Kai Meyer

Die Krone der Sterne

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Kai Meyer

Kai Meyer, geboren 1969, ist einer der wichtigsten deutschen Phantastik-Autoren. Er hat über fünfzig Romane veröffentlicht, Übersetzungen erscheinen in dreißig Sprachen. Seine Geschichten wurden als Film, Hörspiel und Graphic Novel adaptiert und mit Preisen im In- und Ausland ausgezeichnet.

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Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2017 by Kai Meyer

 

Für die deutsche Erstausgabe:

© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

© der Illustrationen 2017 Jens Maria Weber

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München

Covergestaltung: Guter Punkt, München, unter Verwendung von Illustrationen von Jens Maria Weber

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-403726-4

In Erinnerung an

 

Leigh Brackett (19151978)

Edmond Hamilton (19041977)

und die Besatzung der

Planet Stories (19391955)

1

Sie trage die Sterne in den Augen, hatte einmal jemand gesagt. Iniza spürte den Sog des Universums, seit sie zum ersten Mal hinauf in die Nacht geblickt hatte. Für sie war der Himmel keine Grenze, sondern ein Tor. Sie hatte den Tag kaum erwarten können, an dem es ihr endlich offen stand.

Doch dann war nichts so gekommen, wie sie es sich vorgestellt hatte. Paladine in blutroten Rüstungen hatten sie die Rampe einer Raumbarke hinaufgeführt. Lange bevor ihre Heimatwelt im Plasmastrom der Triebwerke verblasst war, hatte Iniza gewusst, dass sie an Bord kein Gast, sondern eine Gefangene war.

Man behandelte sie wie eine kostbare Fracht, las ihr die Wünsche von den Lippen ab – Baroness hier, Baroness da –, aber keine Stunde nach dem Start wünschte sie sich zurück in den Palast von Koryantum, von dessen Türmen aus sie schon als Kind das All in seiner ganzen Pracht bewundert hatte.

Hier im Schiff sah sie keine Sterne, nur graue Wände aus Stahl, und so bat sie am zweiten Tag der Reise, dass man sie zu einem Fenster bringe, zu einer der gewölbten Panoramascheiben auf dem Oberdeck der Barke.

Die Hexe Setembra sandte ihr zwei Paladine, bewaffnet mit Blastern und Klingen, die sie aus ihrer Kabine führten und dorthin begleiteten, wo die Gestirne hundertmal heller strahlten als in den klarsten Nächten daheim auf Koryantum.

Stumm vor Ehrfurcht, blickte Iniza ins All hinaus und vergaß beinahe, warum sie wirklich darum gebeten hatte, das Oberdeck aufzusuchen. Dass dies alles Teil des Plans war.

Dort draußen loderten die Feuerschwärme der Galaxis, die Sternenflut des äußeren Spiralarms, quarzweiß und rot wie Rubine, smaragdgrün und aquamarin. Sie erkannte den Kerkes-Nebel, wabernd jenseits der Aschenen Welten, und er erinnerte sie an Erzählungen von Schlachtfeldern auf fernen Monden und halbverglühten Wracks auf vergessenen Umlaufbahnen. Sie sah das Sternbild der Eisenfaust mit den gefallenen Königreichen der Taragantum-Drift, wo die Flotten des Ordens allen Widerstand aus dem All gebrannt hatten. Und dann, als die Barke ihren Kurs korrigierte, füllten die Minenwelten der Marken ihr Blickfeld, die äußere Grenzregion des Reiches, ein Gürtel aus Gewalt und Gesetzlosigkeit, in dem einzig das Geschäft regierte – mit Schürfrechten, Sklaven und dem Schicksal ganzer Kolonien.

Und doch war es die Schönheit des Universums, die Iniza den Atem verschlug, nicht seine Schrecken, ganz gleich, was die Menschen im Schein all dieser Sonnen getan und erlitten hatten. Sie kannte die Geschichte des Reiches und seine Fundamente in der frühen Hegemonie, und sie wusste alles über die Tyrannei des Maschinenherrschers und seinen Sturz durch die Hexen des Kamastraka-Ordens. Aber wenn sie durch diese Scheibe blickte, hinaus auf ein Firmament aus Millionen Sternen, dann sah sie nichts als die maßlose Pracht des Kosmos.

»Schon mal davon geträumt, etwas völlig Verrücktes zu tun?«, fragte sie den Paladin zu ihrer Rechten.

Der Soldat rührte sich nicht, und falls sich sein Gesichtsausdruck unter der roten Helmmaske änderte, blieb das sein Geheimnis. Seine Augen lagen hinter Facettenlinsen, die seinen Blickwinkel um viele Grad erweiterten. Iniza war nicht einmal sicher, ob ihr Bewacher ein Mann war, denn der rote Brustpanzer gab keinen Hinweis auf sein Geschlecht.

»Ich meine«, fuhr sie fort, »etwas, das keiner für möglich hält. Etwas vollkommen Irrwitziges. Auf Kentras Sonnenwinden segeln, zum Beispiel. Oder nachts am Strand der Lavameere von Xusia tanzen.« Sie wandte sich wieder dem Fenster zu und betrachtete das Spiegelbild der Paladine in der Scheibe. »Nicht gerade barfuß.«

Der zweite Soldat, der links von ihr stand, drehte kaum merklich den Kopf in ihre Richtung.

»Du kennst das, oder?«, fragte sie ihn. »Einfach mal anders sein zu wollen als alle anderen.« Ihr war bewusst, dass sie mit jemandem sprach, der jeden Anspruch auf Individualität aufgegeben hatte, als er ein Leben als Paladin gewählt hatte. Er war einer von Millionen, die die rote Rüstung aus Panzerplast trugen, und mit ihren Helmmasken sah einer aus wie der andere. »Mehr sein zu wollen als der ganze Rest«, sagte sie unbeirrt. »Weil man Dinge tut, an die sonst niemand denkt. Und wenn doch, dann traut sie einem keiner zu.«

Er wandte den Kopf noch einen Fingerbreit weiter in ihre Richtung. Mit den Facettenlinsen hatte er sie vermutlich längst vollständig im Blick.

Bevor die Paladine sie abgeholt hatten, hatte sie ihr langes dunkles Haar gebürstet und ein schwarzes Kleid ausgewählt, tailliert, aber nicht eng genug, um zu verraten, dass sie darunter eine Hose trug. Sie hoffte, dass die beiden nichts über die Mode der Baronien wussten, ansonsten hätten sie wohl erkannt, dass die Stiefel unter dem Saum ein schlimmer Fauxpas waren.

»Da draußen sind Milliarden Sonnensysteme, Milliarden Möglichkeiten. Und so viele Träume.« Sie senkte ihre Stimme ein wenig, so als spräche sie nur zu dem linken Soldaten. »Träumt ihr denn niemals unter euren Helmen?«

Der andere sagte: »Wenn Sie hier fertig sind, Baroness, dann begleiten wir Sie zurück zu Ihrer Kabine.«

Sie seufzte. »Du warst bestimmt schon als Kind ein Spielverderber, oder?«

»Baroness«, entgegnete er ruhig, »wir haben Befehl, auf Sie achtzugeben. Provokationen werden daran nichts ändern.«

Es fiel ihr nicht leicht, sich vom Panorama der Galaxis zu lösen, während sie in gespielter Empörung zwei Schritte zurücktrat. Die Panzerplastschalen der Rüstungen scharrten aneinander, als sich die Soldaten zu ihr umwandten. Zu spät entdeckten beide den Stunner, den sie unter dem Kleid hervorgezogen hatte. Die Waffe war winzig, aber äußerst wirkungsvoll. Glanis hatte sie ihr nach dem Start zugesteckt, kurz bevor man Iniza von ihm und dem Rest ihrer Leibgarde getrennt hatte. Seitdem hatte sie Angst um ihn.

