Aurora erwacht

Amie Kaufman | Jay Kristoff

Aurora erwacht

Aus dem amerikanischen Englisch von Nadine Püschel

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Amie Kaufman & Jay Kristoff

Amie Kaufman wuchs in Australien und Irland auf und hatte als Kind das Glück, in der Nähe einer Bücherei zu wohnen. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihrem Hund Jack in Melbourne und schreibt Science-Fiction- und Fantasy-Romane für Jugendliche. Sie liebt Schokolade und Schlafen, hat eine riesige Musiksammlung und einen ganzen Raum voller Bücher.

 

Jay Kristoff verbrachte den Großteil seiner Jugend mit einem Haufen Bücher und zwanzigseitiger Würfel in seinem spärlich beleuchteten Zimmer. Als Master of Arts verfügt er über keine nennenswerte Bildung. Er ist zwei Meter groß und hat laut Statistik noch 13.020 Tage zu leben. Zusammen mit seiner Frau und dem faulsten Jack-Russell-Terrier der Welt lebt er in Melbourne. Jay Kristoff glaubt nicht an Happy Ends.

 

Weitere Informationen zum Kinder- und Jugendbuchprogramm der S. Fischer Verlage finden Sie unter www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Der New-York-Times-Bestseller: spannend, actionreich und witzig

 

Tyler, frisch ausgebildeter Musterschüler der besten Space Academy der ganzen Galaxie, freut sich auf seinen ersten Auftrag. Als sogenannter »Alpha« steht es ihm zu, sein Team zusammenzustellen – und er hat vor, sich mit nichts weniger als den Besten zufrieden zu geben. Tja, die Realität sieht anders aus: Er landet in einem Team aus Losern und Außenseitern:

 

Doch das Katastrophenteam ist nicht Tylers größtes Problem. Denn er hat ein seit 200 Jahren verschollenes Siedlerschiff gefunden. An Bord 1.000 Tote und ein schlafendes Mädchen: Aurora. Vielleicht hätte er sie besser nicht geweckt. Ein Krieg droht auszubrechen – und ausgerechnet sein Team soll das verhindern. Ouuups. Don’t panic!

Impressum

Deutsche Erstausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel »Aurora Rising. Aurora Cycle 1« bei Alfred A. Knopf, einem Imprint von Penguin Random House LLC, New York

Text copyright © 2019 by LaRoux Industries Pty Ltd. and Neverafter Pty Ltd.

 

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2021 Fischer Kinder- und Jugendbuch Verlag GmbH,

Hedderichstraße 114, D-60596 Frankfurt am Main

Covergestaltung nach einer Idee von Charlie Bowater

Coverabbildung: © Charlie Bowater

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-7336-5193-0

oder du immer noch suchst,

dann ist dieses Buch für dich.

Teil 1

Das Mädchen aus einer anderen Zeit

Tyler

Ich verpasse die Auslese.

Die Hadfield zerfällt allmählich in ihre Einzelteile. Schwarze Quantenblitze schmelzen die Schiffshülle zu Schlacke. Mein Raumanzug kreischt in siebzehn verschiedenen Alarmtönen, das Schloss an dieser verdammten Kryokapsel will einfach nicht aufgehen, und das ist der Gedanke, der mich beherrscht. Nicht etwa, dass ich im Bett hätte bleiben sollen, um ausgeruht in den Tag zu starten. Oder dass ich schon längst wieder in der Aurora Academy sein könnte, wenn ich den scheiß Notruf ignoriert hätte. Oder wie dämlich es ist, auf diese Weise zu sterben.

Weit gefehlt. Im Angesicht des Todes denkt Tyler Jones, Squad Leader erster Klasse, nur an eins.

Ich verpasse die verdammte Auslese.

Ich meine, wenn du dein Leben lang auf eine einzige Sache hinarbeitest, ist dir die wichtig. Schon klar. Aber die meisten rational denkenden Leute würden die Gefahr, in einem manövrierunfähig durch den interdimensionalen Raum treibenden Raumschiff vaporisiert zu werden, als ein kleines bisschen wichtiger einstufen als die Schule. Sag ich mal so.

Ich schaue zu dem Mädchen runter, das in der Kryokapsel schläft. Sie hat ziemlich kurze schwarze Haare, mit einer komischen weißen Strähne im Pony. Sommersprossen. Trägt einen grauen Overall. Ihr Gesicht hat diesen seligen Ausdruck, den man nur bei Babys und kryonisch Eingefrorenen sieht.

Ich frage mich, wie sie wohl heißt.

Ich frage mich, was sie sagen würde, wenn sie wüsste, dass ich ihretwegen gleich hopsgehe.

»Na, hoffentlich ist sie es wert.«

***

Ich springe mal ein Stück zurück.

Ungefähr vier Stunden, um genau zu sein. Ich weiß, eine Geschichte braucht einen spannenden Einstieg, aber ihr solltet schon wissen, was hier eigentlich abgeht, damit es euch nicht ganz egal ist, ob ich vaporisiert werde. Es wäre nämlich echt scheiße, wenn ich vaporisiert würde.

Also. Vier Stunden zuvor liege ich noch in meinem Zimmer im Wohnheim der Aurora Academy. Ich starre die Unterseite von Björkmans Matratze an und bete zum Schöpfer, dass unsere Ausbildungsoffiziere mit so was wie einem Schwerkraftausfall oder einem Probealarm um die Ecke kommen. In der Nacht vor der Auslese gönnen sie uns wahrscheinlich unseren Schlaf. Aber ich bete trotzdem, dass es anders kommt, weil:

  1. Björkman schnarcht gerade irre laut, was er sonst nie macht, und ich kann nicht schlafen.

  2. Ich wünsche mir so sehr, dass mein Dad mich morgen sehen könnte, und ich kann nicht schlafen.

  3. Es ist die Nacht vor der Auslese, und ICH. KANN. NICHT. SCHLAFEN.

Keine Ahnung, warum ich so aufgeregt bin. Ich sitze das doch mit einer Arschbacke ab. Ich habe jede Prüfung mit Auszeichnung bestanden. War in fast jedem Fach Klassenbester. Gehörte zum obersten ein Prozent aller Kadetten der Academy.

Jones, Tyler, Squad Leader erster Klasse.

Warum kann ich dann nicht schlafen?

