiben, die Frauen werden sich um ihn kümmern. Ein Kindchen mehr macht bei dieser Schar auch nichts aus.«
Fuji trug den Frauen auf, Kleider für Yayoi zu bringen, aber nicht ihre eigenen – die sollten für Kostüme verwendet werden. Stattdessen bekam das Mädchen alte, abgetragene Kleidung, die säuerlich nach Essig und nach Schimmel roch. Als Yayoi angezogen war, band man ihr noch ein Tuch um den Kopf, das ihr Haar und den größten Teil ihres Gesichts verdeckte.
»Ich muss aber meine Sachen mitnehmen«, sagte sie ängstlich. »Die Laute und die Schrift.« Hina drückte beides fest an sich, als sie Fuji in den Hinterhof des Hauses folgte, wo die Jungen die Affen fütterten und mit ihnen herumtollten. Ein Mädchen war auch dort. Spielerisch schlug es eine kleine Trommel, lachte über die Affen und neckte die Jungen, wenn sie gähnten und sich die Augen rieben. Yayoi wäre gerne bei diesen Kindern geblieben.
Plötzlich spürte sie, wie die Laute erzitterte und zu spielen begann. Yayoi umklammerte sie fest, um sie zum Schweigen zu bringen. Das fremde Mädchen trat zu Yoshi und nahm ihn fürsorglich an der Hand, und Yayoi fragte sich, ob die beiden zusammen aufgewachsen waren und das Mädchen vielleicht eine Prinzessin war, wie Aki.
Fuji schüttelte den Kopf. »Diese Laute sollte auch versteckt werden. Kai, mein Kind, ich habe dir doch schon öfter gesagt, dass du nicht bei den Affen sein darfst. Geh zurück zu den anderen. Du hast bestimmt viele Aufgaben zu erledigen.«
»Ich wünschte, ich könnte hierbleiben«, entgegnete Kai.
»Was für ein Unsinn! Mädchen können nicht Akrobaten werden. Du solltest froh sein, dass die Musikanten dich zu sich genommen haben.«
Fuji war Yayoi beim Einsteigen in die Sänfte behilflich, die vor dem Hintertor neben zwei kräftigen jungen Männern stand. Diese verbeugten sich achtungsvoll vor Fuji, die ihnen schnell und leise Anweisungen gab. Dann stieg auch sie in die Sänfte und ließ die Bambusblenden herunter.
Yayoi hörte die Frauen draußen rufen: »Auf Wiedersehen! Auf Wiedersehen! Gebt gut auf euch acht!«
»Auf Wiedersehen, Takemaru«, flüsterte Yayoi.
Die Laute verstummte, und die Sänfte geriet ins Schwanken, als die Männer losliefen. Die stickige Wärme und das Schaukeln machten Yayoi schläfrig. Sie döste immer wieder ein und erwachte dann ruckartig aus kurzen lebhaften Träumen. Durch die Blenden konnte sie nicht nach draußen sehen, nahm aber den Wechsel von Licht und Schatten wahr und spürte, dass die Träger durch Wasser wateten und danach eine steile Treppe emporstiegen, wobei die Sänfte bedrohlich ins Kippen geriet. Schließlich wurde sie abgesetzt. Fuji zog die Blende hoch und stieg aus.
Yayoi folgte ihr und atmete erleichtert in vollen Zügen die kühle Bergluft ein. Unter ihr, gesäumt von knorrigen Kiefern, lag der Kasumi-See. Von den Häusern der Dörfer am Ufer stieg Rauch auf, und auf dem Wasser leuchteten die Segel kleiner Boote gelb in der Sonne. Der Klang einer Glocke war zu vernehmen. Es musste bereits Mittag sein.
»Dies ist ein Kloster für Frauen«, sagte Fuji. »Ich habe hier ein paar Mädchen untergebracht, bis sie alt genug sind.«
Alt genug wofür?, fragte sich Yayoi unwillkürlich, vermied jedoch, sich selbst die Antwort zu geben. Stattdessen betrachtete sie das zinnoberrote Tor, die blühenden Mandelkirschbäume und die Treppe, die den Berg hinaufführte, überschattet von Kiefern.
Leichtfüßig eilte Fuji die Stufen hinauf, und Yayoi musste sich beeilen, um ihr folgen zu können. Die Stufen waren zu hoch für ein Kind, und als Yayoi oben ankam, schmerzten ihre Beine. Jemand musste Fuji angekündigt haben, denn sie wurden von einer Nonne erwartet. Hinter der Frau sah Yayoi einen Garten mit einer Quelle, deren Wasser in ein Becken strömte und dann in einen großen Fischteich floss.
