Vergissmeinnicht - Was man bei Licht nicht sehen kann

Kerstin Gier

Vergissmeinnicht - Was man bei Licht nicht sehen kann

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Kerstin Gier

Kerstin Gier, Jahrgang 1966, hat 1995 ihr erstes Buch veröffentlicht und schreibt seither überaus erfolgreich für Jugendliche und Erwachsene. Ihre Edelstein-Trilogie und die »Silber«-Bücher wurden zu internationalen Bestsellern, mehrere Romane von ihr sind verfilmt worden. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Köln.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114,

D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: Eva Schöffmann-Davidov

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491418-3

»Einen Gin Tonic – nein, zwei, bitte!« Und zwar alle beide für mich. Ich hatte nicht vorgehabt, mich heute Abend zu betrinken, zumal ich Lasse versprochen hatte, bis zum Schluss zu bleiben und darauf aufzupassen, dass niemand nach zu viel Beerpong das Mobiliar demolierte, auf den Teppich kotzte, oder – wie bei der letzten Party – im Bett von Lasses Eltern einschlief. Aber Pläne ändern sich. Ich zum Beispiel hatte heute Abend mit meiner Freundin Lilly Schluss machen wollen, stattdessen trug ich jetzt ein Armband, auf dem »Knuffelchen« stand, und brauchte dringend Alkohol.

»Entschuldige mal, bitte! Ich war vor dir an der Reihe.« Das Mädchen, das mich empört von der Seite anfunkelte, hatte ich glatt übersehen. Während ich sie musterte, bekam sie feuerrote Wangen. »Oh, du bist das, Quinn«, murmelte sie.

Ich kannte sie ebenfalls. Sie war eins der Mädchen unserer streng katholischen Nachbarn, den grässlichen Martins oder den »biblischen Plagen«, wie mein Vater sie zu nennen pflegte. Die weiblichen Nachkommen der Martins sahen mit ihren Stupsnasen und den blonden Kringellöckchen alle gleich aus. Ich jedenfalls konnte sie nie auseinanderhalten.

Der Barkeeper grinste, und Luises Wangen wurden noch ein bisschen röter. Offiziell hatte Lasse fünfzig Gäste zu seinem achtzehnten Geburtstag eingeladen, inoffiziell waren es mindestens doppelt so viele, die Getränke hätten höchstens bis zehn Uhr gereicht. Zu Lasses Glück hatten seine Großeltern diese mobile Cocktailbar zur Party beigesteuert, die am frühen Abend als Überraschungsgeschenk geliefert worden war. Samt Barkeeper.

»Erstens bin ich nicht Luise, sondern Matilda, und zweitens sind Julie und ich sehr wohl eingeladen. Von Lasse persönlich«, sagte Luise. Beziehungsweise Matilda, wie ich ja nun wusste. Ihre Stimme zitterte ein wenig, vermutlich vor Wut. »Und ich hätte gern einen Caipirinha. Bitte.« Sie versuchte, den Barkeeper anzulächeln, aber das Lächeln fiel ziemlich grimmig aus. Meine Laune hingegen hob sich etwas. In meiner Familie war »die grässlichen Martins ärgern« seit Jahren eine Art sportlicher Wettbewerb, bei dem sogar meine harmoniesüchtige Mutter manchmal mitmachte.

»Erst die Party crashen und jetzt auch noch Alkohol.« Ich schüttelte bekümmert den Kopf. »Da machst du den lieben Gott aber heute sehr traurig, Luise.«

»Ich bin Matilda, du blödes, arrogantes …« Sie presste ihre Lippen aufeinander. Der Barkeeper hatte mit dem Mixen der

»Oh, oh, und … Beschimpfungen?« Jemand hatte die Musik lauter gedreht, doch ich konnte deutlich sehen, dass sie mich verstehen konnte, denn die Flügel der typischen Martin-Stupsnase blähten sich vor Wut. »Blödes, arrogantes – was denn? Hast du Angst, du wirst mit ewiger Verdammnis gestraft, wenn du weitersprichst?«

Sie starrte mich bitterböse an, ihr Blick wanderte von meinem Gesicht abwärts, bis er schließlich an meinem Handgelenk hängenblieb. »Blödes, arrogantes Knuffelchen«, sagte sie dann mit unverkennbarer Schadenfreude in der Stimme.

Punkt für sie. Schlagartig erinnerte ich mich wieder, warum ich hergekommen war.

»Genau genommen bin ich Schnuffelhase«, korrigierte ich. Das stand jedenfalls auf dem Armband, das nun um Lillys Handgelenk geknotet war. Und sie sagte es ständig zu mir, einer der Gründe, warum ich heute Abend Schluss machen wollte. Was ich aber jetzt nicht mehr konnte, jedenfalls nicht nüchtern und nicht, ohne mich wie ein supermieses Arschloch zu fühlen. Denn – Überraschung! – es hatte sich herausgestellt, dass Knuffelchen und Schnuffelhase heute seit fünfundsiebzig Tagen zusammen waren, offenbar ein Anlass, selbstgebastelte Armbänder zu überreichen und zu versichern, dass man noch nie, nie im Leben so glücklich gewesen sei.

Der Barkeeper schob uns unsere Drinks hin, und ich lächelte ihn entschuldigend an, bevor ich meinen ersten Gin Tonic

Dass ich überhaupt so dämlich gewesen war, meine Eltern über meine Pläne zu informieren, lag daran, dass Lilly ihnen während der vergangenen zweieinhalb Monate noch mehr ans Herz gewachsen war als meine Freundinnen davor. Meine Mutter fand es grundsätzlich wunderbar, wenn ein Mädchen im Haus war, für sie waren alle meine Freundinnen »zauberhaft« und »entzückend«, bei meinem Vater ging die Liebe mehr durch den Magen. Lillys Eltern besaßen nämlich zwei Feinkostfilialen in der Stadt, und Lilly brachte oft etwas mit, wenn sie mich besuchte.