Ich gebe mich mit einem Seufzer geschlagen, steige aus dem Bett und in meine Uniform, fahre mit der Hand durchs Haar. Und mit einem letzten Blick zu Björkman, den ich am liebsten killen oder wenigstens stummschalten würde, klatsche ich auf das Kontrollfeld der Tür, stapfe auf den Flur hinaus und schneide mit der sich schließenden Tür sein Geschnarche hinter mir ab.

Es ist spät: 02.17 auf der Stationsuhr. Die Beleuchtung ist runtergedimmt, um Nachtzeit zu simulieren, aber als ich den Flur entlangschlendere, springen die Leuchtstreifen im Boden an. Über mein Uniglass schicke ich meiner Schwester Scarlett eine Nachricht. Keine Antwort. Ich überlege, ob ich Cat anpingen soll, aber die schläft wahrscheinlich. Was ich auch tun sollte.

Ich spaziere an einem langen Plastahl-Fenster vorbei und betrachte den Aurora-Stern, der dort draußen lodert und den Fensterrahmen in einem blassen Gold strahlen lässt. In der alten terranischen Mythologie war Aurora die Göttin der Morgenröte, die den kommenden Tag und das Ende der Nacht verhieß. Irgendwer hat vor langer Zeit einen Stern nach ihr benannt, und dieser Stern gab der Akademie, die ihn heute umkreist, und damit auch der Legion, der ich mein Leben verschrieben habe, ihren Namen.

Seit fünf Jahren lebe ich hier. Ich wurde an meinem dreizehnten Geburtstag aufgenommen, zusammen mit meiner Zwillingsschwester.

Ich frage mich, ob ich das immer noch glaube.

Ich sollte schlafen.

Ich weiß nicht, wohin ich gehe.

Dabei weiß ich genau, wohin ich will.

Ich gehe immer weiter durch den Flur Richtung Andockbucht.

Spanne den Kiefer an.

Vergrabe die Fäuste in den Taschen.

***

Vier Stunden später hämmere ich mit eben diesen Fäusten gegen die Versiegelung der Kryokapsel.

Um mich herum befinden sich Tausende weitere solcher Kapseln, alle von einer weißen Eisschicht überzogen. Das Eis knackt unter meinen Schlägen, aber die Versiegelung hält stand. Das Programm, das ich auf meinem Uniglass laufen lasse, um das Funkschloss zu hacken, ist zu langsam.

Wenn ich nicht schleunigst hier rauskomme, bin ich tot.

Die nächste Stoßwelle trifft die Hadfield und rüttelt das ganze Schiff durch. Weil die Schwerkraft in dem Wrack ausgesetzt ist, kann ich nicht umfallen. Aber obwohl ich mich an der Kryokapsel festklammere, werde ich wie ein Kinderspielzeug hin und her geschleudert und krache mit meinem Helm gegen die benachbarte Kapsel, woraufhin sich ein neuer Alarm zu den siebzehn anderen gesellt, die mir schon in den Ohren gellen.

Achtung: Anzug nicht mehr intakt. H2O-Tank beschädigt.

Oh-oh …

Und dann spüre ich an meinem unteren Hinterkopf etwas Nasses. In meinem Helm. Ich verdrehe den Kopf, um das Problem zu orten, und die Flüssigkeit schwappt mir über den Nacken, von der Oberflächenspannung auf meine Haut gepresst. Mir wird klar, dass mein Trinkschlauch gerissen ist. Dass sich meine Wasservorräte in meinen Helm ergießen. Und dass sich, selbst wenn ich diesen Raumfaltensturm überleben sollte, mein Helm in ungefähr sieben Minuten mit Wasser gefüllt haben wird und ich wohl der erste Mensch sein werde, der im All ertrinkt.

Falls wir das hier überleben?

»Vergiss es«, murmele ich.

***

»Vergiss es«, sagt die Offizierin.

Dreieinhalb Stunden zuvor stehe ich im Flugsicherungszentrum der Aurora Academy. Die Flugdeckoffizierin, Lieutenant Lexington, ist nur zwei Jahre älter als ich. Auf der Gründungstagparty vor ein paar Monaten war sie so beduselt, dass sie mir gestanden hat, wie hübsch sie meine Grübchen findet. Seither lächle ich ihr so oft wie möglich zu.

Hey, man darf mit seinen Reizen nicht geizen.

Selbst zu dieser späten Stunde ist viel los an den Docks. Vom Zwischengeschoss aus sehe ich, wie ein schwerer Frachter aus dem Traskischen Sektor entladen wird. Das riesige Schiff hängt an der Flanke der Station, die Hülle sichtlich ramponiert von den Milliarden Kilometern, die es schon auf dem Buckel hat. Beladerdrohnen umsurren es in einem metallisch glänzenden Schwarm.

»Nur für eine Stunde, Lex«, bitte ich.

Second Lieutenant Lexington zieht eine Augenbraue hoch. »Meinten Sie nicht: ›Nur für eine Stunde, Ma’am‹, Kadett Jones?«

Ups. Übers Ziel hinausgeschossen.

»Jawohl, Ma’am.« Ich salutiere so zackig, wie ich nur kann. »Verzeihung, Ma’am.«

»Sollten Sie sich nicht eher ausruhen und hinlegen?«, fragt sie zweifelnd.

»Ich kann nicht schlafen, Ma’am.«

»Lampenfieber vor der Auslese?« Sie schüttelt den Kopf und ringt sich endlich zu einem Lächeln durch. »Sie haben die höchste Punktzahl von allen Alphas in Ihrem Jahrgang. Wovor sollten Sie Angst haben?«

»Ist nur Adrenalin.« Ich nicke zu den Phantoms rüber, die in Bucht 12 aufgereiht stehen. Die Aufklärer sind schnittig. Tränenförmig. Schwarz wie das Nichts da draußen. »Ich dachte, ich könnte die nervöse Energie vielleicht für eine kleine Flugübung in der Raumfalte nutzen.«

Ihr Lächeln erstirbt. »Negativ. Ohne einen Wingman dürfen Kadetten nicht in die Raumfalte, Jones.«

»Ich habe eine Fünf-Sterne-Empfehlung von meinem Flugtrainer. Und ab morgen bin ich Vollmitglied der Legion. Ich fliege auch nicht weiter als ein Viertel Parsec.«

Ich beuge mich vor. Drehe den Grübchencharme bis zum Anschlag auf.

»Ich würde Sie doch niemals belügen, Ma’am.«

Und langsam, ganz langsam wandern ihre Mundwinkel wieder in die Höhe.