»Unsere Äbtissin möchte Euch zu einer Erfrischung einladen«, sagte die Nonne zu Fuji und betrachtete Yayoi dann mit kühlem, unfreundlichem Blick. »Ist das ein weiteres Findelkind, dessen wir uns annehmen sollen?«
»Sie heißt Yayoi«, antwortete Fuji. »Mir ist daran gelegen, dass ihre Anwesenheit geheim gehalten wird. Das Mädchen wird nicht lange hier sein.«
»Ja«, erwiderte die Nonne und betrachtete Yayoi prüfend, um ihre Größe und ihr Alter zu schätzen. »Sie kann wohl mit den anderen Mädchen gemeinsam beten und lernen.« Die Nonne wandte sich um und schritt auf ein niedriges Gebäude neben dem Tempel zu. Das Dach des Gebäudes endete in einer flügelartigen Biegung nach oben, als wolle es davonfliegen.
Dann blieb die Nonne stehen und sagte zu Fuji: »Asagao will Euch gewiss sehen. Sie kann die Freundin dieses Mädchens werden, die beiden sind etwa in einem Alter.« Darauf klatschte die Nonne in die Hände.
Aus dem Gebäude trat ein Mädchen, das vor Fuji auf die Knie fiel. Fuji nahm seine Hände, zog es hoch und musterte es so eingehend, wie die Nonne zuvor Yayoi beäugt hatte. Das Mädchen, das Yayoi als liebreizend empfand, errötete.
»Herrin«, sagte Asagao. »Ich bin sehr froh, Euch zu sehen. Ihr habt mir sehr gefehlt.«
»Mein liebes Kind. Ich habe dir eine Freundin mitgebracht. Bitte nimm dich ihrer an.«
»Bring sie ins Mädchenzimmer und zeige ihr alles«, fügte die Nonne hinzu. Zu Yayoi sagte sie: »Gib mir deine Sachen. Was hast du denn da? Eine alte Laute und eine noch ältere Schrift? Die Laute kann dir hier nützlich sein, doch die Schrift wirst du nicht brauchen. Aber keine Sorge, wir werden sie für dich aufbewahren. Wenn du uns verlässt, kannst du sie mitnehmen.«
»Ehrwürdige Schwester, dürfen wir Euch und die Herrin ein Weilchen begleiten?«, bat Asagao.
Sie hatte ein liebenswürdiges Wesen, und die Nonne ließ sich erweichen. »Nun gut, da du deine Wohltäterin so lange nicht mehr gesehen hast. Aber nur bis zum Fischteich.«
In dem großen Steinbecken schwammen friedlich rote und weiße Zierkarpfen unter Lotosblättern, deren Blütenstängel sich gerade zu zeigen begannen.
»Seht doch, Rote und Weiße können friedlich miteinander leben«, sagte Asagao. »Warum nur ist unsere Welt so von Krieg zerrissen?«
Fuji lächelte. »Du sprichst sehr dichterisch, mein Liebes. Ich merke, dass du fleißig gelernt hast. Doch es ist besser, nicht über Rot und Weiß zu sprechen. Wenn es nach den Miboshi geht, dann gibt es nur noch Weiße.«
»Aber in diesem Teich gibt es mehr Rote als Weiße«, erwiderte Asagao, jedoch so leise, dass nur Yayoi sie hören konnte. Sie fragte sich, was das Mädchen erlebt haben mochte und wie es zu Fuji gekommen war. Dann gingen die Frauen weiter und überließen die beiden Mädchen sich selbst.
In den nächsten Tagen erfuhr Yayoi mehr über Asagao und die anderen Mädchen, die im Alter von sechs bis vierzehn Jahren waren. Die Älteste, Yuri, ein sanftes gertenschlankes, hochgewachsenes Mädchen, wirkte schüchtern und noch kindlich. Asagao war etwas jünger als Yuri und ein Jahr älter als Yayoi. Ferner gab es zwei Schwestern mit so geringem Altersunterschied, dass sie beinahe wie Zwillinge schienen, Sada und Sen. Sie waren zehn und neun, rundlich trotz der spärlichen Kost im Kloster, und hatten rote Wangen. Die Jüngste, ein mageres sechsjähriges Mädchen namens Teru, erinnerte Yayoi an die Kinder der Affenakrobaten. Sie fragte sich, ob Teru wohl von dieser Familie abstammte und weshalb man das Mädchen ins Kloster gegeben hatte.
Eines Abends vor dem Schlafengehen sprach Yayoi mit Asagao darüber. Die älteren Mädchen halfen den jüngeren, kämmten ihnen das Haar und hängten ihre Kleider auf Bügel. Teru war schon eingeschlafen, während Yayoi ihr Gewand glattstrich. Yuri sang am anderen Ende des Raums leise für Sada und Sen, die engumschlungen auf ihrer Matte lagen. Yuris Stimme klang dünn und wehmütig. Die Pflaumenregen hatten begonnen, und alles war ständig feucht. Unentwegt prasselten die Tropfen aufs Dach und übertönten alle anderen Geräusche. Während dieser trüben Tage waren beide Mädchen ruhelos und niedergeschlagen.
