Nikos Milonás
Kretisches Schweigen
Ein neuer Fall für Michalis Charisteas
FISCHER E-Books
Nikos Milonás alias Frank D. Müller hat sich bereits im jungen Alter von 17 Jahren bei seiner ersten Kreta-Reise in die Mittelmeerinsel verliebt. Aus einem kühlen norddeutschen Sommer kommend, war er überwältigt, als er vom Schiff aus die Küste zu Gesicht bekam und der intensive Duft von wildem Thymian übers Meer zu ihm herüberwehte. Seither verbringt er so viel Zeit wie möglich auf Kreta und hat Land und Leute fest ins Herz geschlossen. In seinem deutschen Leben wohnt der gebürtige Hamburger mittlerweile in München, arbeitet als Regieassistent und Dokumentarfilmer und ist (Co-)Autor diverser TV-Sendungen (u.a. »München 7«). »Kretisches Schweigen« ist nach »Kretische Feindschaft« und »Kretischer Abgrund« der dritte Fall für Kommissar Michalis Charisteas.
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Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstraße 114, 60596 Frankfurt am Main
Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Agency GmbH, München.
Redaktion: Ilse Wagner
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ISBN 978-3-10-491285-1
Die Küsten stehn im Morgenlicht,
das Meer stellt sich noch schlafend,
der Osten setzt ein Lächeln auf,
Stolz breitet aus der Westen,
die Sonne ihre Strahlen schmückt,
wie nie zuvor wir’s kannten.
Vicenzos Cornaros, Erotokritos
Die Tore zum Himmel und zur Hölle
liegen direkt nebeneinander und gleichen einander aufs Haar.
Nikos Kazantzakis
Michalis Charisteas, Mitte 30, Kommissar in Chania
Hannah Weingarten, Anfang 30, Kunsthistorikerin
Pavlos Koronaios, Anfang 50, Partner von Michalis
Sotiris Charisteas, Bruder von Michalis, Wirt des Athena
Takis Charisteas, Vater von Michalis, Wirt des Athena
Loukia Charisteas, Mutter von Michalis
Elena Chourdakis, Schwester von Michalis
Nicola Charisteas, Frau von Sotiris
Sofia Charisteas, 10, Tochter von Sotiris
Loukia Charisteas, 8, Tochter von Sotiris
Markos Chourdakis, Schwager von Elena
Paula und Daniel, Freunde von Hannah, Anfang/Mitte 30
Jorgos Charisteas, Leiter der Mordkommission von Chania
Myrta Diamantakos, Assistentin in der Polizeidirektion
Ioannis Karagounis, Leitender Kriminaldirektor von Chania
Kostas Zagorakis, Chef der Spurensicherung
Lambros Stournaras, Gerichtsmediziner Chania
Christos Varobiotis, IT-Spezialist
Galatia und Nikoletta, Töchter von Koronaios, 18 und 20 Jahre alt
Vangelis Kitsikoudis, Ende 40, Busfahrer, nebenberuflich Imker
Sideris Vamvounakis, Mitte 40, Betreiber einer Tankstelle
Nestor Vamvounakis, Anfang 40, verleiht Mountainbikes und bietet Touren an, Cousin von Sideris
Ilias Doxiadis, Mitte 50, Bäcker in Sfakia
Marilita Kitsikoudis, Mitte 40, Ehefrau von Vangelis
Leandra Kitsikoudis, Anfang 20, Tochter von Vangelis
Stavroula Vamvounakis, Ende 30, Ehefrau von Sideris
Evros Vamvounakis, 12-jähriger Sohn von Sideris
Despina Vamvounakis, Anfang 40, Ehefrau von Nestor
Nitsa Doxiadis, Anfang 50, Ehefrau von Ilias
Orfeas Embirikos und Jordan Stantschew, getötete Kirchenräuber, beide gestorben mit Mitte 20
Violeta Embirikos, Anfang 30, Chemikerin, Schwester von Orfeas
Alekos Tatsopoulos, Revierleiter Polizei Sfakia, Anfang 50
Fanis Karalakis, Ende 20, Verdächtiger aus Loutro, Tavernenwirt, Vermieter
Pavlos Karalakis, Vater von Fanis und Timos
Pater Konstantinos, Priester in Sfakia
Vater und Sohn Panagiotis, Wirte aus Komitades
Vater und Sohn Kalogeraki, Ziegenhirten
Theo Brokalakis, Mitte 30, Ikonendieb, Tischler
Ariadne Brokalakis, Mitte 30, Frau von Theo
u.a.
Jedes Geräusch konnte ihn verraten, das wusste er. Seine rechte Hand schmerzte, denn in der mondlosen Nacht war er gestolpert und in die stachelige Macchia gestürzt. Trotzdem presste er das Paket unbeirrt an die Brust und rang nach Luft. Statt sich aufzurichten, war er durch das Gestrüpp gerobbt und hatte sich nicht nur die Hand, sondern auch das Gesicht zerkratzt, bis er hinter einem Felsen und einigen Wacholderbüschen Deckung gefunden hatte.
Zwei Schüsse. Zwei Schüsse, die von den Bergen widerhallten, und dann immer neue Schüsse und die dumpfen Geräusche, als die Kugeln die am Boden liegenden Körper trafen.
Der kalte Wind zerrte an den Sträuchern und Olivenbäumen.
Der Mann, dessen Gesicht er nie wieder vergessen würde, schien Witterung aufzunehmen.
Seit Tagen schlief Michalis unruhig. Auch in dieser Nacht war er wach, als die Hauswand gegenüber noch im Dunkeln lag und lediglich ein silberner Schimmer des Monds zu erkennen war. Aus der Ferne hörte er die tuckernden Motorengeräusche der Fischerboote, die bald nach Sonnenaufgang im kleinen Fischerhafen von Chania anlegen würden.
Hannah hatte sich immer wieder umgedreht, und als sie endlich ruhig atmete, war Michalis hellwach. Seine Freundin haderte mit ihrer Zukunft, und ihm war klar, dass er sie nicht drängen durfte.
Vor zwei Wochen war Hannah auf Kreta gelandet, und die gesamte Familie Charisteas war aufgeregt zum Flughafen gefahren, um Frau Doktor Hannah Weingarten in Empfang zu nehmen. Da hatte Michalis bereits gewusst, dass seine Freundin Sorgen hatte, und nach ein paar Tagen war es auch seiner Familie aufgefallen. Hannah hatte sich zwar bemüht, fröhlich und unbeschwert zu erscheinen, doch es war ihr nicht immer gelungen.
»Wenn Hannah jetzt ein Doktor ist, kann sie dann auch operieren? Und im Krankenhaus Leute gesund machen?«, hatte Loukia, Michalis’ jüngste Nichte, wissen wollen. Natürlich konnte Hannah das nicht, sie hatte einen Doktor in Kunstgeschichte, aber das musste eine Achtjährige nicht verstehen.
