Jörg Maurer

Am Abgrund lässt man gern den Vortritt

Alpenkrimi

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Jörg Maurer

Bestsellerautor Jörg Maurer stammt aus Garmisch-Partenkirchen. Er studierte Germanistik, Anglistik, Theaterwissenschaften und Philosophie und wurde als Autor und Kabarettist mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Kabarettpreis der Stadt München, dem Agatha-Christie-Krimi-Preis, dem Ernst-Hoferichter-Preis, dem Publikumskrimipreis MIMI und dem Radio-Bremen-Krimipreis.

 

Die Webseite des Autors: www.joergmaurer.de

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Der Schritt vom Weg führt immer weiter.

Kommissar Hubertus Jennerwein will sich eine Auszeit gönnen. Aber schon vor der geplanten Abreise trifft er auf dem Bahnhof einen Kommissar-Kollegen aus dem Allgäu und wird aufgehalten. Gerade als die beiden so richtig ins ermittlerische Fachsimpeln kommen, erreicht Jennerwein ein Hilferuf aus dem Kurort: Ursel Grasegger hat eine blutige Morddrohung gegen ihren Mann erhalten. Ignaz ist seit Tagen unauffindbar. Ist er in den Händen von Entführern? Oder hat er heimlich etwas Illegales geplant, was nun schiefgegangen ist? Jennerwein weiß nur zu gut, dass die Graseggers als einstige Bestatter beste Mafiaverbindungen haben. Aber in dieser Ausnahmesituation verspricht er Ursel, Ignaz‘ Spur außerdienstlich zu verfolgen. Er ahnt nicht, in was für üble Gefahren er sich damit bringen wird. Sein Team geht derweil tödlichen Umtrieben in einem Krankenhaus nach, eine frühere Freundin von Ignaz kündigt ihre bevorstehende Ermordung an, und auf einmal steht Jennerwein nicht vor einer Auszeit, sondern vor dem Abgrund seiner Polizeikarriere …

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2018 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60651 Frankfurt am Main

Covergestaltung: www.buerosued.de

Coverabbildungen: mauritius images / imageBroker, www.buerosued.de

Foto Murmeltier: © iStock by Getty Images/Ocs–12

weitere Abbildungen: © 2018 Jörg Maurer

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-403776-9

Fußnoten

Empfehlung: Wolfgang Amadeus Mozart, Klarinettenkonzert A-Dur, KV 622, II. Satz: Adagio (bekannt aus »Jenseits von Afrika«)

Das mit dem Pfifferling ist allerdings nicht ganz richtig. Nach neuesten Forschungen haben 30 Silberlinge etwa den Gegenwert von 10000 Euro (»Welt«, 1.4.2010). Damit könnte man sich heute einen Kleinwagen kaufen, damals einen Esel.

In fast jedem Restaurant trifft man solche Paare. Größte Vorsicht ist geboten! Es sind meistens Geheimdienstagenten nicht befreundeter Staaten, Industriespione und Außendienstmitarbeiter des Finanzamts.

Geschätzte Liebhaber der Grausamkeit, des Sadismus, der Abgeschmacktheit und der Qual, werte Anhänger der ungezügelten Mordlust, des Deckensturzes und des langsamen Versinkens im Sumpf!

 

Der Vorhang hebt sich zum nächsten Bravour-, Husaren- und Bubenstück von Kommissar Jennerwein, der nun schon zum zehnten Mal unbeirrt das Böse, das Nachtseitige und Dunkle im Alpenland bekämpft, der den Riss, der durch die Welt geht, unermüdlich zu kitten versucht. In diesen zehn Jahren der Jennerwein’schen Odyssee wurde so emsig gegen die zehn biblischen Gebote verstoßen, dass es im zehnten Roman angebracht scheint, diese symbolisch hoch aufgeladene Zahl entsprechend zu würdigen. Aus diesem Grunde soll es ausschließlich zehnte Kapitel geben.

 

Denn gerade das zehnte Kapitel – dem einen oder anderen mag es beim Lesen von Kriminalromanen schon aufgefallen sein – ist in der Spannungsliteratur immer von zentraler Bedeutung. In Kapitel zehn werden die ersten Spuren zur Auflösung des Falles gelegt, dort passiert stets Außergewöhnliches, Überraschendes, Fragwürdiges und Bedenkliches. Schon in einer der ersten Erzählungen des Genres, in Theodor Fontanes raffinierter Kriminalnovelle Unterm Birnbaum, beginnt das zehnte Kapitel mit der Verhaftung des Raubmörders Hradscheck. Die Technik hat sich gehalten bis zu einem der

 

Die Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Eines ist jedenfalls sicher: Wenn in Kapitel 10 immer noch kein Verbrechen geschehen ist, dann ist der Schmöker, den Sie gerade in Händen halten, kein Kriminalroman. Gleichwohl: In Franz Kafkas Roman Das Schloß beginnt Kapitel 10 mit dem Satz: »Auf die wild umwehte Freitreppe trat K. hinaus und blickte in die Finsternis.« Mehr Spannung geht eigentlich nicht.

 

Doch nun sind alle Klappstühle aufgestellt, die Sitzkissen verteilt, das Licht im Zuschauerraum verlischt, der Vorhang hat sich inzwischen vollständig gehoben. Von Ferne erklingt alpenländische Musik, in der Kulisse lauert schon der verschlagen dreinblickende Mann mit dem spitzen Dolch. Wenden Sie Ihren Blick vorsichtig zur nächsten Seite und seien Sie willkommen zur dekalogischen Festaufführung des Jennerwein-Universums!