»Fuji hat sie vermutlich ihrer Familie abgekauft«, beantwortete Asagao die Frage nach Terus Herkunft. »Vielen Eltern bleibt keine andere Wahl. Töchter erbringen einen guten Preis. Heutzutage sind Mädchen sehr begehrt.«
»War das bei dir auch so?« Obwohl es Yayoi peinlich war, so unumwunden zu fragen, konnte sie ihre Neugier nicht bezähmen.
»Meine Mutter war eine von Fujis Lustdamen«, flüsterte Asagao. »Ich darf eigentlich nicht darüber sprechen, will es dir aber trotzdem sagen. Mein Vater war ein Krieger der Kakizuki. Die beiden haben sich verliebt, und mein Vater hat meine Mutter freigekauft und sie mit zu sich in sein Haus nach Miyako genommen. Die Frauen auf dem Boot bekommen keine Kinder – das wirst du noch merken, vermute ich. Deshalb hatte ich Glück, dass ich überhaupt auf die Welt kam. Als die Hauptstadt von den Miboshi eingenommen wurde, floh mein Vater nicht mit den Kakizuki, sondern schickte mich zu Fuji und tötete zuerst meine Mutter und dann sich selbst.«
»Wie schrecklich. Wie traurig«, murmelte Yayoi, die sich wunderte, dass Asagao dennoch so hübsch und liebenswürdig war.
»Du wirst gewiss merken, dass sich heutzutage die Geschichten all dieser Frauen auf dem Boot ähneln«, erwiderte Asagao. »Hinter dem Lächeln und den Liedern verbergen sich schmerzlicher Verlust und Kummer.«
Sie streichelte Yayois Wange und sagte: »Bestimmt werden wir Freundinnen.«
In diesem Augenblick wünschte sich Yayoi nichts sehnlicher. »Ja, lass uns Freundinnen sein, für immer und ewig«, sagte sie, ergriff Asagaos Hand und drückte sie.
Am nächsten Morgen kam die Nonne in den Raum, in dem die Mädchen lernten, wie man Tee und andere Getränke richtig serviert. Der Wein allerdings wurde durch Wasser ersetzt. Abwechselnd übernahmen die Mädchen weibliche und männliche Rollen, und die beiden Schwestern kamen aus dem Kichern nicht heraus, als sie Männer spielen sollten. Sada konnte besonders gut Betrunkene darstellen, und Asagao gab sehr überzeugend die Gespielin, die ihre Gäste mit Liedern und Tänzen ablenkt und beruhigt. Die Mädchen mussten sich nicht anstrengen, um von ihr bezaubert zu sein. Sogar die Schwester sah, sichtlich entzückt, ein Weilchen zu. Doch dann entsann sie sich ihres eigentlichen Anliegens und erklärte: »Yayoi, die Ehrwürdige Mutter Oberin wünscht, dich zu sehen.«
Diese Ankündigung erschütterte die anderen so sehr, dass sie ihr Spiel jäh unterbrachen und die Nonne mit offenem Mund anstarrten. Sada bekam sogar einen echten Schluckauf, und die Schwester warf ihr einen missbilligenden Blick zu. »Du übertreibst es wohl ein wenig mit deiner Rolle. Räum das Bettzeug weg, Asagao. Ihr anderen könnt jetzt mit Yuri tanzen üben. Komm, Yayoi.«
Die Wandelgänge, die alle Gebäude des Klosters verbanden, waren teilweise überschwemmt, und draußen fiel dichter Regen in Strömen. Yayoi kam es vor, als laufe sie durch einen Wasserfall, und sie hatte großen Spaß daran. Absichtlich stapfte sie durch Pfützen, wie als kleines Mädchen, als sie mit ihrem Bruder Tsumaru und den Kindern von Tsumarus Amme, Kaze und Chika, gespielt hatte.
»Geh vernünftig«, schalt die Nonne, als bei einer besonders tiefen Pfütze Wasser umherspritzte.
Am Ende des Wandelgangs kamen sie zu einem kleinen einzeln stehenden Haus, das eher einer Hütte glich. Auf der schmalen Veranda lag eine verdrießlich blickende rote Katze, die Pfoten untergeschlagen. Die Hütte war alt und heruntergekommen. Der Bambusvorhang an der Tür hing schief und war schwarz vor Schimmel. Eine Stufe der Treppe war gebrochen, und an Wänden und am Dach fehlten Schindeln.
»Hattet Ihr nicht gesagt, die Mutter Oberin wolle mich sprechen?«, fragte Yayoi verwundert.
