Hidden Worlds – Die Krone des Erben

Mikkel Robrahn

Hidden Worlds – Die Krone des Erben

(Band 2)

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Mikkel Robrahn

Mikkel Robrahn, geboren 1991 in Norddeutschland, ist Chief Operating Officer bei der PietSmiet UG & Co. KG. Die PietSmiet UG gehört zu den größten YouTube-Gaming-Kanälen in Deutschland und erreicht jeden Tag Hunderttausende Menschen. Er ist der organisatorische Kopf hinter der kreativen Truppe und bekam von der Community schnell den Spitznamen »Mikkel machts«, weil er Dinge zuverlässig anpackt und umsetzt.

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Das Portal nach Avalon ist geöffnet – und der Kampf beginnt!

 

Die magischen Wesen unserer Welt werden von der Inquisition erbarmungslos verfolgt. In der Hoffnung, Mitstreiter für den Kampf gegen die Inquisition in der Heimat aller übernatürlichen Wesen zu finden, ist es Elliot Craig, Mensch, und Soleil Boulanger, Elfe, gelungen, das Portal nach Avalon zu öffnen. Doch die Avalonier interessieren sich nicht für das Schicksal ihrer entfernten Verwandten, denn sie selbst sind verstrickt in politischen Intrigen und Putschversuchen. Nur, wer die Krone des wahren Erben Avalons trägt, kann die magische Bevölkerung versöhnen. Doch diese ist schon lange verschollen. Werden Elliot und Soleil es schaffen, die Krone des Erben rechtzeitig zu finden und die Avalonier im Kampf gegen die Inquisition zu vereinen?

 

Band 2 der packenden Urban-Fantasy-Trilogie von Mikkel Robrahn.

Impressum

Originalausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

Frankfurt am Main, März 2021

 

Lektorat: Jennifer Jäger und Jacqueline Wagner

 

© 2021 Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

Covergestaltung: Alexander Kopainski

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-7336-0451-6

27. September 1999, Edinburgh, Schottland

Cecile sah auf das Kostbarste in ihrem Leben. Sie wollte ihn nicht wecken, nicht jetzt. Er schlief so friedlich und würde ihre Sorgen sofort spüren. Vorsichtig fuhr sie ihrem Sohn mit der Hand über die Wange.

»Ich komme zurück, versprochen«, flüsterte sie. »Bis dahin wird dein Dad auf dich aufpassen, Elliot.« Sie liebte den Namen. Ihr Großvater und ihr Vater hatten so geheißen und nun auch ihr Sohn. Sie nahm das Buch über den Drachen Rhegad in die Hand, ein letztes Mal, bevor sie aufbrach. Viele Abende hatte sie Elliot daraus vorgelesen, und er sollte es behalten. Eine Botschaft, wenn er sie brauchte, und eine tolle Geschichte, wenn ihm nach Unterhaltung war. Die Inquisition würde nicht verstehen, worum es ging, hoffte sie. Salazar Montanari hatte Cecile in der Bibliothek des Klosters erwischt, und damit war ihr Leben und das ihrer Familie in Gefahr.

Elliot schmatzte im Schlaf, und Cecile strich ihm über die Stirn. Sie wollte ihn nicht verlassen. Sie wollte hierbleiben und zusehen, wie ihr Sohn aufwuchs. Geburtstage und

Sie war sich nicht sicher, ob es von dort, wo sie hinging, einen Weg zurückgab, aber sie würde es herausfinden und nun nicht länger zögern. Theodore hatte vor wenigen Stunden angerufen. Es gab Hinweise, dass die Inquisition ihr auf den Fersen war.

Sie griff nach dem Kompass in ihrer Jackentasche. Cecile hatte viel dafür riskiert, nicht nur ihr eigenes Leben, sondern auch das ihrer Liebsten. Sie würde auf den letzten Metern nicht aufgeben.

Es war Zeit. Sie beugte sich über das Bett und gab Elliot einen Kuss auf die Stirn. »Pass auf deinen Vater auf, okay?« Sie lächelte, obwohl Tränen über ihre Wangen glitten. Dann schlich sie aus dem Zimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Die Liebe zu ihrem Sohn wollte sie zurückdrängen, aber sie kämpfte sich durch den Flur zur Haustür. Ihre olivgrüne Reisetasche stand bereits am Ende der Treppe.

Sie griff nach der Tasche, die sie mit frischen Klamotten vollgestopft hatte. Wahrscheinlich trug man auf Avalon ganz andere Sachen, ausgefallene Spitzenkleider oder robuste Lederschürzen, aber sie wollte etwas zum Wechseln haben.

Cecile warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. In einer Stunde traf sie sich mit einem Typen im Hafen von Edinburgh. Er hatte ihr versprochen, ihr ein kleines Motorboot zu besorgen. Es hatte die letzten Ersparnisse der Familie Craig gekostet, und John würde sie verfluchen, wenn er das entdeckte. Aber es war nötig, sie konnte hier nicht bleiben. Allein ihre Anwesenheit war eine zu große Gefahr für alle, und sie musste herausfinden, ob das Portal nach Avalon funktionierte. Mitnehmen konnte sie Elliot nicht, er

Ihre Hand wanderte gerade zum Türknauf, da hörte sie ein Räuspern hinter sich. Cecile schreckte zusammen und drehte sich um.

Es war John. Er hatte ein markantes Gesicht und einen gepflegten Dreitagebart. Seine Augen waren wach und aufmerksam. Der hastig übergeworfene Bademantel verriet, dass er bis eben noch geschlafen hatte.

»Willst du dich nicht verabschieden?« Die Stimme war ruhig, aber sie kannte ihn zu gut, um die Enttäuschung zu überhören.

»Ich … dachte …«, stammelte sie, »… es wäre so einfacher für uns beide.« Sie nahm es sich selbst nicht ab.

»Bitte bleib«, sagte John Craig, und seine Stimme brach wie ein Sektglas, das zu Boden fiel. Er fing an zu weinen.