10

Seit Anbeginn zählte der Mensch mit den Fingern. Die Zehn stand wohl auch deshalb für Anfang und Ende aller Zahlen und erschien so als magische Grenze.

 

»Irgendwann kommen wir beide in das Alter, wo wir nicht mehr klettern können wie die jungen Steinböcke. Und was dann?«

»Noch kraxle ich überallhin, das kannst du mir glauben!«

»Auch auf die Geiffelspitze?«

»Auch da komme ich locker rauf, aber ganz locker. Du wirst es morgen sehen. Aber wie ist es mit dir? Wenn du willst, dann ziehe ich dich das letzte steile Stück.«

»Ich nehme dich beim Wort.«

»Abgemacht.«

»Vielleicht sollten wir uns wirklich leichter zugänglichere Verstecke suchen.«

»Wie jetzt? Etwa mit Hacke und Schaufel nachts im Garten –«

 

Ignaz Grasegger unterbrach mitten im Satz, denn es kam ein Fußgänger die kleine Straße herauf, die am Grundstück der Familie Grasegger vorbeiführte. Sie erkannten ihn schon von weitem, es war der Rohrstangl Markus, der seit neuestem einen Atemschlauch auf der Oberlippe trug – »beheizbar«, wie er sofort ausführte, kaum dass er stehen geblieben war.

»Das ist sicher praktisch im Winter«, sagte Ignaz Grasegger lächelnd, »zum Beispiel beim Skispringen.«

Ursel versetzte ihm einen kleinen Rippenstoß.

 

»Das hat mir die Krankenkasse bis auf den letzten Nickel gezahlt«, sagte er jetzt stolz und deutete auf das Plastikteil. »Zuerst wollte sie zwar nicht blechen, die Hundskrankenkasse, aber dann habe ich damit gedroht, dass ich die Sache ins Fernsehen bringe, in so ein kritisches Verbrauchermagazin. Die suchen ja heutzutage geradezu nach einem Missstand. Da ist die Kasse in die Knie gegangen und hat zähneknirschend gelöhnt.«

Die Sonne senkte sich auf das gegenüberliegende Karwendelmassiv und zauberte neue, fast mediterrane Farben in die wogenden Bergwälder.

»Zähneknirschend!«, wiederholte der Rohrstangl und deutete abermals auf den Plastikschlauch, der um seine Brust herum in den Rucksack führte. »Sauteuer. Und stufenlos regelbar.«

Ursel und Ignaz bewunderten die rasselnde Atemhilfe mit der gebotenen Höflichkeit und warteten geduldig, bis der Rohrstangl endlich fertig erzählt hatte und schließlich weiterzog.

»Der redet ja mit dem Schlauch noch mehr als ohne«, sagte Ignaz, als er außer Hörweite war.

»So viel Sauerstoff macht wahrscheinlich gesprächig.«

 

»Ja, es ist schon besser, wenn wir unsere Dependancen nach und nach auflösen«, sagte Ignaz leise und wandte sich dabei Ursel zu. »Und morgen –«

Wieder brach er mitten im Satz ab, denn der nächste Spaziergänger war im Anmarsch, diesmal von der anderen Seite. Heute war einfach keine ruhige Unterhaltung möglich. Sie erkannten schnell den Wieslinger Johann, den pensionierten Postler und passionierten Schafkopfspieler. Er kam ohne Atemhilfe aus, dafür zog er einen Dackel an der Leine.

»Man tut, was man kann, man hat, was man hat«, antwortete Ursel und ließ ihren Blick über die von ihr sorgfältig gestutzte Rosenhecke schweifen.

»Ich habe gehört, ihr arbeitet bald wieder in eurem alten Beruf?«, fragte der Wieslinger interessiert.

»So, hast du das gehört? Mag schon sein.«

»In der Zeitung ist es auch gestanden. Mit einem Bild von euch.«

»Es steht viel in der Zeitung.«

So gleichgültig Ignaz das sagte, so brennend hatte er die ganzen Jahre darauf gewartet, wieder als Bestatter arbeiten zu dürfen. In wenigen Wochen lief ihre Bewährungsfrist ab, die ihnen wegen ihrer kriminellen Doppelbestattungsidee damals aufgebrummt worden war. Das Berufsverbot wurde damit ebenfalls aufgehoben. Sie waren auf dem besten Weg, in die bürgerliche Kurve einzubiegen. Reingewaschen von allen Sünden, dem Bösen entkommen, praktisch engelsgleich und quasi mitten in der Himmelfahrt.

»Habt ihr denn schon Voranmeldungen?«, fragte der Wieslinger.

»Voranmeldungen für was?«

»Für euer altes und neues Geschäft natürlich. Ich könnte mir vorstellen, dass man von euch gerne eingegraben werden will.«

»Bist du interessiert, Wieslinger? Du siehst eigentlich noch ganz gesund aus.«

»Ich rede nicht von mir, sondern mehr so allgemein.«

»Das tun wir doch auch.«

Sie ratschten eine Weile über dies und das, dann trollte sich

»Ich würde sagen, wir lösen das Versteck auf der Geiffelspitze auf und holen das ganze gelbe Zeugs da raus«, sagte sie. »Was meinst du dazu?«

Ignaz nickte bedächtig.