»Heißt das, nie wieder gratis Carpaccio cipriani und Steinpilzrisotto frei Haus?«, hatte mein Vater entsetzt ausgerufen, als er begriff, was ich vorhatte. »Auf Nimmerwiedersehen, Zimtmacarons und Zitronensorbetpralinés? So ein wunderbares Mädchen wirst du nie wieder finden, Quinn.«

»Natürlich wird er das, Albert!« Meine Mutter schaute ihn streng an. »Und vielleicht haben deren Eltern ja ein Fitnessstudio, in dem du dann deinen Schmarotzerbauch wieder abtrainieren kannst.« Während mein Vater beschämt auf seinen Schmarotzerbauch blickte, wandte sie sich an mich und lächelte nachsichtig. »Du machst das schon richtig, Schatz. Folge

»Absolut!«, bestätigte mein Vater. »Sonst hassen sie einen für immer! Und man muss ihnen dabei mutig in die Augen schauen.«

Und jetzt musste ich genau das tun, allein schon, um meine Eltern nicht zu enttäuschen. Ich stellte das leere Glas ab. Vielleicht wäre es klug, wenn nicht nur ich, sondern auch Lilly bei meinem zweiten Versuch ein wenig Alkohol intus hatte. Also griff ich mit der einen Hand nach meinem zweiten Gin Tonic und schnappte mir mit der anderen den Caipirinha, den das Martin-Mädchen praktischerweise noch nicht angerührt hatte, weil sie zu sehr damit beschäftigt gewesen war, mich mit weit aufgerissenen Augen anzustarren.

»Den nehme ich lieber mal mit, Luise«, sagte ich, während sie empört nach Luft schnappte. »Du weißt ja, keine harten Drinks an Minderjährige.«

Ohne ihre Antwort abzuwarten, begann ich, mir einen Weg durch die Menge zurück ins Wohnzimmer zu bahnen, die Gläser möglichst vorsichtig erhoben.

»Ich heiße Matilda, du eingebildeter … Schnuffelhase«, rief sie mir nach. »Und du bist selber noch keine achtzehn!«

»Dann bete für mich, damit ich nicht in die Hölle komme!«, rief ich lachend über meine Schulter.

»Wenn es dafür mal nicht zu spät ist«, sagte jemand ironisch, und ich blieb überrascht stehen. Die meisten Partygäste kannte ich von der Schule oder vom Parkour, aber das Mädchen, das direkt vor mir stand, hatte ich noch nie gesehen. Wenn doch,

»Okay«, sagte ich gedehnt. Woher kannte sie meinen vollen Namen? Der war ja selbst mir nicht geläufig. Die Tatsache, dass meine Mutter es mit der Anzahl der Vornamen so übertrieben hatte, war mir immer ein bisschen peinlich gewesen, weshalb ich sie auch nie an die große Glocke gehängt hatte. »Quinn Jonathan Yuri Alexander von Arensburg« klang, so langsam und salbungsvoll ausgesprochen, fast schon bedrohlich, wie der Beginn einer Zauberformel.

»Wir müssen uns unterhalten.«

»Dummerweise habe ich gar keine Zeit«, erklärte ich. Ich muss nämlich diese Drinks hier zu meiner künftigen Exfreundin bringen, und du Andererseits – ich war neugierig. »Kennen wir uns denn?«

»Mein Name ist Kim.« Wieder ein Lächeln, bevor sie ernst wurde. »Was ich dir über dich erzählen werde, wird sich vermutlich erst mal verrückt anhören. Wir wissen auch erst seit kurzem, dass du existierst.«

»Aha.« Nicht nur ein bisschen durchgeknallt, sondern total, korrigierte ich mich stumm, aber ich konnte mich noch nicht dazu durchringen, sie einfach stehenzulassen. Sie war wirklich sehr hübsch.

Ihre braunen Augen musterten mich eindringlich. »Es ist wichtig. Denn wenn wir dich gefunden haben, können sie das auch.«

Jetzt wurde es mir doch zu albern. »Und sie sind Killer eines internationalen Verbrechersyndikats, die die Geheimpläne haben wollen, die mir ein Agent letzte Woche auf der Straße unbemerkt in den Rucksack gesteckt hat? Oder alternativ Gesandte einer Delegation des Planeten Metis, von dem ich, ohne es zu wissen, abstamme und den nur ich retten kann, weil …«

»Wir treffen uns in zehn Minuten vor der Haustür«, fiel mir die Blauhaarige ungerührt ins Wort. »Und Metis ist kein Planet, sondern einer der Jupitermonde.« Damit drehte sie sich um und ging. Verdutzt sah ich ihr dabei zu, wie sie an der Bar vorbei im Flur verschwand.