Cecile spürte, wie sich ihr Hals zuschnürte und auch ihr wieder die Tränen in die Augen schossen. Sie ging hinüber zu ihrem Ehemann und nahm ihn in den Arm. Er erwiderte die Geste zögerlich. »Du weißt, dass ich nichts lieber würde, als bei euch zu bleiben. Aber es geht nicht. Ich stecke zu tief drin, und die Gefahr, dass ich euch mit reinziehe, ist zu groß. Ich muss herausfinden, was dran ist an Avalon. Vielleicht finden unsere Freunde dort eine sichere Heimat, wenn wir den Weg irgendwie öffnen können.«

John Craig schluchzte wie ein kleines Kind. »Ich weiß nicht, wie ich es ohne dich schaffen soll«, presste er hervor. »Es ist, als würde ich dich zum Sterben weggehen lassen.«

»Ich sterbe nicht, und wenn es mir gelingt, das Portal dauerhaft zu öffnen, bin ich zu Elliots nächstem Geburtstag zurück.«

Cecile hatte Schriften gefunden, die besagten, dass es kein Spaziergang werden würde. »Ja«, log sie und küsste ihn. »Ich muss los.«

John umarmte sie ein letztes Mal, und sie hatte Angst, dass er sie nie wieder loslassen würde. Ihr Brustkorb wurde zusammengedrückt, als ränge sie mit einem Bären. Er strich mit seinen Lippen über ihr Ohr. »Ich werde ihm jeden Tag erzählen, was für eine mutige Mutter er hat.«

Cecile rang sich ein Lächeln ab. »Auf Wiedersehen.« Sie küsste ihn, drehte sich dann schnell um und verschwand durch die Tür. Hätte sie ihrem Mann noch einmal in die Augen geschaut, sie hätte es sich anders überlegt.

Es war Herbst, und ein kalter Wind fegte durch die engen Gassen von Edinburgh. Cecile schloss ihren Mantel und hängte sich die Reisetasche über die Schulter. Es war bereits dunkel, und das feuchte Laub auf den Gehwegen wurde von den Straßenlaternen angeleuchtet.

Cecile stellte sich an die Straße und passte ein Taxi ab. Sie setzte sich auf die Rückbank, legte ihre Tasche neben sich.

»Wohin?«, fragte der Taxifahrer. Es war ein alter, glatzköpfiger Herr mit Schnurrbart und Strickpullover, der sich vermutlich mit dem Job die Rente aufbesserte oder von zu Hause flüchtete. Vielleicht auch beides.

»Zum Hafen, bitte.«

Der Taxifahrer fuhr langsam an, und sie wagte einen letzten Blick auf das Haus, in dem sie die vergangenen Jahre gelebt hatte. Es waren schöne Zeiten gewesen. Sie hatten Partys veranstaltet, geheiratet und Elliot gezeugt – mit allem, was dazugehörte. John stand nicht in der Tür, und sie war ihm dankbar dafür. Es zerriss sie innerlich, von hier fortzufahren.

Das Taxi fuhr durch die leeren Straßen, vorbei an alten Kirchen, dem Bahnhof und Statuen längst vergessener Helden.

»Haben Sie eine genaue Adresse?«, fragte der Mann hinter dem Steuer mit der Stimme eines herzlichen Großvaters.

»Lassen Sie mich einfach in der York Road raus«, antwortete Cecile und war froh, dass der Fahrer kein hohes Redebedürfnis hatte. Stattdessen dudelten Oldies aus dem Radio, und Cecile versuchte, nicht zu viel nachzudenken, was ihr jedoch nicht gut gelang.

Die Schemen der Gebäude flogen an ihr vorbei, und dann kam das Auto zum Stehen. »Hier wären wir. Das macht siebzehn Pfund.«

Cecile bezahlte ihn mit einem fürstlichen Trinkgeld. Wo sie hinwollte, waren Pfund sowieso nichts wert. Also konnte sie es dem netten, schweigenden Mann geben. Sie stieg aus dem Taxi und atmete die frische, salzige Meeresluft ein, hörte auf das Rauschen der Wellen. Nur das Kreischen der Möwen fehlte, denn die Tiere schliefen gerade, was sie eigentlich auch tun sollte.

Das Taxi röhrte davon, und sie stand alleine in der dunklen Gasse. Mit einer Handbewegung schüttelte sie die Armbanduhr unter dem Ärmel hervor und versuchte, die Zeit abzulesen. Eine Viertelstunde noch, möglicherweise, so gut war das in der Nacht nicht zu erkennen.

Sie kam an einem Pub vorbei und vernahm von drinnen die fröhlichen Stimmen betrunkener Gäste. Zu einer anderen Zeit wäre sie jetzt hineingegangen und hätte mitgefeiert. Aber nicht heute.

Cecile lief die Kaimauer entlang und hörte zu ihrer Rechten das Meer. Die wogenden Wassermassen wurden beinahe von der Nacht verschluckt, nur der Mondschein spiegelte sich auf ihrer Oberfläche. Mit jedem Schritt wuchs die Aufregung in ihr. Was, wenn der Fischer nicht auftauchte? Wenn er sich entschieden hatte, heute Abend in einen Pub zu gehen, sich mit Whisky volllaufen zu lassen und die Seemannslieder seiner Jugend mitzugrölen?

Cecile kam am Treffpunkt an, eine Leiter führte hier direkt ins Meer. Wahrscheinlich war sie für Leute gedacht, die unfreiwillig hineingefallen waren, um möglichst schnell wieder herausklettern zu können. Cecile setzte sich auf die Mauer und starrte in die Dunkelheit. Hin und wieder fuhr ein Auto vorbei und erhellte mit den Scheinwerfern die Umgebung. In diesen Momenten sah sie auf den Boden. Sie wollte nicht kurz vor der Ziellinie von der Inquisition abgefangen werden. Früher hätte sie sich für solche Gedanken als paranoid abgestempelt, aber Salazar wollte sie mit allen Mitteln finden, das wusste sie. Seit dem Vorfall in der Bibliothek, bei dem Cecile das Regal umgeworfen und auf sein Bein hatte stürzen lassen, war er auf eine Gehhilfe angewiesen, und sie würde dafür zahlen müssen. Sollte

Zwei Betrunkene torkelten an ihr vorbei, würdigten sie keines Blickes. Trotzdem ballte Cecile in den Taschen ihres Mantels die Fäuste. Es war besser, vorbereitet zu sein.

Der Fischer war schon zehn Minuten zu spät, als sie endlich das Röhren eines alten Motors hörte. Das Geräusch kam nicht von der Straße, sondern vom Meer. Es war so unüberhörbar laut wie ein schreiendes Baby im Flugzeug.