»Wenn ich wüsste, wie es bei mir weitergeht, dann wäre alles einfacher«, hatte Hannah geflüstert, als sie beide nachts wach lagen. Sie hatte zwar ihren Doktortitel für ihre Arbeit über El Greco, den von Kreta stammenden Maler, mit Auszeichnung gemacht, jedoch keinen Job, und das frustrierte sie zutiefst. Der Plan, mit ihrem Doktorvater van Drongelen die nächsten zwei Jahre in Berlin, Madrid, Athen und auf Kreta eine internationale Gesamtschau El Grecos auf die Beine zu stellen, war geplatzt. Die spanische Regierung hatte sich aus der Finanzierung zurückgezogen, und an ihrer Stelle war eine große deutsche Autofirma eingesprungen. Hannah war von Anfang an skeptisch gewesen, ob das gut gehen könnte, und hatte recht behalten. Van Drongelen war ausgestiegen, als die Autobosse Einfluss nehmen wollten, weil er die Freiheit der Kunst bedroht sah. Deshalb wollte Hannah eigentlich nicht nach Kreta fliegen, sondern in Berlin Kontakte knüpfen und sich weltweit auf Stellenausschreibungen bewerben, doch da sie mit Freunden schon lange ausgemacht hatte, zur gleichen Zeit auf Kreta zu sein und ihnen die Insel zu zeigen, war sie schließlich doch geflogen.
Während sich über Chania am Horizont das erste Blau zeigte und Michalis Hannahs warmen Körper an seinem Rücken spürte und schließlich doch wieder einschlief, wurde im Süden Kretas, am Strand von Frangokastello, der Wind stärker. Ein gutes Dutzend Urlauber, die die Nacht unter freiem Himmel verbracht hatten, verkrochen sich in ihre Schlafsäcke, um sich gegen den Sandflug zu schützen. Sie hatten seit Stunden gehofft, die riesenhaften Gestalten der Drosoulites zu sehen, jene schattenhaften Wesen, die sich angeblich alle paar Jahre im Mai aus dem Sand erhoben und an der imposanten venezianischen Festungsruine oberhalb des Strandes vorbeizogen. Diese Erscheinungen, so versicherten viele Kreter, könnten jedoch nur bei völliger Windstille auftauchen. Zwar hatte kaum einer der Urlauber ernsthaft daran geglaubt, dass es diesen gespensterhaften Spuk gab, doch die Vorstellung, zu Hause von Geistern erzählen zu können, hatte sie hierhergetrieben.
Es war ein junges österreichisches Pärchen, das als Erstes aufgeben wollte, weil der streunende Hund, den sie seit einigen Tagen in ihre Obhut genommen hatten, unruhig wurde und winselte. Und es war ein deutscher Familienvater, der nach vielen Nordsee-Urlauben sofort wusste, was bei Wind zu tun war: eine Sandburg bauen.
Eine halbe Stunde später war dieser Sandwall bereits einen Meter hoch und wuchs weiter, denn auch die Österreicher wussten die Vorteile so einer Schutzwand zu schätzen, während die Italiener, Spanier und Holländer angesichts dieser Bauwut die Köpfe schüttelten und sich lieber auf die Öffnung der Strandtaverne freuten.
Der streunende Hund hatte, als die Sandburg immer mehr wuchs, zu kläffen begonnen und war schließlich in die Mulde gesprungen, die beim Graben entstanden war. Dort scharrte er, bis er stolz einen länglichen, kräftigen Knochen präsentierte. Eine ältere Engländerin, die mit ihrer besten Freundin eigentlich nur einen frühen Spaziergang am Strand machen wollte, näherte sich der Grube und musterte diesen Knochen. Als ehemalige Krankenschwester war sie von dessen Form irritiert und hätte am liebsten selbst in der mit Wasser gefüllten Vertiefung nachgesehen. Doch zwei Italiener hielten sie zurück, stiegen in die Grube, lenkten den Hund mit den Resten einer italienischen Wurst ab und reichten den Knochen nach oben. Die englische Krankenschwester war sicher, den Oberarmknochen eines Menschen in Händen zu halten. Einer der Italiener suchte im Sand vorsichtig weiter und stellte entsetzt fest, dass immer mehr Knochen zum Vorschein kamen.
»Soll ich dir nicht wenigstens noch einen Elliniko machen?«, bot Michalis verschlafen an, als Hannah hektisch dabei war, sich gleichzeitig anzuziehen und ein paar Sachen zu packen.
»Nein, die beiden klingeln garantiert jeden Moment, die kommen immer zu früh!«
»Auch morgens um sieben?«, erkundigte sich Michalis spöttisch, obwohl er sich diese Frage hätte sparen können: Er kannte Hannahs Freundin Paula und ihren Mann Daniel aus Berlin und wusste, dass eine Verabredung um sieben Uhr für sie bedeutete, um Punkt sieben aufzubrechen. Für einen Kreter wäre es unhöflich, um diese Uhrzeit pünktlich zu sein, und auf jeden Fall wäre noch Zeit für einen Frappé gewesen. Zumal die drei lediglich die Ausgrabungsstätte des minoischen Palastes von Phaistos besuchen wollten. Und da kam es auf eine halbe Stunde eigentlich nicht an.
Tatsächlich klingelte es bereits um kurz vor sieben. Michalis streckte den Kopf über die Balkonbrüstung und sah den hochaufgeschossenen Daniel frisch geduscht mit noch nassen, leicht gewellten Haaren vor dem Haus stehen. Er trug ein sehr edles helles Leinenhemd und eine Stoffhose mit Bügelfalte. Nicht gerade das typische Outfit eines Touristen, doch Michalis kannte Daniel als jemanden, der gern signalisierte, keinesfalls zum Durchschnitt zu gehören.
»Hannah ist gleich so weit, kommt doch solange hoch!«, schlug Michalis vor.
»Paula wartet im Wagen, und ich weiß nicht, ob ich da vorn parken darf«, entgegnete Daniel und deutete auf das Ende der Odos Georgiou Pezanou.
Natürlich war es offiziell verboten, das wusste Michalis, aber das hatte noch nie jemanden interessiert.
»Falls es Probleme geben sollte, regle ich das«, bot Michalis an, doch Daniel winkte ab.
»Sehen wir uns heute Abend im Athena? Oder musst du lange arbeiten?« Hannah stolperte, weil sie gleichzeitig in ihre Turnschuhe schlüpfen und Daniel vom Balkon aus zuwinken wollte.
»Wenn nichts Ungewöhnliches passiert, hab ich um fünf Feierabend.«
Hannah gab Michalis einen flüchtigen Kuss und hetzte aus der Tür. Sie verhielt sich anders, wenn ihre deutschen Freunde in der Nähe waren, das hatte Michalis bereits bei seinen Berlin-Aufenthalten festgestellt. Und auch das war etwas, was ihm Sorgen bereitete. Denn die Hannah, in die er nach drei Jahren immer noch verliebt und mit der er sehr glücklich war, gab es vielleicht nur auf Kreta. Und ob Hannah auf Dauer hier sein wollte, schien Michalis unsicherer zu sein als bisher.
Michalis war seiner Gewohnheit treu geblieben, auf dem Weg in die Polizeidirektion Frappés und einige kalitsounia für seinen Partner Koronaios und ihre Assistentin Myrta zu besorgen und sie im Koffer seines Rollers zu transportieren.