 

Das »gelbe Zeugs« war die familieninterne Bezeichnung für die Goldbarren und Goldmünzen, die sich im Lauf ihrer kriminellen Laufbahn angesammelt hatten. Verdächtige Spuren wie Seriennummern, Herkunftsangaben, Reinheitsgrade und Echtheitszertifikate waren aus den Stücken herausgefeilt worden, und die gesamten gelben Liegenschaften waren in luftigen Höhen über die Alpen verteilt. Kleine Bestände befanden sich in den umliegenden Bergen, in Tagesausflugsweite, für Ursel und Ignaz fußläufig leicht zu erreichen, aber hübsch abseits der touristischen Wander- und Kletterwege. In der Rüscherlsenke befand sich zum Beispiel eine Dependance, auf dem Isingergrat ebenfalls. Für andere Verstecke mussten sie ins Ausland fahren. Einer der Plätze lag mitten in den österreichischen Alpen, und einer, ganz klassisch, in der Schweiz. Das Versteck jedoch, das unterhalb der Geiffelspitze lag, konnte

 

»Hast du einen Vorschlag, wo wirs in Zukunft hintun könnten?«, fragte Ignaz. »Vielleicht doch in ein Schließfach? Dann sollten wir morgen gleich einen größeren Rucksack mitnehmen.«

Ursel schüttelte den Kopf.

»Keine gute Idee. Und selbst wenn wir einen noch so sicheren und bequemen Ort finden, es bleibt immer das Problem, das Zeugl in Bargeld umzuwandeln. Der Hehler –«

Da kam die Nachbarin, die Weibrechtsberger Gundi, die Straße herunter, eine der größten Ratschkathln des Kurorts. Heute war einfach kein guter Tag für solche Gedankenspiele. Noch zwanzig Meter entfernt, legte sie schon los. Ob sie denn schon wüssten. Nein, was. Das und das, von dem und jenem.

»Wenn die wüsste«, sagte Ursel. »Dann hätte sie wirklich was zu ratschen.«

Die Umwechslung des Goldes in Bargeld war in der Tat das größte Problem bei dieser Art des Vermögens. Der Hehler verlangte inzwischen fast die Hälfte. Er wusste, dass es für die Graseggers keine andere Möglichkeit der Verflüssigung gab.

 

Ursel und Ignaz lösten sich vom Gartenzaun und gingen ins Haus.

»Hast du deinen Rucksack schon gepackt?«

Ignaz wies nickend auf das braune Unikum, das schon sein Großvater im Gebirge benutzt hatte. Morgen war Wandertag. So nannten sie es, wenn sie zu einer ihrer Niederlassungen gingen. Sie gaben die fröhlich singenden Ausflügler, grüßten nach allen Seiten, fotografierten, nahmen Umwege, holten dann ihr Gold aus dem Felsen. Ignaz überprüfte seinen antiken Rucksack, den »Affen«, noch einmal. Eine Regenhaut. Eine Windjacke. Ein paar Landjäger. Eine Glock 17C samt Munition. Ein Präzisionsfernglas. Ein Smartphone mit einsatzbereiter Ortungs-App. Zwei Flaschen Bier samt Kühlmanschetten. Etwas Werkzeug. Morgen war die Geiffelspitze dran. Sie würden zunächst auf die gegenüberliegende Seite gehen und das Versteck intensiv beobachten. Dann erst würden sie zuschlagen. Ignaz schnürte den Rucksack zu und stellte ihn zu Boden.

»Wann gibts denn Abendessen?«

»Na, die Ochsenbackerl brauchen schon noch vier Stunden.«

»Was gibt es dazu, zu den Backerln?«

»Das weiß ich noch nicht. Vielleicht Süßkartoffeln mit Wirsing.«

Ignaz schüttelte den Kopf.

»Süßkartoffeln mit Wirsing?«

»Warum nicht?«

»Das passt nicht zu Ochsenbackerl.«

»Was willst dann du für eine Beilage?«

»Kohlrabi.«

»Kohlrabi hat zurzeit keine Saison.«

»Haben wir keinen eingefrorenen?

»Kohlrabi einfrieren? Spinnst du?«

Ignaz wandte sich missmutig an Ursel.

»Ich geh noch ein Stück an die frische Luft.«

»Wann bist du wieder da?«

»Um acht.«

»Sei pünktlich.«

So schnell, wie der kleine eheliche Streit aufgeflammt war, so schnell war er auch wieder verpufft.

10

In der Bibel gibt es zehn Gebote, zehn ägyptische Plagen, zehn geheilte Aussätzige, zehn wartende Jungfrauen, zehn Tage, in denen Daniel geprüft wurde, zehn Gerechte, die man in Sodom nie und nimmer findet, zehn Generationen von Adam bis Noah, zehn Rebellionen der Kinder Israels gegen Gott …

 

Ignaz Grasegger war ein gutherziger Mensch, er strahlte Großzügigkeit und Edelmut aus, und er wusste um seine Wirkung. Seine bürgerliche Erscheinung war sein Kapital und hatte ihn schon oft aus misslichen Situationen gerettet. Ignaz hatte von seinen Vorfahren zwar viel Rebellisches und Krawotisches geerbt, aber er wusste sich zu mäßigen und Zurückhaltung zu wahren. Er hatte bei all seinen Gesetzesübertretungen immer darauf geachtet, dass niemand zu Schaden kam. Oder zumindest schmerzfrei blieb. Seine Goldvorräte waren auf saubere Weise zusammengekommen. Denn Delikte wie Schmuggel, Steuerbetrug, Umtausch von Schwarzgeld und Markenfälschungen fand Ignaz nicht verachtenswert. Wem schadete schon die Schattenwirtschaft? Oder genauer gesagt: Wem schadete sie mehr als die ganz reguläre Wirtschaft das tat? Ignaz hielt den Staat jedweder Couleur für einen unersättlichen und ungerechten Moloch, dem ein paar Nadelstiche nicht weh taten. Er bedauerte nur, nicht in den Graubereichen der Cyberkriminalität mitmischen zu können, dafür fühlte er sich usermäßig einfach nicht mehr fit genug. Da hätte man Geschäfte machen können! Ein paar Ideen hätte er schon in diese Richtung gehabt, aber ihm fehlten die Grundlagen eines Nerds.

