Stephan Kulle
Karmapa
Der neue Stern von Tibet
Fischer e-books
Erschienen bei Scherz, einem Unternehmen
der S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Umschlaggestaltung:BüroSüd, München:
Umschlagabbildung:Kagyü Mönlam/Pema Osel
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ISBN 978-3-651-00019-3
Lama bedeutet allgemein Lehrer. Es gibt verschiedene Ebenen von Lamas und verschiedene Möglichkeiten, den Titel zu erwerben; z.B. durch Ausbildung oder Retreat.
Yogi: Yoga-Meister, ein Praktizierender des tantrischen Buddhismus, der die inneren Yogas praktiziert.
Es heißt, dass der Karmapa am achten Tag des tibetischen fünften Monats geboren sei. Das entspricht dem 26. Juni 1985. Nach eigenen Angaben und nach Angabe seiner Mutter ist er aber am ersten Tag des fünften tibetischen Monats geboren. Also am 19. Juni 1985. Der Fehler entstand bei der telefonischen Übermittlung seiner Daten von Rumtek nach Dharamsala im Juni 1992, als das Büro des Dalai Lama das offizielle Anerkennungsschreiben ausstellte. Bei diesem Telefonat verwechselten die Beamten in der Administration das tibetische Wort für den ersten und den achten Tag. Von diesem Schreiben wurde fortan immer der 26. Juni als offizielles Geburtsdatum übernommen.
Tulku: buddhistischer Meister des Vajrayana-Buddhismus, den man als bewusste, vom Vorgänger selbst bestimmte Wiedergeburt eines früheren Meisters identifiziert hat.
Der 14. Dalai Lama, Vorwort zum Buch »Karmapa The Sacred Prophecy«, 1998, übersetzt aus dem Englischen.
Einweihungen: rituelle Einführung in die Praxis einer Meditationsgottheit.
Retreat: zeitlicher und örtlicher Rückzug in eine spirituelle Ruhepause, meist mit meditativem oder geistlichem Programm, vergleichbar mit christlichen Exerzitien.
Die vier Haupt-Schulen des Tibetischen Buddhismus:
Die Nyingma-Schule des Tibetischen Buddhismus ist die älteste der vier tibetisch-buddhistischen Traditionen und hat ihren Ursprung in Garab Dorje, dem Meister aus Oddiyana. Der indische Guru Padmasambhava, der den Buddhismus im 8. Jahrhundert nach Tibet gebracht hat, ist der Begründer der Nyingma-Schule.
Die Kagyü-Schule des Tibetischen Buddhismus: Die Kagyü-Tradition geht auf den großen indischen Yogi Tilopa (988–1069) zurück. Er war einer der 84 Mahasiddhas aus Indien, der Schüler des historischen Buddha Shakyamuni. Die Übertragungslinie der Lehren Buddhas ging ununterbrochen weiter über Naropa Marpa, Milarepa und Gampopa, dessen Kommen bereits durch Buddha Shakyamuni prophezeit worden war, bis zum Karmapa.
Die Sakya-Schule des Tibetischen Buddhismus: Die Ursprünge der Sakya-Tradition liegen beim großen indischen Yogi Virupa (9. Jhdt.), einer der 84 Mahasiddhas, bei Gayadhara (994–1043) und dessen Schüler Drokmi Lotsawa Shakya Yeshe (992–1072).
Die Gelug-Schule des Tibetischen Buddhismus: Die Gelug-Tradition führt die Linie der Kadampa-Schule des großen indischen Meisters Atisha (982–1054) weiter. Die Schule der Gelugpas war vom tibetischen Meister Je Tsongkhapa Lobsang Drakpa (1357–1419) gegründet worden. Seine Heiligkeit der Dalai Lama gilt als der hochrangigste Vertreter dieser Schule, weil ihm seit seiner fünften Inkarnation die Rolle des spirituellen und weltlichen Führers Tibets zukam. Aus monastischer Sicht ist der Abt des Kloster Ganden der höchste Gelugpa.
Brown, Mick, Der Tanz von Siebzehn Leben, Die unglaubliche, wahre Geschichte des Siebzehnten Karmapa von Tibet. Aus dem Englischen ins Deutsche übertragen von Thomas Roth für das Manuskript der geplanten deutschsprachigen Ausgabe. Für dieses Buch beziehe ich mich auf das mir vorliegende Manuskript und nicht auf die englische Originalausgabe. Deshalb muss ich auf Seitenangaben verzichten.
Die englischsprachige Ausgabe ist unter dem Titel: Dance of 17 Lives: The Incredible True Story of Tibet’s 17th Karmapa, Bloomsbury Publishing, London, 2005 erschienen.
Ebd.
Brown, Mick
Dharmadhatu: Dimensionen des Dharma, Synonym für die letztendliche Wirklichkeit aller Erscheinungen
Übersetzung der autorisierten englischen Fassung des Prophezeiungsbriefes vom März 1992 von Michele Martin
Film »Living Buddha« von Clemens Kuby
Martin, Michele: Lebender Buddha, Der siebzehnte Gyalwa Karmapa Ogyen Trinley Dorje, Theseus Verlag, Berlin, 2004, S. 17
Brown, Mick
Film »Living Buddha«
Brown, Mick
Ebd.
Ebd.
Brown, Mick
Ebd.
Beschreibung der Szene im Film »Living Buddha«
Brown, Mick
Brown, Mick
Martin, Michele, S. 49
Labrang: Klosteradministration eines hochgestellten Würdenträgers
Brown, Mick
Film »Living Buddha«
Martin, Michele, S. 69
Martin, Michele, S. 72
Emanation: Ausstrahlung einer Meditationsgottheit im tibetischen Buddhismus
Brown, Mick
Labrang: siehe Anm. 27
Martin, Michele, S. 97
Martin, Michele, S. 97f
Brown, Mick
Martin, Michele, S. 99
Brown, Mick
Martin, Michele, S. 153
Zu dieser Zeit war Jiang Zemin Staatspräsident der Volksrepublik China
s.o.
Samsara: (Sanskrit: beständiges Wandern), Kreislauf von Werden und Vergehen, Zyklus von Wiedergeburten innerhalb der leidbehafteten Welt. Das Ziel eines Buddhisten ist es, diesen Kreislauf zu verlassen. Samsara bezeichnet den nichtbefreiten Zustand, Nirvana den befreiten.
Dakini: Himmelswandlerin
Das gilt für alle Karmapas. Im Speziellen bezieht es sich auf den ersten Karmapa, Düsum Khyenpa.
Prophezeiungen zusammengetragen von: Dzogchen Pönlop Rinpoche, Geschichte der Karmapas, Weisheit und Mitgefühl in Aktion, Langenfeld/Eifel, 2006, S. 6ff
Artikel: Dzogchen Pönlop Rinpoche, Buddhismus, Internetseite des Kamalashila-Institut, Langenfeld/Eifel
Die bronzene Figur des ersten Karmapa stammt aus dem Ripa-Kloster in Nangchen in Osttibet. Sie wird auf das 17. bis 18. Jahrhundert datiert. Es heißt, dass der Abt des Klosters in tiefer Meditation von der Statue Anweisungen erhalten habe.
Artikel: »Karmapa Denies Indian Police Allegations« vom 29. Jan. 2011, IANS, Dharamsala
ebd.