»Ja – frag mich nicht, warum! Sie wollte noch nie zuvor eines der Mädchen sprechen. Das ist höchst außergewöhnlich.«
»Und sie wohnt hier?«
»Unsere Äbtissin legt keinen Wert auf Dinge und weltliche Werte. Als sie Oberin des Klosters wurde, hat sie diese Unterkunft für sich gewählt. Das stellte sie als Bedingung. Sie wollte so bescheiden leben wie der ärmste Bauer. Die vorherige Äbtissin war ganz anders, und wir vermissen sie sehr.«
Yayoi hätte gern mehr über die einstige Oberin erfahren und hoffte, dass die Schwester weitersprechen würde. Doch in diesem Augenblick war von drinnen eine Stimme zu vernehmen.
»Schickt das Kind herein.«
Yayoi vermied die gebrochene Stufe, trat auf die Veranda und schob den Bambusvorhang beiseite. Im Inneren war es noch düsterer als draußen. Nur eine kleine Öllampe spendete ein wenig Licht. Sie beleuchtete eine Statue der pferdeköpfigen Göttin Kannon, erkannte Yayoi, als ihre Augen sich an die Finsternis gewöhnt hatten. Vor der Statue lag ein blühender Zweig. Der süße Duft vermischte sich mit den Schwaden von Räucherwerk, konnte jedoch den modrigen Schimmelgeruch nicht überdecken.
»Komm zu mir. Dein Name lautet Yayoi, sagte man mir.« Eine bleiche Hand winkte Yayoi näher. Der Schädel der Frau war kahlgeschoren und glänzte so weiß, als sei er aus Elfenbein geschnitzt. Ihr Gesicht wirkte gewöhnlich – kurze Nase, breiter Mund, kleine engstehende Augen –, und sie war stämmig und untersetzt. Die Oberin trug eine schlichte kastanienbraune Robe und hatte die Füße untergeschlagen, was Yayoi an die Katze auf der Veranda erinnerte.
Auf einem abgewetzten Kissen neben der Äbtissin lag Der Schatz der Kudzu-Ranke.
Die Äbtissin sah, dass Yayoi auf die Schrift blickte, und sagte: »Das hier hattest du bei dir. Kannst du darin lesen?«
»Ein wenig«, antwortete Yayoi. »Aber es fällt mir oft schwer.«
»Das kann ich mir wohl denken!« Das Lachen der Äbtissin klang überraschend fröhlich. »Die meisten Menschen würden das wohl als die schwierigste Schrift der Welt bezeichnen, wenn sie jemals das Glück hätten, sie in Händen zu halten. Ob du mir wohl berichten würdest, wie sie in deinen Besitz gelangt ist?«
Etwas an der Äbtissin übte eine beruhigende Wirkung auf Yayoi aus, ganz als sei die Frau eine Verwandte von ihr, eine Tante vielleicht oder Großmutter, die Yayoi niemals kennengelernt hatte. Sie schob die Schrift beiseite, froh, sie berühren zu können, und kniete sich auf das Kissen.
»Ein alter Mann hat sie mir gegeben«, berichtete Yayoi. »Als kleines Mädchen wollte ich mehr darüber erfahren, wie man mit Pflanzen heilen kann. Ich braute gerne Tränke aus Löwenzahn, Klettenwurzeln und Holzkohle und habe versucht, sie den Hunden und Katzen einzuflößen, wenn sie krank waren. Meister … der alte Mann befragte mich eines Tages zu meinen Tränken, nach den Zutaten und Mengen, und ob ich meine Ergebnisse schriftlich festhielte. Später schenkte er mir den Schatz der Kudzu-Ranke und sagte, ich würde vielerlei Heilweisen darin finden. Doch die konnte ich bislang noch nicht entdecken.« Yayoi zögerte einen Augenblick, beschloss dann, der Oberin zu vertrauen, und fügte hinzu: »Die Schrift gewährt mir nur Zugang zu bestimmten Teilen.«
»O ja«, erwiderte die Äbtissin. »Diese Schrift hat große Kraft, aber sie ist alles andere als einfach. Kannst du mir den Namen dieses alten Mannes sagen?«
»Meister Sesshin«, antwortete Yayoi und wünschte auf der Stelle, das nicht getan zu haben.
»Fürchte dich nicht«, sagte die Äbtissin. »In dieser Hütte wird nur die Wahrheit gesprochen. Ich strebe nach der Wahrheit: wahre Gedanken, wahre Blicke, wahre Worte. Dieser Meister Sesshin – was für ein Mensch war er?«
»Er besaß viele Bücher und lebte im Haus meines Vaters. Warum, weiß ich nicht, aber der Meister war immer da, seit Anbeginn meines Lebens. Sogar als meine Mutter noch lebte, bevor Fürstin Tama …« Yayoi verstummte, als sie an die Grausamkeit ihrer Stiefmutter dachte.