Verdammt. Die ganze Nachbarschaft würde es mitbekommen.

Irgendwann sah sie Schemen auf dem Wasser, und ein kleines Boot zeichnete sich ab. Es war nicht groß und hatte höchstens Platz für drei Personen. Es wurde über einen Außenbootmotor angetrieben, und das ziemlich schnell. Zu schnell. Der Kahn kam immer näher, aber die Kaimauer wich nicht zurück. Natürlich nicht. Mit einem Krachen rammte das Gefährt die alte Steinwand und schabte daran entlang.

»Verdammte Makrele«, hörte sie jemanden fluchen. Es war der Mann, der am einen Ende des Bootes saß und das Schiff steuerte.

Cecile schüttelte den Kopf. Das fehlte ihr noch. Sie hatte es nicht geschafft, sich von ihrer Familie zu verabschieden, um dann zuzuschauen, wie ein unvorsichtiger Fischer ihr Boot und damit ihre Rettung an einer Mauer zerschellen ließ.

Ein Tau wurde hochgeworfen. »Halten Sie mal fest«, knurrte der Mann, und Cecile kam der Aufforderung nach. Schließlich war es ihr Boot. Der Alte mühte sich die Leiter hoch und fluchte bei jeder Stufe auf Poseidon und dessen Kinder. Als er den Aufstieg geschafft hatte, streckte er sich,

»Nichtraucherin«, sagte Cecile knapp. Seit ihrer Schwangerschaft mit Elliot hatte sie dem Nikotin abgeschworen.

»Kann einfach nicht damit aufhören. Tiffany versteckt die Dinger schon, aber ich kauf mir einfach neue. Sie meint, die Teile bringen mich noch ins Grab, aber drauf geschissen, sterben tun wir alle irgendwann.«

Na toll, sie hatte ihre Familie hinter sich gelassen, um sich ein paar Kalendersprüche eines alten Mannes anzuhören. »Ist das Boot noch seetüchtig?«

Der Fischer lugte über die Kaimauer, um sich zu vergewissern. »Jawoll, schwimmt noch.«

»Proviant und Benzin?«

»Ich hoffe, Sie mögen Müsliriegel.« Er zog an der Fluppe, und das rote Glimmen erinnerte Cecile an die Nüstern eines Drachens, kurz bevor er Feuer spie. Einmal hatte sie einem solch besonderen Ereignis beiwohnen dürfen. Der Beweis dafür war in ihrer Tasche. Sie fingerte nach dem Kompass, der ihr den Weg nach Avalon zeigen sollte, und umschloss ihn. Er war das Ticket zur Heimat der phantastischen Welt, und wenn sie ihn verlöre, würde sie sich das nie verzeihen.

»Wasser?«

»Davon werden Sie da draußen genug haben.« Der Fischer lachte, dann bekam er einen Hustenanfall. Er klang krank, und seine blutunterlaufenen Augen verrieten, dass Tiffany allen Grund hatte, sich zu sorgen. »Sieben Liter

»Gut, dann wäre das alles, oder?«

Der Fischer zog wieder an der Zigarette und schwieg. Er blieb zu lange stumm für einen Mann, der jede Gelegenheit nutzte, seine Umgebung mit Weisheiten zu belehren. »Sie werden gesucht, oder?«

»Keine Fragen, das war die Bedingung«, sagte Cecile sofort.

Der Fischer hob abwehrend die Hände. »Ist mir scheißegal, ehrlich. Sie haben das Boot bezahlt, und Sie bekommen das Boot. Wollte Sie bloß warnen.«

Cecile nickte und signalisierte ihm damit, weiterzureden.

»Gestern hat es bei uns geklingelt. Tiffany ist an die Tür gegangen, ich war hinten in der Werkstatt und hab den Motor fertig gemacht. Als ich ins verdammte Wohnzimmer gekommen bin, scheiße, ich hab gedacht, jemand wäre gestorben. Sitzen da zwei Priester, Sie wissen schon, mit diesen weißen Kragen.«

Da war sie wieder, die Paranoia. Cecile hatte das Gefühl, von einem Gargoyle beobachtet zu werden, der irgendwo auf den Häusern auf sie wartete. Sie biss die Zähne zusammen.

»Na ja, also die beiden Typen saßen da mit Tiffany, sie hat ihnen Kaffee und Kuchen serviert. Der eine bestand auf Zucker, der andere wollte Milch. Ich glaub, es waren Italiener. Vielleicht auch Spanier. Keine Ahnung, irgendwas Südliches halt.«

»Kommen Sie auf den Punkt.« Cecile klang viel strenger als beabsichtigt, aber der Fischer nahm es ihr nicht übel.

»Die beiden haben gefragt, ob ich Sie kenne. Ich hab nein gesagt. Dann haben sie eine hübsche Summe geboten, die

»Danke. Passen Sie auf Rufus und sich auf. Mit denen ist nicht zu spaßen.«

Der Fischer winkte ab. »Wir fahren für zwei Wochen raus aufs Land. Mal rauskommen, wie Tiffany es nennt. Danach ist über die Sache bestimmt schon Gras gewachsen, und wenn nicht …« Er klopfte sich auf seine rechte Jackentasche, in der sich ein Revolver abzeichnete. »Hab mich schon mit härteren Kerlen in den Spelunken hier im Hafen angelegt.«

Irgendwie war ihr der Alte doch ganz sympathisch. »Vielen Dank«, sagte sie noch mal und machte sich dann an den Abstieg. Das Boot lag unruhig im Wasser und wackelte unter ihrem Gewicht. Vorsichtig ließ sie sich beim Motor nieder und überprüfte kurz ihre Ausrüstung. Alles war vorhanden, wie abgesprochen.

Cecile atmete ein letztes Mal tief durch, dann startete sie den Motor und steuerte das kleine Boot in die Schwärze der Nacht. Der Kompass würde sie leiten.

2019, irgendwo auf Avalon

Elliot schreckte hoch.

»Schaut an, zeigen die Wadenwickel langsam Wirkung. Zum Glück habe ich Mondkrautpaste dazu getan«, murmelte eine Stimme, die so tief war, als würde ein Bär sprechen.

