Patricia Koelle
Die eine, große Geschichte
Roman
FISCHER E-Books
Patricia Koelle ist eine Berliner Autorin mit Leidenschaft fürs Meer – und fürs Schreiben, in dem sie ihr immerwährendes Staunen über das Leben, die Menschen und unseren sagenhaften, unwahrscheinlichen Planeten zum Ausdruck bringt.
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Bisher war Busfahren sein Traum gewesen. Doch nun weiß Kalle, dass dieser Traum zu Ende ist und er einen neuen finden muss. Die anderen sagen, er hätte einen »Burnout«, doch Kalle weiß es besser. Er macht sich auf den Weg ans Meer, immer den Wolken nach, immer Richtung Norden, um Wörter zu finden für die eine, große Geschichte.
Patricia Koelle versteht es meisterhaft, mit schlichten Worten gewaltige Bilder zu malen. Mit Kalles Augen sehen wir die Schönheiten der Natur, wir blicken in die Wolken, riechen das Meer, spüren den Wind, schauen nachts in die Sterne und staunen über das Nordlicht. Seine Geschichte weckt die Sehnsucht nach Meer und macht Mut, dieser Sehnsucht zu folgen. Mit einer Sprache, die einlädt, den Blick für die vielen kleinen Dinge zu schärfen, die das Leben so liebenswert machen.
Erschienen bei FISCHER E-Books
Erstmals als E-Book erschienen im Ronald Henss Verlag, Saarbrücken 2012
© 2016 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: www.buerosued.de
Coverabbildungen: Getty Images/Tjarko Evenboer (Allee) und Archiv www.buerosued.de
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-490133-6
Für Irina Taurit weil Orion immer für uns leuchten wird
und für den Kalle in uns allen
Nichts Ungewöhnliches schlug eine Welle auf der Oberfläche des Tages, an dem Kalle Brennicke mit seinem Fahrzeug zum ersten Mal im Leben von der vorgeschriebenen Route der Buslinie 141 abwich.
An der viertletzten Haltestelle stieg wie an jedem späten Nachmittag die schmale Frau aus, die in ein Eckhaus schlüpfte. Es wirkte ebenso von Jahren gebeugt wie sie. Ihr dunkler Faltenrock und ihre wollenen Kniestrümpfe erschienen Kalle wie eine Uniform, die sie zusammenhielt und durch die Tage trug. Es hätte ihn beunruhigt, wenn diese Frau in einer Hose erschienen wäre. Heute trug sie zärtlich einen selbstgepflückten Strauß in der Hand. Mohnblumen, Rainfarn, Weizen- und Roggenähren. So etwas fand man jetzt wieder in der Stadt, um die Straßenbäume herum. Vogelfutter fiel von Fensterbrettern, wuchs mit dem Sommer. Die Stadt hatte kein Geld mehr, um Wildwuchs zu entfernen.
Trotz der sehnsüchtigen Behutsamkeit der alten Dame streifte sie die scharfkantig aufgefaltete Bustür mit einer reifen Ähre, die abbrach und zwischen die schlammigen Fußabdrücke fiel.
Es war kein Fahrgast mehr im Bus. Kalle starrte eine Weile auf die blonde Ähre, die so widersprüchlich perfekt aussah auf dem schmutzigen Blechboden, dann bückte er sich und hob sie vorsichtig auf. Er sah der Frau nach, die sich in ihre Haustür fädelte, dann lief sein Blick an der Fassade hoch. Alte Antennen noch auf dem Dach, Skelette einer anderen Zeit. Dazwischen fingen Satellitenschüsseln den Himmel ein. Schwere Wolken jagten über den First, der Wind ahnte schon den Herbst. Nach Norden, pfeilgerade nach Norden waren diese Wolken unterwegs. Kalle kannte die Himmelsrichtungen. Er hatte nie woanders gelebt als in dieser Stadt, er hatte nie etwas anderes werden wollen als Busfahrer und mit dem »Großen Gelben« Doppeldecker durch die vertrauten Straßen kreuzen. Auch wenn sein Vater, der ewige Oberschullehrer, das nie verstanden oder verziehen hatte.
Einen langen Moment sah Kalle diesen eiligen Wolken nach. Nie zuvor war ihm aufgefallen, wie zielstrebig Wolken reisen können, wenn der Wind stimmt. Dann kehrte er zurück auf seinen Sitz, drückte auf den Knopf, der die Türen zuschob, und gab Gas. Es war sechzehn Uhr. An der nächsten Haltestelle stand ein Pärchen. Kalle hielt nicht an. Der Mann schüttelte die Faust. Seine stummen Schimpfwörter prallten an der Heckscheibe ab. Auch an dem nächsten gelben Schild, an dem drei Frauen warteten, fuhr Kalle vorbei, und den Rest der Route kürzte er ab, indem er eine ganz andere Straße nahm, in der es gar keine Haltestellen gab. Die Ähre hatte etwas in ihm geweckt, das es ihm unmöglich machte, noch ein einziges Mal zu halten. Endlich erreichte er das Betriebsgelände, stellte den Bus ordnungsgemäß ab.