»Die war ja heiß!« Das kam von meinem Freund Lasse, der neben mir aufgetaucht war und so schwungvoll einen Arm um meine Schultern legte, dass ich etwas von dem Caipirinha verschüttete. »Wer war das, Alter?«

»Nein, meine merkwürdige Cousine ist die dahinten am Fenster, die sich schon seit einer halben Stunde Kaugummi aus den Haaren friemelt. Diese Kim habe ich noch nie gesehen, ich schwöre«, beteuerte Lasse. »Wahrscheinlich hat sie jemand von den Parkourleuten mitgebracht.«

»Sie will, dass ich sie in zehn Minuten vor der Haustür treffe, wo sie vermutlich ihr Raumschiff geparkt hat.«

»Krass!« Lasse schüttelte mich begeistert, so dass noch mehr Alkohol auf den Boden schwappte. »Alter, du hast so ein Glück bei den Weibern! Ich meine, ich versteh das voll. Ich würde auch auf dich abfahren, wenn ich ein Mädchen wäre, ganz ehrlich.« Er griff nach einem meiner Drinks und nahm einen großen Schluck. »Sieh dich nur an. Es sind die Gegensätze. Dieser athletische Body zu dem niedlichen asiatischen Babyface, das tiefschwarze Haar zu den wahnsinnig blauen Augen …« Er unterbrach sich. »Oh Mann, jetzt höre ich mich auch schon an wie ein verliebtes Mädchen. Aber echt, Bro, ich liebe dich!«

»Wie viel hast du schon getrunken, Lasse?« Ich sah ihn stirnrunzelnd an. Nüchtern war er nicht so der gefühlsbetonte Typ. Aber gut, man wird ja nur einmal achtzehn. Auch bei mir begann jetzt der auf ex getrunkene Gin Tonic zu wirken. »Ich liebe dich auch, Mann. Und die Blauhaarige hat mich nicht angemacht, die war einfach … total seltsam.«

»Das wäre mir bei der echt egal.« Er nahm noch einen Schluck Caipirinha.

»Klar. Quinn Johann Mega Gengar Graf Koks von Arensburg.« Lasse lachte. »Oder so ähnlich.« Dann entdeckte er das Armbändchen. »Knuff… Oh, Scheiße, was ist das denn? Von Lilly? Das musst du aber abmachen, bevor du dich mit der Blauhaarigen triffst, das ist echt nicht sexy.«

»Das geht nicht ab«, sagte ich finster. Lilly hatte mir die Lederschnur mit einem enthusiastischen dreifachen Doppelknoten umgebunden, der würde nicht nur die nächsten fünfundsiebzig Tage halten, sondern mindestens fünfundsiebzig Jahre.

»Du brauchst eine Schere.«

Ja, oder das. »Aber wenn ich es durchschneide, wird Lilly total beleidigt sein.« Andererseits – sobald ich mit ihr Schluss machte, würde sie ohnehin total beleidigt sein, und ich hatte wenigstens meine Würde zurück. Und vielleicht war Lilly ja so gekränkt, wenn sie mich ohne Armband sah, dass sie den Spieß umdrehen und mit mir Schluss machen würde. Dann hätte ich sozusagen zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Beziehungsweise mit einer Schere durchgeschnitten.

»Oben im Badezimmer in der Schublade unter dem Waschbecken.« Lasse hatte meine Gedanken erraten. »Gib mir das Glas! Ich warte hier auf dich.« Er nahm mir den Gin Tonic auch noch aus der Hand und nippte sofort daran. »Oh Mann, ich glaube, das ist die beste Party, die ich je hatte. Wir müssen nur aufpassen, dass dieses Mal niemand was in Dads Aquarium kippt.«

Auf jeden Fall. Nach der Party zu Lasses sechzehntem

»Ich bin gleich wieder da«, versicherte ich, ohne ansatzweise zu ahnen, dass das die letzten Worte waren, die ich für lange Zeit zu Lasse sagen würde.

***

Im ersten Stock war es ruhig, sicherheitshalber hatte ich auch im Schlafzimmer von Lasses Eltern nachgeschaut, doch das Bett war unberührt, noch spielte sich die Party brav im Erdgeschoss ab. Lasses Eltern waren wie immer in den letzten Jahren in den Urlaub gefahren und hatten Lasse das Haus unter der Bedingung überlassen, es bei ihrer Rückkehr genauso vorzufinden, wie sie es verlassen hatten. Wobei sie ähnlich wie meine Eltern Kratzer im Parkett weniger tragisch fanden als den Geruch von Zigarettenqualm, der sich in Vorhängen und Teppichen festsetzte. Die Raucher versammelten sich deshalb frierend draußen auf der Terrasse, bisher hatte sich aber noch niemand beschwert.

Die Nagelschere, die ich im Badezimmer fand, war leider keine Linkshänderschere, und da Lilly mir das Armband um das rechte Handgelenk geknotet hatte, brauchte ich eine ganze Weile, um das Leder durchzusäbeln. Beinahe hätte ich es

Vorsichtshalber schaltete ich das Licht aus, bevor ich das Fenster so leise wie möglich öffnete und mich vorbeugte, um unter das Vordach zu spähen.

Oh ja, das waren eindeutig ihre langen Beine in den schwarzen Boots. Offenbar lehnte sie mit dem Rücken an der Wand neben der Tür. Sie war allein, der stete Zustrom der Gäste war inzwischen verebbt. Ihre Miene konnte ich von hier aus nicht erkennen, aber sie trommelte mit ihren Fingern ungeduldig gegen die Wandverkleidung. Sie schien wirklich auf mich zu warten.

Also gut, dann würde ich eben mit ihr reden. Um Lilly konnte ich mich auch noch später kümmern.

Als ich gerade das Fenster schließen und hinuntergehen wollte, löste sich aus dem Schatten der Vorgartenbepflanzung eine Gestalt und schlenderte langsam über den gepflasterten Weg auf die Haustür zu. Neugierig beugte ich mich weiter vor. Es war ein eher kleiner Mann mit Mantel und Hut, das Alter

»Sie!«, stieß sie erschrocken aus.

Der Mann blieb stehen. »Hast du wirklich gedacht, wir hätten dich nicht bemerkt? Auf unserem Terrain?! Dass du es gewagt hast!« Er hatte eine seltsam schnarrende Stimme, und es hätte gar nicht die Reaktion der Blauhaarigen gebraucht, um zu wissen, dass er kein harmloser Dackelopa war.