Ihr neuer Lieblingspaladin, der linke, war flinker als sein Kamerad, aber der Energiestrahl des Stunners war schneller. Sie feuerte zweimal. Das sollte ausreichen, um die Soldaten für ein paar Minuten auszuschalten – dachte sie. Doch dann stöhnte der linke Paladin am Boden und griff mit stockenden Bewegungen nach seinem Blaster. Er hatte die schwere Waffe verloren, als er zusammengebrochen war, und er würde sie erst auf Betäubung umstellen müssen, ehe er sie auf die kostbare Gefangene richtete. Ebenso gut hätte er sie bitten können, ein wenig abzuwarten, bis er mit allem so weit war.

Glanis hatte sie gewarnt, dass die Rüstungen einen Großteil des Stunnerstrahls abfangen würden. Iniza machte einen Schritt auf den Paladin zu und trat ihm mit aller Kraft gegen den Helm. Dann noch einmal, um sicherzugehen. Als er sich nicht mehr rührte, bückte sie sich und schob die Mündung unter den Helmrand. Sie schoss aus nächster Nähe an seinem Hals hinauf zum Ohr, was ihn womöglich sein Trommelfell kostete. Dann tat sie dasselbe bei dem reglosen zweiten Mann. Ihn hatte sie ohnehin nicht leiden können.

Ganz kurz hielt sie inne und atmete tief durch. Glanis und sie hatten das hier hundertmal durchgesprochen und waren gemeinsam die Gänge eines uralten Wracks im Trümmermoor abgelaufen, um sich jeden Korridor, jeden Lüftungsschacht einer Raumbarke einzuprägen. Diesen Schiffstyp kannte sie in- und auswendig.

Sie hoffte, dass der Zeitplan noch galt. Und dass Glanis und seinen sechs Männern nichts zugestoßen war. Er war mehr als nur der Hauptmann ihrer Leibgarde, und sie fragte sich, ob die Hexe Setembra davon wusste. Zu Hause auf Koryantum hatte niemand etwas geahnt, deshalb standen die Chancen gut, dass auch die Informanten des Ordens keine Kenntnis davon besaßen.

Als Iniza sich aufrichtete, schob sich draußen im All ein gigantischer Umriss vor das Sternenmeer der Marken. Eine Lähmung befiel sie, die nichts mit der Waffe in ihrer Hand zu tun hatte.

»Schwanz der Krone!«, flüsterte Iniza. Ein alberner Fluch, zu altmodisch für eine junge Frau, aber sie hing daran wie an einem abgeliebten Stofftier. Zu Hause im Palast gab es ein Replikat der Krone der Gottkaiserin – jede Baronie hatte vor vielen Generationen eines als Geschenk erhalten –, und Iniza hatte es früher oft bestaunt. Die Krone besaß tatsächlich einen Schweif, denn sie war aus der stählernen Wirbelsäule des Maschinenherrschers geschmiedet worden. Auf der Thronwelt Tiamande lag sie wie gewickelt um Hals und Schultern der Gottkaiserin.

Jenseits des Panoramafensters verdunkelte ein zerklüfteter Umriss die Glutnebel und Sternbilder: Die Raumkathedrale des Hexenordens glich auf den ersten Blick einem Berg, an die dreißig Kilometer hoch und sechzig breit. Die Raumbarke drehte langsam bei, um Kurs auf einen der Hangars der Kathedrale zu nehmen, und so geriet allmählich ein schlammfarbener Planet ins Sichtfeld des Fensters, in kosmischen Maßstäben kaum einen Steinwurf entfernt. Die Kathedrale hing darüber wie eine Spinne auf dem Kokon ihres Geleges.

Das gigantische Flaggschiff des Ordens war annähernd pyramidenförmig, an der Basis breit, nach oben hin schmaler. Hoch über dem Labyrinth aus Aufbauten thronte ein majestätisches Mädchengesicht – das der Gottkaiserin. Vom Kinn bis zur Stirn maß es drei Kilometer. Die Augen starrten blicklos ins All hinaus, der Gesichtsausdruck war ernst und verschlossen. Wann genau diese Antlitze auf den Kathedralen angebracht worden waren, wusste in den Baronien niemand mehr, aber es musste viele Jahrhunderte her sein. Falls die Gottkaiserin noch heute so anmutig aussah, war sie wohl wirklich alterslos und unsterblich, ganz so, wie es der Orden behauptete.

Die aufsteigenden Flanken der Kathedrale waren mit einem Wald aus stählernen Statuen bedeckt, manche mehrere Kilometer hoch. Muskulöse Leiber in Heldenposen, die meisten nackt oder in Rüstungen, stehend, sitzend, liegend, Gestalten aus den Myriaden Mythen des Reiches. Es gab keine freien Flächen auf der Oberseite der Kathedrale, überall thronten die Kolosse, der Rumpf war darunter verschwunden.

Die Schiffe, die als Basen der Kathedralen dienten, waren uralt. Vor tausend Jahren hatte der Orden der Kamastraka-Hexen den Maschinenherrscher bezwungen, und seither schmückten sie die erbeuteten Raumfestungen mit diesen Kunstwerken, prunkvollen Zeugnissen ihres Größenwahns. Da die Kathedralen nur außerhalb der Atmosphäre operierten, konnte die Schwerkraft den Standbildern nichts anhaben. Hundertschaften von Stahlkünstlern, Statikern und Zwangsarbeitern waren allzeit mit der Instandhaltung beschäftigt. Selbst wenn die Kathedralen in den Hyperraum wechselten, um die unvorstellbaren Entfernungen des Ordensreiches zu bewältigen, schwärmten die Reparaturkolonnen im Irrgarten der eisernen Canyons umher, besserten aus, korrigierten oder errichteten neue Werke auf den alten. So standen kleinere Figuren auf den Schultern der großen, und weitere befanden sich auf den ihren.

Weder zu Zeiten der Hegemonie noch unter der Herrschaft der Maschinen hatte es vergleichbare Maßlosigkeit gegeben. Niemand außerhalb des Ordens wusste, wie viele dieser Kathedralen existierten, die Schätzungen schwankten zwischen zwanzig und zweihundert. Sie allein konnten aus eigener Kraft den Hyperraum durchqueren und schienen daher überall zugleich zu sein. In den Marken war mindestens ein halbes Dutzend stationiert, damit die mächtige Minengilde niemals vergaß, dass sie ihre Geschäfte nur der Duldung der Hexen verdankte.

Jene Kathedrale aber, die vor Inizas Augen über der Schürferwelt Nurdenmark schwebte, gehörte nicht zur Militärpräsenz des Ordens in dieser Region. Sie stammte von Tiamande selbst, der Thronwelt der Gottkaiserin. Das monströse Schiff hatte das gesamte Reich durchquert und verharrte nun zwischen den äußeren Welten.