Artikel: »Karmapa Cash Haul: Chinese Link Found«, Indian Express vom 28. Jan. 2011
Kagyü-Office, Presseverlautbarung vom 29. Januar 2011
Gründe der Flucht des 17. Karmapa ins Exil:
1. Der Druck der chinesischen Behörden, die versucht haben ihn dazu zu bringen, gegen den Dalai Lama Stellung zu beziehen und den von der chinesischen Regierung ausgewählten, falschen Panchen Lama zu unterstützen.
2. Die Vollendung der spirituellen Studien. Traditionell muss der Karmapa die mündlichen Unterweisungen von den Lehrern der Karma-Kagyü-Linie erhalten, die diese mündliche Übertragung direkt vom 16. Karmapa bekommen haben. Alle diese Lehrer leben in Indien und durften nicht nach Tibet einreisen.
3. Der Karmapa wollte Seine Heiligkeit den Dalai Lama treffen und seinen Segen empfangen.
4. Der Karmapa wünschte, das Rumtek-Kloster, seinen Hauptsitz im indischen Exil und die Orte der Aktivitäten des 16. Karmapa zu besuchen. Der 16. Karmapa hat weltweit zahlreiche Karma-Kagyü-Zentren gegründet, und der 17. Karmapa wollte seinen Fußspuren folgen. Wissend, dass Indien ein freies Land ist, im Gegensatz zu Tibet, wo Unterdrückung herrscht und die religiöse Freiheit eingeschränkt ist, kam er nach Indien. Hier wünschte er von seinen Gurus spirituelle Unterweisungen zu erhalten, den buddhistischen Dharma frei praktizieren und lehren zu können, und das sowohl in Indien als auch im Rest der Welt. Das war der Hauptgrund, nach Indien zu kommen.
5. wird die Dankbarkeit des Karmapa gegenüber der indischen Regierung betont, die ihm den Flüchtlingsstatus gewährte; Dankbarkeit auch für die Gastfreundschaft. Er sei sich während des ganzen Aufenthaltes seinen Verpflichtungen dem Land gegenüber bewusst gewesen und versichere, dass er, seitdem er Indien lebt, nichts getan hat, was dem Land schaden oder seine Interessen untergraben würde. Indien sei seine zweite Heimat.
(Kagyü-Office)
Kagyü-Office
Artikel: Gupta, Shishir, »Why India Trusts the Karmapa Lama«, Indian Express vom 4. März 2011
Bericht der Kagyü-Office-Delegation. Vgl. auch: Dholabai, Nishit, »Delhi Changes Karmapa Tune«, The Telegraph vom 4. März 2011
Ein westlicher Schüler als Augenzeuge bei einer Pressekonferenz
Auch der Dalai Lama verfolgte gegenüber China eine »Politik des mittleren Weges«.
Das war am 17. November 1950. Der Dalai Lama war zu der Zeit 15 Jahre alt.
Artikel: Gaurav Bisht, Hindustan Times (online), 05. 07. 2011, 21.03 Uhr (IST)
In den geschäftigen engen Straßen von Dharamsala, dem Exilort der Tibeter in Nordindien, herrschte im Oktober 2008 große Aufregung. Wie ein Lauffeuer sprach es sich herum: Seine Heiligkeit der Dalai Lama war in eine Klinik nach Delhi geflogen worden. Angeblich für eine Notoperation. In die Aufregung der Exilgemeinde mischten sich Verzweiflung und Traurigkeit. Auf dem Tempelberg beteten Hunderte Mönche, Nonnen, Tibeter und westliche Buddhisten für ihren damals 73 Jahre alten Gottkönig. Ihre große Sorge war, dass er sterben könnte. Plötzlich waren sie sich seiner Vergänglichkeit bewusst geworden, und sie fragten sich verzweifelt, wie es nach ihm weitergehen würde. Immer wieder hörte ich leise Andeutungen, dass im Falle seines Todes der Karmapa die spirituelle Führerschaft der Tibeter übernehmen sollte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nie bewusst vom Karmapa gehört. Ich kannte nur den Dalai Lama.
Damals hielt ich mich gerade am Exilsitz des Dalai Lama auf, um in einem Buch über ihn und seine Umgebung zu berichten. Ich wollte der Faszination nachspüren, die von den Tibetern und ihrem Oberhaupt ausgeht. Mit jeder Begegnung lernte ich Neues über ihre Welt und ihre Religion – mehr, als ich mir als Journalist und katholischer Theologe je hatte träumen lassen.
An das geplante Interview mit dem Dalai Lama war nun natürlich nicht mehr zu denken. Ein Staatssekretär im Ministerium für Religion und Kultur der Administration der Tibeter im Exil bedauerte diese unglückliche Fügung des Schicksals und fragte mich nach meinen sonstigen Wünschen. Spontan antwortete ich ihm, ich würde gern den Karmapa treffen, um ihn zu interviewen. Denn ich hatte noch im Ohr, wie zwei finnische Frauen zu mir gesagt hatten: »Der Karmapa ist die Zukunft.« Sie hatten mir auch erzählt, dass er noch jung sei, aber dennoch einer der höchsten Lamas[1] des tibetischen Buddhismus. Seine Augen seien unglaublich, aber er würde nur selten lächeln.
Ein paar Tage später saß ich in einem schlichten, sonnendurchfluteten Audienzzimmer im Gyuto-Kloster, etwas außerhalb von Dharamsala. Vor mir ein dreiundzwanzig Jahre alter Mönch, besonnen und freundlich und gekleidet wie der Dalai Lama: Seine Heiligkeit der 17. Gyalwang Karmapa.
In der Zwischenzeit hatte ich mich informiert, so dass ich nun etwas besser wusste, mit wem ich es zu tun hatte. Auf der Titelseite des Stern prangten schon 1993 sein Bild und die Zeilen: »Vom Nomadenjungen zum neuen Buddha – Ein Kind ist Gott«. Der britische Independent hatte ihn 2001 den »mächtigsten Teenager der Welt« genannt. Ein Jahr später kürte ihn das Time Magazine Asia zum »Asiatischen Helden des Jahres«. »Tibetan Idol« titelte die amerikanische Time.
Trotz seines jugendlichen Alters trägt er bereits die Verantwortung für eine der vier größten tibetisch-buddhistischen Traditionen, die Karma-Kagyü-Linie, auf seinen Schultern. Mehr noch: Er ist lebendige Geschichte, ein »lebender Buddha« in seinem siebzehnten Leben auf der Erde. Seine Linie reicht 900 Jahre zurück.
Im 12. Jahrhundert führte der erste Karmapa das System der bewussten Wiedergeburt von spirituellen Meistern ein, die erst später von allen tibetisch-buddhistischen Linien übernommen wurde. Seitdem inkarniert sich der Karmapa immer wieder.
Vor mir saß ein Mensch aus Fleisch und Blut. Trotzdem führt der Karmapa weder das normale Leben eines jungen Mannes, noch das eines gewöhnlichen tibetischen Geistlichen. Im Alter von vierzehn Jahren floh er, wie einst der Dalai Lama, ins indische Exil. Gegenspieler haben seine Linie gespalten und setzen ihm zu. Sein Alltag ist alles andere als komfortabel: Er lebt in einer provisorischen Residenz, in einer Art goldenem Käfig, auf den die Bezeichnung »golden« nicht einmal zutrifft.