Beunruhigt blickte Elliot sich im Raum um. Es war ein einfaches Zimmer, mit Holz verkleidet, und er lag in einem Bett, der Körper unter einer blauen Steppdecke. Er wusste nicht, wo er war, aber es war ganz bestimmt nicht das Ritz-Carlton. Als er sah, wer da mit ihm geredet hatte, entspannten sich seine Muskeln langsam. Es war kein großer, bedrohlicher Grizzly, sondern ein gedrungener Zwerg. Vor Monaten hätte ihm der Anblick größere Angst gemacht als der einer tonnenschweren, verfilzten Bestie, aber Zwerge hatte er im Merlin-Center einige kennengelernt. Sie waren sture Geschöpfe, von denen, wenn man ihnen nicht dumm kam, keine Gefahr ausging. Und dieses Exemplar schien es gut mit ihm zu meinen.

Der Zwerg beugte sich über Elliots Beine und

Elliot schwirrte der Kopf, und er hatte nur die Hälfte von dem verstanden, was der Zwerg da von sich gegeben hatte. »Wo bin ich?«, wollte er wissen. Seine Kehle war staubtrocken.

»Oh, in unserem Gästezimmer. Soleil haben wir im Büro untergebracht, damit du hier deine Ruhe hast.«

»Bin ich auf Avalon?«

Der Zwerg blickte vom Verband auf und sah ihn todernst an. Sein Gesicht war durchzogen von Falten und Furchen, und in der Nase steckte ein goldener Ring wie bei einem Stier. »Rhegad ist falsch abgebogen.«

Elliot seufzte.

Edinburgh, London, New York, Madrid, Berlin. Elliot fielen, ohne nachzudenken, viele Orte ein, die weitaus wahrscheinlicher als eine Insel waren, die er nur aus einer Sagengeschichte kannte. »Wir haben es geschafft.«

»Das habt ihr, junger Mann, und ihr könnt wirklich stolz sein. Wir bekommen nicht oft Besuch, und ihr habt für viel Aufsehen gesorgt. Außerdem lässt sich Rhegad nur selten in Avanaat blicken. Alle wissen, dass es einen besonderen Grund hat, wenn die geflügelte Echse am Horizont auftaucht.«

»Avanaat?«

»Entschuldige«, sagte der Zwerg erneut und wischte sich die Finger an der weißen Schürze ab. »Die Hauptstadt der Insel. Viel Zivilisation wirst du außerhalb dieser Mauern nicht finden.«

Elliot rang die Ohnmacht nieder, die ihn mit aller Kraft zurück auf das Kissen ziehen wollte. Er hatte noch so viele Fragen. »Wer bist du?«

»Dinguld Splitter, mein Name. Ich bin einer von vier Ärzten in Avanaat«, sagte der Zwerg und hielt ihm eine seiner Pranken hin. Elliot wollte zugreifen, aber ihm fehlte die Kraft. »Lass, das war unbedacht von mir«, murmelte Dinguld, der Elliots klägliche Versuche beobachtete. »Du hast zwei Wochen kein Auge aufgemacht, wir mussten dir flüssige Nahrung zuführen, damit du uns nicht verhungerst.«

»Was ist passiert?«

»Gute Frage. Als der Pegasus mit seinen Hufen den Boden berührte, bist du vom Rücken des Tieres gerutscht und nicht mehr aufgewacht. Ich habe mich mit meinen Kollegen beraten, und wir vermuten, dass dein Körper den Übertritt

Elliot nickte kaum merklich und dachte an seinen ersten Trip mit einem Schnellreiseticket in die Highlands. Seine Gedärme zogen sich zusammen, und er würgte.

»Wo nichts drin ist, kann auch nichts rauskommen«, sagte Dinguld lächelnd, und er behielt recht.

Elliot übergab sich nicht, sein Magen war leer.

»Hunger?«

»Durst«, erwiderte Elliot und spürte seine rissigen Lippen.

»Ich hol dir einen Tee, etwas, das den Magen beruhigt. Wir sollten es langsam angehen.«

»Danke«, krächzte Elliot, und der Zwerg verschwand mit polternden Schritten durch die Tür.

Was war passiert?

Er hatte keine Erinnerung mehr. Er wusste nur, wie sie auf Ollys Rücken auf das Portal zugeflogen waren, dem Drachen hinterher. Aber danach war nichts. Keine Schwärze, keine Schemen, keine Bilder. Einfach nichts, und das machte ihm am meisten Angst.

Sein Kopf fühlte sich an, als hätten ihn Zwerge zu einem Bergwerk erklärt und die letzten Wochen nach Gold geschürft. Die Stirn pochte und war warm. Elliot hob einen Arm und roch vorsichtig an seiner Achsel. Sie stank wie das Fritteusenfett aus Bills Burgerbude. Immerhin war er am Leben, das konnte man von dem totfrittierten Zeug, das dort serviert wurde, nicht behaupten.

Durch ein Fenster drang Sonnenschein in die kleine Kammer, in der das Bett stand, in dem er lag. Der Raum war übersichtlich eingerichtet: ein Tisch, ein Stuhl, ein Spiegel. Es gab keine Familienfotos oder sonstige persönlichen

»Wir haben es geschafft«, murmelte er. Entweder war das hier die Filmkulisse für einen mittelalterlichen Blockbuster, oder sie waren tatsächlich auf Avalon. Einer Insel, die man in keinem Weltatlas fand.

Er versuchte, sich im Bett weiter aufzurichten, aber jeder Muskel und jede Faser seines Körpers wehrte sich mit höllischen Schmerzen dagegen. Schweiß trat auf seine Stirn, und er gab auf.

Mit Gepolter und schweren Schritten kündigte Dinguld seine Rückkehr an. Die Tür schwang auf, und der Zwerg mit der weißen Schürze und dem feuerroten Haar trat herein. In der Hand trug er einen großen Krug, aus dem Dampf emporstieg.

»Bitteschön«, sagte der Zwerg und hielt ihm das Gebräu hin, das einen Duft von Kräutergärten im Zimmer verströmte.

Elliot wollte zugreifen, aber ihm fehlte noch immer die Kraft.

»Ich lerne es auch einfach nicht«, tadelte sich der Zwerg selbst. »Wir Kurzen sind nicht gerade für Empathie und Feinfühligkeit bekannt, aber ich gebe mir Mühe. Ich stelle es einfach neben dem Bett ab, und du greifst zu, wenn du kannst. Aber lass es nicht kalt werden, dann sind die magenberuhigenden Kräfte nicht mehr ganz so effektiv.«

»Okay«, seufzte Elliot matt.