Danke, Grübchen.

Vor mir, etwa fünftausend Kilometer vom Bug der Raumstation entfernt, ragt das Raumfaltentor auf. Ein riesenhaftes Hexagon. Seine Pylone blinken grün. Im Innern des Sechsecks erkenne ich ein schimmerndes, von nadelspitzen Lichtern durchlöchertes Feld.

In meinem Kopfhörer knackt eine Stimme.

»Phantom 151, hier ist die Aurora-Flugsicherung. Eintritt in die Raumfalte ist freigegeben, Ende.«

»Verstanden, Aurora.«

Ich zünde meine Triebwerke und werde von dem mächtigen Schub in den Beschleunigungssitz gepresst. Das automatische Leitsystem übernimmt, das Raumfaltentor gleißt heller als die Sonne. Und ich tauche völlig geräuschlos in einen unendlichen, farblosen Himmel ein.

Milliarden Sterne funkeln mir entgegen. Die Raumfalte klafft weit auf und verschluckt mich, und in diesem Moment höre ich weder das Dröhnen meiner Triebwerke noch das Piepen meines Bordcomputers. Die Gedanken an die Auslese und die Erinnerungen an meinen Dad sind wie weggeblasen.

Für einen klitzekleinen Moment ist die gesamte Milchstraße vollkommen still.

Und ich höre rein gar nichts.

***

Bis ich die Kryokapsel endlich aufgeschlossen kriege, hat der Wasserklumpen an meinem Hinterkopf meine Ohren erreicht und würgt die Alarmsignale meines Anzugs ab. Ich schüttele heftig den Kopf, aber in der Schwerelosigkeit wabert die Flüssigkeit nur über meine Haut nach vorn, ein großer Klecks, der sich auf meinem linken Auge sammelt und mich halb blind macht. Mit einem unterdrückten Fluch löse ich die Versiegelung der Kapsel und ziehe die Tür auf.

Das Farbspektrum in der Raumfalte ist monochrom – alles ist auf Schwarz- und Weißtöne reduziert. Als die Beleuchtung in der Kapsel zu einer anderen Graustufe wechselt, bin ich also nicht sicher, welche Farbe sie annimmt, bis …

Alarmstufe Rot. Stasis unterbrochen. Kapsel 7173 unbefugt geöffnet. Alarmstufe Rot.

Auf den Monitoren blinken Warnungen, sobald ich meine Hände in das dickflüssige Gel tauche. Ich stöhne auf, als die eisige Kälte durch meinen Anzug dringt. Ich habe keinen blassen Schimmer, was mit dem Mädchen passiert, wenn ich sie vorzeitig da raushole, aber wenn ich sie in diesem Raumfaltensturm zurücklasse, stirbt sie auf jeden Fall. Und ich auch, wenn ich jetzt nicht endlich die Biege mache.

Und ja, das wäre wirklich verdammt scheiße.

Das Gute ist: Die Hülle der Hadfield scheint schon vor Jahrzehnten leckgeschlagen zu sein. Somit dürfte es keine Atmosphäre mehr geben, die die letzte Wärme aus dem Körper des Mädchens ziehen könnte. Der Nachteil daran: Dann gibt es auch keine Atemluft für sie. Aber die Medikamente, mit denen sie vor dem Einfrieren vollgepumpt wurde, haben ihren Stoffwechsel wahrscheinlich sowieso so stark verlangsamt, dass sie ein paar Minuten ohne Sauerstoff überleben kann. Mit dem

Schwerelos hängt das Mädchen an ihren Infusionsleitungen über der Kapsel, immer noch umschlossen von dem eiskalten Kryogel. Durch die Hadfield geht wieder ein Ruck, und ich bin froh, dass ich nicht hören kann, was der Raumfaltensturm mit dem Rumpf anstellt. Neben mir sengt sich ein pechschwarzer Blitzstrahl durch die Wand. Das Wasser, das in meinen Helm läuft, kriecht mit jeder Sekunde näher an meinen Mund heran. Ich schaufle mehrere Handvoll von dem Kühlzeugs vom Gesicht des Mädchens und schleudere es durch die Kammer, wo es gegen andere Kryokapseln klatscht. Reihenweise Kapseln, alle mit diesem Gefriergel gefüllt, alle mit einer verschrumpelten Menschenleiche im Innern.

Sie sind alle tot. Tausende. Zehntausende.

Sämtliche Terraner auf diesem Raumschiff sind tot, bis auf sie.

Gerade als ein Blitz einen weiteren Teil des Rumpfs schmelzen lässt, flackert das holographische Display in meinem Helm. Es ist eine Nachricht vom Bordcomputer meiner Phantom.

Achtung: Raumfaltensturm gewinnt an Stärke. Empfehle sofortigen Abflug. Ich wiederhole: Empfehle sofortigen Abflug.

M-hm, danke für den Tipp.

Ich sollte das Mädchen hierlassen. Das würde mir niemand zum Vorwurf machen. Und die Galaxis, in der sie aufwachen wird? Beim Schöpfer, sie würde es mir wahrscheinlich danken, wenn ich sie stattdessen dem Sturm ausliefere. Aber wenn ich diese ganzen Leichen in den anderen Kapseln so sehe … all diese Leute, die sich vor so vielen Jahren von der Erde verabschiedet haben und mit der Verheißung eines neuen Horizonts eingeschlafen sind, nur um niemals mehr aufzuwachen … da

Geister gibt es auf diesem Schiff schon mehr als genug.

 

Mein Dad hat uns gern Geistergeschichten über die Raumfalte erzählt.

Mit diesen Schauermärchen sind wir großgeworden, meine Schwester und ich. Mein Vater blieb bis spät nachts bei uns sitzen und erzählte von den alten Zeiten, als die Menschheit ihre ersten wackeligen Schritte weg vom Planeten Terra wagte. Damals, als wir zum ersten Mal den Weltzwischenraum entdeckten, in dem das Universum anders zusammengefügt ist. Und weil wir Terraner ja so wahnsinnig kreativ sind, haben wir diesen Zwischenraum nach dem simplen, magischen Phänomen benannt, das wir darin erlebten.

Die Raumfalte.

Also. Ihr nehmt ein Blatt Papier. Jetzt stellt euch vor, dieses Blatt ist unsere gesamte Galaxis, die Milchstraße. Bisschen viel verlangt, aber vertraut mir. Denn hey, können diese Grübchen lügen?