Sie machte ein paar Schritte seitwärts, so dass ich jetzt ihren ganzen Körper sehen konnte, der extrem angespannt wirkte.

Dem Mann schien ihre Reaktion zu gefallen. »Ein bisschen spät, Kindchen«, sagte er mit einem leisen Lachen. »Uns entkommt so schnell kein Mensch.«

Kim blickte sich nach allen Seiten um, als suche sie nach einem Fluchtweg. Oder nach jemandem, der ihr beistehen konnte.

Drogen. Das war die erste Erklärung, die mir in den Kopf schoss. Die Blauhaarige war eine Dealerin und hatte ihr Zeug im Revier der Konkurrenz verkauft.

Der Mann kam wieder langsam näher. »Du wirst mir jetzt alles sagen, was ich wissen muss. Wer noch dazu gehört und wie du das angestellt hast und wer dahintersteckt …«

»Lieber sterbe ich«, erwiderte Kim leise.

Der Mann lachte mittlerweile richtig, genauso schnarrend und unheimlich, wie er sprach. »Diesen Wunsch erfüllen wir

Das Mädchen machte eine Art Ausfallschritt zur Seite, wie um die Reaktionsgeschwindigkeit des Mannes zu testen. Der schnippte mit den Fingern. Ein Knurren ertönte, ich konnte es nicht ganz zuordnen, aber es ließ mir die Haare zu Berge stehen. Hatte der Opa etwa da eben geknurrt? Der gruselige Laut schien Kim jedenfalls in ihrer Bewegung erstarren zu lassen, als wäre sie eingefroren.

»Sie können mir nichts tun«, stieß sie hervor. »Das würde zu viel Aufsehen erregen. Und … ich habe Aufzeichnungen, die im Falle meines Todes an die Öffentlichkeit kommen würden, Videos …«

Der Opa blieb ungerührt. »Ach wirklich?«, fragte er und fasste in seine Manteltasche.

Ohne nachzudenken, schwang ich mich auf die Fensterbank, sprang von dort hinüber aufs Vordach und kam eine Sekunde später mit einer perfekten Vierpunktlandung zwischen der Blauhaarigen und dem Mann auf dem Pflaster auf, so wie hundertmal vorher im Training bei Parkour geübt. Erst als ich mich aufrichtete, begriff ich, was ich getan hatte. Man könnte sagen, ich war beinahe genauso verblüfft wie die beiden, die mich ungläubig anstarrten. Aber zum Grübeln war jetzt keine Zeit.

»Lass uns abhauen!« Ich griff nach dem Arm der Blauhaarigen und zog sie mit mir. Da die Haustür geschlossen war und der Mann den Weg zur Straße versperrte, blieb uns als

»Was ist das für ein Typ?«, keuchte ich, während wir durch die Dunkelheit auf den Lichtstreifen zurannten, der vom Wintergarten aus auf den Rasen fiel.

»Wie kann man nur so dämlich sein?«, fragte sie gleichzeitig.

Ja, dass es wohl keine besonders kluge Idee gewesen war, spontan und ohne jeglichen Plan aus dem Fenster zu springen, war mir schon klar. Vielleicht hätte ich aus dem Badezimmer einfach einen schweren Gegenstand nach dem Mann mit Hut werfen sollen, die Personenwaage beispielsweise. Oder mit möglichst tiefer Stimme »Polizei! Nehmen Sie langsam die Hände hoch und drehen Sie sich mit dem Gesicht zur Wand« rufen. Trotzdem. Es war nett von mir gewesen. Und ziemlich cool. Undankbare Ziege.

»Gern geschehen«, sagte ich.

»Du kapierst es nicht. Sie dürfen dich auf keinen Fall erwischen.«

»Mich?«, fragte ich nach. Die war ja lustig. Immerhin hatte

Sie antwortete nicht, was vielleicht an den drei Gestalten lag, die zehn, fünfzehn Meter vor uns um die hintere Hausecke bogen. Leider waren es keine knutschenden Partygäste, die von der Terrasse kamen, sondern der Silhouette nach ein Mann und eine Frau und etwas, das wie ein riesiger Hund aussah.

»Scheiße!«, flüsterte Kim.

Ja, scheiße.

Die Frauensilhouette sah eher harmlos aus, der Mann hingegen wirkte schon als Schattenriss deutlich jünger und muskulöser als der Hutmann, aber das eigentliche Problem war der Hund – er reichte dem Mann bis fast zur Hüfte. Ein Hecheln ertönte, das Tier warf sich in unsere Richtung, offenbar nur von einer Leine gebremst.

Hinter uns kämpfte sich der Hutmann durch die Hecke, was wir mehr hörten als sahen. Jetzt saßen wir in der Falle.

Der Garten seitlich des Hauses war nur wenige Meter breit, von einer zwei Meter hohen Mauer zu den Nachbarn, Lasses spendablen Großeltern, abgetrennt. Außer ein paar Johannisbeersträuchern, Kompostern und einem Brennholzstapel stand hier noch der Geräteschuppen. Die Musik und das Stimmengewirr der Party waren lediglich gedämpft zu hören. Keine Chance, um Hilfe zu rufen.

Es gab nur noch einen Ausweg. »Hier entlang«, zischte ich, griff nach der Hand der Blauhaarigen, zwängte mich mit ihr durch die Sträucher und rannte auf den Geräteschuppen zu. »Kannst du über die Mauer springen?«

»Nein, kann ich nicht! Du musst ohne mich abhauen, hörst du? Sie dürfen dich nicht kriegen.«

Was hatte sie immer mit mir? Egal, das konnte ich später herausbekommen. Bis jetzt schienen sich unsere Verfolger noch zu orientieren, jedenfalls waren keine Schritte zu hören, nur die Stimme des Hutmanns, die irgendwo jenseits der Büsche Befehle erteilte. »Es ist noch ein Bürschchen bei ihr. Holt sie euch beide«, schnarrte er. »Aber das Mädchen brauche ich lebend. Lass die Sirin los!«

Oh verdammt! Die Sirin war vermutlich der riesige Hund. Und wenn sie nur das Mädchen lebend brauchten, hieß das wohl, dass das Bürschchen, also ich, von dem Vieh zerfleischt werden durfte.