Wie passt das zusammen mit dem Bild eines bedeutenden religiösen Führers?
Der Karmapa schaute mich an. Er lächelte sogar. Ich war überrascht – von ihm und von seiner Ausstrahlung, aber auch über eine seiner Antworten. Ich hatte ihn gefragt, wie er über die Auferstehung von den Toten denkt, so wie sie die Christen als wichtigsten Grund ihres Glaubens kennen. Seine Antwort war nüchtern, aber dafür umso verblüffender: »Ja, ich denke, das ist möglich!«
Das wollte ich kaum glauben. Einer der höchsten Würdenträger des Buddhismus hält das für möglich, womit so manche Christen ihre Probleme haben? Lag es daran, dass Mystik für Tibeter viel alltäglicher ist als für die Menschen im christlichen Abendland? Oder lag es vielmehr daran, dass der Karmapa selbst seit 900 Jahren sagt: »Ich werde wiederkommen«?
Nach dieser ersten Begegnung war mein Interesse an seiner Person geweckt. Ich wollte mehr über ihn und das Geheimnis seiner Reinkarnationen erfahren. Deshalb sagte ich mir: Ich werde wiederkommen – weil auch er immer wiederkommt.
Es war im Juni 2010, als ich gutgelaunt und erwartungsvoll die Stufen des Gyuto-Klosters hinaufstieg. Riesige rote Hibiskusblüten und Rosen in allen Farben säumten den Weg. Zwischen den Säulen von frischgrünen Wacholdern reckten sie ihre Köpfe der Morgensonne entgegen. Es war ein erhebendes Gefühl, den leicht ansteigenden, langgestreckten Klosterhof zu durchqueren, vorbei an den gelb getünchten Unterkünften für die Mönche geradewegs auf den Tempel zu. Wie ein riesiger Altar thronte er unter der Kuppel des weißblauen Himmels, und die schneebefleckten Berge des Himalaya schmiegten sich wie eine gewaltige Kulisse um ihn herum. Obenauf glänzten die weißen Gipfel wie die Spitzen einer Krone. Dahinter liegt das Hochland von Tibet, das Dach der Welt. Die Grenze ist kaum 50 Kilometer Luftlinie von hier entfernt.
Um Punkt zehn Uhr füllte sich der Klosterhof plötzlich mit Leben. Eine quirlige Menge in Dunkelrot strömte aus dem Tempel und die breiten Tempeltreppen hinunter. Unzählige Kindermönche rannten an mir vorbei und verschwanden durch die Türen der Klosterflügel. Die Größeren von ihnen und die Erwachsenen spazierten eher besonnen und in kleinen Gruppen die Stufen hinab. Die gebogenen dottergelben Lama-Hüte balancierten sie zusammengefaltet auf ihren rasierten Häuptern, um die Kopfhaut vor der Sonne zu schützen.
Auf dem umlaufenden Laubengang im obersten Geschoss des Tempelgebäudes entdeckte ich jemanden im roten Gewand, der sich auf die Brüstung stützte und über das Kloster hinweg ins weite Tal schaute. In der Sonne blitzten Brillengläser. Ich überlegte kurz. Dort oben trug nur einer eine Brille, und das war Seine Heiligkeit der 17. Karmapa. Er stand vor der Tür seiner provisorischen Residenz im Exil. Ich winkte kurz in seine Richtung, da drehte er sich um und verschwand. Wenige Augenblicke später tauchte ein Kopf zwischen den goldglänzenden Dachornamenten auf. Da war er wieder, der Karmapa.
Die Sicherheitskontrolle im großen, leeren Foyer gestaltete sich wie gewohnt nüchtern und umständlich. Ich kannte das Prozedere, denn seit 2008 hatte ich den Karmapa bereits einige Male besucht. An einem Tisch saßen drei Männer von drei verschiedenen Polizeien. Jeder von ihnen blätterte mehrfach meinen Reisepass durch und notierte etwas in einem von drei Büchern. Dann händigten sie mir wortlos einen dunkelblauen Ausweis aus, der an einem blauen Band hing. Der Aufdruck »Visitor« berechtigte mich, den Sicherheitsbereich um den Karmapa herum zu betreten.
Zwei junge Mönche kamen auf mich zu und begleiteten mich in den Warteraum, der hinter der schlichten Empfangshalle lag. Bei Milchtee und Plätzchen sollte ich auf einem der weiß verhüllten Sofas warten.
Heute war nur eine Handvoll Audienzgäste versammelt. Außer einem Ehepaar aus dem Westen sah ich nur asiatische Gesichter. Alle wollten sie den Karmapa persönlich treffen. Sie hantierten aufgeregt mit aufwändig verpackten Geschenken und versuchten sich immer wieder daran, den Khatag, einen langen Segensschal aus weißer, schimmernder Seide dem üblichen Brauch nach zunächst achtmal zu falten und dann bis zum fransigen Ende aufzurollen.
Plötzlich stand Chemed, der Audienzsekretär, neben mir. Mein Blick blieb an den goldenen Knöpfen seines dunkelblauen Sakkos hängen. Er war einer der wenigen Laienmitarbeiter des Karmapa und zuständig für die Planung und Durchführung der Privataudienzen. Wer von ihm einen der begehrten Termine erhalten hatte, durfte Seine Heiligkeit für ein paar Augenblicke sehen, gerade lang genug für eine Begrüßung und einen Segen. Ich wollte aber mehr als nur den Segen, ich wollte ein Buch schreiben. Chemed war daher vom Karmapa gebeten worden, in der folgenden Zeit einige Gesprächstermine für mich zu arrangieren, damit wir ausführlich über sein Leben von der Kindheit bis heute, über die Rolle und die Geschichte der Karmapas, über seine eigene aktuelle Situation und über die Zukunft sprechen konnten. Ich brauchte Zeit mit ihm, und zwar möglichst viel, aber gerade das war ein Problem. Denn nach Vorgabe sowohl der indischen Regierung als auch der tibetischen Administration des Dalai Lama im Exil war es dem Karmapa nur erlaubt, innerhalb der eineinhalbstündigen Audienzzeit am Vormittag Besucher zu empfangen.
Chemed flüsterte, es sei alles vorbereitet. Dann ging es schon los. Unter den strengen Augen zweier indischer Polizisten mit Maschinengewehren kontrollierten sechs Sicherheitsleute der tibetischen Administration alle Taschen und Kleidungsstücke der Besucher. Ich bemerkte ein neues Metalldetektor-Gerät, wie man es von Flughäfen kennt. Es piepte unaufhörlich, entsprechend umfangreich fiel daher auch die Leibesvisitation aus. Vorsorglich hatte ich alle elektronischen Geräte und alle metallischen Gegenstände in meiner Unterkunft gelassen. Aber nun sollte ich auch noch den Kugelschreiber abgeben, der in meiner Sakkotasche steckte. Vorschrift hin oder her, den brauchte ich zum Schreiben. Alle Proteste und Erklärungen halfen jedoch nichts.