Okay, und jetzt stellt euch vor, dass ihr euch auf einer Ecke von diesem Blatt befindet. Und die gegenüberliegende Ecke ist am gaaaanz anderen Ende der Galaxis. Selbst wenn ihr mit Lichtgeschwindigkeit unterwegs wärt, bräuchtet ihr einhunderttausend Jahre, um da hinzukommen.

Aber was passiert, wenn ihr das Blatt in der Mitte faltet? Dann liegen diese Ecken übereinander, stimmt’s? Aus einer eintausend Jahrhunderte langen Reise ist ein Spaziergang ans Ende der Straße geworden. Das Unmögliche ist auf einmal möglich.

So funktioniert die Raumfalte.

Die Sache ist nur: So was hat natürlich seinen Preis.

Dad hat uns echte Horrorstorys erzählt. Die Stürme, die aus dem Nichts angepeitscht kommen und riesige Weltraumregionen abschneiden. Die frühen Expeditionsschiffe, die einfach verschwanden.

Offenbar verwirrt der Aufenthalt in der Raumfalte den Verstand umso mehr, je älter man ist. Ist man über fünfundzwanzig Jahre alt, wird es einem nur noch empfohlen, wenn man sich vorher einfrieren lässt. Ich habe also sieben Jahre als Legionär, und danach werde ich das Cockpit für den Rest meines Lebens gegen einen Schreibtisch eintauschen.

Aber jetzt, beziehungsweise vor etwas über einer Stunde, sitze ich am Steuer meiner Phantom. Überquere binnen Minuten die weiten Gefilde zwischen den Sternen. Sehe zu, wie die Sonnen verschwimmen und der Raum dazwischen sich kräuselt und Entfernungen bedeutungslos werden. Und trotzdem kriecht allmählich dieses Gefühl in mir hoch. Der Atem streicht über meinen Nacken. Die Stimmen sind gerade noch außer Hörweite.

Ich bin lang genug in der Raumfalte gewesen.

Morgen ist die Auslese.

Ich sollte mich mal aufs Ohr hauen.

Schöpfer, was habe ich hier draußen überhaupt zu suchen?

Ich will gerade einen Kurs zurück zur Aurora Academy eingeben, als die Botschaft auf meinem Hauptbildschirm erscheint. Sich in kurzen Abständen wiederholt. Eine automatisierte Nachricht.

SOS.

Beim Anblick der drei blinkenden Buchstaben wird mir flau im Magen. Laut der Charta der Aurora Legion sind alle Schiffe verpflichtet, einem Notruf nachzugehen, aber mein Sensor ortet einen Raumfaltensturm von vier Millionen Kilometern Durchmesser in der Nähe des Notrufsenders.

Und dann übersetzt mein Computer den Transpondercode des Notrufs.

Fahrzeug: Terranisches Raumschiff der Archen-Klasse

Name: Hadfield

Die Hadfield-Katastrophe ist jedem ein Begriff. In der Anfangszeit der terranischen Expansion verschwand das ganze Schiff in der Raumfalte. Die Tragödie beendete das Zeitalter privatwirtschaftlicher Weltraumexpeditionen. Knapp zehntausend Kolonisten kamen dabei um.

Da leuchtet noch eine Computermeldung auf meinem Schirm auf.

Achtung: Biosignal empfangen. Überlebender an Bord.

Ich wiederhole: Überlebender an Bord.

»Schöpfer hilf«, flüstere ich.

***

»Schöpfer hilf!«, brülle ich.

Nur wenige Meter von meinem Kopf entfernt bricht ein weiterer Quantenblitz durch die Hülle der Hadfield. Weil die Atmosphäre fehlt und meine Ohren sowieso voller Wasser sind, kann ich nicht hören, wie das Metall verglüht. Aber mir dreht sich der Magen um, und das Wasser in meinem Helm schmeckt auf einmal nach Salz. Inzwischen bedeckt es auch meinen Mund – nur mein rechtes Auge und meine Nase sind noch frei.

Es hatte eine Weile gedauert, bis ich sie fand. Ich musste mich lange durch die lichtlosen Eingeweide der Hadfield hangeln, vorbei an Tausenden von Kryokapseln mit Tausenden von Leichen, während draußen der Sturm immer näherkam. Ich entdeckte keine Hinweise darauf, woran diese Leute gestorben waren oder warum ein Einziger von ihnen noch lebte. Und dann stieß ich endlich auf sie. Sie lag mit geschlossenen Augen zusammengerollt in ihrer Kapsel, als wäre sie gerade erst eingeschlafen. Wie Dornröschen.

Und sie schläft auch jetzt noch, obwohl die Erschütterungen mich so hart gegen die Wand schleudern, dass mir die Luft

Kann ich gerade gut nachempfinden.

Der Wasserklumpen klebt mir jetzt auf beiden Augen. Drückt von beiden Seiten gegen meine Nasenflügel. Blinzelnd halte ich das Mädchen fest und trete gegen das Schott. Wir sind beide schwerelos, aber durch die ständigen Erschütterungen und meine verschwommene Sicht ist es fast unmöglich, sich gezielt zu bewegen. Wir krachen in eine Traube von Kryokapseln, alle mit einer uralten Leiche im Innern.

Ich frage mich, wie viele dieser Leute sie kannte.

Wir prallen von der gegenüberliegenden Wand ab, ohne dass meine Finger Halt finden. Der Bauch dieses Schiffs ist ein einziges Labyrinth aus Kammern mit Kryokapseln. Aber Orientierung in der Schwerelosigkeit war eine meiner Paradedisziplinen. Ich weiß genau, wo wir hinmüssen. Ich kenne den Weg zurück in die Hangarbucht der Hadfield, wo meine Phantom wartet.

Doch da schwappt das Wasser über meine Nase.

Und ich kriege keine Luft mehr.

Klingt ziemlich übel, ich weiß …

Okay, es ist übel.

Aber wenn ich sowieso nicht mehr atmen kann, brauche ich meinen Sauerstoffvorrat auch nicht mehr. Also drehe ich mich in Richtung des Korridors, der aus dem Kryobereich

Ich drücke das Mädchen fest an meine Brust. Steuere uns mit meiner freien Hand, blinzele durch das Wasser, das meinen Helm mittlerweile fast vollständig füllt. Meine Lungen brennen. Blitze durchschneiden die Wand aus Titan, als wäre sie aus Butter. Das Schiff bebt, und wir prallen von Wand zu Wand, Konsole zu Konsole, während ich wie wild mit den Füßen trete, um uns irgendwie auf Kurs zu halten.