»Efcharisto! Danke!«, sagte Myrta, als Michalis ihr den Frappé und die gefüllten Teigtaschen reichte.
»Liegt heute etwas an?«
Er stellte diese Frage jeden Morgen, auch wenn die Antwort seit Wochen dieselbe war. Den letzten größeren Fall hatte es im Winter gegeben.
»Ja …«, erwiderte Myrta, und Michalis sah sie überrascht an.
»Ja? Was denn?«
»Der Revierleiter von Sfakia hat sich gemeldet. Ich habe ihm gesagt, dass ihr ihn zurückruft.«
»Und worum geht es?«, wollte Michalis wissen.
»In Frangokastello haben einige Touristen am Strand etwas gefunden. Aber das wollte euch der Revierleiter selbst sagen. Er schien nicht sicher zu sein, ob das ernst zu nehmen ist.«
»Okay, ich ruf ihn an.«
Myrta reichte ihm die Notiz mit der Telefonnummer.
»Du weißt, was das Besondere an Frangokastello ist?«, erkundigte sie sich.
Michalis musste nur kurz überlegen.
»Da gibt es die Ruine einer alten venezianischen Festung, oder? Und da spukt es, war das nicht so? Diese, wie heißen die noch, diese …«
»Die Drosoulites. Alle paar Jahre ziehen diese Schattenwesen über den Strand. Ende Mai«, erwiderte Myrta.
Der Revierleiter Alekos Tatsopoulos teilte Michalis am Telefon mit, dass einige Touristen am Strand von Frangokastello eine Sandburg bauen wollten und dabei möglicherweise auf menschliche Knochen gestoßen waren.
»Meines Erachtens könnten das auch Knochen von einem Tier sein, aber vielleicht sind die dafür wirklich zu groß«, teilte Tatsopoulos sachlich mit.
»Und wer behauptet, dass es Knochen von Menschen sind?«
»Eine der Touristinnen ist eine englische Krankenschwester. Sie schwört, dass es der Oberarmknochen eines Menschen ist.«
»Das sollte sich doch am besten ein Arzt ansehen«, schlug Michalis vor.
»Unser Arzt hat heute frei und ist mit seinem Schwiegervater auf der Jagd. Außerdem meinte er, er sei nur für die Lebenden zuständig und auf keinen Fall für Skelette.«
»Gut, ich melde mich gleich«, entgegnete Michalis, legte auf und rief den Gerichtsmediziner Lambros Stournaras an.
»Ich bin in drei Minuten bei euch«, sagte Stournaras sofort. Ein Knochenfund in Frangokastello schien in seinen Ohren interessant zu klingen.
Stournaras war nicht der Einzige, den dieser Fund neugierig machte. Kostas Zagorakis, der Chef der Spurensicherung, kam ebenfalls mit, und auch Jorgos Charisteas, Michalis’ Vorgesetzter und Onkel, wollte wissen, was der Revierleiter von Sfakia gesagt hatte. Nur Pavlos Koronaios, der Partner von Michalis, fehlte noch, was ungewöhnlich war.
Alle kannten die Legende von den Drosoulites, den Seelen des Taus, jenen stolzen kretischen Widerstandskämpfern, die vor zweihundert Jahren am Strand von Frangokastello im Kampf gegen eine türkische Übermacht gestorben waren und angeblich ein Mal im Jahr zum Leben erwachten. Allerdings lag es viele Jahre zurück, dass jemand diese Erscheinungen gesehen hatte.
»Entweder«, verkündete Kostas Zagorakis in einem Tonfall, als seien die Knochenfunde seine Entdeckung, »erwartet uns in Frangokastello eine archäologische Sensation, die weit über Kreta hinaus Bedeutung haben wird.«
»Oder?«, fragte Lambros Stournaras.
Alle wussten, dass Stournaras sich ärgerte, wenn sein Kollege von der Spurensicherung so tat, als sei seine Arbeit bei der Aufklärung von Morden am wichtigsten.
»Oder« – Zagorakis fuhr sich durch die nach hinten gekämmten und frisch gefärbten Haare – »wir machen einen Ausflug zum Strand und geben den Dorfpolizisten ein bisschen Nachhilfe in Anatomie.«
»Vielleicht«, entgegnete Michalis trocken und ignorierte die Überheblichkeit des Kollegen, »stoßen wir auch auf eine menschliche Leiche, die nichts mit den Drosoulites zu tun hat. Und dann könnte viel Arbeit vor uns liegen.«
»Darauf werde ich vorbereitet sein«, erwiderte Zagorakis und verließ das Büro, bevor ihm weitere Überlegungen die gute Laune verderben konnten.
Michalis rief den Revierleiter von Sfakia zurück und informierte ihn, dass die Mordkommission sich auf den Weg machen werde.
»Das ist gut«, entgegnete Alekos Tatsopoulos, der am Strand von Frangokastello stand. »Meine Leute sind alle vor Ort. Wir sichern den Fundort, bis Sie hier sind.«
Pavlos Koronaios war noch immer nicht aufgetaucht und ging auch nicht ans Handy. Aber bevor Michalis sich Sorgen machte, rief er doch noch zurück.
»Ich hab meine Frau und meine Tochter zum Flughafen gebracht« – Koronaios stöhnte –, »aber bitte frag nicht, warum das so lange gedauert hat!«
Michalis war sicher, dass sein Partner ihm früher oder später erzählen würde, was passiert war, und informierte ihn über den Knochenfund. Koronaios erklärte, in zehn Minuten bei der Polizeidirektion anzukommen. Bevor sie auflegten, zögerte er, und Michalis ahnte, dass sein Partner am liebsten schon jetzt seinem Ärger über seine Familie Luft gemacht hätte. Offenbar war nur eine von Koronaios’ Töchtern abgeflogen. Was war mit der zweiten?
Eine Viertelstunde später verließen Michalis und Koronaios Chania über die Odos Apokoronou, fuhren an der Bucht von Soudha und der großen Kaserne vorbei und bogen bei Vrisses von der Schnellstraße ab, um die kurvenreiche Strecke nach Sfakia an der Südküste zu nehmen.
»Wenn in Frangokastello wirklich menschliche Knochen vergraben sind«, überlegte Koronaios, »und es Leute gibt, die glauben, es könnte sich um ihre Vorfahren handeln …«
»Was dann?«
»Dann sollten wir mehr über diese Legende der Drosoulites herausfinden.«
Michalis lächelte. So weit war er auch schon gewesen.
»Es wird ja behauptet«, fuhr Koronaios fort, »dass die Türken die Leichen der Aufständischen damals einfach am Strand liegen lassen haben und sie nie beerdigt wurden. Und dann hat der Wind die Toten im Lauf der Zeit mit Sand bedeckt.«
»Lass uns hoffen, dass es die Knochen einer toten Ziege sind«, erwiderte Michalis skeptisch. Er befürchtete, dass diese Knochen am Strand ein Geheimnis bargen, dem sie nur mühsam auf die Spur kommen würden.
