George Packer
Die Abwicklung
Eine innere Geschichte des neuen Amerika
Aus dem Amerikanischen von Gregor Hens
FISCHER E-Books
George Packer gilt als einer der besten Journalisten und Sachbuchautoren Amerikas. Er ist festes Mitglied der Redaktion des New Yorker und Autor mehrerer preisgekrönter Bücher. George Packer lebt in Brooklyn. Für ›Die Abwicklung‹ erhielt er den National Book Award 2013. Im Frühjahr 2014 ist er Fellow an der renommierten American Academy in Berlin.
Gregor Hens, geb. 1965 in Köln, lehrte zwei Jahrzehnte lang an verschiedenen amerikanischen Universitäten, zuletzt an der Ohio State University. Seit 2013 lebt er als freier Autor in Berlin. Er hat zahlreiche Romane übersetzt, unter anderem von Leonard Cohen, Rawi Hage, Marlon Brando und Will Self.
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Covergestaltung: buxdesign, München
Erschienen bei FISCHER E-Books
Die Originalausgabe erschien 2013 bei Farrar, Straus and Giroux, New York
unter dem Titel: »The Unwinding. An Inner History of the New America«
© 2013 by George Packer
Für die deutsche Aushabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400667-3
Für Laura, Charlie und Julia
Niemand kann mit Sicherheit sagen, wann die Abwicklung begann – wann die Bürger Amerikas zum ersten Mal spürten, dass die Bande sich lösten, die sie sicher, manchmal erdrückend fest wie eine eng gewickelte Spule, zusammengehalten hatten. Wie jeder große Umbruch, begann die Abwicklung unzählige Male von neuem – bis eines Tages ein Punkt in der Geschichte erreicht war, an dem das Land, immer dieses Land, endgültig und unwiderruflich verändert war.
Wer um 1960 oder später geboren wurde, hat sein gesamtes Erwachsenenleben im Taumel dieser Abwicklung verbracht. Er musste mit ansehen, wie Bauwerke und Institutionen, die bereits vor seiner Geburt bestanden hatten – die Farmen des Piedmont von Carolina, die Fabriken des Mahoning Valley, die Wohnsiedlungen von Florida, die Schulen Kaliforniens – in der gewaltigen Landschaft wie Salzsäulen zerfielen. Auch andere Aspekte, weniger deutlich sichtbar vielleicht, aber mindestens ebenso unerlässlich für ein geordnetes Alltagsleben, zerbröckelten bis zur Unkenntlichkeit – der Umgang in den Hinterzimmern von Washington, die Tabus in den New Yorker Handelsbüros, Manieren und Moral. Als die Abwicklung der Normen begann, auf denen die Nützlichkeit der alten Institutionen beruhte, und die Anführer ihre Stellungen räumten, löste sich die Roosevelt Republic, die beinahe ein halbes Jahrhundert lang das Leben beherrscht hatte, vollständig auf. Die Lücke schloss eine Macht, die in Amerika immer zur Stelle ist: das organisierte Geld.
Die Abwicklung ist nichts Neues. Alle ein oder zwei Generationen vollzieht sich eine solche Abwicklung: Der Absturz der himmlischen Republik der Gründerväter in einem lärmenden Markt zerstrittener Lager; der Krieg, der die Vereinigten Staaten zerriss und aus dem historischen Plural ein Singular machte; der Börsencrash, der die Wirtschaft Amerikas zerstörte und den Weg für eine Demokratie von Bürokraten und Bürgern freimachte. Jeder Zusammenbruch hat eine Erneuerung hervorgebracht, jede Implosion hat Energie freigesetzt, jede Abwicklung hat zu neuem Zusammenhalt geführt.
Abwicklungen verheißen Freiheit, eine Freiheit, die die Welt noch nie gesehen hat. Sie erreicht mehr Menschen als je zuvor. Es ist die Freiheit fortzugehen, die Freiheit zurückzukehren, die Freiheit sich neu zu erfinden, den Tatsachen ins Auge zu sehen, einen neuen Beruf zu ergreifen, entlassen zu werden, zu heiraten, sich scheiden zu lassen, pleitezugehen, einen neuen Anfang zu wagen, ein Geschäft zu gründen, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen, die Grenzen auszuloten, den Ruinen den Rücken zu kehren, erfolgreicher zu sein, als man für möglich gehalten hätte, über seine Erfolge zu prahlen, zu scheitern und wieder von neuem zu beginnen. Mit der Freiheit schafft die Abwicklung ihre eigenen Illusionen, denn all diese Versuche, diese Träume sind flüchtig wie Seifenblasen, die zerplatzen, sobald sie die konkreten Umstände berühren. Gewinnen und verlieren – das ist das große amerikanische Spiel, und in der Abwicklung ist der Gewinn größer als je zuvor, die Gewinner entschweben wie riesige Luftschiffe, und die Verlierer fallen tiefer und tiefer, und manche kommen niemals unten an.
Diese Freiheit bedeutet, dass wir auf uns selbst gestellt sind. Mehr Amerikaner als je zuvor leben allein. Selbst eine kleine Familie kann Halt genug geben, um in der Einsamkeit, vielleicht im Schatten eines gigantischen Militärstützpunkts, zu überleben, an einem Ort, wo nicht eine Seele ist, an die man sich in der Not wenden könnte. Beinahe über Nacht kann ein glänzendes, neues Wohnviertel entstehen, an einem Ort im Nichts, und genauso schnell kann es wieder verschwinden. Eine alte Stadt kann ihre Industriebasis verlieren und mit ihr zwei Drittel ihrer Bevölkerung, und alles, was diese Stadt ausgemacht hat – die Kirchen und Ämter, Geschäfte und Werkstätten, sozialen Einrichtungen, Gewerkschaften –, bricht lautlos in sich zusammen, wie ein billiges Holzhaus im Sturm.
Amerikaner sind es gewöhnt, allein in einer Landschaft zu leben, in der nichts Haltbares ist, nichts Festes. Deshalb sind sie bereit, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen, ihre eigenen Erfolgsgeschichten und Heilsversprechen zu schreiben. Ein Junge in North Carolina hält seine Bibel fest in der Hand, als er im grellen Sonnenlicht eine Vision empfängt, wie das Land, in dem er lebt, neu erstehen könnte. Ein junger Mann zieht nach Washington und fragt sich ein Leben lang, was ihn einst dazu getrieben hat, diesen ersten Schritt zu tun. Eine junge Frau in Ohio kämpft um ihre Existenz, während um sie herum alles zerfällt. Erst als reife Frau kann sie endlich die Chance ergreifen, mehr zu tun, als nur zu überleben.