Raus.

Weg.

Jetzt sind wir in den Docks. Meine Phantom parkt am anderen Ende, ein dunkler Fleck in meiner Unterwassersicht. Vor den Toren der Bucht lauern gewaltige, wirbelnde Sturmwolken. Schwarze Blitze wölben sich über uns. Schwarze Punkte tanzen vor meinen Augen. Die ganze Galaxis verschwimmt. Ich bin fast taub. Fast blind. Ein einziger Gedanke drängt sich in mein Bewusstsein.

Wir sind immer noch zu weit vom Schiff entfernt.

Mindestens zweihundert Meter. In wenigen Sekunden wird mein Atemreflex einsetzen, ich werde mir die Lungen mit Wasser vollsaugen und kurz vor dem rettenden Hafen sterben.

Wir werden beide sterben.

Schöpfer, steh uns bei.

Blitze zucken. Meine Lungen kreischen. Mein Herz kreischt. Die gesamte Milchstraße kreischt. Ich schließe die Augen. Denke an meine Schwester. Bete für sie. Ein Schwindel packt mich. Und dann spüre ich es unter meiner Hand. Metall. Vertraut.

Ich öffne die Augen, und tatsächlich: Wir schweben unmittelbar neben meiner Phantom. Meine Finger berühren die Einstiegsluke. Das ist unmöglich. Das kann nicht s…

Halt dich nicht mit Fragen auf, Tyler.

Ich stemme die Luke auf, ziehe uns beide hinein und werfe sie hinter mir zu. Während sich die winzige Luftschleuse mit O2 füllt, reiße ich mir den Helm vom Kopf, schüttele das Wasser um mein Gesicht weg und schnappe mit letzter Kraft nach Luft. Vornübergekrümmt, rudernd, keuchend sauge ich in gierigen Atemzügen Sauerstoff in meine Lungen. Die schwarzen Punkte vor meinen Augen zerbersten. Die Hadfield zittert und ruckt, und die Phantom schwankt in den Andockhalterungen hin und her.

Komm in die Gänge, Tyler.

MACH SCHON, IDIOT.

Ich schiebe die Luftschleuse auf, hangele mich mit schmerzenden Lungen und tränenden Augen auf den Pilotensitz. Schlage auf die Steuerkonsole ein, aktiviere die Zünder, noch bevor die Koppelungen sich überhaupt gelöst haben, und düse aus dem Bauch der Hadfield, als hätte ich Feuer unterm Hintern.

Hinter uns tobt der Raumfaltensturm, alle meine Sensoren blinken im roten Bereich. Der Schub drückt mich in den Sitz, die Schwerkraft quetscht mir die Brust zusammen, als wir beschleunigen. Nach dem Sauerstoffmangel gibt mir das den letzten Rest.

Ich schaffe es gerade noch, mit zitternden Händen einen Notruf abzusetzen. Dann versinke ich. In das Weiß hinter meinen Augen. Die gleiche Farbe wie die Sterne, die da draußen im unendlichen Schwarz funkeln.

Nicht etwa, dass ich gerade jemandem das Leben gerettet habe, oder dass ich keine Ahnung habe, wie wir die letzten zweihundert Meter bis zur Luftschleuse der Phantom zurückgelegt haben, oder dass wir beide eigentlich mausetot sein müssten.

Ich denke daran, dass ich die Auslese verpassen werde.

Auri

Ich bin aus Beton. Mein Körper ist aus einem Felsblock gemeißelt, und ich kann keinen einzigen Muskel bewegen.

Und das ist das Einzige, was ich weiß. Dass ich mich nicht rühren kann.

Ich weiß nicht, wie ich heiße. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich weiß nicht, warum ich weder sehen noch hören, weder schmecken noch riechen noch irgendetwas spüren kann.

Aber dann … nehme ich etwas wahr. Es ist so, als würde man fallen und könnte nicht sagen, wo oben und wo unten ist. Oder als würde einen ein Wasserstrahl treffen, von dem man nicht sagen kann, ob er heiß oder kalt ist. Ich bin nicht sicher, ob ich höre, sehe oder fühle. Ich weiß nur, dass ich etwas spüre, was ich vorher nicht spüren konnte, und so warte ich ungeduldig darauf, was als Nächstes passiert.

»Bitte, Ma’am, wenn Sie mir mein Uniglass geben würden, könnte ich mich von hier aus zuschalten. Dann erwische ich vielleicht noch die letzten Runden der Auslese, und wenn es nur …«

Ich höre die Stimme eines Jungen, und ich verstehe die meisten Wörter, auch wenn ich keine Ahnung habe, wovon er spricht – aber in seinem Ton schwingt eine solche Verzweiflung mit, dass mein Puls prompt schneller schlägt.

»Sie müssen verstehen, wie wichtig das ist.«

***

Wir stehen an einem Fenster. Hinter der dicken Scheibe sind Schleierwolken oder Smog zu sehen. Ich beuge mich vor, um die Stirn an das Glas zu drücken, und als ich runterschaue, erkenne ich, wo ich bin. Tief unten leuchtet ein schmuddelig grüner Fleck. Der Central Park mit seinem braunen Flickenteppich, den Barackendächern und den kleinen Äckern, die von den Bewohnern angelegt wurden, und daneben das graubraune Wasser.

Wir sind in der West Eighty-Ninth Street in der Zentrale von Ad Astra Incorporated, der Firma, in der meine Eltern arbeiten. Der Start der Expedition Octavia III steht kurz bevor. Meine Eltern wollten, dass wir verstehen, warum sie mitfahren. Warum wir uns auf ein Jahr Internat und Ferien bei verschiedenen Freunden einstellen müssen. Das war ungefähr zwei Monate, bevor Mom erfuhr, dass sie von der Mission suspendiert wurde.

Bevor Dad ihr mitgeteilt hat, dass er ohne sie fährt.

Da beginnen vor meinen Augen die Bäume im Central Park zu wachsen. Sie schießen in die Höhe wie die Bohnenranke im Märchen. Binnen Sekunden sind sie so hoch wie die Wolkenkratzer ringsum. Mehrere Triebe springen auf unser Gebäude über und umranken es im Schnellvorlauf. Wie Schlangen ziehen sie ihren Würgegriff enger, bis der Putz an den Wänden zu bröckeln beginnt und feiner Staub von der Decke rieselt.