Schon bald hinter Vrisses stieg die Straße an und wurde kurvenreicher. Richtung Westen ragten die Gipfel der Weißen Berge mit Resten von Schnee auf, und je höher sie kamen, desto verlassener wirkte die Gegend. Michalis saß am Steuer und beobachtete, dass Koronaios immer wieder unruhig auf sein Handy blickte.
»Unglaublich, dass schon unsere Vorfahren ihre Tiere im Sommer bis in diese Gegend gebracht haben«, meinte Koronaios unvermittelt, nachdem sie über mehrere Kilometer keine Häuser, dafür aber an den Hängen immer wieder Ziegen und Schafe gesehen hatten. »Damals gab es diese Straße ja noch nicht. Ein mühsames Leben.«
Auch Michalis wusste, wie schwer es die Menschen hier früher gehabt hatten. Jetzt, Ende Mai, war die Gegend saftig grün, und die Tiere fanden genug zu fressen, doch schon in wenigen Wochen würde auch hier alles braun und vertrocknet sein.
Die von rot und weiß blühendem Oleander gesäumten Kurven wurden enger, und obwohl die Sonne am blauen Himmel stand, schien sich die Landschaft zu verdunkeln. Bei Katré war Richtung Osten eine schmale und tief eingeschnittene Schlucht zu erkennen, deren Boden nie ein Sonnenstrahl erreichte. Kurz darauf öffnete sich die Landschaft wieder, und die fruchtbare Hochebene von Askifou tauchte vor ihnen auf.
»Meine Frau hatte es satt«, sagte Koronaios unvermittelt, »dass unsere Älteste seit einem Jahr behauptet, sie würde sich um ihre Zukunft Gedanken machen, obwohl sie sich nirgendwo beworben hat, sondern nur mit ihren Freundinnen unterwegs war.«
Michalis erinnerte sich, dass Nikoletta im letzten Jahr die Schule beendet hatte und eigentlich Ärztin werden wollte.
»Deshalb ist meine Frau heute mit ihr zu Verwandten nach Thessaloniki geflogen. Dort soll Nikoletta sich jetzt wenigstens mal die Uni ansehen und sich dann endlich für ein Medizinstudium bewerben.«
»Und was gab es heute früh für Probleme?«, erkundigte sich Michalis.
»Kurz vor dem Flughafen fiel Nikoletta ein, dass sie ihren Ausweis vergessen hatte. Und meine Frau war sicher, dass sie den absichtlich liegen lassen hat, um nicht nach Thessaloniki zu müssen.«
Michalis war klar, dass das nur ein Teil des Dramas gewesen sein konnte.
»Wir sind also zurückgefahren, und zu Hause stellten wir fest, dass Galatia, unsere Jüngere, nicht allein war. Ihr Freund war gekommen. Offenbar dachte Galatia, dass sie sturmfreie Bude hat.« Koronaios schüttelte den Kopf und stöhnte. »Und meine Frau gibt jetzt mir die Schuld. Denn sie wollte, dass meine Schwägerin zu uns kommt, solange sie mit Nikoletta in Thessaloniki ist. Galatia hat deshalb einen riesigen Aufstand gemacht und mich so lange bearbeitet, bis auch ich dagegen war, dass die Tante tagelang bei uns wohnt.« Wieder blickte Koronaios auf sein Handy, als warte er auf schlechte Nachrichten. »Und was macht meine Galatia als Erstes? Holt sich ihren Freund ins Haus und behauptet, dass er sie nur zur Schule bringen sollte. Du kannst dir ja denken, was bei uns los war.«
Ja, das konnte sich Michalis denken.
»Wie lange wird deine Frau in Thessaloniki sein?«, fragte er.
»Bis Ende der Woche. Vier Tage. Aber so, wie sie sich heute früh aufgeregt hat, könnte sie auch in zwei Tagen schon wieder hier sein.«
Michalis hatte den Eindruck, dass es Koronaios auf der Zunge lag, nach Hannah zu fragen. Sein Partner war der Einzige, mit dem Michalis bisher darüber gesprochen hatte, dass Hannah deprimiert und unzufrieden war, doch Koronaios war zurückhaltend genug, ihn nicht mit Fragen zu bedrängen. Und Michalis war froh, durch diesen neuen Fall auf andere Gedanken zu kommen.
Sie hatten den Ort Imbros erreicht, und Michalis musste abbremsen, da mehrere Kleinbusse und viele Wanderer die Straße blockierten. Von hier aus starteten die Touristen in die Schlucht, die von Imbros nach Komitades und damit kurz vor die Küste führte. Michalis sah Koronaios an, und der zog nur spöttisch eine Augenbraue hoch. Sicherlich weckte dieser Anblick auch bei ihm die Erinnerung an einen Fall im letzten Hochsommer, wo sie bei brütender Hitze durch die Samaria-Schlucht zum Tatort hatten laufen müssen.
Wenig später passierten Michalis und Koronaios den ersten von mehreren kleinen Straßentunnel, vor dessen Eingang Felsbrocken, die sich im Winter von den Hängen gelöst hatten, notdürftig zur Seite geschoben worden waren. Zum ersten Mal war das Blau des Meeres zu sehen, und wenig später erreichten sie die engen Serpentinen, die hinunter zur Küste führten.
Kurz vor Chora Sfakion, dem größten und zentralen Ort der Gegend, der von den Einheimischen genauso wie die ganze Region nur Sfakia genannt wurde, zweigte eine schmalere Straße links Richtung Frangokastello ab. In Komitades, dem ersten von mehreren kleinen Orten, staute sich der Verkehr, da es in den sehr engen Kurven kaum Platz für zwei Autos gab. Und auch danach kamen sie wegen der vielen Schlaglöcher, denen sie ausweichen mussten, nur langsam voran.
Auf diesen letzten Kilometern registrierte Michalis eine enorme Anzahl an kleinen und größeren Kirchen. Ein streng religiöser orthodoxer Christ, dessen Glaube von ihm verlangte, sich an jeder Kirche zu bekreuzigen, hätte hier kaum einmal beide Hände am Steuer haben können.
»Hast du hier in der Gegend schon mal ermittelt?«
»Noch nie. In über zwanzig Jahren nicht. Scheint eine sehr friedliche Gegend zu sein«, erwiderte Koronaios.
»Oder die Leute lösen ihre Konflikte selbst, so dass die Polizei nichts davon mitbekommt«, meinte Michalis. Er wusste, wie tief das Misstrauen besonders der alten Kreter gegenüber allem, was mit dem Staat zu hatte, saß.
Die Ruine des venezianischen Kastells war schon von weitem zu erkennen. Frangokastello, stellten Michalis und Koronaios fest, war kein normaler Ort mit einem zentralen Platz. In der grünen, von sandigen Wegen durchzogenen Ebene standen kilometerlange Reihen Olivenbäume, und nur alle paar hundert Meter gab es Häuser. Lediglich die Hauptstraße, die an der Küste entlang zum Kastell führte, war von Geschäften, Tavernen, Autovermietungen und Wohnhäusern gesäumt.
Der Fundort liegt auf Höhe des Kastells, hatte der Revierleiter von Sfakia am Telefon gesagt. Michalis hielt dort neben drei Einsatzwagen der Polizei, und beide Kommissare stiegen aus. Koronaios warf einen Blick auf sein Handy.