Dinguld stellte das Getränk auf dem kleinen Beistelltisch neben dem Bett ab und sah seinen Patienten mit hochgezogener Stirn an. »Immer wieder spannend, wie sich die Geschichte wiederholt«, sagte er. »Das letzte Mal, als wir

Elliot nickte, hörte aber nur mit einem Ohr hin. In Gedanken war er ganz woanders. Sie hatten es nach Avalon geschafft, aber niemand hatte ihnen gesagt, was sie dann tun sollten.

»Hatte dieselben Symptome, weißt du. Sie war allerdings auch ein bisschen älter und robuster, kam besser damit zurecht. Aber deswegen wusste ich jetzt schon, was zu tun war.«

»Danke«, flüsterte Elliot, und sein Blick schweifte zum Fenster. Er war dem Zwerg wirklich dankbar, jedoch fehlte ihm die Kraft für angeregte Unterhaltungen. Sein Hirn konnte all die Worte noch gar nicht verarbeiten.

»Na klar, gehörst ja quasi zur Familie. Ich lass dir mal deine Ruhe und sag Soleil Bescheid, sobald sie zurück ist. Sie wird sich sehr freuen, schließlich ist sie die letzten zwei Wochen kaum von deiner Seite gewichen.« Grinsend verschwand Dinguld aus dem Zimmer.

Der Arzt war schon längst den Flur entlang, als Elliot langsam den Kopf drehte. In seinem Hirn hatte ein Funken eine stotternde Maschine angeschmissen, die nun zu rattern begann. Was hatte Dinguld eben gesagt? Elliot überkam es wie eine Gänsehaut. Er hatte irgendwas Wichtiges überhört. Irgendetwas, wo er hätte nachhaken und um eine Konkretisierung bitten müssen. Das Nachdenken strengte ihn aber genauso an wie das wasserfallartige Palaver seines Pflegers, und sein Kopf sank zurück auf das Kissen. Seine Augen beobachteten noch, wie der Dampf aus dem Krug sich in die Luft schlängelte, dann fielen sie zu. Elliot versank in einem tiefen, erholsamen Schlaf.

Als er die Augen wieder aufschlug, sah er in ein

»Soleil«, flüsterte Elliot.

»Du bist wirklich wach, der Quacksalber hat keinen Mist erzählt«, sagte sie, und ihre steinharte Miene wurde von einem Lächeln durchbrochen.

»Ja«, murmelte er. »Aber bitte nicht so schnell reden.« Elliot biss die Zähne zusammen, richtete sich auf und stemmte sich mit dem Rücken gegen das Kopfteil des Bettes. Sein Körper brannte immer noch wie nach einem Brennnesselbad, aber es ließ sich besser ertragen. Mit fahrigem, zittrigem Griff wanderte die Hand zum Krug und umschloss den Henkel. Es kostete Elliot alle Kraft, die er aufbringen konnte, aber er führte das Gefäß zu seinen Lippen und trank gierig einen großen Schluck.

Er prustete und spuckte die Hälfte über sein Bettzeug.

»Langsam, dein Körper ist das nicht mehr gewohnt, gib ihm etwas Zeit.« Soleil nahm ihm den Krug ab. »Schön, dass du wieder zu Kräften kommst, zwischendurch sah es echt schlecht aus.«

»Wie schlecht?«

Soleil zuckte mit den Schultern. »Dinguld wurde nicht müde zu erzählen, dass er selten einen so hoffnungslosen Fall in seinem Bett liegen hatte. Aber ich glaube, das hat er nur getan, damit alle umso beeindruckter sind, wenn du ins Leben zurückfindest. Das Haus wird seit unserer Ankunft belagert, alle warten auf deine Genesung.«

Elliot spürte den Drang in sich aufkommen, einfach die Augen wieder zu schließen. »Alle?«

Soleil nickte. »Wir sind hier momentan so begehrt wie Oben-ohne-Fotos der Queen bei Paparazzi.«

»Nachdem wir vor den Toren Avanaats gelandet sind, bist du direkt von Ollys Rücken gekippt. Ich dachte erst, du wärst tot, aber zum Glück hattest du einfach nur das Bewusstsein verloren. Rhegad hatte Olly den Weg gezeigt und ist dann über Avanaat weggeflogen, das hatte natürlich für Aufmerksamkeit gesorgt.«

»So einen Drachen am Horizont bemerkt man«, flüsterte Elliot und versuchte Dingulds Worte wiederzugeben.

»Genau. Auf jeden Fall hatte sich schnell eine große Meute angesammelt, die uns angestarrt hat, als wären wir Marsmenschen. Im Grunde sind wir das für sie ja auch, aber egal. Auf jeden Fall war Dinguld als erster Arzt vor Ort und ließ dich in sein Haus bringen, wo er auch schon –«, sie stockte mitten im Satz.

»Wo er was?«, fragte Elliot, der immer noch Mühe hatte, allem zu folgen.

»Wo er seine ganzen Arzneien lagert«, sagte Soleil etwas lahm.

Elliot erkannte die Lüge, aber ihm fehlten Kraft und Muße nachzuhaken. »Olly?«

»In den Ställen der Stadtwache. Mach dir um den keine Sorgen, man kümmert sich gut um ihn, ich besuche ihn jeden Tag.«

»Und was machen wir?«, fragte Elliot und wusste selbst nicht so richtig, wie er die Frage meinte.

Soleil überlegte einen Moment. »Warten, bis du gesund bist, danach werden wir zu einer Anhörung beim Parlament müssen.«

»Par-was?«

»Ich kann es kaum abwarten«, sagte er. »Hast du ihnen schon erzählt, was passiert ist? Wissen sie Bescheid über die Inquisition?«

»Klar«, erwiderte Soleil, und ihre Miene wurde wieder ernst. »Das war das Erste, was ich ihnen entgegengebrüllt habe, als Olly mit seinen vier Hufen das Gras berührt hat. Die Inquisition hat das Merlin-Center eingenommen, habe ich immer wieder gebrüllt. Du hättest ihre Gesichter sehen sollen, als hätte ich rückwärts oder in fremden Zungen gesprochen.« Sie machte eine kurze Pause. »Was gar nicht so unwahrscheinlich wäre, wenn ich jetzt drüber nachdenke. Zum Glück sprechen sie eine Sprache auf Avalon, die unserer ziemlich nahe kommt.«

»Wie meinst du das?«

»Sprichwörter und bestimmte Begriffe sind natürlich schwierig. Ich habe einer Frau auf dem Markt zu erklären versucht, wie wir im Supermarkt kontaktlos zahlen können. Aber schon bei dem Wort Supermarkt habe ich gemerkt, dass da Hopfen und Malz verloren ist. Übrigens ein Sprichwort, das man hier versteht.«

Elliot nickte. Das war gut, er musste keine neue Sprache erlernen.