Oben im vierten Stock stand ich dann in Strümpfen auf dem grünen Kunstrasen, der geradewegs zur Tür des Audienzzimmers führte. Meiner Schuhe hatte ich mich schon eine Etage tiefer entledigen müssen. Ich erinnerte mich an Audienzen beim Heiligen Vater und an das Klacken der Absätze auf den spiegelnden Marmorböden des Papstpalastes im Vatikan. Dort hatte es immer nach frischem Bohnerwachs und Rasierwasser gerochen. Hier duftete es nach Wiese und Weihrauch.
Chemed hatte mich auf die letzte Position gesetzt. Am Ende der Warteschlange zu stehen, war bisher immer am unterhaltsamsten gewesen, denn nach hinten begrenzten nur ein bewaffneter Polizist und vor ihm zwei junge Mönche den Bereich. Ich kannte sie schon von vorhergehenden Audienzen, und wie damals unterhielten wir uns auch jetzt über Ballack und Lehmann, über Bayern München und Chelsea.
Es ging recht schnell voran. Nur noch das westliche Paar in weiten Leinenkleidern und wilden Locken, dann war ich dran. Zwei asiatische Nonnen in langen hellgrauen Gewändern verließen den Audienzraum verbeugt und im Rückwärtsgang, schon schoben die Leibwächter die Westler hinein.
Endlich war ich an der Reihe. Mitten im Raum stand Seine Heiligkeit lächelnd auf dem grünen Teppich. Ich ging langsam auf ihn zu und kämpfte mit dem Segensschal. Er wollte sich einfach nicht entrollen lassen.
»Guten Morgen Stephan«, begrüßte er mich auf Englisch, und griff sich die Rolle. »Oh je, was hast du denn da gemacht?«, rief er.
Die langen Fransen hatten sich verknotet. Es dauerte einen Augenblick, bis er das Knäuel entwirrt hatte und mir die nun knittrige Khatag um den Hals legen konnte. Dann streckte er die Arme aus, als wollte er sich entspannen und ließ mich auf einem Plexiglas-Sofa Platz nehmen, das im rechten Winkel zu seinem stand. Diese Sofas hatten einen kuriosen Effekt: Wenn man die Augen leicht zusammenkniff, sah es so aus, als würde der Karmapa auf dem grünbuntkarierten Sitzpolster über dem Boden schweben. Er saß noch nicht ganz, da fragte er schmunzelnd: »Und, wie weit bist du mit dem Buch?«
»Fast fertig!«, gab ich zurück. »Ich brauche nur noch ein paar Antworten, dann ist es schon geschafft.«
»Wirklich?«, fragte er erstaunt zurück und sah mich mit großen Augen an, aber ich erkannte sofort, dass er den Spaß verstanden hatte.
Auf dem Glastisch zwischen uns lag ein modernes Aufnahmegerät, das ein Mitarbeiter aus dem Pressebüro vorher eingerichtet hatte. Der Karmapa schaute nach, ob das Gerät bereit war und sagte, wir könnten sofort beginnen. Mit einer Handbewegung wies er Chemed einen Platz auf dem Teppich zu, denn der sollte Seine Heiligkeit aus dem Tibetischen ins Englische übersetzen. Ich fragte den Karmapa, warum er denn nicht gleich Englisch sprechen wolle. Da streckte er seine flache Hand gegen mich aus und zischte: »Tsch Tsch … mein Englisch ist nicht gut.«
»Doch, es ist gut«, widersprach ich.
»Es ist wie arabisch klingendes Englisch. Besser also mit Übersetzung …!«
Er lachte, und Chemed blickte verlegen auf den Teppich.
Ich hatte Verständnis für seine Entscheidung, denn bei wichtigen Themen und heiklen Angelegenheiten empfiehlt es sich, die eigene Muttersprache zu benutzen, um keine Fehler zu begehen. Bei jemandem in einer so hohen Position wird bekanntlich jedes Wort auf die Goldwaage gelegt. Auch der Dalai Lama, der ein recht gutes Englisch spricht, formuliert öffentliche Ansprachen lieber auf Tibetisch, vor allem wenn es um buddhistische Unterweisungen oder um komplizierte politische Fragen geht.
»Worüber sprechen wir?«, eröffnete der Karmapa das Interview und sah mich erwartungsvoll lächelnd an.
»Über die Kindheit«, sagte ich und suchte die richtige Seite in meinem Notizbuch.
»Über mich? Über meine Kindheit?«, fragte er nach und schien plötzlich zurückhaltend.
Mir war bewusst, wen ich vor mir hatte, daher war ich unsicher, ob es angemessen war, ihm Fragen über seine frühen Jahre zu stellen. Schließlich war er nicht irgendein Mönch, sondern jener spirituelle Führer Tibets, der zu einer wichtigen Stimme im Dialog der Religionen werden würde. Er war die Hoffnung der Tibeter und möglicherweise das zukünftige Gesicht des Buddhismus, so wie es seit einigen Jahrzehnten der 14. Dalai Lama ist. Der Karmapa ist das Oberhaupt einer der vier Traditionen des tibetischen Buddhismus, der Karma-Kagyü-Schule. Er ist Träger der Schwarzen Krone, die seine spirituelle Meisterschaft symbolisiert, und das jüngste Glied einer Kette erleuchteter Wesen, die zurückreicht bis zum historischen Buddha Shakyamuni, der 500 vor Christus in Indien lebte. Im 12. Jahrhundert führte diese Kette erleuchteter Wesen zum ersten Karmapa, der die einzigartige Fähigkeit entwickelte, seine Reinkarnation genau vorauszusagen. Dies tun ihm seit nunmehr 900 Jahren alle Karmapas gleich, während die Übertragungslinie der Dalai Lamas erst 300 Jahre später entstand.
Vor mir saß nun also dieser bedeutende spirituelle Meister in seiner siebzehnten Inkarnation, scheinbar ein junger Mönch von 25 Jahren, aber im Grunde 900 Jahre alt. Ehe man über seine Geburt und seine Kindheit spricht, sollte man ein paar äußerst wichtige Ereignisse vor seiner Geburt beleuchten. Nur so wird die Besonderheit seines Lebens deutlich.
*
Es war Ende Januar 1981, im letzten Monat des tibetischen Eisenaffenjahres. Seine Heiligkeit der 16. Karmapa, Rangjung Rigpe Dorje, litt an einer schweren Krebserkrankung und war nach Kalkutta gefahren, um sich ärztlich behandeln zu lassen. Für die letzten Tage dort rief er Situ Rinpoche, einen seiner vertrautesten Lamas und Linienhalter, zu sich, damit der ihm Gesellschaft leiste. Am Vormittag des fünften Tages wollten sie auf den Markt für Ziervögel gehen und Sehenswürdigkeiten besichtigen. Seine Heiligkeit war trotz seiner Krankheit bester Laune, erzählte Geschichten von früher und gab seinem Schüler auch eine Reihe von spirituellen Anweisungen zur Meditation.