»Meine Frau und meine Tochter scheinen ohne weitere Probleme in Thessaloniki angekommen zu sein«, verkündete er.
Auch Michalis blickte auf sein Display. Hannah hatte ein Foto geschickt, das sie und ihre Freundin Paula in den Ruinen von Phaistos zeigte. Michalis hatte als Kind mit der Schule diese Überreste des minoischen Palastes besichtigt und war von der Weitläufigkeit der Anlage ziemlich eingeschüchtert gewesen. Beeindruckend schrieb er Hannah als Kommentar zurück und machte von oben ein Foto des Strands, um es ihr zu schicken.
Der Weg nach unten führte über einen unbefestigten, gewundenen Schotterweg an einer Strandtaverne vorbei. Die Fundstelle lag direkt unterhalb des Steilhangs und war mit Absperrband notdürftig gesichert. Vier uniformierte Polizisten standen um die Grube herum und wurden von überwiegend älteren, kretischen Männern bedrängt. Der langgezogene Strand war voller roter und blauer Sonnenschirme und Strandliegen, und im hinteren Bereich lagen Touristen in der Sonne, und Kinder spielten im Sand. In einiger Entfernung von den aufgebrachten Einheimischen stand eine Gruppe Urlauber mit einem Hund, und Michalis vermutete, dass sie es waren, die die Knochen entdeckt hatten. Zwischen dieser Gruppe und den Badenden lagen gut fünfzig Meter menschenleerer Strand. Die Vorstellung, Tote könnten unter dem Sand vergraben sein, schreckte die Touristen vermutlich ab.
Ein weiterer Polizist – Michalis ging davon aus, dass es der Revierleiter war – sprach beruhigend auf die Einheimischen ein und näherte sich dann den Mordkommissaren.
»Gut, dass Sie da sind«, begrüßte Alekos Tatsopoulos, der Revierleiter aus Sfakia, Michalis und Koronaios. Sein Händedruck war kräftig. Der drahtige, groß gewachsene Mann war Anfang fünfzig, hatte dunkles, volles Haar und einen gestutzten Schnauzbart in einem glatt rasierten, braun gebrannten Gesicht. Sein klarer, entschlossener Blick vermittelte Korrektheit und Unbestechlichkeit.
»Warum sind die Leute so aufgebracht?«, erkundigte sich Michalis.
Tatsopoulos warf den Männern einen Blick zu.
»Sie kennen die Geschichte von den Drosoulites?«, fragte er.
»Die Legende von den riesigen Gespenstern? Wir haben davon gehört«, entgegnete Koronaios.
»Gespenster …« Alekos Tatsopoulos verzog den Mund. »Die Leute hier nehmen das ziemlich ernst. Und einige sind überzeugt, dass heute Nacht die Knochen ihrer Vorfahren aufgetaucht sind.« Er deutete auf die Gruppe von Urlaubern, die von der Wasserkante neugierig zu ihnen herüberblickten. »Dort drüben stehen die Leute, die die Knochen entdeckt haben. Sie hatten am Strand übernachtet, um auf die Drosoulites zu warten.«
»Es gibt Leute, die eine ganz Nacht hier draußen auf diese … Geister warten?« Koronaios war überrascht.
»Ja«, erwiderte Tatsopoulos, »wie jedes Jahr Ende Mai. Dieses wilde Campen ist wie überall in Griechenland eigentlich verboten, aber solange es nicht in laute Partys ausartet, lassen wir sie in Ruhe.«
Koronaios blickte zu den Einheimischen. »Wir sollten mit ihnen reden. Dann wissen sie, dass wir uns um die Sache kümmern.«
Alekos Tatsopoulos nickte und ging auf die Männer zu, die Michalis und Koronaios skeptisch musterten.
»Die Mordkommission aus Chania ist eingetroffen und übernimmt die Ermittlungen. Ihr werdet ihre Arbeit nicht behindern und den Anordnungen Folge leisten!«
Michalis und Koronaios klärten mit einem kurzen Blickwechsel, wer von ihnen reden sollte. Zwar waren sie beide groß gewachsen und in der Lage, sich Respekt verschaffen, doch Koronaios’ dröhnende Stimme konnte einschüchternd wirken, wenn er es darauf anlegte.
»Meine Herren!«, rief Koronaios und hob beide Hände. Die Männer verstummten. »Die Spurensicherung und unser Gerichtsmediziner werden in Kürze eintreffen und diese Knochenfunde begutachten. Wir werden Sie danach über unsere weiteren Schritte informieren.«
Die Leute murrten, denn das hatte ihnen bereits der Revierleiter mitgeteilt.
»Bis wir wissen, um was für Knochen es sich handelt« – Koronaios blickte Alekos Tatsopoulos an – »müssen wir einen größeren Bereich um die Fundstelle sichern und fordern Sie auf, weiter zurückzutreten.«
Die einheimischen Männer folgten seinen Anweisungen nur widerwillig. Erst als Tatsopoulos sich einmischte, wichen sie zurück, so dass das Absperrband in einem Radius von zwanzig Metern um das Loch herum gespannt werden konnte.
Michalis nutzte die Zeit, um diese Männer zu beobachten. Einige von ihnen waren, nachdem Alekos Tatsopoulos die Mordkommissare aus Chania vorgestellt hatte, nach hinten getreten und hatten von dort aus zugehört. Zwei Männer, die Mitte vierzig sein mussten, fielen Michalis besonders auf. Während die meisten anderen aufgebracht und empört waren, schienen diese beiden besorgt zu sein. Der eine von ihnen war untersetzt und trug eine beige Windjacke, der andere wirkte mit dunkelblauem Sakko, Sonnenbrille und streng nach hinten gekämmten, grau melierten Haaren wie ein smarter Geschäftsmann.
Während die Einheimischen Platz machten, hatte sich die Gruppe der Urlauber genähert. Einige von ihnen schossen Fotos.
»Wer hat dieses Loch überhaupt gegraben? Und warum?«, fragte Michalis.
»Heute Nacht hat der Wind aufgefrischt, und einer der Familienväter ist auf die Idee gekommen, zum Schutz eine Sandburg zu bauen«, entgegnete Alekos Tatsopoulos.
»Lassen Sie mich raten«, meinte Michalis, »das war ein deutscher Familienvater?«
»Woher wissen Sie das?«, erkundigte sich der Revierleiter.
»Ich war mal im Sommer auf einer Nordseeinsel«, erwiderte Michalis. Tatsächlich war er mit Hannah vor drei Jahren einige Tage auf Norderney gewesen und hatte die Gewohnheit deutscher Urlauber beobachtet, aufwendige Sandburgen zu errichten und als ihr persönliches Revier zu verteidigen.
»Dann wissen Sie ja, wen ich meine«, erwiderte Tatsopoulos und deutete auf einen Mann, der ihnen mit seinen zwei kleinen Söhnen zusah. »Und die zwei dort« – er zeigte auf ein Pärchen – »das sind die Österreicher, deren Hund den Knochen entdeckt hat.«
Der Hund schien eines der vielen herrenlosen, verwilderten Tiere zu sein, in die sich Touristen manchmal regelrecht verliebten. Für Kreter war das nur schwer zu verstehen, wilde Hunde wurden hier eher verjagt als versorgt.