Jenseits davon, vor dem Abgrund des intergalaktischen Leerraumes, hing eine Ansammlung abgelegener Sonnen mit ihrer Handvoll bewohnter Welten – die Äußeren Baronien. Koryantum war einer der einsamen Planeten, die diese Gestirne umkreisten, weit abseits des Ordensreiches und seit Menschengedenken beherrscht von Inizas Familie, dem Haus Talantis.

Dabei war die Unabhängigkeit der Baronien nur eine Illusion. Die Kathedrale mochte respektvollen Abstand wahren, während sie auf Inizas Ankunft wartete, doch das änderte nichts an ihrer Drohgebärde. Alle fünf Standardjahre wurden junge Frauen aus den Baronien zu Bräuten der Gottkaiserin erkoren und nach Tiamande gebracht. Niemand wusste, was mit ihnen geschah, denn keiner in ihrer Heimat sah sie jemals wieder. Manchmal waren es drei oder vier, selten nur eine wie in diesem Jahr. Einzig Iniza hatte die erzwungene Prüfung der Hexen bestanden, und nun brachte die Barke sie zur Kathedrale, in der sie die Weiterreise an den fernen Hof der Gottkaiserin antreten sollte.

Falls Iniza an Bord der Ordensfestung ging, war ihr Schicksal besiegelt. Deshalb hatten Glanis und sie ihre Flucht so gründlich geplant, wie es aus der Ferne eben möglich gewesen war. Beiden war schmerzlich bewusst gewesen, dass es mehr Glück als Verstand erforderte, den Plan in die Tat umzusetzen.

Iniza löste sich aus der Starre, die sie beim Anblick der Kathedrale befallen hatte. Mit einer einzigen Bewegung riss sie das Kleid an der präparierten Naht auf und schleuderte es beiseite. Darunter trug sie eine hautenge Hose aus schwarzem Wabenelast, darüber einen dunklen Pullover, dessen Rollkragen sie nun bis zum Kinn heraufzog. Die Nächte auf Nurdenmark seien kalt, hieß es in den Archiven. Falls sie und Glanis’ Garde es in einem der Beiboote hinunter auf den Planeten schafften, wäre es eine bittere Ironie des Schicksals, wenn sie dort erfroren.

Sie nahm das Schwert eines Paladins an sich und ließ die beiden Männer vor der Panoramascheibe liegen. Keine Zeit, sie in ein Versteck zu zerren. Jemand mochte die Schüsse des Stunners gehört haben, und womöglich war bereits ein ganzer Trupp auf dem Weg hierher.

Sie benötigte nur einen Augenblick, um sich auf dem Oberdeck zu orientieren. Als sie nach links in einen Korridor bog, hörte sie den harten Stiefelschlag weiterer Paladine.

Nach wenigen Schritten tauchte in der rechten Wand ein Lüftungsgitter auf. Dahinter führte ein enger Schacht auf die höchste Technikebene, eine Art Dachboden der Barke, auf dem weite Teile ihrer antiken Steuerungsmechanismen saßen. Wie nahezu alle Schiffe im Reich war auch dieses hier über tausend Jahre alt, ein rostiges Relikt der Hegemonie. Die Hexen untersagten den Bau neuer Maschinen unter Androhung drakonischer Strafen bis hin zum Weltenbrand. Die Unterdrückung technischen Fortschritts war eines ihrer höchsten Prinzipien. Deshalb waren Barken wie diese so veraltet wie die Gesetze des Ordens, der sie befehligte.

Iniza setzte das Schwert unter dem Rand des Lüftungsgitters an, und bald gaben die morschen Nieten nach. Behände zog sie sich in die Öffnung, ließ die Klinge zurück und seufzte erleichtert beim Anblick der Kabelbäume, die rundum nach oben verliefen. In dem Wrack, das sie im Trümmermoor erforscht hatten, war der senkrechte Schacht völlig leer gewesen, geplündert bis auf das letzte Stück Kupfer, aber hier konnte sie ohne große Mühe an den Kabeln nach oben klettern. Sie musste nur darauf achten, keine Bruchstellen und blank liegenden Drähte zu berühren.

Bald erreichte sie die obere Ebene und zwängte sich zwischen zwei Rohren hindurch. Das Technikdeck war niedriger als die übrigen Level, Kabelschlaufen hingen von der Decke. Iniza erspähte eine Spezies schillernder Asseln, die sich nur voneinander und von den Isolierungen ernährten. Und gern wohl auch von ihr, befürchtete sie, als einige der wuselnden Tiere die Fühler nach ihr ausstreckten.

Eigentlich hatte Glanis ihr hier entgegenkommen wollen, aber sie konnte ihn nirgends zwischen den Rohren und Leitungen entdecken.

Lautes Scharren alarmierte sie. Als sie zurück in den Schacht blickte, fand sie ihre Befürchtungen bestätigt. Ein Paladin hangelte sich geschickt herauf, er musste ihr durch das offene Gitter gefolgt sein. Iniza legte den Stunner an, drückte ab und sah zu, wie der Soldat mit betäubten Gliedern abstürzte. Scheppernd streifte er die Schachtwand, riss funkensprühende Kabel aus ihren Verankerungen und verschwand hinter dem rauchverschmorten Kunststoff. Die Paladine hatten Befehl, sie zu schonen – sie war jetzt Eigentum der Gottkaiserin –, aber auch Inizas Immunität hatte Grenzen.

Hastig glitt sie zurück und huschte in die Dunkelheit. Glanis hatte sie hier erwarten wollen, während seine Männer eines der Beiboote kaperten.

Die Soldaten waren Angehörige ihrer persönlichen Leibgarde; ihr Vater, Baron Seffren, hatte den Trupp für sie zusammengestellt. Bis auf Glanis waren sie alle Rekruten, denn niemand hatte Zweifel daran gehabt, dass die Hexen sie auf dem Weg nach Tiamande beseitigen würden. Eine Braut der Gottkaiserin benötigte am Ziel ihrer Reise keine eigene Garde, und doch hätte es ein schlechtes Licht auf den Baron geworfen, wenn er seiner einzigen Tochter keine Leibwächter zur Seite gestellt hätte. So hatte er die Männer nach nur zwei Kriterien ausgewählt: Sie waren jung und gehörten zu den schwächsten ihres Jahrgangs, waren allesamt entbehrlich.

Glanis bildete die Ausnahme – er war der einzige Freiwillige des Trupps und ein erfahrener Hauptmann. Vor einer Weile war er beim Baron in Ungnade gefallen, das hatte ihn zum idealen Anführer des todgeweihten Trupps gemacht.

»Glanis?«

Nur die Asseln antworteten mit dem leisen Rascheln ihrer Panzer. Instinktiv berührte Iniza den einzigen Ring an ihrer rechten Hand. Die Oberfläche war grob behauen, als hätte der Kunstschmied seine Arbeit nicht vollendet. Glanis hatte ihn ihr kurz vor dem Start angesteckt. Er selbst trug ein nahezu identisches Exemplar.