»Natürlich haben die einzelnen Völker noch ihre eigenen Sprachen, aber man hat sich auf Englisch quasi als Staatssprache geeinigt. Dinguld hat mir erklärt, dass das auf eine Zeit zurückgeht, in der das Portal in die Erdenwelt noch offen war und ein reger Austausch zwischen Avalon und

»Was ist der Plan?«

»Gesund werden, Elliot«, sagte sie streng. »Danach schauen wir weiter.«

»Kommen wir überhaupt zurück? Wir müssen alle vor Theodore warnen, das Merlin-Center retten.« Er dachte an seinen Vater, hoffentlich ließ man ihn aus der Sache raus.

Soleils Gesicht wurde kreidebleich. »Das Portal hat sich hinter uns geschlossen, der Kompass ist entweder in den Tiefen des Ozeans verschwunden oder zerstört.«

Elliot erinnerte sich, wie er ihn ins Meer geworfen hatte, um das Portal zu öffnen. »Wie sollen wir dann die anderen retten? Meinen Vater, deine Familie?«

»Das müssen wir herausfinden. Wir werden schon einen Weg finden. Es gibt zahlreiche Legenden über Seefahrer, die hier im Hafen ablegten und nie zurückkamen.«

»Weil sie abgesoffen sind?«

»Dinguld ist sich sicher, dass sie einen Weg in die Erdenwelt gefunden haben.«

»Das erscheint mir ein wenig dünn an Informationen. Wir können uns schlecht einen Kahn nehmen und aufs Meer hinausfahren, in der Hoffnung, wieder bei uns zu Hause rauszukommen.«

»Das letzte Mal hat uns ein selbstgeschriebenes Kinderbuch deiner Mutter gereicht«, antwortete Soleil und lachte.

»Das ist nicht gut«, murmelte Elliot. »Die Inquisition weiß nun, wie man einen Kompass herstellt, der nach Avalon führt. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis hier die Hölle los ist.«

»Ich bin mir sicher, dass die Mönche es anders ausdrücken würden, aber ja, die Angst ist berechtigt. Voraussetzung

»Das Gold macht mir keine Sorgen. Ich habe den Verdacht, dass die Keller des Vatikans voll mit Kriegsbeute sind. Aber mit Gertrude hast du recht. Sie wird sich nicht so einfach dem Willen der Inquisition beugen, sie müssten schon mit Panzern in das Gebirge rollen, um sie zu einer Zusammenarbeit zu zwingen«, überlegte Elliot und massierte seine Schläfen. Er hatte immer noch unfassbare Kopfschmerzen, aber sein Verstand wurde langsam klarer und wacher.

Soleil ließ sich am Bettende nieder. »Wir haben noch Zeit, denke ich. Selbst wenn, Avanaat ist durchaus wehrhaft.«

»Du hast dich schon umgeschaut?«

»Glaubst du, ich hock hier rum und langweile mich?«, fragte die Elfe und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. »Ich hab nach Olly geschaut und mich mit dem Ort vertraut gemacht. Am ersten Tag bin ich ohne Kapuze vor die Tür gegangen und kam kaum voran. Ständig hat mich jemand am Arm festgehalten und gefragt, ob ich jemanden mit diesem und jenem Namen in der Erdenwelt kenne. Sie wollen wissen, ob es noch Verwandte dort drüben gibt.«

»Und die Stadt, wie ist die?«

Soleil zuckte mit den Schultern. »Wie man sich so eine Stadt eben vorstellt. Es gibt eine Mauer, einen Hafen, diverse Schänken und einen Markt. Fernseher oder Autos suchst du hier aber vergebens.«

»Braucht man ja auch nicht, wenn einem Magie zur Verfügung steht«, antwortete Elliot und streckte die kribbelnden Beine.

Elliot riss seine Augen auf. Bis vor kurzem hätte er so reagiert, wenn ihm jemand gesagt hätte, dass Magie existierte. Er konnte sich noch gut an Zeiten erinnern, in denen er gar nicht an solchen Hokuspokus geglaubt hatte.

»Die Magie ist mit der Blutlinie Merlins ausgestorben«, sagte Soleil und sah zum Fenster. »Natürlich waren Alchemisten und Tüftler eifrig, aber einen Feuerball werfenden Zauberer habe ich nicht gesehen.«

»Das hätte im Kampf gegen die Inquisition geholfen«, seufzte Elliot. »Feuer mit Feuer bekämpfen.«

»Es ist, wie es ist, sagte meine Großmutter immer. Manches kann man nicht ändern. Außer man sitzt im Parlament und entscheidet über die Geschicke der Stadt.«

»Das Parlament hat hier das Sagen?«

Soleil nickte. »Sie wollten mich gleich am ersten Tag befragen, aber Dinguld hat sie des Hauses verwiesen. Wir sollten erst richtig genesen, befragen könnte man uns immer noch, meinte er zu ihnen.«

»Wer sind sie

»Politiker«, antwortete die Elfe und machte eine wegwerfende Geste. »Aber das wirst du noch früh genug selbst herausfinden.«

Elliot hatte bisher nie mit Politikern zu tun gehabt und konnte sich nichts unter dieser Bemerkung vorstellen. Im Vereinigten Königreich zählten sie nicht zu den beliebtesten Berufsgruppen, so viel stand fest. »Keine Königin, kein König?«

»Hätte man sich gut vorstellen können, oder? Aber nein, selbst in diesen entlegenen Teil der Welt, der ja gar nicht so richtig dazugehört, hat die Demokratie ihren Weg gefunden.«