Er ging einmal von vorn bis hinten, wie immer, um nachzusehen, ob niemand auf einer Sitzbank eine Leiche oder eine Million vergessen hatte. Beides war schon vorgekommen, zum Glück nicht in seinem Dienst. Vorsichtshalber faltete er seine lange, dünne Gestalt neben jeder Bank einmal zusammen und spähte darunter, teils weil er ein gründlicher Mensch war, teils weil ihm diese Gymnastik nach dem Tag im Sitzen wohltat. Ein kleines Stück Bezug hing von der Ecke einer Bank herunter. Der Stoff hatte ein gewollt wildes Muster, auf dem man die allgegenwärtigen Schmierereien nicht sehen konnte. Sie waren darauf ebenso unsichtbar wie alle Spuren, die Kalles Fahrten Jahr für Jahr in dieser Stadt hinterlassen hatten. Kalle riss das Bruchstück vollends ab und legte es in seine Brieftasche.
»Schon Feierabend, Kalle?« Wer hier fünf Minuten zu früh war, fiel den Kollegen auf. Alles ging seinen geregelten Gang.
»Wenig los auf der Strecke«, gab Kalle zurück, wurstelte sich aus seiner Uniform und in seinen Lieblingspullover. »’n schönen Abend, Fritze.«
Er hängte die Uniform auf, suchte auf dem Tisch im Aufenthaltsraum nach Zettel und Stift, schrieb etwas. Er klopfte an die Tür des Chefs.
»Herein!«, rief eine vertraute Frauenstimme.
»Tach, Anneliese. Chef nicht mehr da?«, fragte Kalle die mütterliche Frau mit der Vorliebe für enge Jeanswesten.
»Schon lange weg. Wat kann ick für dir tun? Kaffee?« Sie zupfte ein Herbstblatt aus seinen kurzen silbergrauen Locken, dort wo die Geheimratsecken ausliefen.
»Gib ihm das morgen, bitte, ja?« Kalle schob ihr ein zusammengefaltetes Blatt, Fahrzeugpapiere und einen Schlüsselbund hin. »Tschüss, Anneliese!«
Weg war er. Stellte sich vor, wie Anneliese verwundert auf den Schlüssel starrte, überlegte, was das jetzt sollte. Der Zettel steckte nicht in einem Umschlag. Also würde sie ihn lesen.
Kurze Zeit später flog die Bürotür auf. »Kalle? Det kannste doch nich machen, Junge! Wieso …?«
Kalle war schon um die Ecke, halb auf der Straße. »Da hat der doch einfach jekündigt!«, hörte er Anneliese fassungslos in die Leere rufen, ahnte, wie sie mit dem Papier wedelte. Ihre hilflose Geste würde sich im Linoleum spiegeln, das auch von Kalles Schritten blankgewetzt war.
»Fristlos!«, sagte Anneliese anklagend zu ihrem Schatten.
»Hallo Jens«, grüßte Kalle den Kollegen, dessen Buslinie ihn täglich vor seiner Wohnung ausspuckte.
»Hallo, Kalle, alles klar?«
Kalle saß auf dem Sitz hinter Jens wie jeden Tag und sie hielten ein Schwätzchen über den Verkehr und das Pokalspiel.
»Bis morgen!«, sagte Jens, tippte an seine Mütze, als Kalle ausstieg.
Vor der Haustür legte Kalle den Kopf in den Nacken. Auch hier waren die Wolken über dem First schnurgerade auf dem Weg nach Norden.
Warum sollte er noch hinaufgehen? Im Kühlschrank lagen nur Pumpernickel und ein Stück Butter. Seine morgendliche Schrippe aß er immer in der Bäckerei Hanne, seine mittägliche Currywurst bei Wurst-Emil und die Feierabend-Pizza bei Mutlu. Manchmal kellnerte Kalle dort abends, wenn viel los war. Die Bewegung tat ihm gut nach dem langen Tag im Fahrersitz. Es lag eine gewisse Ästhetik darin, die vollen Teller unbeschadet und eilig durch die Schwingtüren zu jonglieren. Kalle fand das entspannend.
Mutlu war Türke, aber er wollte nie Döner verkaufen. Er wollte Pizza backen, so wie Kalle Bus fahren wollte, und er wurde der beste Pizzabäcker im Wedding. Kalle fragte sich, ob Mutlu jemals aufhören würde, Pizzen zu backen, ob er irgendwann doch Döner verkaufen würde oder Currywurst oder eines Tages einfach gehen und Gärtner werden.
Anneliese hatte inzwischen wahrscheinlich das gesamte Band des Anrufbeantworters vollgepredigt. Kalle drehte sich um, stieg hinunter in den U-Bahnhof.
Während der Zug ihn unter dem brausenden Wuseln der Stadt hindurchtrug, lehnte Kalle in einer Ecke und betrachtete die Ähre in seiner Hand. Im Neonlicht des Waggons ging ein sommerwarmes Leuchten von ihr aus. Susanna hatte ihren honigfarbenen Zopf so geflochten, Ährentechnik nannte sie das. Das war noch länger her als seine erste Busfahrt.