Man hatte Iniza und ihre Garde früher als erwartet voneinander getrennt. Das war ein Affront, aber wer hätte ihn ahnden sollen? Glanis und sie hatten diese Möglichkeit vor der Abreise in Erwägung gezogen. »Ich werde tun, was ich kann, um dich zu befreien«, hatte er gesagt. »Aber wenn sie mich töten, dann musst du dich allein durchschlagen.« Sie hatten beide gewusst, dass Inizas Chancen in diesem Fall gegen null gingen, denn an Bord der Raumbarke befand sich eine Hundertschaft Paladine.

Vor ihr bewegte sich etwas in der Finsternis.

»Glanis?«

Da war ein menschlicher Umriss, eine Silhouette zwischen den Kabelsträngen und Rohrleitungen. Sie rechnete damit, Setembras einäugiges Antlitz aus dem Dunkel auftauchen zu sehen. Die Ordensmutter war für Inizas unversehrte Ankunft auf Tiamande verantwortlich.

»Baroness«, flüsterte eine Männerstimme. Eine winzige Lampe leuchtete auf und strahlte ihr direkt ins Gesicht.

Sie zielte mit dem Stunner, doch der Mann schlug ihr die Waffe aus der Hand, packte sie grob am Unterarm und zog sie an sich. Sie rammte ihm die andere Faust entgegen und berührte etwas an seinem Kinn, das sich wie eine Vielzahl von Zöpfen anfühlte. Wer immer er war, er trug einen geflochtenen Bart so lang wie ihre Hand.

»Baroness«, sagte er noch einmal, diesmal schärfer. Und dann, fast wütend: »Iniza Talantis! Halt jetzt still!«

»Wer, verdammt, sind Sie?«

Er ließ die Lampe fallen und packte ihren anderen Arm. Sie trat nach ihm, bog ihren Oberkörper durch und wollte sich ihm mit aller Kraft entwinden, doch er war stark und augenscheinlich erfahren darin, Frauen zu überwältigen. Sie verabscheute ihn auf Anhieb.

»Ich will dir nicht wehtun müssen.«

Angst mischte sich in ihre Wut, und das machte sie nur noch zorniger. »Wo ist Glanis?«

»Nicht hier. Und er wird auch nicht kommen.«

Als sie sich abermals wehrte, gerieten seine vernarbten Pranken ins Licht, und sie sah das Blut an seinen Händen.

2

»Was haben Sie ihm angetan?«

Eine Alarmsirene heulte auf, das Wimmern drang durch den stählernen Boden herauf zum Technikdeck.

»Wo ist er? Was, beim –«

Er hielt ihr kurzerhand den Mund zu. »Später.«

Sie setzte sich noch verbissener zur Wehr, bis er sie unsanft auf den Bauch warf und ihr die Arme auf den Rücken bog. Mit einem Knie drückte er sie nach unten.

»Ich werde dich fesseln und knebeln, wenn du nicht still bist.«

Sie hätte ihn gern mit dem Stunner bearbeitet, aber der war irgendwo in der Dunkelheit verlorengegangen. Stattdessen entdeckte sie seine Waffe vor sich auf dem Boden, einen ungewöhnlich kunstvoll gearbeiteten Blaster. Am hinteren Ende saß ein kugelförmiges Magazin, gefüllt mit Energiekristallen. Der Mittelteil bestand aus einer verkleideten Spule, die auf den ersten Blick einer runden Ziehharmonika ähnelte. Der Lauf war kein Rohr wie bei einer Projektilwaffe, sondern aus zwei langen Schienen zusammengesetzt, die zur Mündung hin spitz zuliefen. Betätigte man den Abzug, baute sich in dem Spalt dazwischen innerhalb eines Sekundenbruchteils Energie auf, die als Laserbolzen abgefeuert wurde. So weit glich der Aufbau seines Blasters den meisten herkömmlichen Strahlenwaffen, wie sie auch Paladine und die Gardisten Koryantums trugen. Doch die feinen Verzierungen machten ihn zu einem Kunstwerk. Der Blaster war vollständig in Schwarz und Gold gehalten, seine Oberflächen mit Emblemen bedeckt. Die Muster glänzten poliert im Schein der Lampe.

»Ich weiß, was das ist«, flüsterte sie. Es gab eine ähnliche Waffe in einer Vitrine im Schloss, weit weniger prachtvoll und dennoch ein Schmuckstück.

Der Mann gab keine Antwort, packte den schweren Blaster mit rechts und zog Iniza mit der Linken auf die Beine. Wieder bemerkte sie seine vernarbte Hand, dann erhaschte sie einen Blick auf sein Gesicht.

»Sie sind das!«

»Wer auch immer«, brummte er in seinen grauen Bart, der in der Tat zu vielen Zöpfen geflochten war.

Sie schätzte, dass er ungefähr doppelt so alt war wie sie, an die fünfzig Standardjahre. Er hatte hohe, ungewöhnlich stark vorstehende Wangenknochen und tiefliegende Augen, darüber eine fliehende Stirn, die ihm etwas Urmenschliches verlieh. Sie lag im Schatten einer groben Wollkapuze, die Teil einer langen Jacke aus Leder und Stoff war, besetzt mit zahlreichen Taschen. In einer Rückenscheide steckte ein Schwert; in die Parierstange waren Hieroglyphen eingelassen, die Iniza nicht kannte. Er trug schwere Militärstiefel mit gezackten Stahlkappen, doch weit bedrohlicher war sein finsterer Blick. Einen Moment lang ließ er Iniza nicht aus den Augen, so als machte er sich die Mühe, sie erst einmal einzuschätzen, ehe er sie weiter wie ein störrisches Stück Vieh durch die Dunkelheit ziehen würde.

»Sie sind Kranit«, sagte sie tonlos. »Der Kranit.«

Er schwieg.

»Der letzte Waffenmeister von Amun!«

Amun war seit Jahrzehnten nur noch lebensfeindliches Brandland, die Kaste der Waffenschmiede existierte nicht mehr. Nur einer, so die Legenden, zog noch heute durch den Raum. Kranit war Söldner, Kopfgeldjäger, eine Einmannarmee – doch das war nur die Oberfläche seines Mythos.

»Nie von ihm gehört«, sagte er. Sein Atem roch nach panadischem Kautabak.

»Sie haben den Gott von Kartan getötet!«

»Es wird viel dummes Zeug geredet. Halt jetzt den Mund.« Seine narbigen Finger schlossen sich hart um ihren Oberarm. »Die werden uns früh genug aufspüren, und dann wäre ich gern ein gutes Stück näher an unserem Ziel.«

Damit setzte er sich in Bewegung.

Während sie Kabeln und Stahlträgern auswichen, blickte sie ihn immer wieder an, doch meist wurde sein Gesicht von der Kapuze verdeckt. In den Gardequartieren und Tavernen erzählte man sich, dass jeder Zopf seines Bartes für ein System stand, in dem ihm die Todesstrafe drohte. Dreizehn, hatte es geheißen, vielleicht weil das eine klangvolle Zahl war. In Wirklichkeit waren es wohl weit mehr.