Wenn diese Amerikaner, die kaum jemand kennt, im Wandel neue Wege gehen, entdecken sie auf ihrem Weg, dort, wo einst die alten Institutionen der Gesellschaft gestanden haben, neuartige Denkmäler – überlebensgroße Bilder ihrer berühmtesten Mitbürger, der Stars, die immer bedeutender, immer reicher und mächtiger werden, je weiter der öffentliche Raum zerstört wird. Manche dieser Stars bekommen eigene Hausaltäre, sie sind die Götter des Alltags, die Orientierung geben sollen und Antwort auf die Frage nach einem guten, einem besseren Leben.
Alles unterliegt dem Wandel, nichts bleibt, wie es war, nur die Stimmen, die amerikanischen Stimmen, die lauten, sentimentalen, wütenden, sachlichen Stimmen bleiben dieselben: Sie nehmen sich die Ideen, wo sie sie finden, bei Gott, im Fernsehen, in der vage erinnerten Vergangenheit – sie stehen am Fließband und erzählen in den Lärm hinein Witze, sie ziehen die Vorhänge zu, verbergen sich vor der Welt und klagen, sie stehen in Parks oder einsam in irgendeiner Kammer und wettern über das Unrecht, das ihnen widerfahren ist, sie handeln am Telefon Verträge aus und sitzen in der Nacht vor ihren Häusern, während Sattelzüge durch die Finsternis donnern.
Ich möchte heute Abend ernsthaft und offen über die größte Gefahr sprechen, die unser Land im Inneren bedroht. Diese Gefahr ist die Inflation … vierund-vierund-vierundzwanzig Stunden bis/ich mich betäuben kann … Wir werden alle die Gürtel enger schnallen müssen, die ganze Nation. Wir werden schwierige Entscheidungen treffen, um weit schlimmere Konsequenzen zu vermeiden. Ich werde diese Entscheidungen treffen … nichts los und nirgends wo-o-o/ich mich betäuben kann … Sieben Jahre College, und alles umsonst. Gehe ich halt in das verdammte Peace Corps … CARTER VERLIERT BEIM VERBRAUCHERSCHUTZ … Ich bin mir nicht sicher, ob die Menschen im Mahoning Valley verstehen, dass die Schließung der Youngstown Sheet and Tube Campbell-Fabrik nicht nur die Stahlarbeiter und ihre Familien betrifft, sondern den gesamten Bezirk … DIE VERLOCKUNGEN DER VIELEN KULTE … Die Kommunarden, die in der Mehrheit über fünfzig Jahre alt sind, ernähren sich spärlich von Reis und Bohnen. Sie arbeiten von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in den Feldern, während Jones sie über ein Lautsprechersystem mit Vorlesungen und Predigten antreibt … Wie soll ein Mann für all das bezahlen, was seine Frau tut, die Köchin ist, Liebhaberin, Fahrerin, Kindermädchen und Babysitter? Gerade deshalb glaube ich, dass Frauen gleichberechtigt sein sollten … Die meisten teerarmen Zigaretten schmeckten leider nach gar nichts. Dann habe ich Vantage probiert. Vantage schmeckt, wie eine Zigarette schmecken soll. Und sie ist teerarm … MINDERHEIT IM SENAT BLOCKIERT GESETZ ZUM SCHUTZ DER GEWERKSCHAFTEN … Die Verantwortlichen in Industrie, Handel und Finanzwelt der Vereinigten Staaten haben den zerbrechlichen und ungeschriebenen Vertrag gebrochen, der die hinter uns liegende Zeit des Wachstums und Fortschritts möglich gemacht hat … LIEBESBRIEFE FÜR ELVIS … Fans schütten ihre Herzen aus; Mit farbiger Sonderbeilage: Der Tag, an dem Elvis’ Haus zum Schrein wurde … Lärmbelastung in einem New Yorker Slum! Passanten werden ausgeraubt, Kinder von Ratten angenagt, Junkies reißen Rohre aus verfallenden Sozialwohnungen – und das Umweltamt sorgt sich um die Lärmbelastung! Die Beamten des Umweltamts fahren abends nach Hause, wo es still und schön ist und die Kinder ihre Hausaufgaben machen, während das Radio einen Hit nach dem anderen kreischt … KALIFORNISCHE WÄHLER STIMMEN FÜR SENKUNG DER GRUNDSTEUER UM $ 7 MILLIARDEN »Soll sich die Bezirksverwaltung doch zum Teufel scheren«, sagt ein Mann, der gerade in einem Vorort von Los Angeles seine Stimme abgegeben hat.
Um die Jahrtausendwende, im Alter von etwa dreißig Jahren, träumte Dean Price, dass er auf dem Weg zu seinem Pastor eine asphaltierte Straße entlangging. Hinter einer Kurve wurde aus der Straße ein unbefestigter Weg, und hinter einer weiteren Kurve wurde daraus ein schmaler Hohlweg, in dem alte Bauernkarren tiefe Spuren hinterlassen hatten. Das Unkraut zwischen den Spurrillen reichte ihm bis an die Brust, hier war seit langem niemand vorbeigekommen. Dean lief immer weiter, er breitete die Arme aus und strich über die kitzelnden Gräser. Dann hörte er eine Stimme – sie kam aus seinem Inneren, wie ein Gedanke. »Du wirst jetzt nach Hause gehen, du wirst deinen Traktor holen und an diese Stelle zurückkehren, und du wirst diesen Weg mähen, damit andere, die dir folgen möchten, sehen, dass hier schon jemand gewesen ist. Sie werden kommen, sie werden dir folgen. Du musst nur immer dafür sorgen, dass der Weg gemäht ist.« Dean hatte Tränen in den Augen, als er aufwachte. Sein ganzes Leben lang war er wie ein ruderloses Schiff um sich selbst gekreist und hatte sich gefragt, welche Aufgabe ihm zugedacht war, zu welchem Zweck er überhaupt auf dieser Erde war. Er brauchte eine Weile, um den Traum zu verstehen, aber er spürte gleich, dass er eine Botschaft enthielt, und dass diese Botschaft sein Schicksal war.
Dean hatte sich gerade mit einem Kiosk selbständig gemacht, was nicht gerade nach einer schicksalhaften Berufung aussah. Weitere fünf Jahre sollte er benötigen, um seine wahre Berufung zu finden. Er war hellhäutig und voller Sommersprossen, sein Haar war schwarz, und wenn er lächelte oder mit heller Stimme kicherte, bildeten sich um seine dunklen Augen winzige Fältchen. Die Hautfarbe hatte er von seinem Vater, das hübsche Gesicht von der Mutter. Seit seinem zwölften Lebensjahr kaute er Tabak der Marke Levi Garrett, er verleugnete seine bäuerliche Herkunft nicht und sprach mit der sanften Intensität eines Kreuzfahrers. Er war freundlich und unaufdringlich, seine höfliche Art gab den Männern, die in der Moose Lodge Wodka aus Plastikbechern tranken, Gesprächsstoff, sie fragten sich, wie überzeugend Dean als Bauernjunge war. Seit frühester Kindheit liebte er eine Bibelstelle mehr als alle anderen – Matthäus 7,7: »Bittet, dann wird euch gegeben; sucht, dann werdet ihr finden; klopft an, dann wird euch geöffnet.« Er hatte immer nach Unabhängigkeit gesucht – besonders finanzieller Art. Vor nichts fürchtete er sich wie vor Armut und beruflichem Scheitern, was seinen guten Grund hatte.