Blaue Flocken fallen wie Schnee vom Himmel.

Aber dieser Teil meiner Erinnerung ist nie passiert, und der Anblick ist schmerzhaft – auf eine Art und Weise unangenehm, die ich selbst nicht genau fassen kann. Ich schrecke zurück, schüttle die Erinnerung von mir ab, strampele wieder an die Oberfläche meines Bewusstseins.

Zurück ins Licht.

 

Nein, Moment. Ich bin Auri O’Malley. So ist es besser. Das bin ich.

Und ich habe definitiv einen Körper. Das ist gut. Das ist ein Fortschritt.

Mein Geschmack- und mein Geruchsinn sind zurück, und ich wünsche sie mir sofort wieder weg, denn holy cake, ich habe einen Geschmack im Mund, als wären zwei Viecher reingekrochen, hätten sich bis auf den Tod bekämpft und wären dann vermodert.

Jetzt höre ich eine Frauenstimme. Sie scheint etwas weiter weg zu sein. »Ihre Schwester wird bald hier sein. Wenn Sie bitte einfach warten würden.«

Und der Junge: »Scarlett kommt her? Schöpfer hilf, ist schon alles vorbei? Wie lange muss ich denn noch warten?«

 

Wie lange muss ich denn noch warten?

Ich bin in einem Videochat mit meinem Dad, und diese Frage geht mir andauernd im Kopf herum. Die Uplink-Verzögerung zerrt an meinen Nerven, denn das Übertragungssystem lässt mich jedes Mal zwei Minuten warten, bis meine Antwort ihn auf Octavia erreicht, und genau so lange dauert es, bis seine zurückkommt.

Aber Dad hat Patrice neben sich sitzen, und ich wüsste nicht, warum sie dabei sein sollte, wenn sie mir nicht höchstpersönlich die große Neuigkeit mitteilen wollte. Ich rechne fest damit, gleich von ihr zu hören, dass die Warterei, die mein Leben zwei Jahre lang beherrscht hat, sehr bald vorbei sein wird. Gleich werde ich erfahren, dass die viele Arbeit sich endlich auszahlt und ich für die dritte Mission nach Octavia eingeteilt bin.

Aber noch hat Patrice nichts gesagt, und Dad redet belangloses Zeug und grinst dabei, als hätte er den galaktischen Jackpot gewonnen. Sein Zelt ist weg – sie sitzen vor einer richtigen Wand, mit echtem Fenster und allem. Also geht es auf der Kolonie wohl tatsächlich voran. Auf Dads Schoß sitzt einer der Schimpansen des Octavia-Biologie-Programms, für das Dad arbeitet. Wenn meine Schwester und ich uns danebenbenehmen, bezeichnet er die Affen zum Spaß als seine Lieblingskinder.

»Meiner Adoptivfamilie geht es prima«, sagt er lachend und streichelt das Tier. »Aber ich freue mich darauf, wenigstens eins meiner Mädchen bei mir zu haben.«

»Also ist es bald so weit?«, platze ich raus.

Ich stöhne innerlich, lege den Kopf in den Nacken und stelle mich auf die nächsten vier Minuten Wartezeit bis zu seiner Antwort ein. Aber ich verspüre einen Stich, als ich meine Frage endlich bei ihnen ankommen sehe. Dad lächelt unbeirrt, doch Patrice wirkt … nervös? Besorgt?

»Es ist bald so weit, Jie-Lin«, verspricht mein Vater. »Aber … heute wollten wir dir etwas anderes sagen.«

… Wie, er hat doch nicht etwa an meinen Geburtstag gedacht?

Er lächelt immer noch, und er hebt seine Hand so hoch, dass ich sie auf dem Bildschirm sehen kann.

Mothercustard, er hält Patrices Hand.

»Patrice und ich haben in den letzten Monaten viel Zeit zusammen verbracht«, sagt er. »Und wir haben beschlossen, dass es Zeit wird, es etwas offizieller zu machen und ein gemeinsames Quartier zu beziehen. Wir werden also zu dritt sein, wenn du herkommst.« Er redet weiter, aber ich höre kaum noch hin. »Vielleicht könntest du Reismehl

Es dauert einen Moment, bis ich kapiere, dass er fertig ist und auf meine Antwort wartet. Ich starre die zwei an, wie sie Händchen halten. Dads Lächeln ist hoffnungsvoll, Patrices eher verkrampft. Ich denke an meine Mom und versuche zu verarbeiten, was das bedeutet.

»Das ist doch nicht dein Ernst«, sage ich schließlich. »Du willst, dass ich … feiere?«

Eine Diskussion mit vier Minuten Zeitverzögerung nach jeder Wortmeldung bringt nichts, also lasse ich meine Übertragung weiterlaufen. Rede mir einfach alles von der Seele, bevor er etwas entgegnen kann.

»Tut mir leid, Patrice, dass du das hören musst, aber Dad war ja leider nicht rücksichtsvoll genug, es mir unter vier Augen zu erzählen.« Ich richte meinen wütenden Blick auf meinen Vater und halte den Übertragungsknopf so fest gedrückt, dass mein Knöchel weiß hervortritt. »Erst mal danke für deine Glückwünsche zu meinem Geburtstag, Dad. Danke für die Gratulation zu meiner Titelverteidigung im All-States-Turnier. Danke, dass du daran gedacht hast, Callie vor ihrer Aufführung alles Gute zu wünschen. Sie hat übrigens hervorragend gespielt. Aber vor allem – danke dafür. Mom hat keine Fluggenehmigung für Octavia bekommen, also hast du sie einfach ersetzt? Ihr seid noch nicht mal geschieden!«

Ich will seine Antwort nicht abwarten. Ich will keine neuen Versionen von alten Ausreden oder Entschuldigungen hören. Mit einem Knopfdruck beende ich die Übertragung. Aber bevor ich mich abwenden kann, flackert das Standbild der beiden.

Ich sehe einen Lichtblitz.

Er ist so grell, dass die ganze Welt weiß zu gleißen beginnt. Und

Ich kann nichts sehen.

 

Ich kann sehen.

Ich liege auf dem Rücken, und ich kann die Decke sehen. Sie ist weiß, und Kabel schlängeln sich daran entlang, und irgendwo über mir ist ein Licht, das mir in den Augen weh tut. Wie in meinem Traum halte ich die Hände schützend vor mich und bin fast überrascht, dass ich meine Finger sehen kann.