»Die beiden älteren Damen, die barfuß im Wasser laufen, das sind die Engländerinnen. Die mit dem roten Kopftuch ist die Krankenschwester, die glaubt, die Knochen gehören zu einem Menschen. Die beiden Männer hinter ihr sind die Italiener, die dem Hund den ersten Knochen abgenommen und weitere entdeckt haben.«
»Wo sind diese Knochen jetzt?«, erkundigte sich Michalis.
»Wir haben sie wieder in die Grube gelegt. Dort konnten wir sie am besten sichern«, erwiderte Tatsopoulos.
Aus der Ferne waren Martinshörner zu hören. Vermutlich wollten sich Zagorakis oder Stournaras auf dem Weg durch die engen Kurven von Komitades Platz verschaffen, dachte Michalis. Er übernahm die Befragung der Urlauber, bemerkte jedoch schnell, dass er von ihnen nicht viel mehr erfahren würde, als er von Tatsopoulos bereits wusste, und bat den Revierleiter, die Namen, Telefonnummern und Hotels der Touristen, die bei dem Fund der Knochen dabei gewesen waren, notieren zu lassen.
Michalis ging zu Koronaios, und gemeinsam stellten sie fest, dass Zagorakis tatsächlich seiner gesamten Abteilung einen Ausflug an den Strand gegönnt hatte. Aus zwei Kombis stiegen vier Mitarbeiter, und neben ihnen hielt ein Kleintransporter. Stournaras hatte ebenfalls seine Assistentin, die Michalis noch nie außerhalb des Labors gesehen hatte, mitgebracht. Er lächelte, denn trotz aller Unterschiedlichkeit waren Zagorakis und Stournaras ein eingespieltes Duo. Beide waren sehr selbstbewusst, auch wenn das bei Zagorakis mit seiner kaum verhüllten Eitelkeit offensichtlicher war als bei dem hageren Stournaras.
Der wie meistens gut gelaunte Gerichtsmediziner kam als Erster an den Strand, ließ sich von seiner Assistentin kniehohe Gummistiefel reichen, zog Plastikhandschuhe an und stieg in die Grube. Zagorakis gab die Anweisung, seine drei Wagen über den Schotterweg so nahe wie möglich auf den Strand zu rangieren, warf einen Blick in die Grube und ordnete an, wasserfeste Gummi-Latzhosen mit Stiefeln, wie sie Angler benutzten, auszuladen.
»Und?«, fragte Koronaios ungeduldig, als Stournaras sich nach einigen Minuten aus der Grube helfen ließ.
»Eindeutig.« Stournaras zeigte auf einen länglichen Knochen in der Grube. »Im Labor werde ich ihn später gründlich untersuchen. Aber das dort unten ist ohne Zweifel der Oberarmknochen eines Menschen.«
Michalis und Koronaios traten zu Alekos Tatsopoulos, der hinter der Absperrung gewartet hatte, und berichteten ihm leise, was Stournaras festgestellt hatte.
»Könnte die Situation außer Kontrolle geraten, wenn die Männer erfahren, was wir wissen?«, fragte Michalis.
»Ich will ehrlich sein«, entgegnete der Revierleiter. »Diese Männer respektieren mich, aber ihre Vorfahren sind ihnen heilig.«
»Gut, dann sollten wir sie nicht unnötig provozieren. Ich werde ihnen sagen, dass es noch etwas dauern kann, bis wir Gewissheit haben«, schlug Koronaios vor und blickte Michalis an. Der nickte, und auch Tatsopoulos schien das für das sinnvollste Vorgehen zu halten.
Die Leute waren mit dem, was Koronaios ihnen mitteilte, offenbar unzufrieden, trotzdem gelang es ihm, die Männer zu vertrösten. Die Ersten von ihnen waren vermutlich seit den frühen Morgenstunden hier und verabschiedeten sich, da sie sich jetzt, am späten Vormittag, endlich auf den Weg zur Arbeit machen mussten.
Die beiden Männer, die Michalis vorhin schon aufgefallen waren, blieben jedoch am Strand. Der Untersetzte legte seine beige Windjacke ab, stand jetzt in einem blau-schwarz karierten Hemd und einer schwarzen Stoffhose schwitzend in der Sonne, während der Smarte nur noch sein hellblaues Hemd trug, das Sakko über die Schulter geworfen hatte und leise auf den Untersetzten einredete. Der hörte ihm mit einem misstrauischen Gesichtsausdruck zu.
Beeindruckt verfolgte Michalis, wie Zagorakis und seine Leute ihr weiteres Vorgehen planten. Alekos Tatsopoulos wurde von ihnen aufgefordert, den abgesperrten Bereich noch einmal deutlich zu erweitern, damit sie einen weitläufigen Sichtschutz errichten konnten. Dann legten sie mit Leitern und Brettern einen Zugang zur Grube, zogen ihre Anglerhosen an und kletterten nach unten.
»Kannst du etwas darüber sagen, wie lange die Knochen dort gelegen haben?«, fragte Michalis leise. Er stand mit Koronaios beim Gerichtsmediziner.
»Ich habe an den Knochen kein Weichgewebe mehr feststellen können«, erwiderte Stournaras zurückhaltend. »Bisher kann ich wirklich nur spekulieren … Aber nehmen wir mal an, die Leiche lag jahrelang in etwa anderthalb Meter Tiefe im Sand, und die Verwesung ist ähnlich wie in einem normalen Erdgrab verlaufen …«
»Was dann?«, unterbrach Michalis ihn.
»Irgendetwas zwischen fünf und fünfzehn Jahren. Aber das ist wie gesagt der übliche Zeitraum in Erdgräbern. Festnageln lasse ich mich darauf noch nicht.«
»Natürlich nicht. Aber es ist eine erste Orientierung«, erwiderte Michalis.
»Und wenn ihr mit den Einheimischen redet.« Der Blick von Stournaras ging zu der kleiner gewordenen Gruppe hinter der Absperrung. »Dies hier sind nicht die Knochen der getöteten Widerstandskämpfer von 1828. Wir stehen noch ganz am Anfang, und ich habe mich bemüht, nichts zu verändern, um Zagorakis die Arbeit nicht zu erschweren. Aber ich habe gut erhaltene, schmale Knochen bemerkt, vermutlich Fingerknochen. Die wären nach fast zweihundert Jahren nicht mehr in einem so guten Zustand. Dieses Skelett ist sehr viel jünger, davon könnt ihr ausgehen.«
Stournaras blickte zu dem Sichtschutz, hinter dem die Grube verschwunden war.