Seine beiden Großväter waren Farmer gewesen, sie bauten Tabak an wie ihre Väter und Großväter, die Tradition reichte zurück bis ins achtzehnte Jahrhundert, immer auf dem gleichen Fleck in North Carolina, Bezirk Rockingham. Alle in der Familie hatten schottisch-irische Namen, die so kurz waren, dass sie bequem auf einen Grabstein passten: Price, Neal, Hall. Und alle waren arm. »Das ist so«, sagte Dean. »Ich muss mir einen Weg bahnen, um den Fluss zu erreichen. Wenn ich ihn jeden Tag gehe, wird schließlich ein Trampelpfad daraus. So und nicht anders sind in diesem Land die Straßen entstanden. Manchmal sind die Menschen, die die Pfade entdeckt haben, den Fährten der Tiere gefolgt. Wenn der Weg einmal angelegt ist, wird es bald unmöglich, einen anderen zu gehen. Weil wir uns an das Muster gewöhnt haben, weil wir uns über Generationen hinweg nicht trauen, es anders zu denken.«
Als Dean ein kleiner Junge war, wuchs der Tabak bis an die Zäune. Von April bis Oktober roch ganz Rockingham County danach. Er wuchs in Madison auf, einem Ort vierzig Minuten nördlich von Greensboro, an der Route 220. Die Familie wohnte im Ort, aber Deans eigentliches Leben spielte sich auf der Tabakfarm seines Großvaters Norfleet Price ab. Er hieß Norfleet, weil sein Vater, Deans Urgroßvater, einmal auf einem Zweispänner eine Ladung Tabak nach Winston-Salem gebracht hatte. Ein Mann, der mit Nachnamen Norfleet hieß, machte ihm einen sehr guten Preis. Deans Vater wurde noch auf dem angestammten Land der Familie geboren, auf einem Grundstück am Rand einer Waldrodung, wo eine Schindelhütte mit einer kleinen Veranda stand. Wenige Meter entfernt war ein Tabakschuppen aus kreuzweise aufeinander gefügten Eichenstämmen, den Norfleet mit nichts als einer Axt gebaut hatte. In den Spätsommern seiner Kindheit, wenn die hellen Blätter vorbereitet, im Schuppen aufgehängt und im Rauch getrocknet wurden, bettelte er so lange, bis er auf der Farm übernachten durfte, wo sein Großvater alle ein bis zwei Stunden aufstand, um nachzusehen, ob Tabakblätter in die Flammen des Ölfeuers gefallen waren. Die Vorbereitung der Blätter war härteste Arbeit, aber Dean liebte den Duft des Tabaks, die reifen gelben Blätter, die an den hohen Stangen schwer wurden wie Leder, er liebte den klebrigen Teer, der seine Hände schwärzte, den Rhythmus beim Aufziehen der Blätter, die Bündel, die wie getrocknete Flundern unter den Dachbalken hingen, die gemeinsamen Stunden. Die Familie schlachtete noch selbst. Es gab einen Gemüsegarten und eine Frau mit einer Kuh, die ein paar Häuser weiter wohnte und Buttermilch brachte. Wenn die Ernte spät kam, wurde der Schulanfang verschoben, und im Frühherbst erwachten die Auktionshäuser von Madison zum Leben. Es gab ein Erntefest mit Marschkapelle und Parade, die Familien hatten Geld für das Jahr und freuten sich auf die Festtage im Winter. Dean zweifelte nicht einen Moment, dass auch er Tabakfarmer werden würde und dass seine Kinder aufwachsen würden wie er selbst.
Sein Großvater war sein bester Freund. Noch im Herbst, bevor er 2001 starb, schlug Norfleet Price sein eigenes Holz. Als Dean ihn zum letzten Mal im Altersheim besuchte, war er neunundachtzig Jahre alt und saß festgeschnallt in einem Rollstuhl. Die letzte Ruhe fand er im Familiengrab, auf einem sanften Hügel, im roten Lehm der eigenen Felder. Norfleet arbeitete, damit er seine Frau nicht sehen musste – manchmal hatte er zwei oder drei zusätzliche Jobs. Aber im Tod stand, auf einen Grabstein gemeißelt, sein Name neben dem von Ruth. Nur ihr Todesjahr fehlte noch, und ihre Leiche.
Deans Vater hatte die Chance, der teuflischen Spirale der Armut, in dem seine Familie seit Generationen steckte, zu entkommen. Harold Dean Price, genannt Pete, war klug und ein begeisterter Leser. Die unbedruckten Seiten am Ende seines Wörterbuchs waren mit einer handgeschriebenen Liste von Wortbedeutungen gefüllt, mit Wörtern wie »Transposition« und »Simulacrum«. Er konnte gut reden, war ein überzeugter, beinahe militanter Baptist und ein Rassist aus tiefster Seele. Als Dean eines Tages das Bürgerrechtsmuseum im alten Woolworth-Haus von Greensboro besuchte, wo in der Cafeteria 1960 die ersten Sit-In-Proteste stattgefunden hatten, betrachtete er ein vergrößertes Foto von vier schwarzen Studenten, die aus einem Gebäude der North Carolina A&T-Universität traten. Sie mussten durch ein Spalier von Weißen gehen, einer Masse jugendlicher, aufgereizter Heißsporne mit zurückgekämmten Haaren, die ihre Hände tief in die Taschen gesteckt hatten, die T-Shirts und aufgerollte Jeans trugen und Zigaretten auf den hasserfüllten Lippen. Einer von ihnen war Deans Vater. Er hasste den trotzigen Stolz der Bürgerrechtler, hatte aber nie etwas gegen Charlie und Adele Smith, die sein Land gepachtet hatten und sich um ihn kümmerten, wenn Deans Großmutter in der Mühle arbeitete. Sie waren herzlich und voller Humor, und sie wussten, wo ihr Platz in der Gesellschaft war.