»Was hat Fürstin Tama getan?«, fragte die Äbtissin nach.
»Sie ließ ihn blenden«, flüsterte Yayoi, »und verbannte ihn in den Schwarzen Wald.«
»Der arme Mann«, sprach die Äbtissin. »Auch Fürstin Tama ist zu bedauern, die so viel Düsternis in ihr Leben gebracht hat. War sie die zweite Ehefrau deines Vaters?«
»Meine Mutter starb, als ich noch klein war«, antwortete Yayoi. »Mein Großvater hat Fürstin Tama ihrem Mann, meinem Onkel, weggenommen und meinen Vater gezwungen, sie zu heiraten.«
»Ah, wie viel Kummer und Verderben diese alten Männer mit ihrer Herrschsucht doch über uns bringen! Wenn sie nur ahnen würden, welche verheerenden Folgen das für alle Nachfahren hat!« Die Äbtissin blieb eine Weile stumm, ergriff aber Yayois Hand und streichelte sie liebevoll.
»Mein Mann kam zu Tode«, sagte die Äbtissin schließlich. »Ich war damals noch jung, und wir hatten einen Sohn. Ich war auf Geheiß meines Vaters verheiratet worden und hatte meinen späteren Ehemann noch nie zuvor zu Gesicht bekommen. Doch dann liebte ich ihn und er mich auch, meine ich. Er starb im Norden des Landes. Nach dem Tod meines Gatten flehte sein Bruder mich an, ihn zu heiraten. Er schwor, das Anwesen für meinen Sohn zu bewahren, aber meine Trauer war so übermächtig, dass ich es nicht ertragen konnte, beide anzusehen, denn sie ähnelten meinem Gatten. So überließ ich meinen Sohn der Obhut seines Onkels und entsagte den Bindungen von Liebe und Zuneigung. Ich wollte die Wahrheit über diese trügerische grausame Welt erfahren und herausfinden, warum Menschen in ihrem Leben so gnadenlosen Schmerz erfahren müssen.«
»Habt Ihr Antworten gefunden?«, fragte Yayoi.
»In gewisser Weise ja. Wir huldigen hier der Göttin der Heilung und des Mitgefühls, und sie hat mir geholfen. Aber ich habe meinen Sohn schrecklich vermisst, und als man mir berichtete, er sei in den Bergen ums Leben gekommen, war mein Schmerz ebenso übermächtig wie beim Verlust seines Vaters.«
Ein langes Schweigen trat ein.
»Was soll ich hier tun?«, fragte Yayoi schließlich. Sie wusste nicht, was sie auf die Offenbarungen der Äbtissin antworten sollte, und dachte an ihren eigenen Onkel, ihre Mutter, ihren Vater. Warum mussten einige sterben, und andere durften weiterleben? Wohin begaben sich die Toten? Sahen sie noch immer, was sich auf der Erde abspielte? Wie konnten sie es aushalten, ihre Lieben zu sehen und sich nicht voller Trauer und Sehnsucht nach ihnen zu verzehren? Warum kehrten ihre Geister nicht öfter zurück?
»Fuji hat darum gebeten, dass wir uns deiner annehmen und dir alles beibringen, was du wissen musst«, antwortete die Äbtissin. »Das tun wir auch bei den anderen Mädchen, die Fuji uns schickt. Im Gegenzug trägt sie die Kosten für die Erhaltung des Tempelklosters, unsere Lebensmittel und so fort. Und sie schützt uns. Sie hat sehr viele mächtige Freunde. Heutzutage erregen Frauen, die eigenständig leben, oft Missfallen. Man würde uns gerne einen Priester als Oberhaupt zuordnen, der uns überwachen soll. Die Zeiten wandeln sich, meine liebe Yayoi, das spüren wir sogar an diesem entlegenen Ort. Die Miboshi sind ausschließlich Krieger und legen keinen Wert auf feinsinnigere Beschäftigungen, wie früher die Kakizuki.«
»Kann ich hier für immer bleiben?«, fragte Yayoi, die nicht an die Machtkämpfe in der Hauptstadt denken wollte, in denen ihr Vater zu Tode gekommen war.
»Ich fürchte, Fuji hat andere Pläne mit dir«, sagte die Äbtissin sanft. »Wir versuchen hier, den Mädchen geistige und körperliche Fähigkeiten zu vermitteln, damit sie ihr Leben so gut wie möglich gestalten können. Ich habe gehört, dass du das Lesen und Schreiben beherrschst, aber kannst du auch rechnen?«
Yayoi schüttelte den Kopf.