Später war er zehn bunte Jahre mit Kerstin verheiratet gewesen. Seit ihrem Tod vor vier Jahren hatte er sich noch immer nicht daran gewöhnt, dass zu Hause niemand mehr auf sein Klingeln öffnete.
Aber nicht einmal Kerstin hatte gewusst, dass er gelegentlich Gedichte schrieb, in den Pausen im Bus, an der Endstation. Manchmal auch Geschichten. Kalle sah so viel auf seinen Touren, dass sein Hirn überlief. Er ließ nur Dampf ab, sagte er sich. Dann hatte er im Radio von einem Wettbewerb gehört, in einer Frauenzeitschrift. Aus Spaß hatte er ein Gedicht eingeschickt und einen Römertopf gewonnen, den er Kerstin zu Ostern schenkte. Das Gedicht wurde gedruckt und später eine Geschichte von einem Penner und einem Punker, die sich auf einer Busfahrt angefreundet hatten. Kerstin hatte sie in der Zeitung gelesen und ihm gezeigt. »Hier, lies mal, da kommt ein Busfahrer drin vor!«
Er hatte ihr nicht gesagt, dass er der Bruno Bernhard war, der das geschrieben hatte. Seine Worte waren sein Geheimnis, sein Schatz, den er unbemerkt in der Großstadt aufstöberte. Bruno Bernhard, der Klang hatte ihm einfach gefallen, grundlos. So hatte er diesen Namen als Pseudonym in das Formular der Redaktion eingetragen. Kerstin hätte es nicht für sich behalten können und der Gang über den Flur im Betrieb wäre zum Spießrutenlauf geworden. Anneliese wäre begeistert gewesen und hätte unabsichtlich dafür gesorgt, dass der Spott der Kollegen nie versiegte.
Zufrieden war er nicht mit dem, was er in dem alten Haushaltsbuch seines Vaters zusammenschusterte. Die zweite Hälfte des abgegriffenen grünen Notizbuchs war noch frei gewesen, und er füllte Seite um Seite mit literarischen Versuchen, gleich nach dem letzten Eintrag des alten Hubert Brennicke von Socken für zwei Mark fünfzig und einer Zigarre für etwas mehr. Das dunkle Gefühl trieb Kalle um, dass es EINE, große Geschichte gab: so wenig perfekt wie seine schmutzige, großartige, geschundene Stadt, aber eben richtig, voll der Farben, die wie ein Herzschlag pulsten, der dichten Gerüche, des aufbrandenden, verzweifelten Lachens, des trotzigen Lebens um ihn herum. Nicht nur die Gesichter der Menschen, die in den vielen Jahren an ihm vorbei durch seinen Bus gegangen waren: alles, einfach alles müsste in dieser Geschichte vorkommen, scharfgezeichnet und doch versöhnlich, mit heiterem Ernst und liebevollem Ärger, bodenlos wahr und zärtlich. Es war die Geschichte, die unruhig durch seine Adern floss, in seiner Schläfe pochte, seinen Magen knurren ließ und seine Füße hungrig machte auf Ferne und Nähe zugleich. Die Geschichte, die Farben hinter die geschlossenen Lider zauberte, die Sehnsucht auf seine Haut brannte und nach Lindenblüten und Benzin duftete, die nach Asche, Kartoffeln und Currywurst schmeckte.
Man bräuchte die richtigen Wörter für diese Geschichte, voll stummer, gnadenloser Musik, und sie müssten sich nahtlos ineinanderfügen zu einer sinnvollen, klaren Form, ein sattes Ganzes ergeben, genau wie Susannas Zopf und die Körner in der Ähre, die in seiner Handfläche so leicht wog.
Doch er hatte keine Zeit mehr, auf die Wörter zu warten. Genau heute, um fünfzehn Uhr achtundfünfzig hatte er gewusst, dass er nicht mehr warten konnte, bis sie ihm begegneten. Er würde sie in der Stadt nicht erkennen unter all den anderen. Sie war erstickend eng geworden, zum Platzen voll, dröhnend laut. Die Wörter verschwanden in einem immer schneller werdenden Strudel, der Kalle gleich mit verschlingen würde. Ab heute würde er den Wörtern entgegengehen, sie suchen, überall, nur nicht mehr hier, wo ihn alles bedrängte, wo sie sich versteckten, wo er sich zu winzig fühlte für sie.
Die Ähre kitzelte seine Haut. Er fühlte sich lebendig wie seit damals nicht mehr. Vielleicht würde er auf der Suche nach den Wörtern Susanna wiederfinden, Susanna mit dem langen Zopf – aber er wusste nicht einmal mehr ihren Nachnamen.
Drei Gründe sind Grund genug, um sich auf einen Weg zu machen, dachte er.
Die Wörter für die eine, große Geschichte suchen.
Den Anfang eines neuen Traumes entdecken, der auf den vom Busfahrer folgen und füllen konnte, was von seinem Leben blieb.