»Das Blut«, flüsterte sie, »stammt das von –«

»Nicht von deinem hübschen Hauptmann«, fiel er ihr ins Wort. Sie hasste es, dass er Glanis so nannte. »Ich hab ihm kein Haar gekrümmt. Oder zumindest keine Knochen gebrochen.«

Abrupt blieb sie stehen. »Ich will wissen, was aus ihm und den anderen geworden ist.«

»Die sechs jungen Kerle sind tot«, sagte er ohne eine Spur von Mitgefühl. »Die Hexe hat sie exekutieren lassen, kaum dass Koryantum hinter uns im Raum verschwunden war. Dein Vater muss das gewusst haben. Es war eine Torheit, sie mitzuschicken.«

Iniza wurde übel. »Und Glanis?«

»Er erwartet uns.«

Eine halbherzige Lüge, damit sie ihren Widerstand aufgab. »Wo?«

»Hör auf, mir Fragen zu stellen. Ich bin hier, um dich zu befreien. Das sollte dir reichen.«

»Ich will Ihre Hilfe nicht.«

Er zuckte die Achseln. »Ich hab nur einen Auftrag zu erfüllen. Der Rest interessiert mich nicht.«

»Auftrag von wem?«

»Vom Baron.«

»Meinem Vater?« Sie glaubte ihm kein Wort, obwohl er durch nichts verriet, dass er die Unwahrheit sagte. Ein guter Mörder war vermutlich auch ein passabler Lügner.

»Genug jetzt!«, fuhr er sie an. »Wir müssen weiter.«

Wieder berührte sie flüchtig den Ring an ihrem Finger. »Geben Sie mir Ihr Wort, dass Glanis noch lebt?«

»Als ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, war er am Leben.« Er zerrte so heftig an ihr, dass sie fast aufschrie. »Ich schleif dich auch an den Haaren mit, wenn’s sein muss.«

Sie gab nach und lief neben ihm her. Keine zwanzig Schritte später hielt er inne, ließ sie los und klappte eine runde Luke im Boden auf. Das Jaulen der Alarmsirene wurde schlagartig lauter. »Für das letzte Stück müssen wir wieder runter. Das dürfte jetzt ungemütlich werden.«

Sie wollte ihn darauf hinweisen, dass sie noch lange nicht auf Höhe der Beiboote sein konnten, aber als sie den Mund öffnete, riss er den Blaster hoch und schoss mehrere Laserbolzen an ihr vorbei in die Finsternis. Blitzartig wurde die Umgebung in feuriges Rot getaucht. Männer schrien auf, als die Einschläge ihre Panzerplastrüstungen zerfetzten. Jemand erwiderte das Feuer. Iniza spürte Hitze und knisternde Energie, als ein Laserschuss unweit von ihr ein Versorgungsrohr durchschlug. Stinkender Dampf schoss aus dem Loch. Kranit drückte ab, dreimal, viermal hintereinander. Seine Lichtbolzen brannten mehrere Gegner nieder wie Zielscheiben aus Papier.

»Runter da!«, schrie er sie an und gestikulierte zur Öffnung im Boden.

Sie sprang. Es war viel tiefer, als sie erwartet hatte. Sie fing den Aufprall mit federnden Knien ab, trotzdem tat es höllisch weh, und einen Augenblick lang glaubte sie, keinen Schritt weiterlaufen zu können. Ihre Augen tränten von dem ausgetretenen Dampf, während Kranits Laserfeuer über ihr Hitzebahnen in die künstliche Atmosphäre des Schiffes stanzte.

Sie war drauf und dran, ohne ihn loszurennen, aber sie musste sich eingestehen, dass sie vorerst auf ihn angewiesen war. Sie hatte keine Ahnung, was für einen Plan er verfolgte, doch falls auch nur ein Bruchteil seines Mythos der Wahrheit entsprach, dann wusste er, was er tat. Allerdings war in den Geschichten nie von panadischem Kautabak die Rede gewesen. Der würzige Geruch drang ihm aus allen Poren, und sie wusste, dass Unvernunft und erhöhte Risikobereitschaft die harmlosesten Nebenwirkungen waren. Kranit, der letzte Waffenmeister von Amun, hatte sicher schon bessere Tage gesehen – was in gewisser Weise erklärte, weshalb er auf diesem Schiff sein Leben aufs Spiel setzte, um die Tochter eines unbedeutenden Barons aus den Fängen des Hexenordens zu befreien.

»Weg da!«, brüllte er von oben und krachte im nächsten Moment neben ihr auf den Boden, nicht so elegant wie sie, aber mit stoischem Überlebenswillen. Während er sich aufrichtete, feuerte er erneut durch die Luke. Gleich darauf regnete brennende Flüssigkeit aus einem gesprengten Rohr. Wortlos wich Iniza den lodernden Tropfen aus.

Sie befanden sich in einem schmalen Korridor. Aus dem Loch in der Decke drangen die verzerrten Stimmen von Paladinen, und nun hörte Iniza auch auf dieser Ebene das Scharren von Stiefeln. Ein Trupp Soldaten näherte sich hinter der nächsten Ecke.

Kranit zog eine faustgroße Granate aus einer tiefen Jackentasche, aktivierte den Zünder und warf sie den Gang hinunter. »Deckung!«

»Welche Deckung?«

Die Explosion erschütterte die gesamte Sektion der Barke. Iniza wurde gegen die Wand geschleudert und war sekundenlang taub. Da packte Kranit sie schon wieder, stieß sie durch ein Schott, dann durch ein weiteres, und alsbald befand sie sich im Vorraum einer Luftschleuse. Kranit schloss die schwere Tür hinter ihnen und feuerte mit dem Blaster auf die Steuerungseinheit. In einem Funkenregen verkochten die Schalter zu Plastikschlacke.

»Das wird sie exakt drei Minuten aufhalten«, sagte er und drückte auf seine altmodischen Armbandeinheit.

»Exakt drei Minuten?«

»Erfahrungswert.« Er deutete auf mehrere Raumanzüge, die aufrecht in Nischen an der Wand standen. »Schon mal so was angezogen?«

»Sie wollen doch nicht ernsthaft da rausgehen?« Sie blickte zur Schleusenkammer und fürchtete plötzlich, dass nur ein Schritt sie davon trennte, für den kurzen Rest ihres Lebens in einem Raumanzug durchs All zu treiben.

Er drückte auf einen Knopf, woraufhin zwei der Anzüge aufrecht aus ihren Nischen glitten.

»Willst du frei sein?«, fragte er.

»Nicht ohne Glanis.«

Er brummte einen Fluch, wobei eine solche Woge des Kautabakgeruchs herüberwehte, dass Iniza vom Einatmen schwindelig wurde.

»Wie lange nehmen Sie das Zeug schon?«

»Länger, als du lebst.« Er packte sie kurzerhand mit beiden Händen um die Taille und hob sie wie ein Kind durch eine Brustöffnung in den Anzug, so schnell, dass sie erst strampelte, als ihre Füße schon in den klobigen Stiefeln steckten. »Jetzt sei still und vertrau mir!«

»Ja, sicher«, gab sie spöttisch zurück.

Er schob ihr den Helm über den Kopf, den Rest erledigten die vollautomatischen Siegelfugen.