Jetzt mussten wir schnell sein. Als Lasse noch klein war, hatten seine Großeltern hier neben dem Schuppen eine Art Katzenklappe in die Mauer gebaut, damit er jederzeit zu ihnen hinüberkommen konnte. Früher war ich dort oft mit Lasse durchgekrabbelt, und ich hoffte sehr, dass diese Klappe noch existierte. Während Kim mich anfauchte, dass ich nicht auf sie achten, sondern allein abhauen solle, kniete ich nieder, fand die Griffmulde und zog die Klappe auf. »Du zuerst!«

Die Klappe war ziemlich klein, aber glücklicherweise war die Blauhaarige schlank und beweglich. Ich war dankbar, dass sie keine Zeit mit einer Diskussion verlor, wer nun zuerst an der Reihe war, sondern sich bäuchlings hindurchquetschte.

»Schon klar.« Es war nicht zu überhören, dass es ihr wirklich wichtig war, nicht von mir gerettet zu werden.

»Venatores, capite!«, rief die schnarrende Stimme, und ich ließ die Klappe zufallen und sprang auf die Füße. Waren da etwa noch mehr Verfolger dazugekommen, namens Venatores und Capite? Ein kurzes Aufjaulen ertönte, und aus Angst, der Riesenhund könne sich in meinen Füßen verbeißen, während ich mich gerade durch die Öffnung zwängte, schwang ich mich mit kurzem Anlauf auf die Mauer, um von dort in den Garten von Lasses Großeltern zu springen. Gerade noch rechtzeitig. Bei meiner Landung hörte ich den Hund laut knurrend durch die Johannisbeersträucher brechen und gegen die Mauer prallen. So riesig er auch ausgesehen hatte, über dieses Hindernis schaffte er es offenbar nicht. Bei mir dagegen hatten sich die monatelangen Trainingssessions mit Lasse bezahlt gemacht. Wenn sie die Kinderklappe nicht entdeckten, würde die Mauer sie eine Weile aufhalten.

Von der Blauhaarigen war nichts mehr zu sehen. War sie Richtung Straße losgerannt oder in Richtung der angrenzenden Gärten? Ich hatte keine Ahnung. Und so schlau es theoretisch auch sein mochte, wenn wir uns trennten und die Verfolger so in unterschiedliche Richtungen lockten, wollte ich doch wissen, was zur Hölle hier eigentlich abging.

Als ich an einer Tanne vorbei über den Zaun in den nächsten Garten setzte, hörte ich ein Rauschen, es klang wie das Schwingen der Flügel eines Vogels, eines Riesenvogels, um genau zu sein. Ich duckte mich instinktiv, so stark war das Gefühl, jeden Moment von einem gigantischen Flügel getroffen zu werden. Doch als ich hochblickte, war da nichts.

Vermutlich nur eine aufgeschreckte Eule in einem der angrenzenden Bäume. Zeit zu entspannen hatte ich allerdings trotzdem nicht, denn im selben Moment hörte ich ein lautes Jaulen hinter mir, das definitiv nicht in die Einfamilienhausidylle passte, sondern eher in eine mittelschlechte Horrorserie. Dieses Hundebiest hatte tatsächlich irgendwie die Mauer überwunden und war mir auf den Fersen!

Aber dann wurde das Jaulen zu einem Heulen, und das klang so dermaßen gruselig, dass mir gar nichts anderes übrigblieb als weiterzusprinten. Später konnte ich ja immer noch über mich lachen.

Ich hechtete über eine durch Bewegungsmelder hell erleuchtete Rasenfläche und sprang über einen Jägerzaun in den nächsten Garten. Dort schlug ich einen Haken, kletterte an einem Spalier hinauf auf ein Garagendach, um vorne über eine Einfahrt auf die Parallelstraße zu gelangen, die ich überquerte, um über die nächste Einfahrt, die nächste Hecke in den nächsten Garten zu springen. »Bleib erst stehen, wenn du in Sicherheit bist«, hatte diese Kim gesagt. Guter Tipp. Nur wo genau sollte das sein? Das hier war eine reine Wohngegend, und um diese Zeit war absolut nichts los, man konnte höchstens dem Pizzaboten begegnen oder einem einsamen Jogger. Irgendwo zu klingeln war um diese Uhrzeit vermutlich sinnlos, schlimmstenfalls öffnete niemand, oder man würde mir die Tür vor der Nase zuschlagen, während von hinten der Riesenhund seine Fänge in meinen Nacken grub. Lieber weiterlaufen und genügend Abstand zwischen mich und das Vieh bringen. Zumal ich spürte, wie schnell ich war, was mir, je weiter ich mich durch die Gärten vorarbeitete, immer mehr Selbstvertrauen verlieh.

Mit ein paar Sätzen kletterte ich auf eine Eiche oder was auch immer das für ein Baum war, dessen Krone über den nächsten hohen Gartenzaun ragte. Für einen Moment horchte ich in die Dunkelheit und spürte, wie wilder Triumph in mir aufkam. Keine Schritte, keine schnarrenden Befehle, kein abartiges Heulen. Ich hatte sie abgehängt!