Pete Price lernte Barbara Neal in einem Tanzcafé kennen, sie heirateten 1961, nachdem er das Studium am Western Carolina College abgeschlossen hatte – er war der Erste in der Familie, der es so weit gebracht hatte. 1963 wurde Harold Dean Price II geboren, in den Jahren darauf folgten drei Mädchen. Die Familie zog in ein kleines Backsteinhaus in Madison, der Tabakspeicher der Firma Sharp and Smith war gleich nebenan. Madison und Mayodan, ein Städtchen in der Nähe, lebten von der Textilindustrie, noch in den Sechziger- und Siebzigerjahren stellten die Mühlen jeden jungen Mann ein, der einen Schulabschluss hatte. Wer zum College fortging und mit einem Diplom zurückkehrte, konnte sich vor Angeboten kaum retten. Die Hauptstraße war von soliden Geschäftshäusern gesäumt, in den Geschäften – Apotheken und Kurzwarenhandlungen, Möbelläden und einfachen Restaurants – drängten sich die Kauflustigen. Am größten war der Betrieb, wenn die Textilspeicher zum Ausverkauf ihre Tore öffneten. »Unser Land ist damals, genau zu dieser Zeit, so wohlhabend gewesen, wie es nie wieder sein wird«, sagte Dean. »Gas, Strom und Benzin waren billig, das Öl lag unter unseren Füßen, die Felder draußen waren fruchtbar, die Leute nahmen ihre Arbeit ernst und hatten Freude an ihr. Das Geld war da, man musste es nur verdienen.«
Deans Vater nahm eine Stelle bei DuPont an, einer großen Nylonfabrik in Martinsville gleich hinter der Staatsgrenze in Virginia. In den späten Sechzigern lernte er Glenn W. Turner kennen, einen hasenschartigen, lispelnden Schwindler aus South Carolina. Er trug einen glänzenden Dreiteiler und feine, kalbslederne Stiefel, obwohl er aus ärmsten Verhältnissen stammte und kaum lesen oder schreiben konnte. 1967 gründete Turner eine Firma, die er Koscot Interplanetary nannte. Sie verkaufte, zu fünftausend Dollar, Vertriebslizenzen für Kosmetika. Wer einstieg und weitere Investoren rekrutierte, konnte mit einem beträchtlichen »Finderlohn« rechnen. Außerdem brachte er seine Helfer dazu, schwarze Aktenkoffer zu kaufen, die mit seinen eigenen Motivationskassetten gefüllt waren. Die Serie hieß »Das Wagnis der Größe« und kostete fünftausend Dollar, der Kauf berechtigte dazu, weitere Käufer für den Koffer zu finden und sehr viel Geld zu verdienen. Familie Price kaufte eine Lizenz und lud Freunde und Bekannte zu rauschenden Hausfesten ein, in denen sie »Das Wagnis der Größe« anpriesen. Ein Film über den sagenhaften Aufstieg von Turner wurde gezeigt, Gäste sprangen spontan auf und wiederholten laut Turners bekannteste Merksätze – etwa, dass man auf den Zehenspitzen stehen muss, um nach den Sternen zu greifen. 1971 erfasste das Fieber große Teile der Arbeiterviertel, das Life-Magazin brachte ein Porträt von Turner. Wenig später wurde er beschuldigt, eine illegale Investitionspyramide zu betreiben, und landete für fünf Jahre im Gefängnis. Price verlor sein gesamtes Geld.
In den frühen Siebzigern arbeitete Pete Price als leitender Angestellter im Kraftwerk von Duke Energy in Belews Creek. Dann wechselte er zu Gem-Dandy in Madison, wo er es bis zum stellvertretenden Geschäftsführer brachte. Die Firma stellte Strumpfhalter und Ähnliches für Herren her. Später wurde er Schichtleiter in der Pine Hall-Ziegelei am Dan River, unweit von Mayodan. Jedes Mal traf er auf Vorgesetzte, die er für weniger intelligent hielt als sich selbst, und jedes Mal wurde er gefeuert oder kündigte gleich selbst. Das Hinschmeißen wurde zu einer Art Gewohnheit, es war »die Falte im Gemüt, die du einfach nicht rausgebügelt kriegst«, erklärte Dean. »Sie ist hartnäckig wie eingerittenes Leder. Das Scheitern wurde ein Teil von ihm, es beherrschte sein Denken, seinen Willen, sein Leben.« Zum ersten Mal wurde diese Falte auf der Tabakfarm sichtbar, wo Deans Vater ein Stück Land geerbt hatte, das ungünstig lag, weil es keine Zufahrt hatte. Seine Brüder hatten als Farmer weit mehr Erfolg. Außerdem hielt er sich mit seinen 1,70 Metern für zu klein und verlor früh seine Haare. Aber das eigentliche Scheitern hatte mit der Arbeit zu tun, die Pete Price am meisten bedeutete.
Noch Jahrzehnte später stand auf Deans Kaminsims ein gerahmtes Schwarzweißfoto: Es zeigte einen Jungen in einem dunklen Anzug und einer schmalen, zu kurzen Hose, dessen glänzender, schwarzer Topfschnitt in einem geraden Pony knapp über den Augenbrauen endete. Er blinzelte in die Sonne und drückte mit beiden Armen eine Bibel an die Brust, als wollte er sich schützen. Neben ihm stand ein kleines Mädchen in einem Kleid mit Spitzenkragen. Es war der 6. April 1971. Wenige Wochen vor seinem achten Geburtstag war der Junge bereit, sein Leben Jesus zu widmen, damit seine Seele gerettet werde. In den Siebzigern leitete Deans Vater eine Reihe von baptistischen Dorfkirchen. Sein Dogmatismus und seine Sturheit führten in den Gemeinden zu Zwist, der immer in einer Abstimmung gipfelte. Ob sie sich für ihn aussprachen oder gegen ihn – er ging im Streit (denn er war ungeduldig und strebte danach, ein großer Prediger vom Format eines Jerry Falwell zu werden, mit einer tausendköpfigen Gemeinde). Es wurde dann immer schwieriger, eine neue Pastorenstelle zu finden. Er reiste von Ort zu Ort, bewarb sich mit einer Predigt, die Feuer und Schwefel beschwor, und kassierte eine Ablehnung nach der anderen. Auf eine Kirche in Cleveland County, die Davidson Memorial Baptist Church, hatte er es besonders abgesehen, und als ihm auch diese Kanzel versagt wurde, gab er frustriert auf.
Von seinem Vater erbte Dean den Ehrgeiz und die Liebe zu Büchern. Er las, von der ersten bis zur letzten Seite, die vielbändige Familienenzyklopädie. Eines Abends beim Essen, er war neun oder zehn Jahre alt, fiel das Gespräch auf seine Zukunftspläne: »Und? Was willst du denn mal werden?«, fragte Deans Vater verächtlich.