»Ich hab das noch nie gemacht!«

»Du wirst es lernen.«

»Von einem tabaksüchtigen Söldner?«

»Einen besseren seh ich hier nicht.« Damit stieg er in den zweiten Anzug, nahm fluchend das Schwert vom Rücken, als es sich verkantete, und ließ es auf dem Boden zurück. Den wertvollen Blaster schob er sich vor den Bauch, auch wenn der Raumanzug sich nun bedenklich darüber spannte.

Laserschüsse krachten von außen gegen das Schott. Kranit gestikulierte, bis Iniza den Schalter für die Funkeinheit fand. Durch atmosphärisches Knistern hörte sie seine Stimme.

»– vierzig Sekunden«, beendete er gerade seinen Satz.

»Wir können nicht in Raumanzügen bis nach Nurdenmark fliegen!«, protestierte sie.

»Das will auch keiner.« Kranit legte einen Hebel um und drängte Iniza in dem klobigen Anzug durch die Tür zur Schleusenkammer.

»Was ist mit –«

»Dein Hauptmann erwartet uns schon.«

»Sie lügen doch!«

Das Schott schloss sich hinter ihnen. Kranit befestigte einen Karabinerhaken an einer Öse an Inizas Hüfte – jetzt verband ein stabiles Kabel die beiden Anzüge miteinander. »Tu einfach, was ich sage. Es sei denn, dir fällt was Besseres ein. Und besser ist es nur, wenn es dein Leben rettet.«

»Ich geh nicht ohne Glanis!«

»Wer redet von gehen?«, fragte er und öffnete das Außenschott.

Der Sog riss sie schneller als ein Gedanke hinaus ins All. Einen Herzschlag später hing sie mit rudernden Armen am Kabel, während Kranit einen Handlauf packte und sich an der Außenseite der Raumbarke festhielt. Panik löschte alles andere aus, ihre Sorge um Glanis und die Wut auf ihren selbsternannten Retter. Nur von dem dünnen Kabel gehalten, schwebte sie frei im All. Für endlose Sekunden glaubte sie, ihr Schädel müsste platzen und ihr Körper für alle Ewigkeit durchs Universum trudeln, hinter einem Visier voller Blut und Hirnmasse. Der Schmerz hatte keine körperliche Ursache, aber etwas in ihr schien zu glauben, dass physisches Leiden ihren Überlebenswillen anstachelte. Mit einem unterdrückten Schrei kämpfte sie gegen ihre Furcht an.

Der Metalllauf, an dem Kranit sich festklammerte, war so rostig wie alles an diesem Schiff, und da waren Löcher entlang der Stange, wo Nieten fehlten, mit denen sie einst befestigt worden war. Iniza hatte ein Leben lang vom All geträumt, nicht aber von Raumschiffen, denn jeder wusste, wie es um die Barken, Fregatten und Kreuzer im Ordensreich stand.

Doch der Albtraum einer Himmelfahrtsreise in einem maroden Raumer war nichts gegen das, was sie jetzt durchmachte. Freischwebend im All, fehlte ihr jedes Gefühl für Oben und Unten. Kranit brüllte immer wieder »Halt still!« durch den Helmfunk, aber sie musste erst ihre Panik niederkämpfen, unbedingt ruhiger werden, ehe sie ihren Körper unter Kontrolle bekommen konnte. Als es ihr endlich gelang, hangelte Kranit sich bereits am Handlauf entlang und zog sie am Kabel mit sich.

Hinter dem Rand der Barke tauchte Nurdenmark auf, eine schäbige Morastkugel mit einem Ring aus Gesteinstrümmern, der so eng um den Planeten lag, dass seine Innenseite die Oberfläche zu berühren schien. Der Gedanke, mit Glanis auf einer rauen Schürferwelt unterzutauchen, war ihr am Hof von Koryantum romantisch und verwegen erschienen. Nun aber, da sie vom All aus auf die Oberfläche blickte, verging ihr die Lust auf Abenteuer und Entdeckungsreisen gründlich. Sie würde sich glücklich schätzen, falls sie es jemals wieder lebend an Bord eines Schiffes schaffte. Irgendeines Schiffe – einschließlich der Barke, aus der sie gerade geflohen war.

Und dann sah sie erneut die Kathedrale des Ordens – ein Gebirge aus Statuen, über dem das Gesicht der Gottkaiserin thronte wie ein stählerner Mond. Die leeren Augen schienen auf sie herabzublicken. Iniza erkannte, dass die Raumbarke Kurs auf ein offenes Hangartor nahm, ein kreisrundes Loch inmitten der Monumente, mindestens einen Kilometer im Durchmesser. In ein paar Minuten würde die Kathedrale das Schiff verschlingen.

»Iniza!«, rief Kranit.

Sie konnte ihren Blick nicht von dem zerklüfteten Ungetüm lösen, das so gar keine Ähnlichkeit mit einem herkömmlichen Schiff besaß. »Die haben uns gleich.«

»Und deshalb brauche ich jetzt deine volle Konzentration!«

»Das hat keinen Zweck. Wir werden –«

»Iniza«, unterbrach er sie, »du hast es bis hierher geschafft. Der Rest ist ein Kinderspiel.« Menschen zu beruhigen gehörte eindeutig nicht zu seinen Talenten.

»Bis hierher? Ja, das ist toll. Ganz großartig.«

Sie durfte nicht daran denken, dass einzig sein Griff um den Lauf sie davon abhielt, hilflos ins All zu driften. Das Panorama der funkelnden Sterne, dessen Schönheit sie am Fenster überwältigt hatte, entpuppte sich jetzt als Abgrund, über dem sie wie an einem seidenen Faden baumelte.

»Schau nach rechts«, sagte er. »Am Schiff entlang.«

Mühsam löste sie sich aus dem Bann der Kathedrale. Keine fünfzig Meter entfernt hafteten die drei tränenförmigen Beiboote in Vertiefungen der Außenhülle. Normalerweise betrat man sie durch Schleusen im Inneren des Schiffes.

»Nicht Ihr Ernst, oder?«

»Die Notluke der linken ist präpariert«, erklärte er. »Wir können von außen rein. Damit sparen wir uns die Mühe, uns einen Weg durch all die Paladine zu brennen, die mit Sicherheit gerade vor den Booten postiert werden.«

Inizas Visier begann von ihrem Schweiß zu beschlagen. Sie kam nicht umhin, dem Irrwitz seines Vorhabens Respekt zu zollen. Schon hangelte Kranit sich weiter am Rumpf entlang. Handläufe überzogen die meisten Schiffe dieser Größe wie ein Netz, weil Reparaturen während des Fluges unvermeidlich waren.

»Sie machen das nicht zum ersten Mal«, stellte sie fest, als sie sich am Kabel langsam zu ihm hinzog. Es waren nur wenige Meter, aber die Schwerelosigkeit verlangsamte ihre Bewegungen zu Zeitlupe.

»Was glaubst du, wie ich die Luke des Beiboots vorbereitet habe? Das ging nur während des Fluges nach Koryantum. Auf dem Raumhafen wimmelte es nur so von Paladinen. Die hätten mich am Rumpf sofort entdeckt.«

»Dann waren Sie schon beim Hinflug an Bord?«

»Es hat Vorteile, wenn man sich als blinder Passagier durchschlägt. Man hinterlässt keine Spuren. Keiner erwartet einen. Und man hat viel Zeit, um Vorkehrungen zu treffen.«

Tatsächlich war in all den Geschichten über ihn nie von einem eigenen Schiff die Rede gewesen. Vermutlich vereinfachte er die Angelegenheit beträchtlich, doch im Augenblick hatte sie andere Prioritäten. Nicht zu sterben. Nicht wahnsinnig zu werden vor Angst um Glanis. Nicht in ihren Helm zu kotzen.