Wie an jedem der Abende zuvor redeten sie nach dem Essen bis spät in die Nacht. Kurz vor dem Schlafengehen brachte Situ Rinpoche dem Karmapa einen frisch gepressten Orangensaft, weil er wusste, dass er ihn besonders gern mochte. Das war der Augenblick, als ihm der Karmapa ein Schutzamulett gab und sagte: »Das ist ein sehr wichtiger Schutz. Er wird dir einmal gute Dienste erweisen.« Zehn Monate danach starb der 16. Karmapa. Kurz vor seinem Tod hatte er den getreuesten seiner Lamas noch gesagt: »Weint nicht. Ich werde wiederkommen …«
*
Während im indischen Exil die Anhänger des 1981 verstorbenen 16. Karmapa verzweifelt nach dem Prophezeiungsbrief für seine nächste Inkarnation suchten, bahnte sich im fernen Osten Tibets Erstaunliches an: Im Frühjahr 1984 saß ein Ehepaar mittleren Alters vor dem schlichten Thron von Amdo Palden, dem Abt des Karlek-Klosters im osttibetischen Hochland nördlich der Himalaya-Kette. Döndrup und Lolaga waren von ihrem Nomadencamp aus dem Bakhor-Tal zu dem kleinen ländlichen Kloster gepilgert. Die buddhistischen Mönche und die Nomadenfamilien aus der Umgebung hatten es nach der Zerstörung durch die Soldaten der chinesischen Befreiungsarmee mit wenig Geld und viel Mühe gerade erst wieder aufgebaut. Endlich konnte der Abt wieder junge Mönche ausbilden.
Döndrup und Lolaga wollten von Amdo Palden Hilfe und Unterstützung für die Geburt eines Sohnes erbitten. Sie waren zwar schon Eltern eines fast erwachsenen Sohnes und sechs nachfolgender Töchter, aber sie sehnten sich nach einem weiteren Sohn. Ihr Wunsch war lange Zeit unerfüllt geblieben.
Abt Amdo Palden war ein stattlicher Mann mit strahlenden Augen in einem kantigen, sonnengegerbten Gesicht. Seine extrem langen schwarzen Haare trug er zu einem Turban aufgetürmt, wie es große Yogis in Tibet traditionell tun. Es war noch nicht lange her, dass er aus einem chinesischen Gefängnis entlassen worden war. Die zwanzig Jahre Inhaftierung und Folter sah man ihm nicht an. Ein Yogi[2] seines Kalibers kann dank seiner spirituellen Kraft noch ganz andere Herausforderungen überleben, heißt es. Döndrup und Lolaga vertrauten ihm. Der Abt sah sie lange an, sann nach und sagte ihnen schließlich seine Hilfe zu. Jedoch stellte er die Bedingung, dass die Eltern ihren zukünftigen Sohn als Mönch in sein Kloster geben. Nachdem die Eltern zugestimmt hatten, sagte er ihnen, was zu tun sei. Sie sollten Pilgerfahrten unternehmen, den Armen und Bedürftigen Almosen gewähren und besondere Gebete sprechen – es handelte sich dabei immerhin um 111000 Mantren. Amdo Palden selbst versprach auch, besondere Gebete zu sprechen und Rituale für ein gutes Gelingen abzuhalten.
Ihre Gebete sollten bald erhört werden.
Die Nomadenfamilie von Döndrup und Lolaga stammt aus der Siedlung Bakhor im Bezirk Lhatok, der in der Region Kham im Osten Tibets gelegen ist. Lhatok ist ein riesiges Gebiet etwa von der Größe der Eifel. Die Dimensionen des Landes und die Verteilung der Bevölkerung versteht man erst, wenn man sich vergegenwärtigt, dass ganz Tibet ungefähr so groß ist wie Westeuropa. Eine Fläche, die von nur knapp sechs Millionen Tibetern bewohnt wird. Bakhor liegt etwa 1500 Kilometer östlich von der Hauptstadt Lhasa in Zentraltibet.
In ihrer Siedlung leben fast 70 Familien mit über 400 Menschen in mehr oder weniger lockeren Verbänden und Nachbarschaften zusammen. Den rauen Winter über bleiben sie zusammen in Bakhor. In den kalten Monaten bewohnt die Familie von Döndrup und Lolaga ein geräumiges Steinhaus mit einem angebauten Stall für die Tiere. Sie besaßen damals sieben bis acht Pferde, etwa 200 Schafe und Ziegen und etwa 80 Yaks. Somit waren sie als ziemlich wohlhabend angesehen.
Etwa neun Monate im Jahr kampieren die Familien an den sattgrünen Weiden auf dem Dach der Welt, wo ihre Tiere reichlich Futter und Auslauf finden. Nur wenige staubige Pfade durchziehen die hügelige Hochebene wie helle Adern. Früher befanden sich hier noch dichte, gesunde Wälder, heute sind auf den kahlen Berghängen nur noch die abgesägten Stümpfe zu sehen. Die Bäume wurden von den Chinesen in den 1960er und 70er Jahren radikal abgeholzt. Also bleibt den Nomadenfamilien für ihren Lebensunterhalt nur noch das Vieh. An geeigneten Stellen in den Tälern, bei den Flüssen, die kristallklares, mineralreiches Wasser von den Gletschern der Achttausender herab tragen, schlagen sie ihre Quartiere auf. Meistens sind es drei oder vier Familien, die zusammen von Ort zu Ort ziehen. Sie sind in der Regel verwandtschaftlich verbunden, aber zugleich auch eine Nutzgemeinschaft, denn in der Abgeschiedenheit sind sie oft auf gegenseitige Hilfe angewiesen. Nur ganz selten kreuzen Pilger oder Händler ihre Wege. Im Laufe des Sommers wechseln sie etwa drei- bis viermal den Standort, damit die Tiere frische Weiden und genügend Wasser zur Verfügung haben.
Jede Familie bewohnt ein kreisförmiges großes Zelt aus schwarzem Yak-Haar. Gegenüber dem Eingang befindet sich meist der Altar, mit Buddha-Statuen, Bildern von hohen Lamas, Opferschalen und einer immer brennenden Butterlampe, als Symbol der erleuchteten Buddha-Natur. Der Boden ist mit Teppichen bedeckt, und am inneren Zeltrand stehen große Kisten mit den Habseligkeiten der Familie und die Ausrüstung für das tägliche Leben. Elektrizität gibt es dort oben in etwa 4000 Metern Höhe natürlich nicht. »Künstliches« Licht spenden ausschließlich das Feuer und die Butterlampen, die den ganzen Tag brennen. Tageslicht dringt nur durch die aufgefaltete Tür und eine große verschließbare Öffnung an der Spitze des Zeltdaches ins Innere. Durch diese obere Öffnung entweicht auch der aufsteigende Rauch von der Feuerstelle in der Mitte des Zeltes. Fenster gibt es keine.
Der Lebensrhythmus der Nomaden wird vom Mond bestimmt. Zu Zeiten von Neumond und Vollmond werden besondere Rituale abgehalten. Für das Schlachten von Tieren oder für den Abschluss von Geschäften wird nach einem günstigen Zeitpunkt im Mondkalender geschaut.
Sonnenorientierte Völker sind eher patriarchalisch organisiert, weil die Sonne an sich dem rationalen, also dem als männlich geltenden Prinzip zugeordnet ist. Nomadenvölker sind mondorientierte Gemeinschaften. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass die Frauen in den Nomadensiedlungen eine wichtige und bestimmende Rolle innehaben, weil sie das Alltagsleben organisieren und aufrechterhalten.