Zeit, tief durchzuatmen. Was immer hier gerade passiert war, es war total verrückt und unwirklich, wie eine Szene in einem Traum oder einem Film. Nur im Film sagten Leute Sätze wie »Ich brauche sie lebend!« und »Sie dürfen dich nicht erwischen!« Und nur im Film gab es Geräusche wie dieses Flügelrauschen, das nun unvermittelt über mir auftauchte, begleitet von einem schrillen, hohen Schrei, der weder von einem Menschen noch von einem Tier zu stammen schien und wie eine Mischung aus Kreischen und Fauchen klang. So viel zum Thema abgehängt.

Ich stürzte mich seitlich aus der Krone des Baums und hangelte mich abwärts, bis ich mich auf den Rasen fallen lassen konnte. Wieder war ich in einem Garten gelandet, mittlerweile wusste ich nicht mehr, in welcher Straße ich mich befand, aber

Hier hingegen schienen alle schon zu schlafen. Auch als mehrere Lampen angingen, von Bewegungsmeldern eingeschaltet, rührte sich im Haus niemand. Noch einmal ertönte das Kreischen und trieb mich weiter vorwärts in Richtung einer Garage, bei der ich auf eine offene Hintertür hoffte. Doch ich kam gar nicht erst dazu, das auszuprobieren. Denn bevor ich an der Tür war, entdeckte ich zwei leuchtend gelbe Augen, die mich aus den Büschen heraus anstarrten.

Nein! Das war unmöglich! Und doch – als er hinaus in den Lichtkegel trat, wusste ich, dass der Riesenhund in Wirklichkeit ein Wolf war, schwarz, zottelig und mit drohend erhobenen Lefzen. Er hatte schon auf mich gewartet.

Seine gebleckten Zähne waren monströs, und nach einer Sekunde der Erstarrung reagierte mein Körper von allein. Ich sprang auf einen wackeligen Holzstapel neben der Garage und von dort mit einem verzweifelten Satz auf das Dach. Ein paar Holzscheite polterten zu Boden, als ich mich abstieß. Im Haus rührte sich immer noch nichts. Wenn die Leute jetzt aus dem Fenster schauen würden, sähen sie einen riesigen Wolf, der über ihren Rasen galoppierte und knurrend an ihrer Garagenwand emporsprang. Aber dummerweise schauten sie nicht aus dem Fenster. Niemand kam mir zu Hilfe. Mit einem Hechtsprung flüchtete ich auf das Garagendach der Nachbarn, von dort auf ein langgezogenes Vordach, hinunter zu einer Mülltonnenabtrennung und wieder hinauf auf das nächste Garagendach.

Die Motorengeräusche vorbeifahrender Autos sorgten dafür, dass ich das Flügelschlagen erst hörte, als es direkt über mir war. In meiner Panik sprang ich nicht richtig ab, und anstatt auf dem nächsten Dach endete mein Sprung irgendwo in der Luft davor. Die Dachrinne, an der ich mich festklammerte, löste sich sofort aus ihrer Verankerung und landete mit mir zusammen scheppernd auf dem Pflaster. Ein jäher Schmerz zuckte durch meinen Fuß, aber ich achtete nicht darauf, sondern lief, so schnell ich konnte, auf die Kreuzung zu. Die Lichter eines entgegenkommenden Autos blendeten mich, den Wolf sah ich deshalb erst, als er mich von der Seite ansprang und auf die Fahrbahn warf. Das Letzte, was ich hörte, bevor ich auf dem Asphalt aufschlug, waren die Bremsen des Autos, die mit dem Flügelwesen um die Wette kreischten. Und das Letzte, was ich dachte, war, dass jetzt doch hoffentlich auch die letzten Menschen in der Straße begriffen hatten, dass der Krach nicht aus ihrem Fernseher kam. Aber für mich war es zu spät.

Bisher war der fünfte Dezember in meiner Erinnerung immer als »der Tag, an dem ich die Nikolauslüge entlarvte«, verankert oder im Gedächtnis meiner Familie als »der Tag, an dem Matilda Onkel Ansgar den Bart aus dem Gesicht rupfte, auf der Bischofsmütze herumtrampelte und allen den Nikolausabend verdarb«. Aber jetzt würde er wohl für immer der Tag bleiben, an dem Quinn von Arensburg verunglückte.

Und das nur eine halbe Stunde nachdem ich ihn auf Lasse Novaks Geburtstagsparty zur Hölle gewünscht hatte. Auf den ersten Blick hätte man da vielleicht einen Zusammenhang vermuten können, aber ich hatte Quinn schon hundertmal zur Hölle gewünscht, ohne dass ihm danach etwas zugestoßen war, und obwohl ich normalerweise sehr empfänglich für Schuldgefühle aller Art war – Julie behauptete sogar immer, »Schuldgefühl« sei mein zweiter Vorname –, bildete ich mir keine Sekunde lang ein, etwas damit zu tun zu haben.

Die Nachricht, dass Quinn vor ein fahrendes Auto gelaufen war, hatte Lasses Party abrupt beendet. Die Polizei war ins Haus gekommen, und das Letzte, was Julie und ich gesehen hatten, bevor wir zusammen mit den anderen völlig

Aus irgendeinem Impuls heraus wünschte ich mir in diesem Moment, mit Lilly tauschen und ebenfalls hemmungslos weinen zu können.

Das war natürlich völlig abwegig. Offiziell hasste ich Quinn von Arensburg nämlich, seit ich ungefähr sechs war und er mich »dumme Hamsterbacke« genannt und in die Brennnesseln geschubst hatte.

Die von Arensburgs und die Martins waren, seit ich denken konnte, verfeindet, auch wenn man Begriffe wie »verfeindet« oder »hassen« in unserer Familie selbstverständlich weit von sich weisen würde. Die von Arensburgs stellten allerhöchstens unsere Nächstenliebe ein wenig auf die Probe. Was aber im Grunde dasselbe war.