Und noch einmal das längst verlorene Gefühl von damals wiederfinden, als er, achtzehnjährig, mit Susanna auf der Wiese am Teufelsberg gesessen hatte.
Am zentralen Busbahnhof kaufte er sich Zahnbürste, Seife und andere Kleinigkeiten, Wäsche und Schlafanzug, Äpfel und Brot, ein neues grünes Notizbuch und eine Fahrkarte für den ersten Bus, der wie die Wolken Richtung Norden über Land fuhr. Morgen früh um 7 Uhr dreißig. Warnemünde. Warum nicht? Mündung. Ein Ende, ein Anfang. Passte. Oder sollte er die Warnung beachten, die auch in dem Namen steckte?
Er aß schweigsam eine Currywurst an einer Bude und ging früh schlafen in einer schlichten Pension, deren Zimmer so neutral eingerichtet waren, dass er sich angenehm anonym fühlte. Sollten Anneliese, der Chef oder die Kollegen mit vorwurfsvollem Zeigefinger in einem Albtraum bei ihm hereinschauen wollen, würden sie ihn hier kaum finden. Es war nicht seine Absicht gewesen zu verschwinden. Er wollte nur woanders hin. Doch als ihm klarwurde, dass niemand wusste, wo er war, machte ihm diese Tatsache solchen Spaß, dass er bar bezahlte und mit »Bruno Bernhard« unterschrieb, als müsse er Spuren verwischen. Nur seine Nachbarin rief er an, um ihr zu sagen, dass er einige Tage in dringender Angelegenheit fort sein würde, und sie zu bitten, ob sie bei Bedarf den Briefkasten leeren und vielleicht einmal die Topfpflanzen gießen könne.
Mit dem Geld auf seinem Konto würde er einige Zeit klarkommen, so sparsam wie er in den letzten Jahren gelebt hatte. Dann war da der Erlös aus dem Verkauf des von seinem Vater geerbten Oldtimers. Er hatte das Geld nie gebraucht. Den Wagen hatte er an einen Kenner abgegeben, der ihn zu schätzen wusste. Kalle hatte kein schlechtes Gewissen deswegen. Was sollte er damit, er fuhr ja sowieso den ganzen Tag.
Er schlief tatsächlich traumlos, bequatschte die Pensionswirtin, ihm seine nagelneue Thermoskanne mit Tee zu füllen – endlich würden die Kollegen ihn nicht mehr auslachen, weil er Tee statt Kaffee trank –, und saß pünktlich im Bus, der ihn seltsam weich durch die Landschaft trug. Er kam sich ohne seine Uniform in einem Bus zuerst unvollständig vor. Das ständige Stoppen an den Haltestellen fehlte ihm, das Trampeln der Fahrgäste auf dem Oberdeck, auch das sirenengetupfte Brummen, Quietschen und Hupen des Stadtverkehrs. Hier draußen verschlang das Fahrzeug so zielstrebig die Kilometer wie die Wolken von gestern, die heute ähnlich unterwegs waren, nur nicht mehr so eilig. Mit dem Fahrstil des Kollegen war er nicht immer einverstanden. Erst ein Druck im Fuß ließ Kalle merken, dass er die ganze Zeit abwechselnd auf ein eingebildetes Gaspedal und die Bremse trat. Er legte den Fuß hoch, auf eine Strebe vor ihm, entspannte sich, vergaß die Zeit, die hinter ihm auf der Autobahn liegenblieb.
Die Felder waren abgeerntet. Braune Zeilen zogen sich durch blonde Stoppeln. Nur am Straßenrand beugten sich vergessene Ähren in den Fahrtwind. Rainfarn setzte gelbe Doppelpunkte dazwischen. Kalle dachte an die alte Dame. Heute würde Holger den Bus fahren, Holger, der immer einsprang, wenn einer fehlte. Die Dame würde es wohl nicht bemerken, so gebückt, wie sie ging.
Der Himmel wirkte nach drei Stunden unvermittelt anders, höher, heller, durchsichtiger. Leichter. So als reichten die Ränder nicht mehr ganz bis zur Erde. Kalle musste über sich selbst schmunzeln.
»Das Meer ist schon ganz in der Nähe«, sagte ein Mann neben ihm, in rotem Anorak und weißem Bart. – Wie ein Weihnachtsmann, dachte Kalle. – »Sie sehen es am Himmel. Man sieht es immer am Himmel.«
Der Gedanke an den Weihnachtsmann war es nicht, der eine Aufregung wie früher an Heiligabend in Kalles Bauch kribbeln und seine Hände fester um die Thermoskanne greifen ließ. Es war der Gedanke an das Meer. Er glaubte es sich fast selbst nicht, aber er war nie dort gewesen. In seiner frühen Kindheit, als seine Mutter noch lebte, fuhren sie in den Sommerferien zu den Großeltern in den Harz. Nachdem sich der letzte Weg seiner Mutter mit dem eines betrunkenen Abiturienten auf einem Motorrad gekreuzt hatte, waren sie nicht mehr verreist, der Vater saß lieber über seinen Büchern, und Kalle kickte im Kiez mit den Nachbarskindern. Kerstin hatte ihn später stets zu ihrer Tante in die Heide gelockt. Sie liebte die Heide, es war billig, und gegen Heidehonig und Tante Linas Heidschnuckenbraten hatte Kalle nichts einzuwenden. Über das Meer hatte er nicht nachgedacht. Manche seiner Kollegen sparten auf einen Urlaub in Thailand. Wenn sie wiederkamen, erzählten sie vom Markt, vom leckeren Essen und preiswerten Sternehotels, von hübschen Mädchen und goldenen Buddhas. Vom Meer redeten sie nicht. Kalle fiel das jetzt erst auf. Warum nicht? Sah der Himmel dort nicht so hell und geträumt aus?