 

 

Ignaz bog in die Fußgängerzone des Kurorts ein. Viele grüßten ihn oder lüpften ganz altmodisch den Hut. Er grüßte freundlich zurück. Aber selbst wenn Ignaz zornig zurückgegrüßt hätte, hätte es bei ihm nobel und honorig ausgesehen. Er war so ein Typ. Er betrachtete die Geschäfte. Schon wieder hatte ein Nagelstudio eröffnet. Es war zwar ein Tattooladen, aber Ignaz fasste alle Dienstleistungen, die sich mit körperlichen Äußerlichkeiten beschäftigten, unter dem Oberbegriff Nagelstudio zusammen. Er blickte auf die Uhr. Kurz entschlossen betrat er die Gemäuer der alteingesessenen Metzgerei Moll. In die war schon sein Großvater gegangen. Und wie schon der Opa hielt es auch Ignaz zwei volle Stunden ganz ohne Essen einfach nicht aus.

»So, Grasegger, wie gehts?«

»Drei Leberkäsesemmeln, wie immer?«

»Nein, nur zwei. Bei uns gibts bald Abendessen.«

»Und was wird bei euch Feines gekocht?«

Ignaz antwortete unkonzentriert und leichthin:

»Ochsenbackerl.«

Das war ein Fehler. Hätte er nur Krautsalat gesagt. Oder Apfelkücherl. Die Metzgerin verzog ihren Mund zu einer spitzen Schnute.

»So, Ochsenbackerl, aha. Die habt ihr aber nicht bei uns gekauft, oder?«

»Ich weiß nicht –«

»Stimmt mit unserem Fleisch was nicht? Schon wochenlang wart ihr nicht mehr da!«

»Nächstes Mal kaufen wir wieder bei euch. Ganz bestimmt. Versprochen.«

Die Metzgerin blieb bei ihrem pikierten Ton.

»So, ja, das werden wir dann sehen.«

»Servus, Mollin.«

»Vergiss deine Leberkäsesemmeln nicht, Grasegger.«

Er verließ die Metzgerei, ging ein paar Schritte und betrachtete sich im nächsten Schaufenster. Ursel hatte schon recht. Lange ging das nicht mehr gut mit den Wandertagen zu den alpinen Dependancen. Er war kein junger Steinbock mehr, der überall hinaufkletterte. Jemand anders musste das für sie besorgen. Die Kinder? Ihr Sohn Philipp lebte in Amerika, er hatte an der Yale Wirtschaftswissenschaft studiert, dann noch ein Maschinenbaustudium draufgesetzt, in dem er gerade seinen Abschluss zum Master of Science oder Doktor machte, Ignaz wusste das gar nicht so genau. Er kam ein- oder zweimal im Jahr zu Besuch. Aber er war solch ein verdammter Schisser. Er schien überhaupt nichts von ihm oder Ursel

»Wofür braucht ihr die denn? Und wieso wollt ihr eine eigene Frequenz haben? Und warum müssen es unbedingt die extrateuren Modelle mit dem Tarnkappen-Modus sein?«

Vielleicht sollte sich Ignaz vertrauensvoll an seine Tochter Lisa wenden. Sie arbeitete in der Tourismusbranche, war viel unterwegs. Den beiden Kindern waren vor Jahren natürlich eigene Alpendependancen eingerichtet worden. An ihren achtzehnten Geburtstagen hatten sie den genauen Ort erfahren. Philipp, der bürgerliche Spießer, war aus allen Wolken gefallen. Hatte etwas davon gefaselt, dass er sein Geld selbst verdienen wolle. Und ehrlich verdienen. Ehrlich! Als ob da viel zusammenkäme außer am Ende ein durchschnittlicher Zirbelholzsarg. Lisa jedoch war ein kleines bisschen mutiger als Philipp. Immer schon. Lisa hatte einen der 20-Unzen-Batzen genauso verzückt und gierig in der Hand gewogen, wie das Ursel immer tat, wenn sie einen gelben Spaziergang machten. Ignaz war sich sicher. Die zierliche Lisa sollte das mit dem gelben Zeugs in Zukunft erledigen. Er musste die Sache mit Ursel besprechen.

 

Ignaz ging zum Loisachuferweg hinunter. Er packte seine Leberkäsesemmeln aus und ließ sich auf einer Bank nieder. Schon setzten sich zwei Dutzend schnatternde Enten vom anderen Ufer in Bewegung. Ignaz klappte die dick belegten Semmeln auf, nahm eine warme Scheibe in die Hand und verschlang sie gierig. Aus ihm würde nie ein Feinschmecker werden. Er hielt es mit allerlei großen Philosophen, die die Fresserei der Feinschmeckerei vorzogen. Heißhungrig biss er in die zweite Scheibe. Die Semmeln selbst waren für die Enten, das war seine Art der Trennkost. Und noch einmal dachte

 

Seine Lieblingsphantasie war das junge, blasse Gelsenkirchener Paar auf Urlaubsreise, das sich etwas vom Alpenwanderweg entfernt und genau unter das Versteck gesetzt hatte. Ignaz sah sie vor sich, wie sie sich ausstreckten, den wolkenlosen Himmel betrachteten, die würzige Luft einatmeten, die es in Gelsenkirchen so nicht gab, wie sie Zukunftspläne schmiedeten, wie ihr Blick auf eine kleine, unnatürliche Rille im Fels fiel.