»Ich würde mir jetzt aber gern ansehen, was der Kollege Zagorakis dort treibt«, sagte Stournaras und ging unter dem Absperrband hindurch. Michalis und Koronaios folgten ihm und sahen, dass Zagorakis dabei war, eine regelrechte Ausgrabungsstätte einzurichten. Seine Leute hatten provisorische Spundwände verankert, um zu verhindern, dass noch mehr Wasser von den Seiten her in die Grube sickerte. Zagorakis hockte mit weißen Handschuhen im Wasser und legte vorsichtig weitere Knochen frei. Einer seiner Mitarbeiter fotografierte jeden der neuen Funde. Obwohl ihm der Spurensicherer mit seiner Eitelkeit oft auf die Nerven ging, so musste Michalis doch immer wieder anerkennen, wie professionell und unbeirrt Zagorakis arbeitete.
Auf Michalis’ Smartphone waren neue Nachrichten angekommen. Hannah hatte ihm ein weiteres Foto geschickt, auf dem sie Arm in Arm mit Paula an einem Strand posierte. Im Hintergrund ragte eine sandfarbene Felswand auf, die wie ein Käse mit vielen Löchern durchzogen war. Weißt du, wo ich bin?, hatte Hannah dazu geschrieben. Michalis war sicher, diese Felswand schon einmal gesehen zu haben. Während er überlegte, sah er, dass auch Koronaios auf sein Handy blickte, verärgert den Kopf schüttelte und eine Nachricht tippte.
»Jetzt fragt meine Frau mich zum dritten Mal, ob ich schon etwas von Galatia gehört habe. Dabei ist die wie jeden Vormittag in der Schule! Aber meine Frau scheint zu glauben, Galatia sei von ihrem Freund entführt worden, bloß weil sie seit einer Stunde nicht antwortet. Hoffentlich geht das nicht den ganzen Tag so«, schimpfte Koronaios.
In dem Moment, als Koronaios das Wort entführt aussprach, fiel Michalis ein, wo Hannah sein musste: am Strand von Matala. In den Höhlen von Matala hatten in den sechziger und siebziger Jahren Hippies aus aller Welt gelebt, doch schon vorher war Matala berühmt gewesen. Denn hier war Zeus in Gestalt eines Stiers mit der von ihm entführten Prinzessin Europa an Land gegangen. Aber lass dich nicht entführen!, schrieb er Hannah zurück und erhielt wenig später drei Smileys.
»Wir sollten mit dem Wirt reden.« Koronaios deutete in die Richtung der kleinen Strandtaverne. »Vielleicht betreibt er den Laden schon länger, so dass ihm mal etwas aufgefallen ist.«
Der Tavernenwirt war ein Mann Mitte dreißig mit Vollbart und langen, dunklen Haaren. Er hatte die Taverne von seinem Vater übernommen und arbeitete seit über fünfzehn Jahren hier. Er hätte auch ein Aussteiger sein können, der seine Nächte im Schlafsack am Strand verbrachte, dachte Michalis, als er in seinen ausgetretenen Sandalen angeschlurft kam.
»Es wäre mir aufgefallen, wenn hier ein tiefes Loch gegraben worden wäre, aber ich bin natürlich nur im Sommer hier. Im Winter wohne ich bei meiner Familie oben in Imbros, bei unseren Oliven und Ziegen«, ließ er Michalis und Koronaios wissen.
Der Wirt wandte sich ab und brachte einen Bauernsalat zum Tisch zweier Männer, die holländisch sprachen. Auf dem Tisch lag eine Spiegelreflexkamera, und da die meisten Urlauber mit ihren Handys fotografierten, waren diese Holländer Michalis schon vorhin am Strand aufgefallen.
»Eines noch«, flüsterte der Wirt. Offenbar wollte er etwas sagen, das seine Gäste nicht hören sollten. »Seit einigen Jahren müssen wir unsere Terrasse in jedem Frühjahr abstützen, weil sie im Winter abgesackt ist. Nächstes Jahr wollen wir das Fundament erneuern, denn die Wellen und die Stürme tragen offenbar immer mehr Sand ab. Der ganze Strand scheint sich zu verlagern.«
Der Wirt ging mit ihnen von seiner Terrasse herunter zum Strand, bis er sicher war, dass niemand sie hören konnte.
»Von den Drosoulites wissen Sie ja sicher«, fuhr er leise fort.
»Ja. Selbstverständlich«, erwiderte Koronaios.
»Ich will Sie nicht beunruhigen«, raunte der Wirt, »aber mit den Drosoulites verstehen die Leute hier keinen Spaß. Viele Familien leben seit Jahrhunderten in der Gegend, vor allem oben in den Bergen. Und die wissen genau, wer von ihren Vorfahren damals im Kampf gegen die Türken gefallen und nie wieder aufgetaucht ist.«
»Wir sind ja noch nicht einmal sicher, ob es sich wirklich um menschliche Knochen handelt«, warf Koronaios schnell ein.
Der Wirt lächelte.
»Doch, das sind Sie. Sonst würden Sie mir nicht Fragen stellen, und ihre Kollegen würden keine Absperrungen aufbauen. Da unten liegt das Skelett eines Menschen, und etwas anderes glaubt Ihnen hier sowieso niemand.«
Er musterte Michalis und Koronaios eindringlich.
»Sagen Sie den Leuten so schnell wie möglich die Wahrheit. Es könnte sonst sehr ungemütlich werden.«
»Wie meinen Sie das?«, wollte Koronaios wissen, denn die Worte des Wirts hatten bedrohlich geklungen.
Der Wirt zuckte mit den Schultern. »Die Menschen hier sind misstrauisch. Ein Sfakiote vertraut nur einem Sfakioten. Aber dass wissen Sie ja hoffentlich.«
Ja, die Menschen aus der Sfakia hatten einen berüchtigten Ruf, das wusste Michalis. Sie hatten über Jahrhunderte gegen die Türken und später auch gegen die deutsche Wehrmacht erbitterten Widerstand geleistet, und sie galten bis heute auf Kreta als sehr patriotisch und unberechenbar.
Der Wirt drehte sich um und schlurfte Richtung Terrasse zurück.
»Warten Sie bitte«, hielt Michalis ihn auf und folgte ihm. »Dieser Ort, Frangokastello …«
»Ja?«
»Es gibt keinen Dorfplatz, kein Kafenion, und Häuser nur an einer Straße.«
»Die meisten Häuser wurden erst gebaut, seit die Touristen den Strand entdeckt haben«, erwiderte der Wirt.
»Und vorher? Da hat hier niemand gewohnt?«, wollte Koronaios wissen.
»Früher kamen die Piraten, sobald sich jemand angesiedelt hatte, und haben die Leute ausgeraubt und umgebracht. In den Bergen war es sicherer, dorthin drangen die Piraten nicht vor.«
»Wenn hier im Lauf der Jahre verstärkt Sand abgetragen wird«, überlegte Michalis laut, als sie sich dem Sichtschutz näherten, »dann lagen die Knochen vor einigen Jahren vielleicht sogar noch tiefer im Sand.«
»Und wer auch immer sie dort vergraben hat, ging davon aus, dass sie nie wieder auftauchen würden.«
Sie warfen einen Blick auf die Grube, die deutlich breiter geworden war. Oben, im Sand, lagen auf zwei Planen mehrere Knochen. Eine Pumpe sorgte dafür, dass das nachsickernde Wasser durch einen Schlauch aus der Grube Richtung Wasserkante lief. Das Gelände ähnelte immer mehr einer Ausgrabungsstätte von Archäologen.