»Können die nicht sehen, was wir hier treiben?«

»Nicht, wenn jemand die zentrale Steuerung der Außenkameras sabotiert hat.«

»Die werden sich ausrechnen, wohin man hier draußen fliehen kann.«

In diesem Moment erreichte Kranits Hand einen faustgroßen Schaltkasten, der offenbar erst kürzlich auf der Außenhaut der Barke angebracht worden war. Sein breiter Handschuhfinger senkte sich auf den einzigen Knopf.

»Was –«

Sie erhielt ihre Antwort, als ein Ruck durch die rechte der drei Beibootkapseln lief. Schubdüsen spien Partikelströme aus. Eine Verankerung klemmte und zerbrach, Nieten und Schrauben trieben ins All. Dann löste sich das Beiboot aus seiner Nische, beschleunigte und flog in Richtung Nurdenmark davon.

»Hoffentlich glauben die, dass wir da drinsitzen«, sagte Kranit. »Das gibt uns ein paar zusätzliche Minuten für das, was wir tatsächlich vorhaben.«

Eines der hausgroßen Geschütze am Rumpf der Barke erwachte aus seiner Starre und schwenkte seine Doppelkanone auf das davonfliegende Beiboot. Zwei gleißende Energiebolzen zuckten aus den Mündungen, als der Kapitän der Barke dem winzigen Schiff einen Warnschuss vor den Bug feuerte. Unbeirrt blieb es auf seinem schnurgeraden Kurs.

»Ich hab die Startautomatik manipuliert, aber ich kann es nicht fernsteuern.« Kranit überwand die letzten Meter bis zu einem der verbliebenen Beiboote. »Bestenfalls denken sie, dass sie es mit einem ziemlich lebensmüden Piloten zu tun haben.«

Iniza hangelte sich neben ihm zum Rumpf und packte den Handlauf. Erneut feuerte die Laserkanone aus beiden Rohren. Diesmal streifte einer der mannsbreiten Lichtbolzen den Antrieb des Beiboots. Es geriet ins Trudeln, kehrte aber bald auf seinen Kurs Richtung Nurdenmark zurück.

»Die haben einen verdammt guten Schützen«, sagte Iniza. In ein paar Minuten würde sie wohl herausfinden, wie es war, selbst in einer solchen Zielscheibe zu sitzen.

»Nicht unser Problem«, sagte Kranit, während er sich an der Notluke zu schaffen machte.

»Sie wollen in ein Beiboot, aber nicht damit fliegen?«

Er klappte die runde Luke nach außen. In die enge Schleuse dahinter würden sie mit Müh und Not zu zweit passen.

Derweil kam das Hangartor der Kathedrale näher. Iniza erkannte immer mehr Details der riesenhaften Statuen, die die kreisrunde Öffnung flankierten. Stolze Gesichter, emporgereckte Fäuste, martialische Posen.

Als Kranit in die Schleuse kletterte, packte Iniza den Karabinerhaken, mit dem das Ende des Kabels an seinem Raumanzug befestigt war. Sie löste ihn mit einem heftigen Ruck. Jetzt hielt nur noch ihre eigene Hand sie am Rumpf.

Kranit drehte sich schwerfällig um. »Was soll das?« Sie hörte die Ungeduld in seiner Stimme, konnte aber sein Gesicht im Helm kaum sehen.

»Sagen Sie mir, was mit Glanis passiert ist.«

Er machte eine Bewegung in ihre Richtung, doch da ließ Iniza die Stange los, trieb mit rasendem Herzschlag einen Meter rückwärts am Rumpf entlang und hielt sich dann wieder fest. »Hier draußen können Sie mir nicht die Arme auf den Rücken drehen. Haareziehen wird auch schwierig. Wo ist er?«

»Er wartet im Beiboot auf uns.«

»Das ist ein Trick, um mich in dieses Ding zu locken. Jemand hat Ihnen eine Belohnung für meine Befreiung versprochen. Glanis ist Ihnen scheißegal.«

»Ich hätte dir eins überziehen sollen, als ich die Gelegenheit dazu hatte.«

»Weinen Sie der Chance wann anders hinterher. Was machen wir jetzt?«

Er bewegte sich aus der Schleuse auf sie zu, war keine Armlänge entfernt. Doch alles in ihr sträubte sich, den Handlauf abermals loszulassen. Er war kein Mann, dem man mit so etwas zweimal einen Schrecken einjagte.

Hinter ihr feuerte das Geschütz eine weitere Salve ab. Im grellen Schein des Lasers sah sie das zornige Gesicht des Waffenmeisters.

»Die werden darauf nicht mehr lange reinfallen«, sagte er mit eisigem Unterton. »Dann werden sie uns da drinnen erwarten, mich erschießen und dich nach Tiamande verschleppen.«

»Klingt, als hätte ich die besseren Karten.«

»Du hast keine Ahnung, was sie mit dir vorhaben, nicht wahr?«

»Besser als sofort zu sterben.«

»Nein«, sagte er, »ist es nicht.«

Ein Schauer raste ihr über den Rücken. Sie wusste so gut wie er, dass ihnen die Zeit davonlief.

»Glanis«, sagte sie noch einmal.

Kranit ließ einen Augenblick verstreichen, dann antwortete er: »Tot. Genau wie die anderen.«

Die Kälte des Alls schien in ihren Anzug zu kriechen. »Haben Sie ihn umgebracht?«

»Nein.«

Diesmal glaubte sie ihm. Vielleicht, weil dieses Scheusal ihre einzige Chance war.

»Schau dich um, dann kannst du sehen, dass ich die Wahrheit sage.« Sein Zorn schien verflogen, oder er war sehr gut darin, seinen Tonfall zu kontrollieren. »Sie haben die Leichen gerade aus einer der Schleusen geworfen.«

Sie ahnte, dass er sie übertölpeln wollte. Trotzdem vollzog sie eine Vierteldrehung, um einen Blick in die Richtung zu werfen, in die er deutete.

Mehrere Körper trieben um die Wölbung des Schiffsrumpfes wie ein grotesker Fischschwarm: junge Männer in den Uniformen der koryantischen Garde. Ihre steifgefrorenen Gesichter waren verzerrt. Iniza hatte die Angst in ihren Augen gesehen, als sie an Bord gegangen waren, die Gewissheit, dass sie von diesem Flug nicht heimkehren würden. Und dennoch hatte keiner widersprochen, als ihr Vater sie ausgewählt hatte. Sie alle waren gefasst für sie in den Tod gegangen.

Schlagartig schien alle Kraft aus ihren Gliedern zu weichen, ihre Sicht verschleierte sich – und dann ließ sie den Handlauf los, um Glanis und den anderen zu folgen.

Kranit packte sie. Ohne große Anstrengung zog er sie zur Luke des Beibootes.