»Schau mal. Da hat jemand was reingeritzt.«

»Wo? Lass sehen.«

Sie schafften es, den Stein herauszuziehen. Sie entdeckten die Kassette. Den kleinen Nanosender bemerkten sie nicht. Als sie den Inhalt sahen, wurde ihnen schlecht. Hastig machten sie sich auf den Heimweg, wogen die Barren mit der Küchenwaage, studierten danach die aktuellen Goldpreise. Sie mussten sich augenblicklich setzen, sie atmeten schwer durch. So viel Gold auf einem Haufen schlägt einem erst mal auf den Magen, wenn man es nicht gewohnt ist, dachte Ignaz.

»Eigentlich müssten wir das Zeug ja –«

»Meinst du?«

»Das ist sicherlich nichts Legales.«

»Nazigold«, sagte der junge Mann schließlich.

»Ganz bestimmt«, erwiderte sie.

Ignaz hatte die uralten Stahlkassetten von seinem Vater verwendet. Im Berg waren sie noch einmal kräftig nachgerostet. Die Kassetten sahen tatsächlich aus wie alte Schatullen vom Reichswehramt für Volksgesundheit. Ignaz stellte sich das gedachte junge Paar aus dem Ruhrgebiet dünn, blass und mit vor Angst getrübten Augen vor.

»Na ja, wenn es Nazigold ist, dann wird das ja wohl niemandem mehr fehlen«, sagte sie schwach.

Die beiden hatten natürlich kein Schließfach. Sie wollten auch keines aufmachen. Sie suchten nach todsicheren Verstecken. Doch die waren äußerst lächerlich. Sie schichteten die Klumpen jeden Tag um, nicht ohne die Vorhänge vorher zu verschließen. Sie ließen an der Wohnungstür neue Schlösser anbringen. Sie wechselten sich bei den Nachtwachen ab. Sie verließen das Haus nicht mehr. Sie konnten ihre Berufe nicht mehr ausüben. Genüsslich stellte sich Ignaz vor, wie sie nach und nach verwahrlosten. Sie stritten, die Beziehung litt, es ging auch sonst steil bergab. Sie saßen auf dem Schatz und konnten sich nichts dafür kaufen. Dann eines Tages kam ihnen der rettende Gedanke. Kurz entschlossen reisten sie nach Rom, in die Stadt, die alle Probleme löst. Die Goldstücke in ihren Koffern brannten wie Feuer. Sie schlichen sich nachts zum Trevi-Brunnen und ließen die zweieinhalb Kilo Barren und Münzen ins Wasser gleiten. Mit dem großen Platsch schloss sich der Vorhang über ein dunkles und schreckliches Kapitel in ihrem Leben. Fortan lebten sie glücklich und zufrieden.

 

10

Odysseus wanderte neun Jahre und kehrte im zehnten heim, Troja war neun Jahre belagert und fiel im zehnten. Zehn Jahre währte auch der Kampf der Olympier unter Zeus gegen die Titanen unter Kronos.

 

Ursel kniff die Augen kurzsichtig zusammen und warf einen Blick durch die Sichtscheibe des Ofens: Die Ochsenbackerl bewegten sich leicht zitternd in der Reine mit der blauen Emailleschicht, die Sauce warf Sprechblasen, sie murmelte und maulte leichthin, als würde sie dort drinnen alte Küchengeheimnisse ausplaudern. Ursel nickte zufrieden. Das würde heute Abend das rechte Festmahl werden, eine passende Einstimmung zum morgigen Wandertag. Die gute Laune wurde nur durch die Tatsache getrübt, dass sie gleich den Ruach anrufen musste.

 

Im Bayrischen nennt man einen »Ruach« einerseits einen habgierigen Menschen, andererseits wird als Ruach auch die Habgier selbst bezeichnet. Der Sünder ist mit seiner Sünde sozusagen im selben Begriff eingesperrt. Im alpenländischen Raum versteht man in der Ganovensprache unter einem Ruach aber auch einen Schieber, speziell einen Hehler. Die Verbindung zum hebräischen Rûaḥ (Geist, Atem, Wind, Beseelung) liegt nahe, ein schöner lautmalerischer Ausdruck, der das Geräusch des Windes oder des Atmens nachahmt. Aber was hat die Rûaḥ zum Ruach gemacht? Letzterer haucht dem wertlosen und toten Diebesgut sozusagen Leben ein, indem er es zu quicklebendigem Geld macht. An diesen Haaren könnte man den gierigen und trotzdem notwendigen Ruach herbeiziehen. Der Haus-Ruach der Graseggers forderte

 

Ursel schnipselte an den Beilagen für das Abendmahl herum, warf das Messer auf den Tisch und rief den Ruach an. Sie bat um ein Treffen, erfuhr – warum war sie nicht überrascht? –, dass die Geschäfte schlecht liefen, dass alles in letzter Zeit wegen der unberechenbaren Weltpolitik ziemlich mühsam geworden sei, dass der Goldpreis sinke und sinke und immer weiter sinke, dass die Russen und die Araber sowieso wieder mehr auf Diamanten setzten, kurz: dass unter 51 Prozent nichts zu machen sei. Ursel legte wütend auf. Sie schnaubte. Sie blubberte wie die Ochsenbackerlsauce im Backofen. Ihr Trachtendutt, der das einzig richtig Altmodische an ihr darstellte, zitterte. Der schwarze, festgebundene Haarknoten schien sie immer ein wenig nach hinten zu ziehen. Sie richtete sich auf. Herb, massig, funkensprühend, drohend tatendurstig schien sie. Sie blies sich ein paar heruntergefallene Schläfenlöckchen aus dem Gesicht und überlegte, wie es auf dem steinigen Weg zum ehrsamen Leben weitergehen sollte.