Zagorakis kniete in der Grube und schien Michalis und Koronaios nicht zu bemerken. Stournaras trat jedoch zu ihnen.
»Zagorakis braucht noch einen Moment. Aber« – er deutete auf die sorgfältig ausgebreiteten Knochen – »da drüben liegen mittlerweile drei Schulterblätter.«
Michalis und Koronaios sahen Stournaras überrascht an.
»Drei?«, entfuhr es Koronaios, und Michalis spürte, wie sich Unruhe in ihm ausbreitete. Drei Schulterblätter. Also mindestens zwei Tote. Das war eine Neuigkeit, die er nicht erwartet hatte.
»Gebt mir noch etwas Zeit, dann kann ich euch vielleicht mehr über die beiden Toten sagen«, fügte Stournaras hinzu und ging zurück zu den bisherigen Fundstücken.
»Zwei Tote. Mindestens. Und vor einer Stunde waren wir noch nicht mal sicher, ob es sich überhaupt um menschliche Knochen handelt«, meinte Koronaios, und auch er schien alarmiert zu sein.
»Falls Stournaras Hinweise auf Gewalteinwirkung findet, müssen wir mehr über die kretischen Aufständischen von 1828 und diese Drosoulites wissen«, erklärte Michalis.
»Glaubst du jetzt etwa doch, dass diese Knochen seit fast zweihundert Jahren hier liegen?«
»Nein … Aber vielleicht wollte jemand, dass wir genau das denken, wenn die Knochen eines Tages gefunden werden«, erwiderte Michalis.
Etwa zwanzig Minuten später öffnete Zagorakis den Sichtschutz, blickte sich nach Michalis und Koronaios um und winkte ihnen. Dabei achtete er darauf, dass niemand einen Blick auf das werfen konnte, was er und seine Leute bisher geborgen hatten, und schloss den Schutz hinter den beiden sorgfältig.
Die Pumpe, die das Wasser an den Strand beförderte, war noch immer in Betrieb, auch wenn an drei Seiten die provisorischen Spundwände dafür sorgten, dass nur wenig Wasser in die Grube sickern konnte. An der vierten Seite arbeiteten die Mitarbeiter von Zagorakis mit Werkzeugen vorsichtig daran, weitere Knochen zu bergen und die Funde zu fotografieren, bevor sie diese auf der Plane oberhalb der Grube ablegten. Sie alle trugen noch immer ihre Gummihosen und waren schweißgebadet, doch das schien sie nicht zu stören. Denn das, was sie hier zutage förderten, elektrisierte sie regelrecht.
Michalis brauchte einen Moment, um zu begreifen, warum Zagorakis und seine Mitarbeiter fast ehrfürchtig ihre Arbeit verrichteten: Auf den Planen lagen nicht nur zahlreiche längliche Knochen, die die vollständigen Skelette bereits erahnen ließen, sondern auch zwei Schädel, die Stournaras gerade untersuchte.
»Wie ihr seht, handelt es sich um zwei Leichen«, begann Zagorakis. »Ich gehe davon aus, dass wir ihre Skelette vollständig bergen werden.«
»Respekt«, entgegnete Koronaios, »gute Arbeit.«
Zagorakis nickte und tat so, als hätte er das Lob überhört. »Das Wichtigste kann euch Lambros später sagen. Aber ich kann euch versprechen, dass sich die Öffentlichkeit für diese Funde sehr interessieren wird.« Damit stieg Zagorakis über die Leiter wieder in die Grube. Michalis und Koronaios wandten sich Stournaras zu.
»Nach meiner ersten Begutachtung gehe ich davon aus, dass es sich um zwei junge Männer handelt.« Stournaras machte eine Pause und wartete die Wirkung seiner Worte ab.
Michalis verzog das Gesicht. »Zwei junge Männer … Darf ich fragen, warum du das so schnell vermutest?«
»Darfst du, aber fast noch interessanter ist etwas anderes. Hier.«
Stournaras deutete auf die Schädelknochen sowie die Schulterblätter und einige Rippen.
»Ihr seht, was ich sehe?«
Michalis und Koronaios brauchten einen Moment, um zu erkennen, was Stournaras meinte.
»Runde Löcher«, entfuhr es Koronaios beeindruckt.
»Genau. Noch kann ich es nicht endgültig belegen, aber die Anzahl und der offenbar jeweils identische Durchmesser lässt eigentlich nur eine Möglichkeit zu.«
Stournaras sah die beiden herausfordernd und stolz an.
»Einschusslöcher?«, erkundigte sich Michalis.
»Ja. Schussverletzungen. Mit großer Wahrscheinlichkeit.«
»Und du gehst davon aus, dass es sich um junge Männer handelt«, bohrte Koronaios nach.
»Ja.« Stournaras hob spöttisch die Augenbrauen. »Aber nicht, dass ihr jetzt denkt, es könnte sich doch um die kretischen Kämpfer von 1828 handeln. Das ist nicht nur wegen der offenbar vollständig erhaltenen Knochen, sondern auch wegen der Überreste von Kleidung ausgeschlossen. Aber dazu wird euch Zagorakis gleich noch etwas sagen.«
»Und warum junge Männer?«, wollte Koronaios wissen.
»Es gibt Hinweise am Knochenbau. Hier.« Stournaras deutete zunächst auf die Beckenknochen. »Die Darmbeinschaufeln sind eher schmal, und auch der Beckeneingang ist nicht oval, sondern eher herzförmig. Das lässt auf Männer schließen. Und sehr sicher bin ich dank der gut erhaltenen Gesichtsknochen.«
Stournaras zeigte auf die Stirnpartien der beiden Schädel.
»Hier. Die Neigungswinkel. Bei den meisten Frauen wäre die Stirn steiler, diese sind jedoch flach. Außerdem …« Stournaras deutete auf den Bereich unterhalb der Öffnung für die Ohren. »Der Processus mastoideus. Der Warzenfortsatz …« Der Gerichtsmediziner genoss es, dass die beiden keine Ahnung hatten, wovon er sprach. »… gehört zum Schläfenbein und ist bei beiden Männern sehr stark entwickelt. Bei Frauen wäre er deutlich kleiner.«
Stournaras schien sich seiner Sache sicher zu sein, andernfalls würde er ihnen nicht schon in diesem frühen Stadium seine Ergebnisse präsentieren, dachte Michalis.
»Warum glaubst du, dass die beiden Männer noch jung waren?«, fragte Koronaios.
»Auf den ersten Blick fehlen die typischen Hinweise auf ein fortgeschrittenes Alter. Die Zähne weisen kaum Abrieb auf, und an den Knochen habe ich bisher keine Hinweise auf Verletzungen oder Verschleißerscheinungen entdeckt. Beides wäre bei einem Alter über fünfunddreißig Jahre zu erwarten. Aber wie gesagt, dafür muss ich ins Labor.«
»Vielen Dank für die Hinweise. Das wird uns sehr helfen.« Koronaios nickte anerkennend.