»Ich möchte Hirnchirurg werden, Neurologe«, antwortete Dean. Er hatte das Wort in der Enzyklopädie gelesen. »Ehrlich. Das ist der Beruf, den ich gern hätte.«
Sein Vater lachte ihn einfach aus. »Die Wahrscheinlichkeit ist höher, dass ich zum Mond fliege, als dass du Neurologe wirst.«
Deans Vater konnte lustig und herzlich sein, aber niemals Dean gegenüber. Dean hasste ihn, weil er ihn für grausam hielt und für einen Versager. Er hatte seinen Vater schon oft predigen hören, selbst auf öffentlichen Plätzen in Madison, aber im Grunde nahm er ihm seine Botschaft nicht ab, denn zu Hause war er so gemein und brutal, dass er auf der Kanzel wie ein Heuchler wirkte. In seiner Kindheit liebte Dean nichts so sehr wie Baseball. In der siebten Klasse begann er, sich vor Mädchen zu fürchten. Mit den lächerlichen vierzig Kilo, die er – nass geschwitzt – auf die Waage brachte, hatte er keine Chance, jemals ins Footballteam aufgenommen zu werden. Aber als Shortstop in der Baseballmannschaft der Madison-Mayodan Middle School machte er sich gut. 1976 war die Mannschaft bereits gemischt, es gab schwarze und weiße Spieler. Sein Vater wollte nicht, dass er mit Schwarzen zu tun hatte. Weil er den Umgang unterbinden wollte, und weil er sich gerade einer neuen Gemeinde andiente, die ihn dafür loben würde, nahm er Dean (der inständig darum bettelte, bleiben zu dürfen) aus der öffentlichen Schule und schickte ihn nach Gospel Light Christian, eine streng konfessionelle Schule der Independent Fundamental Baptists in Walkertown, die nur weiße Schüler aufnahm. Zwei Stunden dauerte die Fahrt mit dem Schulbus von Mayodan Mountain, wo die Familie zu jener Zeit wohnte. Dean hatte weder Zeit für Baseball noch für seine schwarzen Freunde – mit beidem war es vorbei. Als Dean in der zehnten Klasse war, begann sein Vater, an der Schule amerikanische und biblische Geschichte zu unterrichten. Dean hätte ohne weiteres nach dem Unterricht zum Baseball-Training gehen und mit seinem Vater nach Hause fahren können. Der aber bestand darauf, um Punkt drei Uhr zu fahren, damit er zu Hause in seiner Studierstube lesen und arbeiten konnte. Im Hause der Prices standen sich zwei Gegner gegenüber in einem Kampf, den Dean nicht gewinnen konnte. Der Vater hatte sich auf den ungleichen Kampf eingelassen – und wich nicht einen Schritt zurück.
Als Dean siebzehn Jahre alt war, verließ der Vater die Gemeinde in Mayodan Mountain. Die Familie zog in den Osten des Staates in die Nähe von Greenville. In der Ortschaft Ayden hatte ihm eine kleine Kirche die Pastorenstelle angeboten. Es sollte seine letzte sein. Nach nur vier Monaten jagten sie ihren Pastor Price davon, die Familie kehrte nach Rockingham County zurück. Da sie kaum Geld hatten, zogen sie in ein Haus, das der Familie von Deans Mutter gehörte. Es lag außerhalb des Weilers Stokesdale an der Route 220, nur wenige Meilen südlich von Madison. Deans Großmutter Ollie Neal lebte in einem Anbau hinter dem Haus, hinter dem Grundstück erstreckte sich eine Tabakfarm, die sein Großvater 1932, als die Route 220 noch eine unbefestigte Straße war, beim Poker gewonnen hatte.
Dean hatte zu dieser Zeit nur ein einziges Ziel: dem Einflussbereich seines Vaters zu entkommen. Wenige Tage nach seinem achtzehnten Geburtstag fuhr er nach Winston-Salem und sprach mit einem Musterungsoffizier der Marineinfanterie. Am folgenden Morgen sollte er zurückkehren, um sich zu melden, doch in der Nacht fasste er einen anderen Entschluss: Er wollte die Welt sehen und das Leben genießen, und zwar auf eigene Faust.
Als Dean 1981 die Schule abschloss, waren die Stellen bei der Zigarettenfabrikation bei R.J. Reynolds in Winston-Salem die begehrtesten in der Region. Wer dort arbeiten durfte, war für den Rest seines Lebens versorgt, er war kranken- und rentenversichert und erhielt zwei Stangen Zigaretten pro Woche. Es waren die guten Schüler, die sofort eingestellt wurden, die mittelmäßigen und schlechten gingen in die Textilmühlen, wo die Löhne niedriger waren – bei DuPont und Tultex in Martinsville, Dan River in Danville, Cone in Greensboro und in den kleineren Mühlen von Madison – oder sie arbeiteten für Möbelfabriken in High Point, Martinsville und Bassett/Virginia. Die besten Schüler aber – in Deans Klasse waren es drei – gingen zum Studium fort. (Bei einem Klassentreffen dreißig Jahre später sah Dean, dass viele seiner ehemaligen Mitschüler fett geworden waren. Sie arbeiteten als Kammerjäger oder verkauften T-Shirts auf Volksfesten. Einer, der einst mit guten Aussichten bei R.J. Reynolds begonnen hatte, hatte seine sicher geglaubte Stelle verloren und offenbar jede Hoffnung aufgegeben.)
Dean, der sich in der Schule nie besonders angestrengt hatte, nahm in jenem ersten Sommer eine Stelle in Madison an, in der Auslieferung einer Firma, die Kupferrohre herstellte. Es war gutes Geld für das Jahr 1981, nur war es genau die Stelle, die er nie haben wollte. Seine Mitarbeiter warteten nur auf die Rente, hatten keinerlei Ehrgeiz und quatschten den ganzen Tag übers Saufen, über Pferderennen und Sex. Dean fand das so schlimm, dass er beschloss, ein Studium zu beginnen.
Die einzige Universität, deren Gebühren sein Vater zu zahlen bereit war, hieß Bob Jones University, ein Bibelseminar in South Carolina, wo Mischehen und Beziehungen zwischen Schwarzen und Weißen verboten waren. Anfang 1982, wenige Monate nach Deans Immatrikulierung, sprach das ganze Land über Bob Jones: Die Regierung von Ronald Reagan versuchte, eine Entscheidung der Steuerbehörde zu widerrufen, die der Universität Steuerfreiheit zugesichert hatte. Nach einem Sturm der Empörung musste Reagan zurückrudern. Die Universität, so erzählte Dean später, sei die einzige weltweit gewesen, in der der Stacheldraht, der den Campus umschloss, wie in einem Gefängnis nach innen gerichtet war. Die jungen Männer durften sich die Haare nicht über die Ohren wachsen lassen, die einzige Möglichkeit, mit den Mädchen auf der anderen Seite des Geländes in Kontakt zu treten, war über einen Läufer, der einen kleinen Kasten voller Kärtchen von Wohnheim zu Wohnheim trug. Das Einzige, was Dean an der Universität gefiel, war die Morgenandacht, in der alte Kirchenlieder gesungen wurden. Er schwänzte die Kurse, für die er eingeschrieben war, und bestand im ersten Semester nicht eine einzige Prüfung.