»Nun, dann werde ich es dir beibringen. Und du wirst mich einmal die Woche aufsuchen. Dann lesen wir gemeinsam deine Schrift.«
»Was hat sie zu dir gesagt?«, wollte Asagao wissen. Der Neid war ihr anzumerken. »Noch nie hat sie eine von uns zu sich rufen lassen. Wie ist sie?«
Verwirrt über diese Unterhaltung mit der Äbtissin, war Yayoi ins Mädchenzimmer zurückgekehrt. Asagao war alleine hier, die anderen Mädchen übten tanzen in der Halle. Obwohl Asagao den Auftrag gehabt hatte, das Bettzeug wegzuräumen und danach den Boden zu kehren, lag sie noch immer auf der Matte, den Besen neben sich. Asagaos Schärpe war gelöst, ihr Gesicht gerötet.
»Ich soll rechnen lernen«, antwortete Yayoi, die keinesfalls über den Schatz der Kudzu-Ranke sprechen wollte.
»Wieso das denn? Wollen sie dich mit einem Kaufmann verheiraten?« Asagao kicherte. »Dann musst du ausrechnen, wie viel Reis verkauft wurde und wie gut die Bohnenernte war. Was für eine Verschwendung eines liebreizenden Mädchens!«
»Die Äbtissin wird mich selbst unterrichten«, fügte Yayoi hinzu.
»Du wirst von allen bevorzugt werden«, sagte Asagao schmollend. »Das macht mich jetzt schon neidisch. Aber wie ist die Äbtissin denn nun?«
»Sie erinnert mich an eine Katze. Sie hat auch eine Katze, mit rotem Fell. Und wie die Katze wirkt die Äbtissin freundlich und liebenswürdig, aber ich hatte das Gefühl, sie könne jederzeit die Krallen ausfahren und kratzen.« Yayoi blickte auf die weißhäutige Asagao herunter, die träge auf der Matte lag. »Die Schwester wird gewiss böse sein, wenn sie dich hier erwischt. Das Bettzeug ist nicht weggeräumt, der Boden nicht gefegt.«
»Ich habe für mein erstes Mal geübt.« Asagao kicherte wieder. »Ich kann nicht dagegen an, es macht so viel Spaß. Yuri hat es mir gezeigt. Weißt du, dass sie uns bald verlässt? Komm, ich zeig es dir. Leg dich zu mir, dann tun wir so, als sei ich dein künftiger Gatte, der Kaufmann.«
Yayoi schlug das Herz plötzlich bis zum Hals, und ein Grauen erfasste sie. Sie fand keine Worte dafür, sah aber unversehens ihre Zukunft vor sich. Rasch drehte sie sich um und rannte weg – weg von Asagao, weg vom Mädchenzimmer, hinaus in den Garten. Tränen standen ihr in den Augen. Als Yayoi zu den steilen Stufen kam, blieb sie stehen. Wo sollte sie denn hin, wenn sie nun weglief? Es gab keinen Ausweg. Sie konnte hierbleiben und die Herrschaft über ihr Leben und ihren Körper aus der Hand geben oder aber sterben. Jetzt schluchzte Yayoi so sehr, dass ihr ganzer Körper zitterte, und sie hockte sich hin, den Kopf in den Händen. Sie wollte nicht sterben. Aber auch nicht dort enden, wo man sie hinschicken würde.
Hinter sich hörte sie Schritte, dann nahm Asagao sie in die Arme.
»Weine nicht«, sagte das Mädchen besänftigend. »Weine nicht. Tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Unser Leben wird nicht leicht sein, aber auch manchen Vorteil bieten. Du bist noch zu jung, um das zu verstehen, aber eines Tages wird es dir gelingen. Und wir werden Freundinnen bleiben, das verspreche ich dir.«
Sie hörten die Schwester nach ihnen rufen.
»Ich sollte jetzt wohl lieber den Boden fegen«, sagte Asagao.
In der ersten Nacht ihrer Flucht kamen Shikanoko und die Verbrannten Zwillinge in einem abgelegenen Tempelkloster unter. Es war nicht weit entfernt von der Hauptstadt, und sie rochen noch den beißenden Rauch des brennenden Klosters Ryusonji. Eisei bestand darauf, die Herbstprinzessin sofort zu begraben. Nagatomo dagegen vermutete, Shikanoko, der vor Trauer verstummt war und wie erstarrt wirkte, wäre mit Akis Leiche so lange weitergeritten, bis ihn selbst der Tod ereilt hätte.
Das Kloster wirkte verwahrlost, und die Mönche – die Eisei kannte – zeigten sich abweisend und schweigsam. Dennoch empfand Nagatomo diesen Ort als würdig für die Bestattung: am Hang gelegen, mit Blick auf ein schmales Tal, in dem sich auf den überfluteten Reisfeldern Bambushaine und Wolken im Wasser spiegelten und der Wind in den Zedern seufzte. Sie vollzogen die Bestattung rasch und ohne großes Zeremoniell. Der Fürst – wie Nagatomo seinen Kinderfreund Shikanoko im Geiste nannte – blieb bei den Pferden und sah aus einiger Entfernung zu.