 

Da bog ein übel aussehender Typ um die Ecke, lief auf sie zu, holte mit der entsicherten Handgranate aus, um sie in ihre Richtung zu werfen. Ohne mit der Wimper zu zucken, hob sie ihre doppelläufige Flinte und schoss ihn über den Haufen. Der übel aussehende Typ mit der Narbe quer durchs ganze Gesicht kippte nach hinten um, die Granate explodierte in seiner Hand. Ursel schaltete den Computer wieder aus. Wenn sie sich so ärgerte wie eben über den unverschämten Ruach, ging sie immer in den Keller und streifte den Virtual-Reality-Anzug über. Sie rief dann das Programm mit dem

 

Ursel betrachtete den Zeitungsartikel, den sie an die Wand gepinnt hatte. Von einem ehemaligen Bestattungsunternehmerehepaar war da die Rede, das wieder auf den rechten Weg gekommen sei, weil sich »Verbrechen einfach nicht lohne«. Die Familie Grasegger wäre ein leuchtendes Vorbild für die sonst so orientierungslose Jugend. Und auch die passende Bibelstelle, das Gleichnis vom verlorenen Sohn, fehlte nicht. Der Zeitungsartikel über die beiden reuigen Graseggers hing direkt neben einem Ausriss, der einen unauffälligen Typen zeigte, der sich augenscheinlich in dem dunklen Anzug mit der dezent gepunkteten Krawatte nicht recht wohl fühlte. Er blickte zu Boden, hatte die eine Hand hinter dem Rücken wie ein Kellner, der gerade mittelmäßigen Rotwein ausgeschenkt hat, mit der anderen Hand nahm er eine große Urkunde entgegen.

 

10

»Jede Lüge will zehn andre zum Futter haben, wenn sie nicht sterben soll.«

(Sprichwort)

 

Der Mann auf dem Foto, das Ursel gerade eben auf dem Zeitungsausriss betrachtet hatte, stand jetzt leibhaftig am Bahnsteig des kleinen Bahnhofs. Er war ein gutaussehender Mann in mittlerem Alter, dessen Miene etwas Spitzbübisches hatte. Er blickte genauso aufmerksam und interessiert über die Gleise hinweg in die Ferne, wie die Graseggers vorhin über den Gartenzaun auf die Alpenkulisse geschaut hatten. Der unauffällige Mann zeigte ein wenig Ähnlichkeit mit dem Schauspieler Hugh Grant, gerade erst vor ein paar Tagen bei einem Restaurantbesuch hatten ihn zwei reifere Damen am Nebentisch daraufhin angesprochen.

»Sind Sie es wirklich?«

»Wer?«

»Na, der Schauspieler! Vier Hochzeiten und ein Todesfall?«

»Sie meinen Hugh Grant?«

Er hatte mysteriös gelächelt und die Frage einfach im Raum stehenlassen.

»Kaum zu glauben«, sagte die eine Dame. »Woher können Sie so gut Deutsch?«

»Ich habe deutsche Vorfahren«, antwortete er wahrheitsgemäß.

»Ach, erzählen Sie!«

»Mein Urgroßvater lebte um die 19. Jahrhundertwende hier in der Gegend. Er übte den schönen, aber gefährlichen Beruf des Holzknechts aus. Überdies war er Ensemblemitglied im

Die beiden Damen hörten das ganze Abendessen über staunend zu. Erst beim Dessert kamen ihnen leichte Zweifel.

 

Kriminalhauptkommissar Hubertus Jennerwein war außer Dienst, er konnte sich den kleinen Spaß erlauben. Es heißt ja oft, dass man Polizisten, Ganoven und Lehrer zweihundert Meter gegen den Wind riechen kann, doch Jennerwein war solch eine unaufdringliche, dezente Erscheinung, dass noch nie jemand auf den Gedanken gekommen war, hinter dieser Fassade stecke der emsige und unermüdliche Ermittler, der knallharte Befragungsspezialist und messerscharfe Analytiker. Was man Jennerwein allerdings momentan durchaus ansah, war die Tatsache, dass er sich im entspannten Urlaubsmodus befand. Er war auf dem Weg in den Norden. Er hatte vor, mit dem Zug nach Kiel zu reisen und von dort aus das Fährschiff nach Göteborg zu nehmen. Stockholm … Helsinki … Polarkreis … Vielleicht landete er zu guter Letzt noch am Nordpol. Er wollte sich treiben lassen, so wie er das damals als junger Mensch getan hatte, als er mit zwanzig Mark in der Tasche per Anhalter in den Süden gefahren war. Jennerwein legte den Kopf in den Nacken und dehnte seinen Rücken, als wollte er seinem Körper beweisen, dass sie beide Ferien hatten. Er schlenderte ein paar Schritte sommerfrischlerisch dahin, doch plötzlich blieb er stehen. Sein Blick war auf eine Stelle des zerkratzten und ausgetretenen Bahnsteigrands gefallen. In der Nähe der Steinkante bemerkte er einen kleinen, rötlichen Fleck. Er ging in die Hocke und betrachtete die winzigen Glassplitter, die sich um den Fleck verteilt hatten. Es war zweifellos ein Brillenglas. Und es deutete alles auf Blutspritzer hin. Unwillkürlich griff er in die Tasche, holte einen

»Hey, passen Sie auf, das ist doch gefährlich, so nah an der Bahnsteigkante!«, brüllten zwei bahnblaue Uniformhosenteile neben ihm.

Jennerwein sah hoch und erkannte im Besitzer der zerknitterten Beinkleider einen besorgten Schaffner, der sich um den vermeintlich Lebensmüden kümmern wollte. Schnell stand Jennerwein auf und ging weiter. Man musste nicht hinter alle Geheimnisse kommen.