Kalle zog sein Notizbuch aus der Tasche. »Leichter Himmel«, schrieb er. Die ersten Wörter für seine Geschichte, die große Geschichte, die in seinem Puls klopfte und gerade jetzt bewirkte, dass er sich ebenso merkwürdig gewichtslos fühlte, wie der Himmel aussah.
Dann hielt der Bus, und Kalle stieg aus und ließ sich mit der Menge der anderen Passagiere treiben. Er sah Häuser, erst normale, dann kleine, merkwürdige, wie Spielzeug standen sie da, aneinandergereiht. Als er Kind war, gab es solche Häuser als Zugabe in den Packungen der Kondensmilch, die sein Vater im Kaffee mochte. Schnörkelige Giebel und bunte Fassaden mit Bärten aus Geranien. Sie standen an einem Fluss, auf dem Boote schaukelten. Kalle fand sich auf einer Promenade wieder, die zwischen der Reihe Spielzeughäuser und dem Strom entlangführte. Er sah Geschäfte und Cafés in den winzigen Häusern, kaum zu glauben, dass sie dort hineinpassten.
Die Wolken, die es so eilig gehabt hatten, nach Norden zu kommen, hatten sich hier versammelt. Es nieselte, und trotzdem war der Himmel hell. Die meisten Menschen flüchteten vor den feinen silbernen Tropfen in die Läden. Kalle spürte die Feuchtigkeit durch seine Strickjacke nach ihm tasten, aber er beachtete sie nicht. Er dachte an die Wolken von gestern, folgte ein paar unter Regenschirmen versteckten Gestalten den schnurgeraden Weg entlang.
Dann lag das Meer vor ihm.
Der Himmel berührte tatsächlich an den Rändern nicht mehr die Erde. Er schwebte auf einem Ring aus Licht. Horizont, Kalle, das ist der Horizont, mahnte er sich. Auch wenn er nie am Meer gewesen war, gehört hatte er einiges, da kam man nicht drum herum als Sohn eines Pädagogen, der auch nach dem Zähneputzen und vor dem Frühstück Lehrer war.
Der Ring aus Licht war unten aprikosenfarben, darauf lag schmales Grün, und dann kam Blau bis zum Rand der tiefhängenden Wolken. Aber nicht nur ein Blau. Kalle senkte den Blick vor diesem gewaltigen Chor aus Blau und schrieb das Wort in sein Notizbuch. »Blau!« Er würde dann schon wissen, was er gemeint hatte. Das Ausrufezeichen würde seine Erinnerung bewachen. Blau gehörte auf jeden Fall in die eine, große Geschichte, die er in diesem Moment ganz um sich herum spürte. Das klang nicht nach viel, aber es war ein neues, großes Blau, das nicht das Geringste mit dem Blau der Trikots von seinem Verein Hertha BSC zu tun hatte oder Annelieses engen Jeanswesten.
Er war froh über das vertraute Wolkengrau, das einen Deckel auf das Blau legte und dessen Regen den Staub der zurückgelassenen Stadt zusammen mit dem kleinen Erschrecken von seinem Gesicht wischte.
Erst zaghaft, dann mutiger lief er die Mole bis zum Ende. Niemand außer ihm war mehr hier, die anderen Touristen waren umgekehrt oder gleich zwischen Cappuccino und Torte in den Cafés hängengeblieben.
Am Ende stand ein Leuchtturm, grün, und in der Ferne entdeckte er einen zweiten, roten. Zwillingswächter an einem Tor zur Welt, zur Ferne, zum Blau. Dazwischen fuhren Schiffe, riesige Fähren, kleine Segelschiffe, ein Motorboot der Polizei auf Schaumkronen. Kalle lehnte sich an den Leuchtturm, ihm war schwindelig von dieser bewegten Weite. Sie löschte für den Augenblick die Straßen der Stadt, die Menschenmengen, den Benzingeruch, alles Vertraute aus ihm und den Boden unter seinen Füßen.
Er vergaß die Zeit; hier war sie überflüssig. Als er müde wurde, setzte er sich auf den äußersten der Felsen, die um das Ende der Mole aufgeschüttet waren, um die Gewalt der Wellen zu brechen.
