Aldous Huxley

Schöne Neue Welt

Ein Roman der Zukunft

Aus dem Englischen von Uda Strätling

FISCHER E-Books

Mit einem Nachwort von Tobias Döring

Inhalt

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

Covergestaltung: Buxdesign, München

Coverabbildung: Benjamin Harte / Arcangel Images

 

Die englische Originalausgabe erschien 1932 unter dem Titel ›Brave New World‹ bei Chatto & Windus, London.

Copyright © Mrs Laura Huxley 1932

für die deutschsprachige Übersetzung:

© S.Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2013

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-402773-9

Schöne Neue Welt1

 

Nicolai Alexandrowitsch Berdiajew2

Ein grauer, gerade mal vierunddreißigstöckiger Klotz. Über dem Hauptportal der Hinweis CITY-BRÜTER UND KONDITIONIERUNGSCENTER LONDON und auf einem Wappen der Wahlspruch des Weltstaats3: KOLLEKTIVITÄT, IDENTITÄT, STABILITÄT4.

Der große Raum im Erdgeschoss ging nach Norden. Kalt starrte, trotz des Sommers hinter den Scheiben, trotz der tropischen Hitze im Raum selbst, ein dürres, hartes Licht zu den Fenstern herein, suchte nach drapierten Gliederpuppen, nach der bleichen Gänsehaut erforschter Körper, fand aber nur Glas, Nickel und das kahl schimmernde Porzellan eines Labors. Der einen Wintrigkeit entsprach die andere. Die Overalls der Laborkräfte waren weiß, ihre Hände von fahlem, leichenfarbenem Gummi umschlossen. Das Licht war gefroren, tot, ein Gespenst. Nur den gelben Tuben der Mikroskope entlehnte es ein wenig Leben, legte sich Strich um satten Strich wie Butter auf die Röhren der langen, blanken Batterie auf den Labortischen.

»Und dies«, sagte der Direktor, indem er die Tür aufstieß, »ist die Fertilisationsstation.«

Tief über ihre Instrumente gebeugt, waren die dreihundert Fertilisatoren ganz bei der Sache, als der Direktor City-Brüter und Konditionierungscenter den Raum betrat –

»Damit Sie sich ein allgemeines Bild machen können«, sagte er ihnen dann. Ein allgemeines Bild mussten sie schließlich schon haben, wenn sie qualifizierte Arbeit leisten sollten – allerdings, da aus ihnen ja gute, glückliche Mitglieder der Gesellschaft werden sollten, eben so allgemein wie nur möglich. Denn der Schlüssel zu Tugend und Glück liegt, wie wir wissen, im Besonderen; das Allgemeine ist ein intellektuell notwendiges Übel. Nicht Philosophen, sondern Laubsäger und Briefmarkensammler bilden das Rückgrat der Gesellschaft.

»Ab morgen«, fügte er gerne an und lächelte seinen Studenten mit fast verhängnisvoller Leutseligkeit zu, »werden Sie sich reinknien müssen, da wird Ihnen für das Allgemeine keine Zeit bleiben. Bis dahin aber …«

Bis dahin war es ein seltenes Privileg. Aus berufenem Munde direkt ins Notizbuch. Die Neulinge kritzelten wie verrückt.

Hochgewachsen und etwas hager, aber sehr aufrecht führte sie der Direktor hinein. Er hatte ein langes Kinn,

»Ich fange am Anfang an«, verkündete der DCK, und die Streber unter den Zuhörern hielten seine Absicht in ihren Notizbüchern fest: Fange am Anfang an. »Das …«, er wedelte mit der Hand, »sind die Inkubatoren.« Er zog eine Schutztür auf und zeigte ihnen unzählige Stellagen nummerierter Reagenzröhrchen. »Die wöchentliche Lieferung Ova«, erklärte er, »die wir hier bei Körpertemperatur lagern, während die männlichen Gameten«, er zog eine weitere Tür auf, »von siebenunddreißig auf fünfunddreißig Grad runtergeregelt werden. Volle Körpertemperatur macht steril.« Thermowäsche macht den Bock zum Hammel, aber keine Lämmer.

Sich mit einer Hand an den Inkubatoren abstützend, gab er ihnen, während Bleistifte unleserlich über Seiten hasteten, einen kurzen Abriss des modernen Fertilisationsprozesses, sprach zunächst, natürlich, von seinem operativen Vorlauf – »dem freiwilligen Eingriff zum Wohle der Gesellschaft, mal ganz abgesehen von der Prämie eines Halbjahresgehalts –«; ging dann über zu einer Grobskizzierung der zur Erhaltung lebensfähiger, ja aktiv sich fortentwickelnder Eierstöcke eingesetzten Technik; holte zu einer Erläuterung optimaler Temperatur, Salinität, Viskosität aus; sprach von dem Liquor, in den die extrahierten und

»Dem Bokanowski-Verfahren«, betonte der Direktor, und die Studenten unterstrichen die Worte in ihren kleinen Notizbüchern.