Zu Weihnachten fuhr er nach Hause und erklärte seinem Vater, er werde das Studium hinschmeißen und ausziehen. Sein Vater schlug ihn windelweich und warf ihn zu Boden. Dean stand auf und sagte: »Wenn du mich noch einmal anrührst, bringe ich dich um. Das ist mein Ernst.« Er verließ das Haus und kehrte nicht mehr zurück.
Mit seinem Vater ging es nun steil bergab. Er klagte über Rückenschmerzen und Kopfschmerzen und eine Menge weiterer, echter und erfundener Krankheiten, und ließ sich von einer Reihe von Ärzten, die nichts voneinander wussten, Oxycodon verschreiben. Er schluckte immer mehrere Pillen auf einmal und bunkerte seine Vorräte in den Innentaschen seiner Jacketts und in Müllbeuteln, wo Deans Mutter sie fand. Sein Blick war bald leer und matt, die Magenschleimhaut rebellierte. Immer wieder zog er sich ins Arbeitszimmer zurück – angeblich, um religiöse Bücher zu studieren –, er schluckte Tabletten und dämmerte vor sich hin. Mehrmals ging er zum Entzug in eine Klinik.
Dean dagegen stürzte sich ins Leben und war kaum zu halten. Schnell entdeckte er die Freuden des Alkohols und der Frauen, er spielte, rauchte Marihuana und geriet in Schlägereien. Seine erste Freundin war eine Pastorentochter, seinen ersten Sex hatte er in der Kirche, auf dem Boden vor dem Klavier. Er rebellierte bis zum Äußersten, nicht zuletzt gegen den Gott seines Vaters. »Ich war ein richtiges Arschloch«, erzählte Dean, »ich respektierte nichts und niemanden.« Er zog nach Greensboro, teilte sich ein Haus mit einem Kiffer. Eine Zeitlang assistierte er dem Golf-Pro im Greensboro Country Club, wo er hundertzwanzig Dollar die Woche verdiente. 1983, er war zwanzig Jahre alt, beschloss er, es noch einmal mit dem Studium zu versuchen. Er schrieb sich an der staatlichen Universität in Greensboro ein und studierte Politikwissenschaften. 1989, nach sechs Jahren, in denen er sich als Kellner über Wasser hielt, gelang ihm tatsächlich der Abschluss – trotz einer fünfmonatigen Unterbrechung, als er mit Chris, seinem besten Freund, nach Kalifornien fuhr. Sie schliefen im VW-Bus, liefen den Mädchen hinterher und genossen das Leben.
Dean war eingetragener Republikaner, Ronald Reagan war sein Idol. Für Dean war Reagan wie ein Großvater, der einem mit ruhiger Stimme zusprach und dem man vertrauen konnte: Seine Reden waren inspirierend und unkompliziert. Die Menschen wussten, was er meinte, wenn er von Amerika als Zitadelle, von einer »Stadt auf dem Hügel« sprach. Dean wollte ihm nacheifern, er wusste, dass er reden konnte, er stammte immerhin aus einer Predigerfamilie. Wenn Reagan sprach, begannen die Menschen, wieder an die Macht und Größe Amerikas zu glauben. Reagan allein war es zu verdanken, dass Dean sich vorstellen konnte, selbst in die Politik zu gehen, ein Plan, der jäh endete, als er auf den Stufen eines Universitätsgebäudes mit einem Joint erwischt wurde. Einige Tage später geriet er in eine Alkoholkontrolle, wurde verhaftet und erhielt eine Vorstrafe.
Nach dem Studium, hatte er sich vorgenommen, wollte er die Welt sehen. Er verbrachte einige Monate in Europa, schlief in Jugendherbergen, manchmal auch auf einer Parkbank, ohne jemals seinen Ehrgeiz – seinen »verrückten Ehrgeiz« – zu vergessen. Er kehrte in die Heimat zurück und nahm sich zum Ziel, die beste Stelle in der besten Firma zu bekommen, die es gab. Diese Firma war immer Johnson & Johnson gewesen. Die Arbeiter in New Jersey trugen blaue Anzüge, sie waren sauber und drückten sich gediegen aus. Der Lohn war gut, die Firma verteilte großzügig Dienstwagen und bezahlte ihren Angestellten die Krankenversicherung. Dean zog mit seiner damaligen Freundin nach Philadelphia und bemühte sich um Kontakt, er sprach jeden an, der irgendetwas mit der Firma zu tun hatte.
Der Erste, den er kennenlernte, war ein blonder, geschniegelter Typ in einem Seersucker-Anzug, mit weißen Schuhen und Fliege – noch nie hatte Dean einen derartigen Aufzug gesehen. Beinahe täglich rief er in der Hauptverwaltung an, sieben oder acht Mal wurde er zu Vorstellungsgesprächen eingeladen, ein ganzes Jahr verbrachte er damit, mit purer Willenskraft eine Stelle zu ergattern, bis Johnson & Johnson 1991 endlich nachgab und ihn als Pharmavertreter nach Harrisburg schickte. Dean kaufte sich einen blauen Anzug, ließ sich die Haare schneiden und versuchte, seinen Südstaaten-Akzent loszuwerden, der ihn, so glaubte er, als rückständig kennzeichnete. Er bekam einen Pager und einen Computer, fuhr im Dienstwagen von Praxis zu Praxis, sprach täglich bei bis zu acht Ärzten vor, verteilte Probepackungen, erklärte Wirkungen und Nebenwirkungen.
Es dauerte nicht lange, bis Dean bemerkte, dass er diesen Job zutiefst hasste. Am Ende eines jeden Arbeitstags musste er der Zentrale von jedem seiner Praxisbesuche berichten. Er war ein Roboter, eine Nummer, die Firma, für die er arbeitete, überwachte ihn wie Big Brother. Wer sich in einer Weise engagierte, die Johnson & Johnson nicht passte, wurde bald zurückgepfiffen. Nach nur acht Monaten kündigte Dean – es hatte länger gedauert, die Stelle zu bekommen.
Er war einem Versprechen auf den Leim gegangen, das eine Lüge war: Wenn du studierst und dich anstrengst, wenn du in einem großen, traditionsreichen Unternehmen der Fortune 500 unterkommst, dann wirst du glücklich. Er hatte diesen Weg eingeschlagen, jetzt fühlte er sich elend. Er war seinem Elternhaus entkommen, nur, um sich erneut unterzuordnen. Also beschloss er, noch einmal ganz von vorn zu beginnen und sein eigener Herr zu werden – als Unternehmer.