Julie war die Einzige, die wusste, dass ich eine heimliche, über jede Nächstenliebe hinausgehende Zuneigung für Quinn hegte, obwohl das umgekehrt ganz sicher nicht galt und »nerviges Grübchenface« noch das Netteste war, das Quinn im Laufe der Jahre zu mir gesagt hatte. Das bisher Gemeinste auf der Liste war »sprechender Wirsing«, dicht gefolgt von »Zwiebacktütengesicht«.

Zugegeben: Quinn wusste vermutlich nie, mit wem genau er gerade sprach, sondern verwechselte mich beliebig mit meinen Cousinen Luise und Mariechen oder mit meiner großen Schwester Teresa. Aber das machte es ja nicht besser, sondern

Ärgerlicherweise sahen Luise und ich uns aber zum Verwechseln ähnlich, und Quinn war nicht der Einzige, der uns nicht auseinanderhalten konnte. Genau genommen sahen wir alle recht gleich aus, Luise, Mariechen, Teresa und ich. Und Luises Zwillingsbruder Leopold. Das lag daran, dass meine Mutter und Luises Mutter – Tante Bernadette – Schwestern waren und mein Vater und Luises Vater Brüder. Wir Kinder hatten allesamt blonde Locken, nach oben geschwungene Nasen und auffallende Grübchen in den Wangen, was vielleicht ganz niedlich klingt, aber nur niedlich ist, wenn man unter acht Jahre alt ist.

Oder eben ein Posaunenengel.

Ich schnaubte, als ich an unser Gespräch an der Bar dachte. Er hatte mich wirklich aufgeregt, jetzt war ich allerdings froh, dass mir im Gegenzug kein originelles Schimpfwort eingefallen war. Möglicherweise wäre es ja das Letzte gewesen, was ich jemals zu ihm gesagt hätte …

»Das überlebt der schon, wenn er es denn überhaupt war.« Julie lächelte mich auf dem Weg nach Hause von der Seite aufmunternd an und drückte meine Hand. Sie hatte natürlich gemerkt, dass ich meine unangebrachten Tränen runterschluckte. »Abgesehen davon bist du nicht die Einzige, der das nahegeht. Ich bin auch ganz aufgewühlt. Lasses komische Cousine hat sogar geheult, und die kannte Quinn überhaupt nicht.«

Irgendwo ein paar Straßen weiter war ein Martinshorn zu hören, und ich blieb stehen.

»Bestimmt ist alles nur halb so schlimm.« Julie zog mich weiter. »Ich kann mir Quinn gar nicht verletzt vorstellen, du denn? Ich meine, der Typ hat neulich einen Salto vom Turnhallendach gemacht.«

Daran erinnerte ich mich noch gut, weil er nur zwei Meter von mir entfernt gelandet war, anmutig wie eine Katze. Er hatte sich lachend aufgerichtet, eine glänzende schwarze Haarsträhne aus dem Gesicht gepustet und mit seinen leuchtend blauen Augen an mir vorbei zu seinen Freunden geschaut, die natürlich grölten und applaudierten.

»Ja«, sagte ich. »Ich kann mir leider immer alles vorstellen.«

»Vor allem das Negative, ich weiß, du bist eine äußerst phantasievolle Pessimistin.« Julie schnaubte. »Aber jetzt müssen wir einfach positiv denken. Ich bin sicher, Quinn kommt am Montag wieder zur Schule, und dann kannst du ihn von weitem anhimmeln, und er kann dich ignorieren. Wie immer.«

»Wenn er mich nicht gerade mit Luise verwechselt.« Ich versuchte zu lächeln. »Ich hätte heute Abend dein T-Shirt tragen sollen.« Zu meinem fünfzehnten Geburtstag hatte Julie mir nämlich ein Shirt mit dem Aufdruck »Ich bin NICHT Luise« geschenkt. Genau wie das »Es gibt zwei Arten von Menschen. Ich hasse beide«-Shirt durfte ich es leider nur als

»Ich sag dir was. Wenn Quinn am Montag wieder zur Schule kommt, trage ich das T-Shirt nächsten Sonntag in der Kirche«, erklärte ich feierlich. »Ohne Strickjacke.«

Julie lachte. »Deine Eltern werden einen Exorzisten holen, wenn du das tust, aber ich werde dich nicht davon abhalten. Ich träume seit Jahren davon.«

In diesem Augenblick vibrierten unsere Handys, und wir griffen synchron in unsere Jackentaschen.

»Oh, Scheiße«, murmelte Julie.

Die ersten Gerüchte hatten zu kursieren begonnen. Und demnach war Quinn entweder tot oder schwer verletzt oder leicht verletzt oder überhaupt gar nicht erst in einen Unfall verwickelt.

Den Rest des Wegs starrten wir verwirrt auf unsere Displays und versuchten herauszufinden, welche Meldung der Wahrheit am nächsten kommen könnte. Und welche allein auf Phantasie oder Wunschdenken basierte. Für Quinns Tod sprach, dass jemand aus seiner Stufe irgendwo ein Posting des Imbissbesitzers entdeckt hatte, vor dessen Laden der Unfall stattgefunden hatte. Es zeigte ein verschwommenes Foto von der Unfallstelle, dazu der Text: »Ich hoffe, sie machen im Himmel genauso

Aber wenn Quinn tot war, warum war dann der Rettungswagen noch mit Sirene und Blaulicht abgefahren, was Smilla Bertrams Bruder wohl mit eigenen Augen gesehen hatte? Und wie passte das zu der Behauptung, Quinn sei so betrunken gewesen, dass ihm im Krankenhaus der Magen ausgepumpt werden musste?