Eine Eizelle, ein Embryo, ein Erwachsener – im Normalfall. Eine bokanowskifizierte Keimzelle dagegen knospe und proliferiere. Acht bis sechsundneunzig Zellknospen, und aus jeder entstehe ein tadellos gebildeter Embryo, aus jedem Embryo ein normalgroßer Erwachsener. Also

»Im Wesentlichen«, schloss der DCK seinen Vortrag, »besteht die Bokanowskifizierung aus einer Reihe entwicklungshemmender Schritte. Wir blockieren den Reifungsprozess, und paradoxerweise reagiert die Keimzelle mit Vermehrung durch Zellknospung.«

Vermehrung durch Zellknospung. Die Bleistifte waren emsig.

Er zeigte dorthin, wo auf einem sehr langsam laufenden Band eine voll beschickte Reagenzstellage in einen großen Stahlkasten befördert wurde, aus dem ein zweiter gerade wieder auftauchte. Maschinen surrten leise. Acht Minuten seien die Reagenzröhrchen darin unterwegs, sagte er ihnen. Acht Minuten starke Röntgenstrahlung seien das Äußerste, was eine Eizelle verkrafte. Einige stürben ab, von den übrigen bildeten die unempfindlichsten zwei, die meisten vier, manche auch acht Zellknospen; sie alle kämen daraufhin wieder in die Inkubatoren, wo die neuen Knospen sich weiterentwickelten, bis sie nach zwei Tagen heruntergekühlt würden, heruntergekühlt und gehemmt. Dann träten aus zwei, vier, acht Zellknospen wiederum Knospen aus, die mit einer nahezu tödlichen Dosis Alkohol behandelt würden und sich daraufhin neuerlich vermehrten: Knospe aus Knospe aus Knospe, die fortan – da weitere Wachstumsblockaden sich in der Regel als fatal erwiesen – in Ruhe reifen dürften. Unterdessen seien also aus dem ursprünglichen einen Ei acht bis sechsundneunzig Embryonen geworden – ein ungeheurer Fortschritt, nicht wahr,

»Mengen«, wiederholte der Direktor und warf die Arme auseinander, als verteile er Spendabilität. »Mengen.«

Einer der Studenten aber war so unvorsichtig zu fragen, worin denn dabei der Vorteil liege.

»Mein lieber Junge!« Der Direktor schoss sich sofort auf ihn ein. »Verstehen Sie denn nicht? Verstehen Sie nicht?« Er hob mit feierlich ernster Miene die Hand. »Bokanowskis Verfahren ist ein Hauptinstrument gesellschaftlicher Stabilität!«

Hauptinstrument gesellschaftlicher Stabilität.

Genormte Männer und Frauen in konstanten Mengen. Aus einer einzigen bokanowskifizierten Eizelle die Belegschaft eines mittelgroßen Werks.

»Sechsundneunzig identische Zwillinge bemannen sechsundneunzig identische Maschinen!« Die Stimme bebte förmlich vor Begeisterung. »Da weiß man doch wirklich, was man hat. Zum ersten Mal in der Geschichte.« Er zitierte den planetarischen Wahlspruch: »Kollektivität, Identität, Stabilität.« Große Worte. »Könnten wir endlos bokanowskifizieren, alle unsere Probleme wären gelöst.«

Gelöst durch genormte Gammas, standardisierte Deltas, Einheits-Epsilons. Millionen eineiiger Zwillinge. Das Prinzip der Massenproduktion übertragen auf die Biologie.

»Doch leider«, der Direktor wiegte den Kopf hin und her, »können wir eben nicht endlos bokanowskifizieren.«

»Denn in der Natur vergehen dreißig Jahre, bis zweihundert Eizellen heranreifen. Unsere Aufgabe jedoch ist es, die Bevölkerung zum gegenwärtigen Zeitpunkt zu stabilisieren, hier und heute. Ein Vierteljahrhundert stockende Zwillingsproduktion – was nützte uns das?«

Fraglos gar nichts. Doch hatte der Reifungsprozess dank der Podsnap-Technik7 enorm beschleunigt werden können. Inzwischen waren mindestens einhundertundfünfzig Eizellen binnen zwei Jahren garantiert. Fertilisieren und bokanowskifizieren – sprich mit zweiundsiebzig multiplizieren – und man bekam innerhalb von plus minus zwei Jahren im Schnitt nahezu elftausend Brüder und Schwestern in hundertundfünfzig Chargen eineiiger Zwillinge.