Big Newt McPherson war ein Schlägertyp, der sich in den Kneipen von Harrisburg/Pennsylvania herumtrieb. Es war die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Drei Tage, nachdem er Kit Daugherty, eine sechzehnjährige Putzfrau, geheiratet hatte, schlug er sie, weil sie versucht hatte, ihn nach einer durchzechten Nacht zu wecken. Es war das Ende dieser Ehe. Kit war schwanger, dafür hatte die Zeit wohl gereicht. 1943 brachte sie einen Jungen zur Welt, dem sie trotz allem den Namen ihres wenig später geschiedenen Mannes gab. Drei Jahre später heiratete Kit einen Offizier der Infanterie namens Robert Gingrich, der Big Newt um Erlaubnis bat, den kleinen Newtie zu adoptieren. Big Newt willigte ein und sparte sich die Unterhaltszahlungen. »Ist das nicht schrecklich?«, sagte Kit viele Jahre später, »ein Mann, der seinen eigenen Sohn verkauft.«
Als Little Newtie siebzig Jahre alt war, ein Politiker, dessen Lebensziel zum Greifen nahe war, sagte er einmal: »Die Kindheitswelt, in der ich aufgewachsen bin, war sozusagen idyllisch.« Wahlwerbung. Die echte Familie Gingrich wohnte über einer Tankstelle an einem Platz im Zentrum des ärmlichen Städtchens Hummelstown. Das Leben war hart und beengt, es schenkte einem nichts. Little Newties männliche Verwandte waren kräftig und körperlich, sie waren Farmer, Industrie- oder Bauarbeiter. Sein Stiefvater, der wie Little Newtie und Big Newt adoptiert war, war ein schweigsamer, gefährlicher Haustyrann. Der kleine Newtie übernahm zwar seinen Kodex der Härte, dem moppeligen, redseligen Jungen gelang es aber nie, den Oberstleutnant Bob Gingrich im Gespräch zu knacken und seine Zuneigung zu gewinnen. Also bekriegten sie sich. Kit war manisch-depressiv und verbrachte die meiste Zeit ihres Lebens unter dem Einfluss von Beruhigungsmitteln. Little Newtie war ein seltsamer, kurzsichtiger Junge, der keine engen Freunde hatte. Er fühlte sich eher zu den älteren Frauen in seiner Umgebung hingezogen, die ihm Gebäck gaben und ihn zum Lesen anregten. Der Junge, der mit fünfzig noch immer etwas von einem Neunjährigen hatte, hatte schon mit neun die Allüren eines Fünfzigjährigen. Er flüchtete sich in Bücher und Filme, seine Leidenschaft galt den Tieren, den Dinosauriern, der Frühgeschichte und Helden vom Format eines John Wayne.
Newt war zehn, als seine Mutter ihm an einem sonnigen Sommertag erlaubte, allein mit dem Bus nach Harrisburg zu fahren. Der Stiefvater war zu dieser Zeit in Korea stationiert. Newt sah sich hintereinander zwei Safarifilme an. Als er um vier Uhr, noch beeindruckt von Krokodilen und Rhinozerossen und den Abenteuern Afrikas, ins grelle Nachmittagslicht trat, sah er auf und entdeckte ein Schild, das auf eine Gasse zeigte: RATHAUS. Er hatte in seiner frühreifen Art bereits eine Vorstellung davon, was es bedeutete, Bürger dieses Landes zu sein. Er ließ sich den Weg zur Parkverwaltung weisen und versuchte, die Beamten zu überreden, Geld für den Bau eines Zoos bereitzustellen. Die Geschichte landete auf dem Titelblatt der örtlichen Zeitung. Newt erkannte, dass er berufen war, die Menschen zu führen.
Es dauerte weitere fünf Jahre, bis er sein Ziel schärfer in den Blick bekam. Ostern 1958, als Newts Stiefvater in Frankreich diente, besuchte die Familie Verdun – l’enfer de Verdun, den totalen Krieg. Vierzig Jahre nach dem Ersten Weltkrieg waren die Wunden überall sichtbar. Newt ging über die Schlachtfelder, er sah Krater und fand zwei rostige Helme, die er mitnahm und neben einem Granatsplitter an der Wand seines Kinderzimmers präsentierte. Er sah durch das Fenster des Ossuariums, wo, aufgeschichtet zu riesigen Haufen, die Gebeine von über hunderttausend französischen und deutschen Soldaten lagen. Das Leben hatte auf einmal eine andere Wirklichkeit für den Jungen. Er verstand, dass Zivilisationen zugrunde gehen konnten. Er sah, was geschah, wenn ganze Länder von schlechten Führern in Gefahr gebracht wurden. Und er sah ein, dass manchmal Menschen ihr Leben opfern mussten, um das Leben ihrer Mitbürger zu beschützen.
Er las Toynbee und Asimov, seine Vorstellung war beherrscht von Zivilisationen, die dem Untergang geweiht waren. Auch Amerika war in Gefahr. Deshalb fasste er einen Entschluss: Er würde nicht Zoodirektor oder Paläontologe werden – seine Zukunft lag in der Politik. Nicht in der Stadtverwaltung, nicht als Vorsitzender des Verkehrsausschusses, nicht als Verteidigungsminister oder einfach nur als Präsident der Vereinigten Staaten – nein, er wollte einer der ganz Großen werden, ein Lincoln, ein Roosevelt oder Churchill. (Der Vierte in dieser Reihe war damals noch ein arbeitsloser Schauspieler; als Newt auf den Feldern von Verdun wandelte, moderierte er im Fernsehen das General Electric Theater.) Der Junge beschloss, sein Leben der Lösung von drei Problemen zu widmen: Was benötigte Amerika, um zu überleben? Wie ließ sich das amerikanische Volk überzeugen, sich seiner Führung anzuvertrauen? Wie konnte er die Freiheit des Landes sichern?
Jahrzehnte später kritzelte Gingrich diese Schicksalsaufträge an eine Tafel, wie uralte Hieroglyphen eines Eroberers:
Gingrich – die wichtigste Mission
Verteidiger der Zivilisation
Grenzenzieher der Zivilisation
Lehrer der zivilisatorischen Regeln
Ermutiger aller, die Zivilisation anfachen
Führer aller, die sich für Zivilisation einsetzen
Führer (möglichst) aller zivilisatorischen Mächte
Eine universelle, nicht nur eine optimale Mission
Doch zuerst galt es, die Sechziger zu überstehen.
Als Bob Gingrich 1960 nach Hause geschickt wurde, reisten ihm Kit und ihr Sohn nach Fort Benning/Georgia entgegen. Newt machte gerade Wahlkampf für Nixon gegen Kennedy. Nixon war der erste Politiker, für den er sich interessierte, er las alles, was er über ihn finden konnte. Auch Nixon stammte aus der unteren Mittelschicht, auch er war ein grüblerischer Einzelgänger, der mit einem strengen Vater aufgewachsen war. Sein tiefer Groll verschreckte die wenigen Freunde, gleichzeitig träumte er davon, ein großer Mann der Geschichte zu werden. Im November verbrachte Gingrich die längste Nacht seines Lebens, als er am Radio verfolgte, wie Nixon gegen Kennedy verlor.