»Immerhin kein verrückter Monarch, der alles Fremdartige von der Burgmauer wirft«, erwiderte Soleil knapp, dann sah sie ihn ernst an. »Hat Dinguld es dir schon verraten?«

Elliot hasste diese Frage, denn es gab nur eine logische Antwort. »Was verraten?«

Sie fokussierte ihn mit ihren klaren, wachen Augen. »Wenn du das fragst, hat er es wohl noch nicht gesagt.«

»Was denn?«

Sie schüttelte nur den Kopf. »Nein, ich bin nicht die richtige Person dafür.«

»Du wirst jetzt sagen, was los ist«, bettelte er. »Gibt es Infos, was mit dem Merlin-Center nach unserer Flucht passiert ist? Hat die Inquisition es niedergebrannt?«

Soleil hatte anscheinend gemerkt, dass sie sich mit ihren Andeutungen in eine Sackgasse manövriert hatte. Zögerlich schüttelte sie den Kopf. »Nein, es geht nicht um das Merlin-Center, Elliot. Ich bin echt nicht die Person, die es dir sagen sollte. Warum ist Dinguld nicht gleich mit der Sprache rausgerückt? Egal, es geht um deine Mutter, Cecile. Du weißt noch, was Rhegad damals zu uns gesagt hat?«

Elliot schüttelte langsam den Kopf. Gesprächsfetzen jagten durch sein Hirn wie Blitze in einem Sturm. »Wahrscheinlich so etwas wie folgt mir

»Das auch, aber ich meinte, dass deine Mutter auf dich wartet.«

Stimmt, da war etwas. Der Drache hatte ihm erzählt, dass sie sich auf Avalon aufhielt. Plötzlich waren seine Schmerzen wie weggefegt. »Wo müssen wir nach ihr suchen?«, fragte er hektisch und versuchte aufzustehen, aber Soleil

»Du musst gar nicht suchen. Sie wohnt hier, in diesem Haus, und bald sollte sie zurück sein.«

Elliot wollte weiter nachhaken, aber Soleil ließ ihm keine Gelegenheit. Sie verließ den Raum mit der Behauptung, nach Olly sehen zu müssen. Elliot blieb nichts anderes übrig, als ans Bett gefesselt abzuwarten. Sein ganzes Leben lang hatte er sich gewünscht, seine Mutter kennenzulernen. In seiner Vorstellung waren die Umstände jedoch andere gewesen. Das Szenario, dass er auf einer phantastischen Insel aus der Sagenwelt verletzt in einem Haus liegen würde, war ihm nie in den Kopf gekommen. In der Regel hatte er sich vorgestellt, wie er auf die nächste Bahn wartete und von einer fremden Frau angesprochen wurde. Aber es nützte ja nichts, er musste es so nehmen, wie es kam.

Am frühen Abend, zumindest vermutete Elliot das aufgrund des schwächer werdenden Sonnenlichts, das durch das Fenster fiel, kam Dinguld mit zwei Krücken in das Zimmer.

»Erzähl mir alles über meine Mutter«, forderte Elliot sofort, aber der Zwerg winkte ab.

»Das kann sie selbst machen. Sie weiß noch nichts von deiner Genesung. Hier, damit solltest du wieder halbwegs mobil sein«, sagte der Arzt und reichte ihm die Gehhilfen.

Er richtete sich auf und setzte sich auf die Bettkante. Dann klemmte er sich die Krücken unter die Arme und stellte sich mit der Hilfe des kräftigen Zwergs auf. Ein Schwindelgefühl überkam ihn, und er wackelte wie ein Seiltänzer, hielt aber das Gleichgewicht.

»Geht’s?«

»Wird schon klappen, denke ich«, murmelte Elliot wenig überzeugt. »Lass mich einfach liegen, wenn ich umkippe.«

Der Zwerg prustete. Es klang wie ein Hirsch in der Brunft. »Sehr gut. Es ist wichtig, dass du dich wieder bewegst. Wenn du zu lange im Bett liegst, werden deine Muskeln noch kümmerlicher, als sie ohnehin schon sind, und das kannst du dir auf Avalon nicht erlauben. Bedeutet schnell den Tod!«

Elliot entschied sich, den abfälligen Kommentar über seine körperliche Verfassung zu ignorieren, und wackelte vorsichtig los. Die Beine zitterten, und die Krücken fingen schnell an, unangenehm in den Achselhöhlen zu drücken. Die Versuchung, sich nach hinten auf das Bett fallen zu lassen, war groß, aber er gab nicht auf. Mit kleinen Trippelschritten gelangte er zur gegenüberliegenden Wand. Dinguld, der eine Hand an Elliots Rücken gelegt hatte, um im Notfall schnell zugreifen zu können, öffnete die Tür, und gemeinsam traten sie auf den Flur.

Er war lang und dunkel, regelrecht schmucklos und spartanisch. Holzlatten reihten sich aneinander. Es gab keine Spiegel, Gemälde oder Kronleuchter.

Der Zwerg sah ihn an, als überlegte er, seinen Patienten wegen geistiger Umnachtung sofort zurück ins Bett zu schicken, erwiderte aber nichts.

»Nur ein Scherz«, murmelte Elliot und kämpfte sich mit den Krücken weiter den Flur entlang.

»Hier rein.« Dinguld lotste ihn in ein großes Zimmer.

Ein schwerer Tisch stand in der Mitte mit sechs Stühlen, und in einem Kamin lag die schwarzgraue Asche lange vergangener Winternächte. Es roch muffig, war aber nichts, was sich nicht mit ein bisschen Durchzug und regelmäßigem Lüften beheben ließe. Die Wände waren zugestellt mit Regalen, und Elliot ahnte beim Überfliegen der Buchrücken, dass es sich um Dingulds Recherchematerial handelte. Bücher über Knochenbrüche, Vergiftungen, abgetrennte Gliedmaßen, Verbrennungen.

»Steht da auch etwas über meine Krankheit drin?«

Der Zwerg schüttelte den Kopf. »Wegen zwei Menschen werde ich nicht gleich ein Buch schreiben.«

»Zwei?«, fragte Elliot.

»Deine Mutter hatte ganz ähnliche Symptome, als sie zu uns kam. Sie lag allerdings nur eine Woche im Bett, ein zähes Stück!«

»Danke«, murmelte Elliot und wollte sich auf einen der Holzstühle niederlassen. Er brauchte dringend eine Pause von der Anstrengung.