»In Ausnahmefällen können wir aus einem einzigen Eierstock über fünfzehntausend Erwachsene gewinnen.«

Er machte einem hellhaarigen, rotbackigen jungen Mann, der soeben vorbeiging, Zeichen. »Mr Foster8!«, rief er. Der rotbackige junge Mann kam zu ihnen. »Kennen Sie den Rekord für einen einzigen Eierstock, Mr Foster?«

»Sechzehntausendundzwölf in unserem Center«, antwortete Mr Forster wie aus der Pistole geschossen. Er sprach sehr schnell, hatte lebhafte blaue Augen und

»Das ist die rechte Einstellung!«, lobte der Direktor und klopfte Mr Foster auf die Schulter. »Begleiten Sie uns doch, und lassen Sie die Jungen von Ihrer Fachkenntnis profitieren.«

Mr Foster lächelte bescheiden. »Mit Vergnügen.« Sie zogen weiter.

An der Füllstation herrschten harmonische Hektik und wohlgeordneter Hochbetrieb. Lappen frischen, passgerecht vorgestanzten Schweinebauchfells sausten per Rohrpost aus dem Organmagazin in einem Untergeschoss herauf. Zzzt und klack!, flogen die Rohrpostklappen auf; der Flaschen-Auskleider brauchte nur die Hand auszustrecken,

Neben den Auskleidern standen die Matrikulatoren. Die Prozession zog herauf; eine nach der anderen wurden die befruchteten Eizellen aus ihren Reagenzröhrchen in die größeren Ballonflaschen transferiert; der jeweilige Bauchfellnährboden wurde rasch angeritzt, die Morula eingeführt, die Salzlösung eingefüllt … und schon war die Flasche vorübergezogen, und die Etikettierer kamen zum Einsatz. Heredität, Fertilisationsdatum, Bokanowski-Gruppe – die Daten wurden von den Reagenzröhrchen auf die Flaschen übertragen. Nicht länger anonym, sondern bezeichnet, identifiziert, schob sich die Prozession durch eine Wandschleuse gemächlich weiter zur Sozialprädestinationsstation.

»Achtundachtzig Kubikmeter Registersätze«, verkündete Mr Foster genussvoll bei ihrem Eintreten.

»Mit allen einschlägigen Daten«, fügte der Direktor hinzu.

»Jeden Morgen aktualisiert.«

»Und nachmittags korreliert.«

»Die Basis der Kalkulationen.«

»Soundso viele Einzelwesen der verlangten Qualität«, sagte Mr Foster.

»Fortlaufend optimierte Dekantier-Rate.«

»Unverzüglicher Ausgleich aller Ausfälle.«

»Unverzüglich«, wiederholte Mr Foster. »Wenn Sie wüssten, wie viele Überstunden nach dem jüngsten japanischen Erdbeben bei mir aufgelaufen sind!« Er lachte gutgelaunt und schüttelte den Kopf.

»Die Prädestinatoren legen den Fertilisatoren ihre Zahlen vor.«

»Die ihnen die bestellten Embryonen zuteilen.«

»Und hier landen die Flaschen zur Prädestinationsfeinabstimmung.«

»Um anschließend ins Embryonenmagazin befördert zu werden.«

»Wo wir selbst uns nun hinbegeben wollen.«

Und mit diesen Worten öffnete Mr Foster eine Tür und führte sie eine Treppe tiefer ins Untergeschoss.

Die Temperatur war noch immer tropisch. Sie stiegen in ein sich verdichtendes Zwielicht hinab. Zwei Türen und ein doppelt gewendeter Korridor schirmten das Untergeschoss vor jedem Lichteinfall ab.

»Embryonen sind wie fotografischer Film«, scherzte Mr Foster und stieß die zweite Tür auf. »Sie vertragen nur rotes Licht.«

Und in der Tat war die drückende Dunkelheit, in welche die Studenten ihm nun folgten, sichtbar und blutrot, als blickte man bei geschlossenen Lidern in die Nachmittagssonne eines Sommertags. Die bauchigen Ränder endloser, sich in der Ferne verlierender Glasballons, Reihe um Reihe,

»Nennen Sie uns doch ein paar Zahlen, Mr Foster«, meinte der Direktor, der des Redens müde war.