Nagatomo hatte den Eindruck, dass noch jemand anderer die Bestattung beobachtete, und in den nächsten Tagen merkte er, dass ihnen eine Frau folgte. Die Pferde spürten ihre Nähe; das Fohlen drehte sich oft mit gespitzten Ohren um und starrte ins Dickicht, bis die Stute aufgeregt und besorgt nach ihm rief. Der Fürst bemerkte nichts. Er schien überhaupt nichts mehr wahrzunehmen.
»Das ist gewiss bedeutungslos«, sagte Eisei, als Nagatomo die Frau erwähnte. »Wahrscheinlich ist sie auf einer Pilgerreise oder kehrt an ihren Geburtsort zurück.«
»Alleine?«, entgegnete Nagatomo. »Und wer macht denn schon im Schwarzen Wald eine Pilgerreise?«
Die bekannten Pilgerwege lagen alle im Süden des Landes. Im Schwarzen Wald, dem gewaltigen Waldgebiet, das sich bis zur Nordsee erstreckte, gab es weder Schreine und Tempel noch Dörfer, und von einzelnen Einsiedlern abgesehen, lebten dort keine Menschen. Der Wald war bevölkert von Rehen und Hirschen, Bären, Wölfen, Affen und, wie es hieß, auch von Tengu – Bergdämonen –, magischen Riesenschlangen und anderen übernatürlichen Wesen.
Wenn die Fliehenden rasteten, um zu essen und zu schlafen – Nagatomo wusste jedoch, dass der Fürst beides nicht tat –, versteckte sich die Frau. Sie machte niemals Feuer, und Nagatomo fragte sich, was sie wohl aß, wer sie war und was sie von ihnen wollte.
Der Regen hatte nachgelassen, doch von den Bäumen troff weiterhin Wasser. Flüsse und Bäche traten über die Ufer und überfluteten die Wege. Der künstliche Wolf, der es nicht leiden konnte, nass zu werden, sprang von Fels zu Fels. Den Pferden stand das Wasser bis weit über die Fesseln. Der Fürst ritt auf dem weißen Hengst, Nyorin, und Nagatomo und Eisei saßen gemeinsam auf Risu, der Stute. Aber eigentlich waren die beiden lieber zu Fuß unterwegs, denn Risu war launisch und unberechenbar und bockte und biss, wie es ihr gefiel. Doch sobald das Fohlen nach Milch verlangte, blieb die Stute sofort wie angewurzelt stehen.
Nachts nahmen die beiden jungen Männer ihre schwarzen Seidenmasken ab und streichelten einander das zerstörte Gesicht. Es spielte jetzt keine Rolle mehr für sie, dass niemand sie jemals begehren, dass niemand das Grauen und den Schmerz begreifen würde, als die Hirschmaske ihre Haut und ihr Fleisch versengt hatte. Die beiden waren die Verbrannten Zwillinge. Sie hatten sich gefunden.
Nur der Fürst konnte diese Maske tragen. Nagatomo wusste, dass ein Berghexer sie in einem geheimen Ritual für Shikanoko angefertigt hatte. Für gewöhnlich ruhte die Maske in einer siebenschichtigen Brokattasche und wurde nur herausgenommen, wenn der Fürst sich zwischen die Welten begab und mit den Toten sprach. Doch jetzt, bei der Flucht durch den Schwarzen Wald, trug Shikanoko die Maske tags wie nachts, und der weiß schimmernde Schädel mit zinnoberroten Lippen und roter Zunge, den Geweihstangen, von denen eine abgebrochen war, den langen Wimpern über den Augenhöhlen, in denen die nie versiegenden Tränen glitzerten, verwandelte den Fürsten in ein fremdes Wesen.
»Er kann sie nicht abnehmen«, raunte Nagatomo Eisei zu.
»Kann nicht oder will nicht?«
»Sie ist irgendwie mit seinem Gesicht verschmolzen.«
»Das muss mit den Ereignissen in Ryusonji zu tun haben«, sagte Eisei, und es hörte sich an, als habe er auch schon darüber nachgegrübelt. »Das Drachenkind wurde erweckt, mein einstiger Meister vernichtet. Um diese gewaltige Macht heraufzubeschwören und sie freizusetzen, hat der Fürst einen hohen Preis bezahlt.«
»Ob die Maske ihn jetzt wohl auch verbrannt hat, wie uns?«, sinnierte Nagatomo.
»Er scheint keine Schmerzen zu leiden«, antwortete Eisei. »Keine körperlichen jedenfalls«, fügte er nach einer Weile hinzu.