Tränen schossen ihr in die Augen, die Enge im Inneren des Anzuges wurde unerträglich. Kranit schob sie mit dem Kopf zuerst in die Schleuse, stopfte grob ihre Beine hinterher und glitt dann selbst hinein. Die Luke schlug hinter ihnen zu. Im nächsten Augenblick rotierte eine Warnleuchte, und der Druckausgleich rauschte in Inizas Ohren.

Kurz darauf stürzte sie vorwärts, geradewegs ins Innere des Beibootes. Ihr Visier war restlos beschlagen, und ihre Finger suchten panisch die Verschlüsse der Helmversiegelung. Ein Zischen ertönte, sie bekam wieder Luft und blickte mit brennenden Augen ins Halblicht blinkender Armaturen.

Jemand erwartete sie.

3

Kranit verfluchte den Augenblick, in dem er sich bereit erklärt hatte, das Mädchen zu befreien. Einmal mehr schwor er sich, in Zukunft die Finger vom panadischen Kautabak zu lassen, während er über die Annahme von Aufträgen entschied.

Der junge Kerl in der Ecke des Beibootes löste gerade seine Fesseln, als Kranit seine widerspenstige Beute aus der Schleuse ins Innere schob. Augenscheinlich hatte Kranit nicht nur den Eigensinn der Kleinen, sondern auch die Fähigkeiten des koryantischen Hauptmanns unterschätzt. Er hatte Glanis wie ein Paket verschnürt, bevor er ihn in das Beiboot geworfen hatte, doch jetzt war er so gut wie frei. Kranit befürchtete, dass er sich nun nicht nur mit dem Mädchen, sondern auch noch mit ihrem Geliebten herumschlagen musste. Zum zweiten Mal an diesem Tag.

Glanis hatte langes braunes Haar, den Mittelteil im Nacken zusammengebunden, dazu einen sauber gestutzten Bart. Er trug die lederne Kluft der koryantischen Garde, eine lange erdfarbene Jacke mit dezenten Rangabzeichen, enge Hosen und Stiefel. Seine Augen waren von einem beunruhigenden Hellblau, sehr ernst, fast stechend. Er sah zu gut aus, als dass Kranit ihn als Gegner hätte ernst nehmen können. Das war ihm beinahe zum Verhängnis geworden, als er Glanis gezwungen hatte, seine sechs Männer in der Arrestzelle zurückzulassen. Der Junge hatte ihm einen anständigen Kampf geliefert. Schließlich hatte Kranit ihn bewusstlos geschlagen und ins Beiboot gebracht, aber ihr Handgemenge hatte ihn Zeit gekostet – Zeit, um zu verhindern, dass die Baroness auf eigene Faust einen Fluchtversuch startete.

Iniza hatte ihren Helm abgenommen, konnte sich aber in dem klobigen Anzug nicht aufrichten und kroch auf allen vieren zu Glanis. Der streifte gerade die letzten Fesseln ab und kam ihr in dem engen Cockpit entgegen. Sie umarmten sich, redeten, was Liebende in solchen Situationen eben redeten, während Kranit erwog, beiden einen Schlag in den Nacken zu verpassen, damit sie Ruhe gaben und er den Rest seines Planes in die Tat umsetzen konnte.

Schon während er auf Koryantum Informationen eingeholt hatte, hatte er vermutet, dass die beiden ein heimliches Paar waren – es war nicht schwer gewesen, die Zeichen zu deuten, nachdem er einmal auf den Gedanken gekommen war. Er hatte sich gefragt, ob der Vater des Mädchens den Hauptmann trotz oder wegen dieses Umstands zu ihrer Begleitung abkommandiert hatte. Doch je länger Kranit sich mit den Zuständen am Hof von Koryantum beschäftigt hatte, desto wahrscheinlicher war ihm eine dritte Möglichkeit erschienen: Dass Baron Seffren tatsächlich keine Ahnung davon hatte, was zwischen den beiden vorging.

Seffren war ein der Schwermut verfallener Narr, der allen Bezug zur Wirklichkeit verloren hatte. Seine Untertanen erzählten sich, er habe während seiner Amtszeit ganze dreimal in der Öffentlichkeit gelächelt, und wer ein Anliegen habe, werde nur vorgelassen, wenn er Schwarz trage. Der Baron verbrachte einen Großteil seiner Zeit im Mausoleum seiner älteren Brüder Fael und Hadrath, einer fensterlosen Kapelle, zu der niemand außer ihm selbst Zutritt hatte. Dort trauerte Seffren um die beiden, und es hieß, er verfluche sie zugleich, weil nun er die Bürde der Regentschaft tragen musste.

Dabei erfreute sich zumindest Hadrath bester Gesundheit, und auch Fael, der erstgeborene der drei Brüder, war am Leben. Vor siebzehn Jahren hatte Fael Koryantum verlassen, um an der Spitze einer Flotte von Baronieschiffen Jagd auf die gefährlichsten Piraten der Marken zu machen, eine Bande, die seit Jahrzehnten die Versorgungsrouten ins Ordensreich überfiel. Die Flotte der Barone war aufgerieben worden und Fael Talantis verschollen. Erst Jahre später war er wieder in Erscheinung getreten – als neues Oberhaupt der Piraten.

Sein jüngerer Brüder Hadrath hatte ebenfalls an dem glücklosen Feldzug teilgenommen, aber sein Schiff war schon im ersten Hinterhalt zerstört worden. Hadrath hatte tagelang in einem Raumanzug im All überlebt, wo ihn in der Einsamkeit religiöse Erweckungsvisionen heimsuchten. Als ihn schließlich ein Schiff der Minengilde aufsammelte, war Hadrath ein anderer gewesen als bei seinem Aufbruch von Koryantum. Aus ihm war ein Eiferer geworden, ein fanatischer Anhänger der STILLE. Manche behaupteten, er habe dort draußen im Raum den Verstand verloren. Das Haus Caudor, das über die Minengilde herrschte und selbst dem Kult der STILLE huldigte, war anderer Ansicht: Nachdem man Hadrath Talantis auf die Heimatwelt der Caudors gebracht hatte, waren die Oberhäupter der Familiendynastie seinen visionären Prophetien verfallen. Innerhalb weniger Jahre war Hadrath zu einem Kommandanten der Gilde aufgestiegen, einem hohen Ordnungshüter der Marken. Sein Einfluss auf das Haus Caudor war umstritten, und nicht wenige behaupteten, er sei der Marionettenspieler im Hintergrund vieler Entscheidungen, die das Schicksal der Minengilde und der Marken bestimmten. Zugleich hatte er Fael nie verziehen, dass der ihn beim Feldzug gegen die Piraten zurückgelassen hatte. Sein Hass auf seinen Bruder war so groß, dass er gnadenlos jeder Spur folgte, die einen Weg zum geheimen Versteck der Piraten verhieß. Bislang erfolglos.

Während sich also die beiden älteren Brüder in den Marken bekämpften, war daheim auf Koryantum die Regentschaft dem jüngsten Sohn zugefallen, Seffren Talantis, Inizas Vater. Er war ein schwächlicher Herrscher, so überfordert mit der Führung der Baronie wie mit der Erziehung seines einzigen Kindes.

Und wer, dachte Kranit, konnte ihm das angesichts dieser Furie verübeln.