Ein weißes, klobiges Schiff fuhr aus dem Hafen, so dicht an der Mole und an Kalle vorbei, dass er es fast hätte berühren können. Menschen lehnten an der Reling, manche sahen nach vorn, andere zurück, einige winkten. Kalles Blick traf einen anderen, einen aus grauen Augen unter entschiedenen Brauen. Dazu gehörte ein Lächeln, dessen Mundwinkel sich leicht nach unten bogen und das dadurch umso heller wirkte. Der Blick einer Frau mit schulterlangen dunklen Haaren, in denen der Fahrtwind eine Extraschleife drehte, einer zierlichen Frau in taubenblauer Jacke und weißen Hosen. Sie gehörte nicht zu denen, die winkten. Sie warf ihren Blick wie ein Tau über die Armlänge Meer, und er machte sich mit einem doppelten Knoten in Kalles Erinnerung fest.
Das Schiff nahm Fahrt auf, entglitt diesem Kalles ungewöhnlichsten Tag. Kalle suchte nach einem Wort für diesen Augen-Blick, nach einem Wort, das in sein Notizbuch passen würde. Er war sich sicher, ohne dieses Wort wäre die eine, große Geschichte unmöglich.
Stundenlang blieb er sitzen an diesem Rand des Landes, von dem aus es überallhin ging. Für eine Weile war ihm, als könnte er sich einfach auflösen in der durchsichtigen Weite. Bis ihn das Knurren in seinem Magen an sich selbst erinnerte. Etwas mühsam stand er auf, seine Beine waren steif geworden, seine Finger klamm.
»Alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte eine Frau besorgt.
»Alles bestens, danke!« Kalle tippte an seine Mütze. Seine Stimme kam ihm eingerostet vor, als wäre er lange fort gewesen.
Langsam ging er die Mole entlang zurück in Richtung der kleinen Häuser, der anderen Menschen. Einige davon standen Schlange an einem Kutter, der im Strom lag. Eine hölzerne Brücke führte zu ihm. »Krabben-Udo«, stand oben auf dem Kahn. Kalle erkannte, dass es eine Art Currywurstbude war, nur dass hier Backfisch, Matjes und Krabbenbrötchen verkauft wurden. Er stellte sich mit an, setzte sich dann auf eine Mauer und teilte sein Krabbenbrötchen mit einer zutraulichen Möwe, die ihm besser gefiel als die verfetteten grauen Tauben in Berlin. Die Krabben waren eine erfrischende Abwechslung von der Currywurst. Sie schmeckten nach Salz und Sehnsucht wie die Luft draußen am Leuchtturm, von der er nicht hatte genug bekommen können.
»Der Geschmack von Krabben«, notierte er in seinem Heft.
Dann war ihm nach Tee. Er schlenderte mit den Touristen die Promenade entlang, musterte die Cafés, bis ihm eines gefiel. Jetzt war ihm ausgelassen zumute, wie früher in den Sommerferien. Ein Junge wieder, vor dem ganze Wochen der Freiheit lagen, in denen er tun und lassen konnte, was er wollte, sofern er seinen Vater nicht störte. Kalle atmete tief ein und pfiff ein Liedchen, um seine freudige Aufregung zu bändigen. Er entschied sich für einen winzigen freien Tisch in einem Café mit blau gestreiften Markisen und einem Möwenmuster auf den Stuhlkissen.
»Was darf es sein, bitte?« Etwas in dem halb mütterlichen, halb aufreizenden Lächeln der Wirtin erinnerte ihn an Anneliese.
»Ein Kännchen Assam, bitte.«
»Kommt. Einen Moment bitte, ich bringe Ihnen sofort Ihre Omeletts!« Der zweite Satz war an ein Paar am Nachbartisch gerichtet, das wild gestikulierte. Auch andere Gäste schnippten ungeduldig mit dem Finger, bemerkte Kalle.
»Probleme?«, fragte er.
»Mein Kellner ist krank. Und jetzt auf einmal dieser Ansturm. Gestern war hier nix los und nun das. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht!« Hektisch lief sie ins Haus.
Kalle folgte ihr gelassen. »Nun mal ganz ruhig«, sagte er, nahm ihr die beiden Teller mit den Omeletts aus der Hand. »Ich weiß ja, wer die bekommt.«
Schwungvoll jonglierte er durch die schmale Tür, zog dabei instinktiv den Kopf ein und hatte mit den drei steilen Stufen kein Problem.
»Guten Appetit, die Herrschaften! Verzeihen Sie die Verzögerung, aber Sie werden schmecken, dass das Warten sich gelohnt hat!« Beim Rückweg prägte er sich die Nummern der Tische ein. Viele waren es ja nicht.
Die Wirtin stand mit offenem Mund an der Durchreiche zur Küche. »Sind Sie denn Kellner?«
»Gelegentlich«, sagte Kalle fröhlich, griff nach zweimal Matjes mit Kartoffelsalat. »Ich bin der Kalle. Welcher Tisch bekommt die?«
»Sieben.« Erleichtert überließ sie ihm den Fisch. »Ich bin Monika.«
Das Tragen, Laufen, Servieren, der Austausch von Höflichkeiten holte ihn auf den Boden zurück. Genau das hatte er gebraucht.
Am Spätnachmittag wurde es ruhiger.