Und dann war da auch noch unsere Freundin Aurora, die beschwören konnte, Quinn gerade eben noch völlig unversehrt im Kino gesehen zu haben. »Zwar nur von hinten, aber das war er ganz sicher!«, schrieb sie.

Leider war es nicht mal Julie möglich, Auroras Version zu glauben, denn die hatte im Oktober erst Justin Bieber im Supermarkt gesehen, wie er Klopapier und eine Tüte Leinsamen kaufte. Also vermutete ich, die Wahrheit lag irgendwo zwischen verletzt und tot. Zumindest an dem Gerücht, Quinn sei betrunken gewesen, war ja ein wahrer Kern: Er hatte seinen Gin Tonic auf ex gekippt, und wenn er danach genauso schnell den anderen sowie meinen Caipirinha getrunken hatte, war er alles andere als nüchtern gewesen und seine Reaktionsgeschwindigkeit sicher eingeschränkt. Vielleicht wäre ihm ja nichts passiert, wenn ich mehr um meinen Drink gekämpft hätte …

»Und da sind sie wieder, die guten alten Schuldgefühle«, sagte Julie, als ich meine Überlegungen mit ihr teilte. »Ich

»Man trägt eine Mitschuld, wenn man Produkte mit Palmöl konsumiert«, gab ich zurück, den Blick weiterhin fest auf mein Handy geheftet.

Es war erst halb elf, als wir bei Julie ankamen, aber im Haus schliefen bereits alle. Vor der Tür hatten Julies drei kleine Stiefbrüder ihre Gummistiefel für den Nikolaus aufgestellt, und wie es aussah, war der auch schon da gewesen, die Stiefel waren voller kleiner Päckchen und Mandarinen.

»Lass einen Schuh hier stehen«, flüsterte Julie, während sie eine ihrer schicken schwarzen Wildlederstiefeletten neben den Gummistiefeln abstellte. »Sonst ist sie enttäuscht.«

»Und ich erst.« Sie war Julies Stiefmutter, meine Tante Berenike aka der netteste Mensch auf der Welt. »Letztes Jahr hatte ich diese supertolle Wimperntusche im Schuh. Und Marzipankugeln.« Ich rückte meine eigene Stiefelette sorgfältig neben Julies in Position. Sie war auch schwarz, aber nicht schick, weil ich sie von Teresa geerbt hatte, und die ging immer mit meiner Mutter shoppen.

Auf Zehenspitzen schlichen wir uns hinauf in Julies Zimmer und schlossen leise die Tür hinter uns. Tante Berenike hatte Julies Schlafsofa bereits für mich überzogen und uns Kekse und Johannisbeerschorle hingestellt. Tante Berenikes Fürsorge war einer der Gründe, warum wir viel lieber hier übernachteten als bei mir zu Hause. Ein anderer war, dass mein Zimmer nur acht Quadratmeter groß war, wohingegen Julie sogar ein eigenes Bad besaß. Und das Wichtigste: Hier durften wir sonntags

Tante Berenike hatte genetisch zwar das volle Löckchen-Grübchen-Näschen-Schmollmündchen-Programm wie meine Mutter und Tante Bernadette abbekommen, in jeder anderen Hinsicht hätten sie jedoch unterschiedlicher nicht sein können. Ihre Schwestern erwähnten bei jeder Gelegenheit, wie »unstet« Tante Berenikes Lebenswandel vor ihrer Eheschließung gewesen war, und die Urgroßtanten benutzten gern Worte wie »liederlich« und »Skandalnudel«, wenn sie über sie sprachen. Tante Berenike warf dann ihre Lockenmähne in den Nacken und lachte laut. Sie lachte überhaupt sehr viel, und vielleicht wirkten deshalb die Grübchen bei ihr immer noch anziehend und waren nicht wie bei meiner Mutter und Tante Bernadette zu zwei missbilligenden Falten rechts und links der Mundwinkel mutiert.

Julies leibliche Mutter stammte aus Tansania und war an Brustkrebs gestorben, als Julie gerade laufen konnte. Nach dem Tod seiner Frau war Julies Vater nach Deutschland zurückgekommen, wo er dann Tante Berenike kennengelernt hatte. Auf diese Weise war Julie meine Cousine geworden, eine Tatsache, für die ich dem Schicksal jeden Tag dankbar war. Ohne Julie an meiner Seite wäre ich in dieser Familie längst wahnsinnig geworden.

»Luise und Leopold haben offenbar eine Gruppe mit dem Namen Trauer um Quinn gegründet.« Julie schnappte empört nach Luft. »Nur für Leute aus ihrer Stufe, natürlich. Wir sind nicht eingeladen.«

»Nein, heißt es nicht«, sagte Julie energisch. »Es heißt nur, dass Luise und Leopold schlimm sind. Und solche Streber. Sie haben Lehrer zu der Gruppe eingeladen!«

»Vielleicht wissen sie ja mehr«, erwiderte ich unsicher. Oh Gott, vielleicht hatten sie mit Quinns Eltern gesprochen … »Ist Quinn tot?«, schrieb ich mit zitternden Fingern an Luise.

»Höchstwahrscheinlich«, schrieb sie sofort zurück. »Man hat sehr viel Gehirnmasse und ein Ohr am Unfallort gefunden.«

Ich atmete erleichtert auf. Luise war also genauso ahnungslos wie wir alle und orientierte sich auch nur an den Gerüchten. Und das mit dem Ohr glaubte ich nicht eine Sekunde lang.

»Das ist so luisig, eine Trauergruppe für jemanden zu gründen, der überhaupt nicht tot ist«, sagte ich, nachdem ich ihr ein Kotzsmiley geschickt hatte.