Am Nachmittag des vierten oder fünften Tages – Nagatomo verlor das Zeitgefühl, denn sie erlebten tagaus, tagein das Gleiche: steile Schluchten, reißende Flüsse, mächtige Felsen, die Schreie der Milane, nachts die Rufe der Eulen, die feuchte Luft, in der sie nur kurz vor dem Morgengrauen nicht schrecklich schwitzten, dann aber in ihrer durchnässten Kleidung fröstelten – bemerkte Nagatomo, dass die Frau ihnen nicht mehr folgte. Das Fohlen war unruhig, lief immer wieder zurück, als wolle es Nagatomos Aufmerksamkeit auf sich lenken, worauf die Stute stehen blieb und schrill wieherte.
Der Fürst ritt weit vorne, wie immer dicht gefolgt von Gen, dem künstlichen Wolf. Eisei zerrte am Zügel der Stute und schrie sie an.
»Ich hole euch ein«, sagte Nagatomo und ging den Weg zurück. Das Fohlen, das so seltsam klug wirkte, als könne es beinahe sprechen, wieherte ihm zu und trottete vertrauensvoll voraus.
Nagatomo sagte sich, dass es Unsinn sei, einem Pferd zu folgen. Eisei hatte gewiss recht; die Frau war ihnen sicher nicht absichtlich gefolgt, und falls ja, hätte man doch froh sein können, dass sie nun verschwunden war. Denn nach den Ereignissen in Ryusonji war der Fürst ein Gejagter, ein Geächteter. Aritomos Gefolgsleute mochten sich längst auf ihre Spur gesetzt haben, um Ansehen beim Fürsten von Minatogura und eine hohe Belohnung zu erlangen. Vielleicht handelte es sich bei der vermeintlichen Frau sogar um einen verkleideten Krieger. Oder um einen Berghexer oder eine Zauberin.
Doch Nagatomo spürte, dass das Fohlen diese Frau kannte.
Wann hatte er sie zuletzt bemerkt? Das war schwer zu sagen, denn die Sonne blieb den ganzen Tag hinter dichten Wolken verborgen. Nagatomo verspürte nagenden Hunger, demnach mochte es schon fast Abend sein. Andererseits hatte die spärliche Kost aus etwas Dörrfleisch und unreifen Yamswurzeln seinen Magen ohnehin nicht gefüllt, und Nagatomo war schon seit dem Aufwachen hungrig. Er ging weiter, lange Zeit, wie ihm schien. Das schrille Wiehern der Stute wurde leiser, dann konnte er es gar nicht mehr hören. Doch das Fohlen lief unermüdlich weiter und blieb an jeder Biegung stehen, um zu sehen, ob Nagatomo ihm folgte.
Die Frau saß auf einem Fels neben dem Pfad. Ihre Hände waren gefesselt, und sie hatte den Kopf gesenkt und das Gesicht in den Armen verborgen. Sie rührte sich nicht, doch als das Fohlen sie sachte anstieß, streckte die Frau die gefesselten Hände aus und zog seinen Kopf zu sich. Ein Weilchen ließ das Fohlen sich umarmen, schwer atmend. Dann stieß es die Frau hartnäckiger an, bis sie schwerfällig den Kopf hob und Nagatomo ansah.
Ihr Gesicht war tränenverschmiert, Augen und Lippen geschwollen vom Weinen. Nagatomo dachte, dass er doch mit seiner schwarzen Gesichtsmaske, mit Schwert und Messer, gewiss furchterregend aussah. Aber die Frau wirkte nicht ängstlich. Sie schien so von Trauer verzehrt zu sein, dass ihr keine Kraft mehr für andere Gefühle blieb.
Er wollte gerade sprechen, als das Fohlen wild wieherte und nach hinten sprang. Die Frau fiel vom Felsen und schaute dabei an Nagatomo vorbei. Gewarnt durch etwas in ihrem Blick, zog er blitzschnell sein Schwert und fuhr herum.
Ein paar Schritte entfernt standen zwei Männer. Einer rief: »Bist du Kumayama no Kazumaru, bekannt als Shikanoko, gesucht wegen Mord und Hochverrat?«
»Komm her, dann wirst du es schon merken«, erwiderte Nagatomo und musterte die Männer rasch. Sie waren aus dem Wald aufgetaucht, während er durch die Frau abgelenkt gewesen war. Wie lange waren die beiden ihnen schon gefolgt? War das eine Falle, steckte die Frau mit ihnen unter einer Decke? Als das Fohlen wieherte, wurde ihm von zwei Pferden geantwortet. Die Männer trugen ein Wappen mit drei Kiefern auf ihrer Jacke und hatten Schwerter, aber offenbar keine Bögen bei sich.