 

Jennerwein war alles andere als lebensmüde. Er fühlte sich jetzt schon, nach wenigen Tagen Urlaub, lebendiger als je zuvor. Keiner seiner Kollegen hatte es für möglich gehalten, dass Jennerwein es wahrgemacht und ein Sabbatical genommen hatte. Eigentlich hatte ihn sein Chef darauf gebracht.

»Jennerwein, wenn überhaupt einer so eine Auszeit braucht, dann Sie«, hatte Dr. Rosenberger mit seiner dröhnenden Stimme verkündet. »Sie haben eine Aufklärungsquote von hundert Prozent, von wem kann man das schon sagen! Die Ehrung war vollkommen verdient.«

Die »Ehrung« war der Bayrische Verdienstorden, den ihm der Ministerpräsident persönlich angesteckt hatte. Er hatte Jennerwein allerdings verwechselt und ihn für einen Sportfunktionär gehalten. Alle Zeitungen hatten davon berichtet. Einer spontanen Eingebung folgend, hatte der Kommissar eine Reise nach Schweden gebucht. Jennerwein hatte keine besondere Beziehung zu diesem Land, aber er stellte es sich als locker und unangestrengt vor. Er wollte dort ausspannen, sich erholen, zur Ruhe kommen. Einen einzigen festen Termin gab es allerdings, in drei Tagen, bei einem Arzt, einem Spezialisten für Akinetopsie.

 

»Sagen Sie schon!«

»Ich wollte jetzt eigentlich nicht an meinen Beruf denken.«

»Ist er so schlimm, der Beruf?«

»Ganz im Gegenteil. Ich liebe ihn über alles.«

Jennerwein war unbegabt für Lügen aller Art. Er hasste es zu lügen. Nicht aus moralischen Gründen, sondern weil es sich auf die Dauer als viel zu kompliziert herausstellte. Das hatte er als neunjähriges Kind schon erkennen müssen. Damals wollte er einmal testen, wie es denn wäre zu schwindeln, und er hatte den Eltern von einem Treffen mit Tante Agnes auf der Straße erzählt. Das war moralisch gesehen keine Lüge, sondern eher eine – ja, was? –, vielleicht eine Geschichte. Zur moralisch verwerflichen Lüge gehört immer ein Vorteil, der sich für den Lügner aus dieser Lüge ergibt. Er hatte also die

»Aber die ist doch gar nicht hier.«

»Das dachte ich auch. Aber dann ist sie plötzlich aufgetaucht.«

»Was hat sie gesagt?«

Schließlich stand Tante Agnes, die dieses Treffen natürlich abstritt, als Lügnerin da, und Hubertus schämte sich sehr. Das war seines Wissens nach das letzte Mal, dass er gelogen hatte. Und hier, gegenüber dem nervigen Ehepaar? Wiederholt hatte er versucht, sich möglichst unfreundlich von ihnen abzuwenden, doch ohne Erfolg, sie hatten nicht lockergelassen. Dann war er an der Reihe gewesen. Endlich.

»So, Herr Kriminalkommissar, wo fahren wir denn hin?«, röhrte die Schalterbeamtin lautstark. »Aha, nach Schweden. Auch schön. Haben Sie die richtige Creme für die Mitternachtssonne dabei?«

Jetzt wussten es alle dreißig Leute in der Halle.

 

Jennerwein betrachtete die blanken Gleise, die in ihm immer schon ein Gefühl des Fernwehs erzeugt hatten. Dann hob er den Blick. Große Teile des Himmels waren inzwischen grau und schmutzig. So schnell ging das hier im Alpenvorland. Dichte Wolkenpakete schoben sich vor die Sonne, die Menschen drängten sich an ihm vorbei zur überdachten Mitte des Bahnsteigs, um dort Schutz zu suchen vor dem zu erwartenden Regenguss.

 

Und dann spürte er plötzlich eine schwere Männerhand auf der Schulter.

»Kommissar Jennerwein?«

Die Stimme war ihm unbekannt. Oder hatte er sie doch

»Jennerwein stimmt doch, oder?«

Der Mann hinter ihm sprach Dialekt, schweren süddeutschen Dialekt, den er momentan nicht einordnen konnte. Jennerwein hatte keine Ahnung, wer das war. Er drehte sich langsam und vorsichtig um. Er begriff nicht gleich. Dann der Schock. Diesen Mann, der ihm jetzt breit grinsend ins Gesicht blickte, hätte er im Leben nicht erwartet.

 

Vor ihm stand der Allgäuer Kriminalhauptkommissar Kluftinger aus Kempten.

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Auch im Computerzeitalter spielt die Zehn eine große Rolle: Mit der 1 und der 0 ist es möglich, jede beliebige Zahl darzustellen. Dazu der Informatiker»witz«: Es gibt genau zehn Arten von Menschen. Die, die binäre Zahlen verstehen, und die, die es nicht tun.