Die Frauen führen mit sanfter Hand Regie im Zelt, versorgen und erziehen die Kinder und betreuen die Alten. Die Männer verbringen den Tag meist draußen. Ihre Aufgabe ist es, sich um die Tiere zu kümmern und den Lebensunterhalt zu sichern. In kleinen Gruppen reiten sie etwa einmal im Monat in die nächstgelegene Stadt, um selbsterzeugte Wolle und verschiedene Milchprodukte gegen andere Waren einzutauschen, denn ohne Reis, Tee, Salz und andere nützliche Dinge wie Werkzeuge könnten sie oben im Hochland nicht überleben. Von ihren tagelangen Reisen bringen sie auch Gerste mit, die sie für die Herstellung von Tsampa brauchen. Die tibetische Nationalspeise Tsampa ist ein Teig aus geröstetem Gerstenmehl, Butter und Tee, der zu allen Gelegenheiten gegessen wird, wie andernorts Kartoffeln oder Nudeln.
Ihre Kleidung nähen sie aus den Fellen der Yaks und der Schafe. Aus der Schafwolle weben und stricken sie Teppiche, Pullover, Mützen und Strümpfe. Auf den Märkten kaufen sie aber auch bunte Stoffe. Tibetische Frauen tragen über ihrem dunklen Gewand, der Chuba, gerne farbenfrohe Tücher und Schürzen.
Das Yak ist das wichtigste Nutztier und wird vom Horn bis zum Huf verwertet. Haut und Haare für Kleidung und Zelt, das Fleisch wird gepökelt und für die kalte Jahreszeit getrocknet. In den harten Wintern brauchen die Nomaden Fleisch und Fett, um die extremen Temperaturen von bis zu minus 30 Grad Celsius überstehen zu können. Die Milch der Yak-Kühe wird zu Butter, Joghurt und verschiedenen Arten von Käsen verarbeitet. Ohne die Yak-Butter gäbe es nicht den berühmten salzig-öligen Buttertee. Selbst die Exkremente des Yak finden Verwendung. Der getrocknete Dung wird in der Feuerstelle zum Kochen und Heizen genutzt.
Die Unterstützung Amdo Paldens erwies sich als erfolgreich. Döndrup war nach Lhasa gepilgert, wie der Abt ihn geheißen hatte. Lolaga und die Großmutter hatten gut die Hälfte der einhundertelftausend Gebete verrichtet. Da wurde Lolaga schwanger. Nun war es höchste Zeit, den Rest der aufgetragenen Aufgaben zu erfüllen.
Nach Bekundung der Familienmitglieder hatten mehrere von ihnen, auch die Mutter, vor der Geburt des Kindes besondere Träume. Am ersten Tag des fünften tibetischen Monats im Holzochsen-Jahr, also am 19. Juni 1985[3], brachte Lolaga einen gesunden Jungen zur Welt.
Etwa drei Tage nach der Geburt des Kleinen, den die Schwestern nur Apo Gaga, »glücklicher kleiner Bruder«, nannten, soll der seltsame Klang eines Muschelhornes zuerst das Zelt der Familie und dann das ganze Tal erfüllt haben, wird berichtet. Familie und Nachbarn seien verwundert umhergelaufen, um die Quelle des Klangs zu erkunden, konnten aber offenbar nichts finden. Dies war nur eines von vielen überlieferten Zeichen, die nach tibetischem Verständnis darauf hindeuteten, dass das Neugeborene ein besonderes Wesen sei.
Amdo Palden bestätigte, dass der Junge ein Tulku[4], eine besondere Wiedergeburt eines Lama war. Der Abt war auch in dieser Beziehung ein erfahrener Yogi, der das Potential eines Kindes meist auf den ersten Blick erkennen konnte. Dem kleinen Apo Gaga wollte er aber nicht wie üblich einen Namen geben. In Tibet suchen nicht die Eltern einen Namen für ihr Kind aus, sie überlassen die Namenswahl einem Lama, der dem Kind die buddhistische Zuflucht erteilt. Die Zuflucht bedeutet, dass das Kind eine karmische Verbindung zu Buddha und seinen Lehren knüpft, und gilt als ein ähnlicher Akt wie die christliche Taufe oder die Beschneidung bei den Juden. Amdo Palden hatte den Eltern gesagt, sie sollten später einen hohen Würdenträger, der den besonderen Ehrentitel Rinpoche trägt, fragen, wessen Inkarnation das Kind ist.
So wurde der Kleine erst einmal einfach nur Apo Gaga genannt. Er war ein ruhiges und heiteres Kind, fand schnell seinen eigenen Platz im Kreise der Großfamilie und wurde von allen, ganz besonders von der Mutter, warm und herzlich umsorgt. Seine Schwester Palzom sagt: »Er war unser Sonnenschein.«
Für viele im christlichen Abendland, besonders für Nichtgläubige, bedeutet es einen gedanklichen Spagat, sich auf die Idee von der Wiedergeburt einzulassen. Was in der fernöstlichen Religion des tibetischen Buddhismus zum Alltagsleben gehört, hält man hierzulande kaum für möglich. Manche Christen haben ja schon mit dem eigenen Glaubensgrundsatz der Auferstehung von den Toten ein Problem. Wie soll man dann erst mit dem mystisch anmutenden Vorgang einer bewusst gesteuerten Wiedergeburt umgehen?
Wie eine Billardkugel, die ihren Impuls an die angestoßene nächste weitergibt, wie eine Butterlampe, an deren Flamme sich die nächste entzünden lässt, das sind die klassischen Bilder, die eine Reinkarnation nach buddhistischer Auffassung anschaulich beschreiben. Demnach wird das Bewusstsein des gegenwärtigen Lebens durch die Gesamtheit der gespeicherten Informationen vergangener Existenzen geprägt. Es ist ein ununterbrochener und zugleich individueller Bewusstseinsstrom aufeinander folgender Existenzen. Ein Wiedergeborener wird mit den Folgen von Ereignissen und Taten aus seinem vorigen Leben konfrontiert. Die stärksten Eindrücke aus dem Vorleben bestimmen die Umstände des zukünftigen Lebens. Wenn man heutzutage im Westen damit kokettiert, dass man »schlechtes Karma« habe, bedeutet dieser Ausdruck eigentlich, dass einen die Taten des Vorlebens wieder einholen. Das beinhaltet aber auch die Möglichkeit, in diesem Leben etwas besser zu machen und zum Wohle anderer zu handeln. Und genauso kann man im aktuellen Leben sozusagen für das nächste vorsorgen, indem man Gutes tut und seine innere Einstellung positiv ausrichtet.
Über die herkömmliche Form der Wiedergeburt hinaus kennen die Buddhisten aber noch eine besondere Form der willentlichen Wiedergeburt. Diesen Prozess der Informationsweitergabe bewusst und kontrolliert zu steuern, vermögen nur große spirituelle Meister. Buddhisten nennen sie erleuchtete Wesen, Tulkus. Ihnen gelingt es durch jahrelanges Studium und ausdauernde Meditation, ihren Bewusstseinsstrom besonders zu trainieren und die darin gespeicherte Information gezielt auszurichten. Im Augenblick des Todes, wenn ihr Bewusstsein den alten Körper verlässt, sind sie imstande willentlich zu entscheiden, wann, wo und in welchen Umständen sie wieder Geburt annehmen. Sie wählen die Bedingungen ihrer neuen Inkarnation bewusst so, dass sie ihre wohltätige Arbeit im neuen Leben fortführen können.