»Jetzt setz dich und trink deinen Tee. Ich muss deinen Lohn ausrechnen. Danke für die Hilfe, du hast uns gerettet!« Monika wischte sich theatralisch über die Stirn.
»Hat mir Spaß gemacht. Ich brauche keinen Lohn.«
»Aber ich muss mich doch revanchieren.« Monika blickte bekümmert. Dann hellte sich ihre Miene auf. »Ich weiß. Wenn du später noch einmal vorbeikommst, serviere ich dir ein anständiges Abendessen.«
»Wenn es so schmeckt, wie die Teller die ganze Zeit geduftet haben, sag ich nicht nein.« Kalle strahlte sie an.
»Wo wohnst du? Machst du Urlaub? Wo kommst du her?« Jetzt, da sie zu Atem gekommen war, wurde sie so neugierig wie Anneliese.
»Urlaub … ja. Ein spontaner Entschluss.«
»Spontan, auweia. Glaub man nicht, dass du hier einfach so ein Zimmer bekommst. Hier ist alles ausgebucht, wie immer. Ich sag dir was.« Eifrig beugte sie sich vor. »Wenn du mir morgen noch einmal aushilfst, kannst du im Zimmer von meinem Sohn übernachten. Der ist gerade ausgezogen. Will studieren, in Bremen.«
So hatte er also einen Job und eine Bleibe. Einfach so. Aber bleiben wollte er nicht, diesmal nicht. Nur diesen einen Tag, zum Durchatmen. Auch Monika zuliebe, die das Lächeln von Anneliese trug. Ein Lächeln aus seinem alten Leben.
Pfeifend schlenderte Kalle an den Schaufenstern vorbei. Die meisten Läden waren so klein, dass sie ihre Ware draußen auf der Promenade anboten. Er stieß gegen einen Ständer mit Rucksäcken, richtete ihn hastig wieder gerade, hielt inne. Das wäre es doch! Viel praktischer als seine alte Schultertasche.
Als er wieder aus dem Laden kam, besaß er nicht nur einen geräumigen Rucksack, sondern auch eine Regenjacke, eine Schirmmütze und Sportschuhe. Er fühlte sich neu. In ihm war wie ein Pfirsichkern noch immer Kalle, der Busfahrer, aber er war über seine Doppeldecker hinausgewachsen, fühlte sich größer, weiter, frei. Er wusste nicht mehr über seine Zukunft, als dass er heute am Meer in einem Spielzeughaus schlafen und morgen in dem winzigen Café Teller tragen würde. Alles, was darüber hinausging, war offen. Alles war möglich. Der Gedanke an graue Augen, ein helles Lächeln mit herabgezogenen Mundwinkeln und wirre dunkle Haare im Wind fuhr durch seine Gedanken wie ein Schiff mit gebauschten Segeln.
Blaue Dämmerung flutete die Promenade. An Schiffsmasten und in Fenstern gingen Lichter an. Vertraute Klänge drangen an Kalles Ohr.
»My Bonnie is over the ocean …«, sang eine angenehme Stimme dazu.
Kalle blieb stehen, musterte den jungen Drehorgelspieler mit dem Halstuch und der Schiebermütze, das alte Instrument auf dem hochrädrigen Karren. »Ein Leierkastenmann. Ich dachte, die gibt es nur auf dem Ku’damm«, sagte er, mehr zu sich selbst.
»Ich bin ja Berliner«, sagte der junge Mann fröhlich. »Sie auch?«
»Jawoll. Kalle, der Busfahrer.«
»Haste dir verfahren, wa?«
Kalle musste lachen. »Nee, war Absicht. Ich bin richtig hier.«
Ein Mädchen tauchte hinter dem Drehorgelspieler auf, legte einen Arm um seine Schultern. »Orje auch. Der ist auch richtig hier. Ganz richtig.«
Kalle starrte auf ihren langen honigblonden Zopf. Ährentechnik. »Susanna«, sagte er unwillkürlich. Der Name entstieg immer wieder leicht und schnell den Tiefen seiner Gedanken wie die Luftblasen vorhin an der Mole dem unsichtbaren Meeresboden. Er fand in seiner Erinnerung kein Gesicht mehr dazu, nur dieses Gefühl. Ein Gefühl wie an einem Junimorgen, an dem Amseln sangen, es nach reifen Erdbeeren duftete und alles möglich war, weil alles erst begann.
»Susanna, kein Problem«, sagte Orje, drehte kurz an seinem Instrument und dann mit Schwung an der Kurbel. Eine neue Melodie erklang, auch die war Kalle bekannt. »Oh Susanna, oh don’t you cry for me, I’ve come from Alabama with my banjo on my knee …«, sang Orje, und das Mädchen stimmte ein.
Bruchstücke des Liedes folgten Kalle bis zu Monikas Stube.
»Dein Hirsch ist gerade fertig«, empfing sie ihn, »setz dich!«
Der Hirsch, unwirklich zart und würzig, verschlug Kalle glatt die Sprache.