Aber von den schrägen Träumen mal abgesehen weiß ich jetzt immerhin meinen Namen. Und ich erinnere mich an meine Familie. Ich war Teil des dritten Kolonistentransports auf den Planeten Octavia III. Fortschritt!

Vielleicht bin ich jetzt auf Octavia, und das gehört alles zum Auftauprozess?

Ich starre an die Decke, lasse die Augen zum Schutz vor dem Licht aber halb geschlossen. Ich spüre mehr Erinnerungen in mir aufkeimen, aber sie entfalten sich noch nicht weiter. Vielleicht sollte ich einfach in eine andere Richtung schauen, damit sie sich raustrauen. Und dann packe ich blitzschnell zu.

Also konzentriere ich mich auf etwas anderes und versuche, den Kopf zu drehen. Ich entscheide mich für die linke Seite, weil die Stimme des Jungen von dort kam, glaube ich zumindest. Ich fühle mich wie einer dieser Muskelmänner, die sich dabei filmen, wie sie eine komplette Beladerdrohne per Hand zu ziehen versuchen, denn im Kampf gegen die Trägheit muss ich jedes Atom in mir anstrengen. Das ist ein extrem komisches Gefühl – ein unermesslicher Kraftaufwand ohne jegliche körperliche Wahrnehmung.

Belohnt werde ich dafür mit dem Anblick einer Glaskabine,

Mein Gehirn spielt verrückt, weil es zu viele Informationen auf einmal zu verarbeiten hat.

Tatsache: Der Typ ist so was von heiß. Markante Kiefer, blonde Wuschelhaare, düster funkelnder Blick mit einer perfekten kleinen Narbe quer durch die rechte Braue – er sieht einfach verboten gut aus. Das nimmt schon mal einen Großteil meines Denkvermögens in Beschlag.

Tatsache: Er trägt kein T-Shirt. Dieser Fakt konkurriert mit dem ersten um den Spitzenplatz der wichtigsten Tatsachen und kommt meinen Interessen momentan sehr entgegen.

Was auch immer meine Interessen sind.

Wo auch immer ich hier bin.

Aber Moment, meine Damen, Herren und Diversen. Wir haben eine neue Anwärterin auf die Tatsache des Jahrhunderts. Alle anderen Tatsachen machen jetzt bitte Platz.

Tatsache: Obwohl das Mattglas alle reizvollen Details verschleiert, steht zweifelsfrei fest, dass der schöne Unbekannte auch keine Hose trägt.

Der Tag fängt auf jeden Fall gut an.

Er runzelt die Stirn, was die Narbe an der Braue perfekt in Szene setzt.

»Das dauert echt ewig«, sagt er.

 

»Das dauert echt ewig.«

Der Mann vor mir stöhnt schon wieder. Wir stehen zu Hunderten für die Einfrierprozedur an, und im ganzen Gebäude riecht es nach chemischen Putzmitteln. Ich habe ein Flattern im Bauch, aber nicht vor Nervosität, sondern aus Vorfreude. Das Training dafür hat Jahre

Gestern habe ich mich von meiner Mutter und meiner kleinen Schwester Callie verabschiedet, und das war bei weitem der schwerste Schritt. Seit der Sache mit Patrice habe ich nicht mehr mit Dad gesprochen, und ich habe keine Ahnung, was wir einander sagen werden, wenn wir uns wiedersehen. Patrice selbst hat es wohl ganz gut weggesteckt – sie hat mir ein paar Briefings geschickt, die ich lesen sollte, und blieb immer freundlich und professionell. Aber warum musste mein Vater sich ausgerechnet die Frau, die meine Betreuerin sein wird, zum Vögeln aussuchen?

Na vielen Dank auch, Dad.

Ich rücke bis an den Anfang der Warteschlange vor. Gleich bin ich mit Duschen dran, und ich werde mich so gründlich abschrubben wie noch nie, meinen dünnen grauen Overall überziehen und in die Kapsel treten. Wir werden betäubt, bevor die Sauerstoffschläuche und Magensonden gelegt werden.

Das Mädchen hinter mir ist ungefähr so alt wie ich und höllisch nervös. Ihr Blick zuckt hin und her, als würde er sofort abprallen, sobald er irgendwo landet.

»Hallo«, sage ich und probiere es mit einem Lächeln.

»Auch hallo«, erwidert sie mit zittriger Stimme.

»Ausbildung?«, tippe ich, um sie abzulenken.

»Meteorologie«, sagt sie mit einem etwas einfältigen Grinsen. »Ich bin ein Wetter-Nerd. Komme halt aus Florida. Da kriegen wir die ganze Palette ab.«

»Ich mache Erkundung und Kartographie«, sage ich. »Expeditionen ins Unbekannte, solche Sachen. Aber in der Basisstation werde ich auch oft sein. Wir könnten uns ja mal treffen.«

Sie neigt den Kopf zur Seite, als hätte ich etwas Seltsames gesagt, und die ganze Szene beginnt zu flimmern. Irgendwo flackert ein helles

»Eshvaren«, flüstert sie und starrt durch mich hindurch, als wäre ich gar nicht da.

»… Was?«

Der ungeduldige Mann, der vor uns in der Schlange steht, wiederholt das Wort flüsternd.

»E-E-Eshvaren.«

Ich fahre herum und sehe, dass auch sein rechtes Auge weiß geworden ist.

»Was bedeutet das?«

Aber keiner von beiden antwortet mir. Sie flüstern das Wort noch einmal, und es springt auf die anderen Wartenden über wie ein Waldbrand.

»Eshvaren.«

»Eshvaren.«

»Eshvaren.«

Mit sengendem Auge und zitternden Fingern streckt das Mädchen die Hand nach meinem Gesicht aus.

 

Ah, hallo, Tastsinn. Schön, dass du auch noch zu uns stößt. Und jetzt, wo du da bist, merke ich, dass ich an allen möglichen Stellen Schmerzen empfinde, die ich physiologisch bisher nicht für möglich gehalten habe.

Eine weitere Schmerzwelle erfasst mich, spült den letzten Rest von diesem unheimlichen Erinnerung-Wachtraum-Mischmasch weg und macht mir unmissverständlich klar, dass ich körperlich genauso im Eimer bin wie geistig. Ich kann nur

So ein Pech aber auch.