Die Zeit zwischen zwei Inkarnationen bezeichnet man im tibetischen Buddhismus als Zwischenzustand, Bardo genannt. Traditionell spricht man von einer Länge von 49 Tagen, die noch einmal in verschiedene Phasen unterteilt sind. Tatsächlich kann der Zwischenzustand aber mehrere Jahre dauern.
Der erste historisch verbürgte, bewusst wiedergeborene Lama in der Geschichte des tibetischen Buddhismus war der 1. Karmapa, Düsum Khyenpa. Der 14. Dalai Lama bemerkt dazu: »Düsum Khyenpa war der erste tibetische Lama, der klare Hinweise über die Einzelheiten seiner nächsten Geburt hinterlassen hat, die das Auffinden seines Nachfolgers ermöglichten. Insofern hat er die Institution der anerkannten reinkarnierten Lamas eingeführt, die für den tibetischen Buddhismus so charakteristisch ist …«[5]
Die Tulkus begründen ein einzigartiges System der Nachfolge, das die Kontinuität der Klöster und deren gemeinnütziges Wirken ermöglicht. Sie bilden die lange Reihe der »spirituellen Sozialarbeiter«, die unzähligen Klöstern in Tibet und den angrenzenden Himalaya-Regionen vorstehen und dort ihren Beitrag zum Wohl der Gemeinschaft leisten.
Die Tibeter sagen, bewusste Wiedergeburt sei kein Automatismus. Tulkus kehren nur zurück, wenn sie gebraucht werden und wenn ihre Anhänger für ihre Wiedergeburt beten.
Vieles im Leben des 17. Karmapa lässt sich besser verstehen, wenn man die Lebensgeschichte seines Vorgängers betrachtet.
Der 15. Karmapa hinterließ die genauen Einzelheiten seiner zukünftigen Wiedergeburt in einem schriftlichen Dokument, das er seinem Schüler und Begleiter Jampal Tsültrim gab. Darin waren die Namen der zukünftigen Eltern, die Beschreibung der Region und des elterlichen Hauses sowie das Jahr der Wiedergeburt notiert. Der Mönch war sich aber der Bedeutung des Schriftstückes nicht bewusst. Nach dem Tod des 15. Karmapa im Jahr 1922 begab sich eben dieser Schüler auf Pilgerschaft und war jahrelang nicht aufzufinden. Das kostbare Dokument trug er bei sich, und so blieb den Mönchen des Klosters Tsurphu nichts anderes übrig, als den 11. Situ Rinpoche, einen der Linienhalter der Karma-Kagyü-Linie, um Rat zu fragen. Jener war in ganz Tibet bekannt für seine besondere Begabung, Wiedergeburten von hohen Lamas aufzufinden. Mit den Details seiner Visionen schickte man einen Suchtrupp los, der das Kind bald finden und identifizieren konnte.
Der 16. Karmapa, Ranjung Rigpe Dorje, war 1924 in eine sehr angesehene Familie hineingeboren worden. Sein Vater war Minister im Kabinett des Königs von Derge, einer bedeutenden Provinz in Osttibet. Jedoch gestaltete sich die Inthronisation des Karmapa schwierig, weil sich der 13. Dalai Lama weigerte, das Kind offiziell anzuerkennen, ohne das Dokument des 15. Karmapa gesehen zu haben – es war nicht auffindbar. Gleichzeitig meldete man ein weiteres Kind als mögliche Reinkarnation des Karmapa. Das Dilemma konnte erst gelöst werden, als der Mönch Jampal Tsültrim nach jahrelanger Pilgerschaft in das Kloster Tsurphu zurückkehrte. Das kostbare Dokument bestätigte Ranjung Rigpe Dorje als Nachfolger. Daraufhin erkannte der Dalai Lama das Kind aus Derge offiziell als 16. Karmapa an.
Alle Erzählungen und Berichte über den 16. Karmapa beschreiben ihn als einen besonders begabten und charismatischen Lama. Seine majestätische und zugleich väterliche Art hat ihm viele Anhänger und einflussreiche Unterstützer über die Landesgrenzen hinaus beschert.
Noch vor seiner Flucht vor den chinesischen Besatzern im Jahr 1959 frischte er auf zwei Reisen die historischen Kontakte zu den buddhistischen Königshäusern in Sikkim und Bhutan persönlich auf. In Indien wurde er nicht nur von Staatschef Nehru, sondern auch von einigen prominenten, einflussreichen Familien mit großen Ehren empfangen und sicherte sich so wertvolle Unterstützung für die Zukunft. Diese Kontakte haben seine Lage und die der mit ihm flüchtenden Tibeter im Herbst 1959 sehr erleichtert. Der 16. Karmapa und seine Begleiter entkamen den Truppen der chinesischen Armee über Bhutan nach Sikkim, das zu dieser Zeit noch ein unabhängiges Königreich war. Dort hatte bereits der 9. Karmapa drei berühmte Karma-Kagyü-Klöster gegründet, die bis heute erhalten geblieben sind. Eines davon war das Kloster Rumtek nahe der sikkimesischen Hauptstadt Gangtok. Dieses Kloster sollte fortan sein Hauptsitz im Exil sein. Das sikkimesische Königshaus überließ ihm stattliche Grundstücke, um ein neues Kloster und Unterkünfte für seine Begleiter zu errichten. Praktische Unterstützung kam auch aus Bhutan. Der dortige König stattete den Karmapa, die vier jungen Linienhalter und eine Reihe hoher Kagyü-Lamas mit bhutanesischen Diplomatenpässen aus. Das verschaffte ihnen Reisefreiheit und einen gesicherten Status. Mit Spenden von Anhängern und Wohltätern aus Indien, Sikkim und Bhutan konnte das neue Kloster Rumtek 1966 eingeweiht werden.
1974 veränderte sich die politische Lage in Sikkim. 1975 wurde das Königreich von Indien annektiert und fortan als 22. Bundesstaat des Subkontinents geführt. In jener unruhigen Zeit begab sich der 16. Karmapa auf seine erste Reise in den Westen. Der 16. Karmapa und die höheren Kagyü-Lamas waren dank ihrer buthanesischen Pässe viel beweglicher als beispielsweise der 14. Dalai Lama, der in Indien jahrelang einen ungeklärten Flüchtlingsstatus hatte und deshalb lange Zeit nicht reisen konnte. Sie – und nicht wie allseits angenommen der Dalai Lama – waren es, die die ersten Schritte in die westliche Welt wagen konnten.
Dies war auch die Zeit, in der die ersten Wellen der sehnsüchtig sinnsuchenden Blumenkinder und Hippies Indien, Nepal und auch das Kloster Rumtek in Sikkim erreichten. Sie kamen, um bei Gurus und spirituellen Meistern wie Sai Baba, Maharishi Mahesh oder den tibetischen Lamas Bestätigung zu finden und ihre Ideale von einem selbstbestimmten, sinnerfüllten Leben zu verwirklichen.