 

Man hätte nicht auf Anhieb sagen können, um welches Geräusch es sich bei dem saftig klatschenden Fllapff! handelte. In gleichförmigem Abstand von ein oder zwei Sekunden ertönte so etwas wie ein tropfender Wasserhahn, der immer näher kam. Es hätten auch mehrere nicht ganz ernstgemeinte Ohrfeigen sein können. Oder die genüsslichen Hiebe eines französischen Sternekochs beim Plattieren eines Kalbsmedaillons. Es waren jedoch nur die Plastikschlapfen von Hilfspfleger Benni Winternik, der den Krankenhausgang herunterkam. Winternik war ein bartloses, zaundürres Jüngelchen um die zwanzig, er hatte sich für das soziale Jahr verpflichtet und arbeitete schon seit zwei Monaten auf der Station. Er war allerdings ziemlich enttäuscht darüber, dass sie ihm bei all seinen Interessen und Fähigkeiten, die er sich zugutehielt, so wenig verantwortungsvolle Arbeiten übertragen hatten. Er war hier eigentlich nur der Laufbursche für alle. Seine dunkelblaue Arbeitskluft, in die sie ihn gesteckt hatten, verstärkte den unmedizinischen, subalternen Eindruck, er sah eher aus wie ein Monteur oder vielmehr wie der Hiwi eines Monteurs. Viele Patienten erfasste deshalb eine leichte Irritation, wenn er ins Zimmer kam, um Mineralwasser nachzuschenken oder die Betten aufzuschütteln. Heute hatte man ihm eine besonders entwürdigende Aufgabe zugeteilt, nämlich die, mit einer Tippliste für die Wahl zur »Miss World« herumzugehen

 

Das Fllapff! verstummte. Winternik war an einer offenen Tür stehen geblieben, im Krankenzimmer beugte sich Schwester Zilly gerade über einen Patienten, um ihm eine Injektion zu verabreichen. Der Patient lag entspannt auf der Seite, hatte die Hose heruntergezogen und blickte fröhlich drein. Er pfiff sogar den bayrischen Defiliermarsch. Die Schwester war bekannt für ihre schnellen und schmerzlosen Injektionen. Patienten schwärmten von ihr, und ihre Ablenkungsmanöver bei Kindern waren legendär. Winternik wedelte aus der Ferne mit der Liste, deutete darauf, nahm eine sexy Model-Pose ein, rieb dann Daumen und Mittelfinger aneinander. Schwester Zilly nickte beiläufig. Sie interessierte sich wie Winternik nicht die Bohne für solche unterirdischen Wettbewerbe, aber das waren oft die erfolgreichsten Zocker. Sie setzten hoch und machten auf diese Weise die Wetten spannender. Schwester Zilly (die auf dieser Berufsbezeichnung bestand und nicht als »Pflegefachkraft« oder gar »Fachgesundheits- und Krankenpfleger/-in« bezeichnet werden wollte) wandte sich wieder dem Patienten zu.

»Sie werden jetzt einen klitzekleinen Stich spüren. Platz eins für Miss Vatikanstadt.«

»Wie bitte?«, fragte der Patient.

In diesem Moment fuhr sie mit der spitzen Nadel in den Gesäßmuskel. Doch der Gepiekste war viel zu abgelenkt, um irgendetwas zu spüren.

»Aha, interessant. Vatikanstadt auf Platz eins«, sagte Winternik lächelnd und trug den Tipp in seine Liste ein.

»In meiner Kitteltasche sind Münzen«, sagte Schwester Zilly. »Nehmen Sie sich fünf Euro raus.«

»Danke«, sagte er leise zu ihr, warf eine der Münzen in die Luft und fing sie wieder auf.

 

Fllapff! Fllapff! Fllapff! Winternik noppte sich weiter. Dragica, die gründlichste, fleißigste und zuverlässigste Mitarbeiterin des Reinigungsdienstes, kniete am Boden und wischte. Gerade war sie dabei, die Eckleiste mit einer Bürste zu säubern.

»Willst du auch mitwetten?«, fragte Winternik.

»Um was gehts diesmal?«

»Die Wahl zur Miss World.«

»Wenn Serbien mitmacht, dann ja. Euro kriegst du später.«

Es wurde permanent gewettet in diesem Flügel des Krankenhauses. Fußballweltmeisterschaft, Bundestagswahlen, Eurovision Song Contest, jetzt eben das. Früher hatten sie auch Patienten mitwetten lassen, bis die dumme Sache passiert war. Einer hatte bei einer Fußball-WM die richtige Endspielpaarung und das genaue Endspielergebnis vorhergesagt, war aber dann in der Halbzeit vor Aufregung gestorben. Was sollte man tun? Den trauernden Verwandten den Gewinn vorenthalten? Oder ihnen die 89 Euro geben? Beides wäre irgendwie nicht pietätvoll gewesen.

»Serbien als Miss World, guter Tipp«, sagte Winternik zu Dragica.

 

»Vatikanstadt – gibt es da überhaupt Frauen?«, fragte ein Krankenpfleger. »Und wenn, dürfen die dann an Misswahlen teilnehmen?«

Auf dem Namensschild des Pflegers stand D. Buck. Viele kurzsichtige Patienten misslasen den abgekürzten Vornamen als Doktortitel und hielten ihn für einen Arzt. Buck ließ es sich gern gefallen.

»Und wenn da Vatikanstädterinnen teilnehmen«, sinnierte Buck weiter, »wie werden die wohl aussehen?«

Während Benni Winternik das Wettgeld kassierte, trudelte die Belegschaft der heutigen Nachtschicht langsam ein. Die der Nachmittagsschicht war noch teilweise anwesend, doch das Personalzimmer der Station 8 wurde auch gerne von anderen medizinischen Kräften besucht. Der Grund war der, dass Selda Gençuc, die türkische MTA, den besten Kaffee im ganzen Krankenhaus brühte, mit genau abgemessenen Zugaben von geheimnisvollen Kaffeegewürzen. Winternik war froh, dass er heute seine Earphones dabeihatte, denn Kreysel packte im Nachtdienst immer seinen unerschöpflichen Vorrat an unwitzigen Anekdoten aus. Eine solche Labertasche ist immer dabei, dachte Winternik. Wahrscheinlich gab es schon bei den Höhlenmenschen Labertaschen.

 

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