Die Sache mit der Hose kitzelt eine Frage in meinem Kopf wach, und ich gucke unter das leichte, silbrige Tuch, mit dem ich zugedeckt bin, was ich eigentlich anhabe. Nichts, wie sich rausstellt. Also gar nichts.

Oha.

Ich schaue wieder zu dem Jungen rüber, und im gleichen Moment dreht er sich zu mir um und macht große Augen, als er sieht, dass ich wach bin. Ich hole Luft und versuche zu sprechen, aber es kommt nur ein Röcheln heraus. Mein Hals fühlt sich an, als würde mir jemand die Stimmbänder einzeln rausziehen.

»Geht es dir gut?«, fragt er.

»Ist das hier Octavia?«, raspele ich.

Er schüttelt den Kopf, und seine blauen Augen begegnen meinen. »Wie heißt du?«

»Aurora«, bringe ich mühsam hervor. »Auri.«

»Tyler«, entgegnet er.

Ich sollte ihn fragen, wo ich bin. Ob wir auf der Hadfield sind und ich vorzeitig aufgetaut wurde, oder noch auf der Erde, weil die ganze Mission geplatzt ist. Aber in seinem Blick liegt etwas, das mich davor zurückschrecken lässt.

Es klopft dumpf, als er die Stirn gegen die Scheibe fallen lässt. Wie ich damals am Fenster in der Eighty-Ninth Street.

»Geht es dir gut?«, wispere ich.

»Ich hab sie verpasst«, sagt er nach einer Weile. »Die Auslese. Ich hab sie komplett verpasst.«

Ich habe keine Ahnung, was diese Auslese sein soll oder warum sie so wichtig ist. Aber ich frage trotzdem.

»Ist was dazwischengekommen?«

Er nickt und seufzt. »Deine Bergung.«

Bergung.

Das ist kein gutes Wort.

»Wer weiß, wen ich abgekriegt habe«, sagt er, und wir wissen beide, dass er das Thema wechselt. »Ich hätte mir vier der fünf besten Kandidaten aussuchen dürfen, und jetzt krieg ich nur noch die ab, die übrig geblieben sind. Die Ausgemusterten, die sonst keiner wollte. Und dabei hab ich mich nur an die Vorschri…«

»So schlimm ist es nun auch wieder nicht gekommen, Ty.«

Die samtig tiefe Stimme erreicht mich von irgendwo außerhalb meines Blickfelds. Ein Mädchen.

Tyler wirbelt herum, als wäre ich Schnee von gestern, und geht an die Frontseite seiner Kabine. »Scarlett.«

Ich lasse den Blick vorsichtig in ihre Richtung wandern – ich muss weiterhin planvoll und strategisch vorgehen, spontan macht mein Körper noch gar nichts mit – und nehme besagte Scarlett in Augenschein. Da stehen zwei Mädchen, beide in Uniformen von der gleichen blaugrauen Farbe wie die Hose, die Tyler irgendwie zugeflogen ist. Eine hat flammend rote Haare – eigentlich eher orange, tolle Tönung –, die zu einem asymmetrischen Bob frisiert sind und über markante

Das andere Mädchen hat ein schmales Gesicht und ein Tattoo von einem aufsteigenden Phönix auf dem Hals (autsch). Schwarzes Haar im Iro-Schnitt, mit Spikes oben und noch mehr Tattoos unter dem kurz geschorenen Flaum an den Seiten. Mir scheint, dass sie Grübchen hat und sehr breit lächeln kann, aber das ist nur eine Vermutung, weil sie gerade dreinschaut, als hätte jemand ihre Großmutter auf dem Gewissen.

»Cat?«, fragt Tyler sie. Seine Stimme ist leise, flehend.

»Ketchett wollte mich haben«, sagt Cat. »Und danach noch ein paar andere. Ich hab ihnen gesagt, dass ich schon einen Alpha habe, der es nur nicht zur Auslese geschafft hat.«

»Ach was, gesagt hast du es ihnen? Lebt Ketchett noch?«

»So halb«, sagt sie grinsend. »Wenn du demnächst mal in eine Kapelle gehst, könntest du vielleicht für seine Eier beten.«

Er atmet tief durch und legt seine Hand flach an das Glas, und sie legt ihre von der anderen Seite darauf.

Das Mädchen mit dem orangen Haar mustert sie. »Ich musste nicht ganz so stur bleiben«, sagt sie sarkastisch. »Aber ich konnte dich ja schlecht allein losziehen lassen. Du würdest da draußen keine drei Tage überleben, wenn du mich nicht hättest, um dich rauszuhauen, Bruderherz.«

Das Tattoo-Mädchen schiebt die Ärmel ihrer Uniform hoch. Darunter kommen noch mehr Tattoos zum Vorschein. »Apropos, kannst du uns mal verraten, warum du auf eigene Faust in die Raumfalte abgezischt bist? Hast wohl wieder mit deinem anderen Kopf gedacht?«

Häh?

Tyler hebt in einer »Was wollt ihr von mir?«-Geste die Hände, und die Mädchen schauen zu mir rüber und beäugen mich neugierig. Checken mich ab. Von oben bis unten.

»Ich mag ihre Frisur«, stellt Scarlett fest. Dann scheint ihr einzufallen, dass ich kein Gegenstand bin, und sie wiederholt etwas lauter und langsamer: »Ich mag deine Frisur.«

Das zweite Mädchen schnaubt. Sie wirkt weniger angetan. »Hast du ihr schon die schlechte Nachricht zu ihren Bibliotheksbüchern überbracht?«

»Cat!«, schnauzen die beiden anderen gleichzeitig.

Bevor sie weiterreden können, mischt sich eine Erwachsenenstimme ein. »Legionär Jones, Ihre Quarantäne ist aufgehoben, Sie dürfen gehen.«

Ty schaut zu mir, und unsere Blicke treffen sich. Er zögert.

Hast du ihr die schlechte Nachricht überbracht?

»Sie können morgen früh anrufen und fragen, wann ein Besuch möglich ist«, sagt die Stimme.

Er nickt widerstrebend und verlässt seine Box, als die Tür vor ihm aufgleitet. Mit einem letzten Blick zu mir geht das Trio aus dem Zimmer, und Ty verschwindet aus meiner Sicht- und Hörweite.

»Hey, habt ihr ein T-Shirt für mich?«, ist das Letzte, was ich von ihm höre.

Jetzt registriert mein Gehirn weitere Tatsachen, und während die Kälteschlaflethargie allmählich von mir abfällt, macht sich Unruhe in mir breit.