Die oft aus bürgerlichem Hause stammenden rebellischen Söhne und Töchter der 68er-Bewegung lehnten sich gegen das Establishment in ihren von Materialismus geprägten Gesellschaften auf. Die tibetischen Lamas nahmen sich dieser jungen Menschen mit viel Geduld, gesundem Pragmatismus und bedingungsloser Zuwendung an. Mit natürlicher Autorität und Glaubwürdigkeit gelang es ihnen häufig, die rebellierenden und oft drogenabhängigen jungen Leute zu sozial denkenden, verantwortungsvollen und selbstbewussten Menschen zu machen. Diese Metamorphose konnte man auch in vielen westlichen Ländern beobachten, wo tibetische Lehrer wirkten.
Im Laufe der 1970er und 80er Jahre entstanden in den USA und Europa mehrere große Zentren und buddhistische Organisationen unter der Leitung von namhaften Karma-Kagyü-Lehrern. Innerhalb weniger Jahre etablierten sie sich als angesehene Institutionen, in denen die im Ursprungsland gefährdeten Schätze der tibetisch-buddhistischen Tradition durch authentische Lehrer weitergegeben und in die westliche Kultur integriert wurden.
Im November 1981 starb der 16. Karmapa in Chicago in den USA mit nur 57 Jahren an einem Krebsleiden.
Die ersten Jahre seiner Kindheit verbrachte Apo Gaga mit seinen Geschwistern und den kleinen Spielkameraden aus der Nachbarschaft auf den malerischen Bergwiesen und in den fruchtbaren Flusstälern in Lhatok. Besonders gern streifte er stundenlang mit seiner weiß-schwarzen Ziege Kayu auf den Bergen umher, manchmal ritt er auch auf ihr. Das ging ganz gut, weil sie ziemlich groß war, erzählte seine acht Jahre ältere Schwester Palzom. »Es war eine besondere Ziege. Das Außergewöhnliche an ihr war, dass sie drei Ohren hatte, aber dafür keine Hörner.« Diese Tatsache schien die Ziege für den kleinen Apo Gaga besonders interessant zu machen. Seine Schwester sagte, dass es eine glückliche Fügung war, dass das Tier, obwohl eigentlich ein Ziegenbock, keine Hörner besaß. So konnte ihr kleiner Bruder darauf reiten, ohne dass die Gefahr bestand, dass er sich an den Hörnern verletzte.
Sie lachte, als sie sich an eine Begebenheit erinnerte, die ihr ganz lebhaft im Gedächtnis geblieben ist. »Er hat damals immer bei den Erwachsenen zugesehen, wie sie ihre Pferde sattelten und dann fortritten. Eines Tages wollte er es ihnen gleichtun und holte sich einen der Pferdesattel. Es sah so lustig aus, der kleine Mann und der große Sattel. Dann hat er tatsächlich versucht, ihn der Ziege aufzusetzen. Aber der Sattel war so groß, dass er immer wieder nach rechts oder links wegrutschte. So sehr sich mein Bruder auch abmühte, es wollte und wollte nicht funktionieren.« Palzom lachte noch immer und fügte hinzu, dass der kleine Apo Gaga dann richtig wütend geworden sei.
Spielzeug besaßen sie nicht. Sie begnügten sich mit dem, was ihnen die Natur bot. Wie hierzulande Kinder aus christlichen Familien gern einmal Pfarrer und Messdiener spielen, mimte Apo Gaga manchmal auch einen Lama, und die anderen Kinder waren seine Mönche. Diese Lama-Spiele seien nur Zeitvertreib gewesen, sagte der Karmapa, als wir darüber sprachen.
Ich fragte ihn, ob er vielleicht damals schon gespürt hat, dass er der Karmapa ist. Da antwortete er lächelnd: »Nein, nicht in dieser Weise. Aber meine Mutter hat mir von einer Begebenheit erzählt, als ich noch ganz klein war. Zu dieser Zeit hatte sie auf unserem kleinen Altar eine Schüssel mit klarem Wasser und eine Butterlampe als Opfergabe dargebracht. Da habe ich meine Mutter gefragt, wem sie das opfern würde. Wir hatten ein Bild vom 16. Karmapa auf dem Altar. Sie sagte, sie würde es dem Karmapa opfern, und ich soll dann gesagt haben, dass ich das nehmen würde. Da hat sie mit mir geschimpft und meinte, das sei unheilvoll und es bringe Unglück, so etwas zu sagen.«
»Hatten Ihre Eltern vielleicht eine Vorahnung?«, hakte ich nach.
»Nein, nicht direkt. Sie haben sehr wohl gemerkt, dass ich ein besonderes Kind, vielleicht ein Tulku bin, aber daran, dass ich der Karmapa sein könnte, haben sie niemals gedacht. Denn der Karmapa ist sehr bedeutend, und es wäre vermessen gewesen, so zu denken.«
Menschen, die die Eltern des Karmapa kennengelernt haben, berichten, dass sein Vater ein lebhafter, gutaussehender und wortgewandter Mann ist. Döndrup brachte allen seinen Kindern Lesen und Schreiben bei, auch den Mädchen, was für Nomadenverhältnisse ungewöhnlich war. Die Mutter Lolaga, eine großgewachsene Frau mit klaren, harmonischen Gesichtszügen und strahlenden Augen, zeigt sich eher zurückhaltend und still. Dennoch scheint sie die Geschicke der Familie entscheidend zu lenken. Ihre besondere und kraftvolle Ausstrahlung zeugt davon, auch wenn sie gern im Hintergrund bleibt.
Als Apo Gaga etwa vier Jahre alt war, brachten ihn seine Eltern ins Karlek-Kloster, wie sie es versprochen hatten. Abt Amdo Palden und die Mönche führten ihn dort mit einer feierlichen Zeremonie ein. Er bekam sogar einen kleinen, leicht erhöhten Sitz neben dem Abt. Die Mönche des Klosters waren stolz, ihn in ihrer Mitte zu haben, weil sie glaubten, dass er ein Tulku ist. Nur wussten sie noch nicht, wen sie da bereits verehrten. Jedes Kloster ist froh über besondere Mönche, auch in wirtschaftlicher Hinsicht, denn Tulkus ziehen besonders viele Besucher an, die das Kloster dann auch mit höheren Spenden unterstützen. Deshalb sagt man in Tibet, es sei für jedes Kloster gut, zwei oder drei Tulkus zu haben. Das gilt erst recht für Karlek, ein sehr ländliches Kloster ohne Reichtum und Prunk.
Weil Apo Gaga noch so jung war, verbrachte er weiterhin die meiste Zeit bei seiner Familie. Nur zu besonderen Feierlichkeiten kam er ein- bis zweimal im Jahr für einige Tage ins Kloster. Ich fragte den Karmapa, ob er damals so wie die anderen Jungs in seinem Alter oder eher wie ein Mönch gekleidet war. »Ich hatte schon eher rote Sachen an«, sagte er und kniff dabei seine Augen zusammen, als suche er in meinem Gesicht nach einer Reaktion. »So eine rote Chuba. Ein wenig wie eine Mönchsrobe, aber nicht ganz so«, schob er nach und schaute an sich herunter. In Tibet werden Kinder, die als Tulkus gelten, von ihren Eltern in Vorbereitung auf die zukünftige Mönchsweihe meist schon dunkelrot oder erdfarben gekleidet.
1991