»Warte«, sagte der Zwerg und zog einen Stuhl vor, so dass sich Elliot nur nach hinten fallen lassen musste. »Alles okay?«

Elliot, der sich wie ein nasser Sack Kartoffeln auf den Stuhl plumpsen ließ, verzog das Gesicht. Sein Atem ging

Der Zwerg kratzte sich am Kinn. »Siebzehn oder achtzehn Jahre müsste das jetzt her sein. So genau weiß ich das leider nicht mehr, aber verrate ihr das auf keinen Fall!«

Elliot zuckte mit den Schultern. Warum sollte er das auch seiner Mutter erzählen? »Und, wie ist sie so?«

»Eine tolle Frau«, schoss es aus Dinguld heraus. »Aber genug mit dem Verhör, du wirst sie gleich selbst kennenlernen. Ich mach eine Suppe, und du läufst nicht weg, okay?«

Nun konnte sich auch Elliot ein Lachen nicht verkneifen. »Wäre ein Wunder, wenn ich vor Einbruch der Nacht an der Haustür ankäme, bei meinem Tempo.«

Dinguld verschwand aus dem Zimmer, und Elliot war wieder alleine. Er lehnte die Krücken gegen den Tisch. Durch das Fenster hörte er gedämpfte Stimmen und Lärm von der Straße. Menschen, vielleicht aber auch Zwerge oder Elfen. Es klang wie in jeder anderen Stadt. Nur das Stottern und Röhren von Motoren fehlte. Es war Elliot unvorstellbar, dort rauszugehen. Sein ganzer Körper war von der kurzen Anstrengung schweißgebadet, und seine Hände zitterten wie nach einem Eisbad. Er erinnerte sich nicht, sich jemals so hundeelend gefühlt zu haben.

Elliot gab sich größte Mühe, sich zu beruhigen, aber es klappte nicht. Hier waren sie also endlich, auf Avalon, und er würde jeden Moment seine Mutter kennenlernen.

»Noch ein Stück Brot dazu?«, hörte er den Zwerg aus der Küche rufen.

»Ja«, krächzte Elliot und hoffte, dass man ihn bis dorthin hören konnte.

Augenblicke später tischte Dinguld ein kleines Menü auf.

»Geierfleisch?«

»Oh, keine Sorge, es ist sehr mager, und dein Magen wird es gut verkraften.«

»Aasgeier?«, fragte Elliot misstrauisch. Bei der Vorstellung, eines dieser Viecher zu essen, verging ihm sofort der Appetit.

»Keine Ahnung, was ein Aasgeier ist, aber das hier ist vom Donnergeier. Gar nicht so einfach, einen von ihnen zu erwischen. Sie jagen nur bei Gewitter, und das Tier hat mich ein halbes Vermögen auf dem Markt gekostet, aber das war es mir wert. Ihr Fleisch ist für seine Bekömmlichkeit bekannt.«

»Verstehe«, murmelte Elliot und griff mit fahriger Hand zum Holzlöffel. Er tunkte ihn in die Schale und hatte große Mühe, nicht alles zu verschütten. In der Mulde des Löffels schwammen ein kalkfarbiges Stück Geierfleisch und ein paar rote Beeren in trüber Flüssigkeit. Er schloss die Augen und gab sich einen Ruck. Nach den ersten Bissen stellte Elliot fest, dass es weitaus besser schmeckte, als er erwartet hatte. Das Geierfleisch hatte er sich wie totes Kaninchen vorgestellt, das seit Tagen in der prallen Sonne auf dem Asphalt gelegen hatte. Es war eher mit trockenem Hühnchen zu vergleichen, faserig und mild. Die Beeren waren süß und die Suppe kräftig. Eine ungewöhnliche Mischung, aber wenn man zwei Wochen Koma hinter sich gebracht hatte, gar nicht so übel.

»Und?«

»Köstlich«, übertrieb Elliot und führte den nächsten Löffel zum Mund.

»Dinguld, ich habe Soleil getroffen, sie meinte –« Eine Frau erschien im Türrahmen und hörte augenblicklich auf zu reden, als sie Elliot sah. Ihre überraschte Miene verwandelte sich in ein warmes, herzliches Lächeln.

Elliot erkannte sofort, dass es seine Mutter war. Sie hatte immer noch ihre langen, lockigen Haare, die er von den Fotos kannte. Auch an ihrer sportlichen Figur hatte sich nichts geändert. Natürlich war sie älter, aber es bestand kein Zweifel. Nur diese mittelalterliche Kleidung, eine graue Leinenhose und eine grüne Tunika mit gelben Stickereien, hatte sie damals nicht getragen.

»Elliot«, flüsterte sie, und ihre Augen fingen an zu glänzen.

Der nickte nur, unmöglich in der Lage, irgendwas zu sagen. Ein dicker Pfropfen hatte sich in seinem Hals gebildet.

Einen Moment herrschte angespannte Stille im Zimmer. Dinguld, der gerade noch redselig gewesen war, schien die Luft anzuhalten, dann rannte die Frau auf ihren Sohn zu und nahm ihn in den Arm. Elliot erwiderte die Umarmung und fing an zu weinen. Sein ganzes Leben hatte er sich nichts anderes gewünscht. Wenn seine Mutter zurückkam, würde alles besser werden. Sein Dad würde sich endlich wieder zusammenreißen, sie könnten eine neue Wohnung suchen, ein gemeinsames Leben anfangen.

»Endlich«, schluchzte sie. Ihre Arme hatte sie eng um ihren Sohn geschlungen, und für einen Augenblick dachte Elliot, sie würde ihn nie mehr loslassen. »Das wird alles ändern.«

»Jetzt lass den Jungen doch mal los, sonst muss ich den gleich wieder verarzten«, murmelte Dinguld.

»Warum bist du gegangen?« Jahrelang hatte Elliot darüber nachgedacht, was er sagen würde, wenn er seine Mutter endlich träfe, und immer wieder hatte sich diese eine Frage aufgedrängt. Sein Vater hatte es ihm nie verraten, nur durch Theodore hatte er erste Anhaltspunkte bekommen. Klar, mittlerweile wusste er, dass sie gegangen war, um Avalon zu finden und die phantastischen Wesen vor der Inquisition zu retten. Aber er wollte es aus ihrem Mund hören.