»Da staunste«, sagte Monika stolz. »Der ist vom Darß. Aufgewachsen zwischen Meer und Bodden. So einen Geschmack findest du auf der ganzen Welt nicht. Es gibt weitgereiste Kapitäne, die kommen extra deswegen.«
Dieser ihm bislang unbekannte Saum seines Landes war voller Überraschungen. Das Hirscharoma verweilte wohlig auf seiner Zunge, noch als Kalle zum gedämpften Meeresrauschen, das etwas von der einen, großen Geschichte flüsterte, in den Schlaf fiel.
Möwenschreie zogen ihn aus einem pastellfarbenen Traum in einen sonnigen Morgen. Die Wolken waren weitergereist oder hatten sich über dem Meer aufgelöst. Er trank Monikas Tee vor dem Haus und sah sich an den Stockrosen wach, die dicht an der Wand Spalier standen, in einem unbekümmerten aufrechten Durcheinander von Rosa, Weinrot, Gelb und Violett. Er fragte sich, was an ihnen so besonders war, dass sie seine Aufmerksamkeit dermaßen anzogen, und kam zu dem Schluss, dass er nie etwas gesehen hatte, das so sehr genau dahin gehörte, wo es sich befand. In Berlin war alles einfach irgendwo, das Leben mischte sich, wie es eben geschah: Hier wurde ein Straßenbaum gepflanzt, weil er billig und widerstandsfähig war, dort wurde eine öffentliche Toilette gebaut, weil es ein Gesetz dafür gab, und woanders ein Haus, weil sich eine Lücke fand. Die Stockrosen an Monikas Hauswand aber waren an dem Platz, an den sie gehörten, an dem sie sein konnten, was sie waren, und mit ihrer Umgebung ein Ganzes bildeten.
»Ich möchte einmal an einem Ort wohnen, an dem ich Stockrosen an die Wand pflanzen kann«, machte sich Kalle eine Notiz, diesmal nicht in sein Heft, sondern in seine Erinnerung. Er pflückte einige reife Samen, von jeder Farbe, wickelte sie in eine leere Kaugummihülle und verstaute sie in seiner Brieftasche.
An diesem Tag trug er Teller hin und her, wenn das Restaurant voll war, und verbrachte die ruhigeren Zeiten am Ende der Mole beim grünen Leuchtturm. Er wusste mit absoluter Sicherheit, dass dies für immer einer seiner Lieblingsplätze sein würde: Anker und Ausrufezeichen, ein Fixpunkt in seinem Leben. Ein Punkt, von dem aus alles möglich war. Die blaue Weite stand ihm offen. Ihm war, als hätte sich die Mauer, die schon vor über zwanzig Jahren Berlin freigegeben hatte, heute erst auch um ihn gelöst.
Am Abend brach ein erneuter hungriger Ansturm von Touristen über sie herein, so dass Kalle kaum anders konnte, als noch eine Nacht zu bleiben. Beim Frühstück setzte sich Monika zu ihm und den Stockrosen. »Der Kellner kommt heute wieder«, sagte sie. »Ich weiß nicht, was ich ohne dich gemacht hätte. Was wirst du jetzt tun?«
Kalle überlegte. »Ich weiß es nicht.« Er fand diese Tatsache erst komisch, dann wunderbar. Er wusste nur, dass er sich von dem allgegenwärtigen Blau und dem schwerelosen Himmel noch nicht trennen mochte. Warum auch. »Ich werde weiter die Küste entlangbummeln«, beschloss er.
»Wie gesagt, es ist eigentlich alles ausgebucht«, gab Monika zu bedenken. »Höchstens auf den Campingplätzen könntest du Glück haben. Nicht mit einem Wohnwagen, aber mit einem Zelt. Eine Zeitlang war schlechtes Wetter, da sind viele abgereist. Da fände sich sicher hier und da ein Plätzchen.«
»Ein Zelt!« Kalle starrte sie an. Eine Erinnerung aus seiner Jugendzeit blitzte auf. Bei den Großeltern im Harz, da war er mit den Nachbarskindern einmal zelten gewesen. Eine taufeuchte Wiese, dann ein Lagerfeuer. Unheimliches Rascheln in der Nacht und eine Stimme, die Gespenstergeschichten erzählte. Eine eigene kleine Welt unter einer Plane, geborgen und abenteuerlich zugleich.
»Ein Zelt«, wiederholte Kalle, schmeckte dem Wort nach und wusste, dass dies, obwohl er es soeben noch nicht einmal geahnt hatte, genau das war, was er jetzt wollte. Ein Zelt – wie das Haus einer Schnecke, immer dabei, unabhängig von Hotels. Er hatte die Schnecken seiner Kindheitssommer immer beneidet. In Berlin waren die Schnecken nackt und wehrlos inmitten des Gewühls. Im Harz gab es Weinbergschnecken mit einem großen, stabilen Gehäuse, und wenn ihnen etwas zu viel wurde, zogen sie sich zurück. Eine Woche lang war Kalle mit einer befreundet gewesen. Sie wohnte am Fuß des alten Apfelbaums. Er taufte sie Amanda und erzählte ihr seine Sorgen.