In der High School begann Newt ein heimliches Verhältnis mit seiner Geometrielehrerin Jackie Battley, die sieben Jahre älter war als er – eine weitere ältere Frau, die ihn verhätschelte. Sie heirateten, als Gingrich neunzehn Jahre alt war, und bekamen zwei Töchter. Bob Gingrich weigerte sich, an der Hochzeit teilzunehmen.
Da er bereits eine Familie hatte, wurde Newt nicht eingezogen. Er meldete sich auch nicht freiwillig und setzte nie einen Fuß auf vietnamesischen Boden. Sein Stiefvater verachtete ihn dafür: »Er sieht die Zimmerwand nicht, so schlecht sind seine Augen, und er hat die schlimmsten Plattfüße, die ich je gesehen habe. Er ist körperlich zum Militärdienst einfach nicht in der Lage.«
Jackie arbeitete, und Gingrich studierte an der Emory University Geschichte. Er promovierte an der Tulane University und engagierte sich auf dem Campus. Als die Verwaltung von Tulane zwei Fotos wegen Obszönität verbot, die in der Campus-Zeitung veröffentlicht werden sollten, organisierte Gingrich Demonstrationen gegen die Entscheidung und nahm sogar an einem Sit-in teil. Er war zwar immer noch Republikaner, hatte aber zu Bürgerrechten, Umwelt und politischer Moral Vorstellungen, die eher reformistisch waren. Er las Alvin und Heidi Toffler und setzte sich mit dem politischen Futurismus auseinander, und er wurde zum Verkünder der informationellen Revolution. Am liebsten beschäftigte er sich damit, laut und direkt die etablierten Institutionen anzugreifen. Seine Lieblingsphrase, die »korrupte Elite«, schleuderte er in alle Richtungen, und er behielt sie bis zum Schluss griffbereit in seiner Tasche. Seinen Aufstieg zur Macht zementierte er mit Verbalangriffen auf die Jauchegrube der Sechziger, ein Jahrzehnt, das ihn selbst nicht wenig geprägt hatte.
1970 kehrte er nach Georgia zurück und begann, am West Georgia College vor den Toren Atlantas Geschichtswissenschaft zu lehren. Sofort meldete er seine Ansprüche auf das Amt des Rektors an – und wurde abgewiesen. Bei der Kongresswahl 1974 versuchte er, den konservativ-demokratischen Amtsinhaber vom Thron zu stoßen, in einem Bezirk, der noch nie einen republikanischen Abgeordneten gewählt hatte. Gingrich wurde von der Watergate-Affäre fortgespült und verlor. 1976 dann der nächste Versuch – wieder verlor er, und ein Erdnussfarmer aus der Provinz wurde Präsident. »Gerald Ford persönlich ist dafür verantwortlich, dass ich nicht im Kongress sitze«, schimpfte er. Aber Gingrich gab nicht auf, an Ehrgeiz fehlte es ihm nicht. Als ein Abgeordneter im Jahr 1978 seinen Rücktritt ankündigte, sah Gingrich seine Chance. Es sollte sein Jahr werden.
Er war ein Politiker neuer Art – ein Mann aus dem Neuen Süden, einer fortschrittlichen Region, die von der Raumfahrtindustrie geprägt war, von geschlossenen und bewachten Wohnanlagen – und dabei im eigentlichen Sinn überhaupt kein Südstaatler. Rasse spielte in seiner Rhetorik keine Rolle, er wirkte auch nicht sehr religiös. Die nördlichen Vorstädte von Atlanta vermischten Norman Rockwell und Glasfaserkabel, sie waren die Erfüllung eines Trends, der sich bereits ein Jahrzehnt früher, in Nixons Wahlkampf von 1968, angekündigt hatte: eine auf den Sunbelt gestützte republikanische Mehrheit. Gingrich, ein Freund von Flugzeugträgern, Mondraketen und Computern, verstand diese Leute.
1978 hatte die Stimmung im Land ihren Tiefpunkt erreicht: Städte wurden durch Vandalismus verwüstet, Stagnation und Inflation vernichteten die Kaufkraft, im Weißen Haus saß ein humorloser Moralist, der Opferbereitschaft predigte. Das Misstrauen gegenüber Behörden und Verbänden stieg, die Bevölkerung war frustriert und ließ sich – von Populisten und Konservativen – gegen Staat und Steuern aufwiegeln. Gingrichs Gegnerin, eine demokratische Abgeordnete, bot für den Wahlkampf genug Angriffsfläche: sie war linksliberal und reich und stammte ursprünglich aus New York. Gingrich wusste gleich, was zu tun war: Er rückte nach rechts und wetterte gegen Sozialleistungen und Steuern. Griffbereit in der Tasche hatte er einen neuen Stein, den »korrupten, linksliberalen Wohlstandsstaat«, mit dem er seine Gegnerin außer Gefecht setzte. Gerade als sich die christliche, rechtsfundamentalistische Moral Majority anschickte, die Machtverhältnisse in Washington auf den Kopf zu stellen, begann Gingrich, über moralische Werte zu sprechen, über Heim und Herd, er behauptete, seine Gegnerin sei bereit, die eigene Familie zu sprengen, um nach Washington zu gehen. Jackie und die Mädchen traten in der Wahlwerbung auf.
Aber Jackie war dick und unattraktiv geworden, und in politischen Kreisen war bekannt, dass Newt Affären hatte. Er war der »Ermutiger aller, die Zivilisation anfachen«, er war hungrig, aber er gehörte – mit seinem großen Kopf, einer ins Graue gehenden Helmfrisur, einem kalten, berechnenden Grinsen und einem Bauch, der mächtig gegen den Horizont seiner himmelblauen Hose drückte – nicht zu den Männern, denen die Frauen zu Füßen lagen. Er beschränkte sich so weit wie möglich auf Oralsex, um nicht lügen zu müssen, falls jemand fragen sollte. Zwei Jahre dauerte es, bis die Ehe kaputt war und eine neue Mrs Gingrich in den Startlöchern stand. Der »Verteidiger der Zivilisation« überreichte die handgeschriebenen Scheidungspapiere im Krankenhaus, wo Jackie sich von einer Gebärmutterkrebsoperation erholte. Jahre später verwies Gingrich auf die viele Arbeit und auf seinen Patriotismus, um diese Episode zu rechtfertigen.
1978 gewann er komfortabel, seine Partei nahm den Demokraten fünfzehn Sitze im Unterhaus ab (unter den Neuankömmlingen war auch Dick Cheney). Die Wahl kündigte bereits den Erdrutsch des Jahres 1980 an.