Mr Foster war nur zu gerne bereit, ihnen ein paar Zahlen zu nennen.

Zweihundertundzwanzig Meter lang, zweihundert breit, zehn hoch. Er deutete nach oben. Die Studenten hoben wie Hühner beim Trinken die Augen zur fernen Decke.

Drei Lagerebenen: Parterre, erste und zweite Galerie.

Die spinnenartigen Verstrebungen der Galerieebenen verloren sich nach allen Seiten hin im Dunkel. Unweit von ihrer Gruppe entluden drei rote Gespenster an einer Fahrtreppe Glasballons.

Die Rolltreppe aus der Sozialprädestinationsstation.

Jeder Ballon kam auf eines von fünfzehn Regalen, jedes Regal war, obwohl man das mit bloßem Auge nicht sah, ein Förderband, das sich mit einer Geschwindigkeit von dreiunddreißigeindrittel Zentimeter pro Stunde bewegte. Zweihundertundsiebenundsechzig Tage lang acht Meter pro Tag. Zweitausendeinhundertundsechsunddreißig Meter insgesamt. Eine Runde ums ganze Untergeschoss, eine auf der ersten, anderthalb auf der zweiten Galerie und am zweihundertundsiebenundsechzigsten Morgen ins Licht des Tages der Dekantierstation. Ins unabhängige Dasein – das sogenannte.

»Das ist die rechte Einstellung!«, bekräftigte der Direktor. »Sehen wir uns doch einmal um. Wenn Sie dann alles erklären wollen, Mr Foster.«

Und Mr Foster erklärte.

Erklärte, wie der Embryo auf seinem Bauchfelllappen reifte. Ließ sie von dem reichhaltigen Blutsurrogat kosten, von dem der Embryo sich nährte. Erklärte, weshalb er mit Plazentin und Thyroxin stimuliert werden musste. Erzählte vom Corpus-luteum-Extrakt. Zeigte ihnen die Düsen, durch die dieser von der Null- bis zur 2040er-Marke alle zwölf Meter automatisch eingespritzt wurde. Sprach von der graduell gesteigerten Hypophysärdosierung auf den letzten sechsundneunzig Produktionsmetern. Beschrieb den künstlichen maternellen Kreislauf, der bei Meter 112 an jeder Ballonflasche angebracht wurde, zeigte ihnen den Blutsurrogattank, die Kreiselpumpe, die für die ständige Durchfeuchtung der Plazenta sorgte und das Surrogat durch die synthetische Lunge und Abbaustofffilter trieb. Erwähnte des Embryos lästige Anämieneigung und die erheblichen Dosen Schweinemagenextrakt und Fohlenfötusleber, die folglich verabreicht werden mussten.

Zeigte ihnen die einfache Vorrichtung, mit deren Hilfe auf den letzten beiden aller acht Meter sämtlichen Embryonen simultan die Bewegungsgewöhnung angerüttelt wurde. Deutete die Schwere des sogenannten Dekantiertraumas an und zählte die Vorbeugungsmaßnahmen auf,

»Denn in den allermeisten Fällen«, sagte Mr Foster, »ist Fertilität nur störend. Unter zwölfhundert ein fruchtbarer Eierstock – das wäre für unsere Zwecke vollkommen ausreichend. Nur brauchen wir eben auch eine ordentliche Auswahl. Und dann muss man zur Sicherheit natürlich Extrabestände vorhalten. Also lassen wir bei bis zu dreißig Prozent der weiblichen Embryonen die Entwicklung normal laufen. Die übrigen erhalten auf ihrem verbleibenden Weg alle vierundzwanzig Meter eine Dosis männlicher Sexualhormone. Das heißt, sie werden als Freemartins dekantiert – strukturell ganz normal (bis auf die Tatsache, wie er einräumte, dass sie doch ein klein wenig mehr zu Bartwuchs neigten), nur eben steril. Garantiert steril. Und damit«, schloss Mr Foster, »treten wir endlich aus der Sphäre lediglich sklavischer Nachahmung der Natur in die sehr viel interessantere der menschlichen Intervention.«

Er rieb sich die Hände. Denn selbstverständlich begnügte man sich nicht damit, Embryonen auszubrüten, das konnte schließlich jede Kuh.

»Nein, wir prädestinieren und konditionieren. Wir dekantieren unsere Babys als sozialisierte Wesen, als Alphas oder Epsilons, als künftige Klärwerkskräfte oder …« – er

Der DCK quittierte das Kompliment mit einem Lächeln.

Sie passierten gerade an der 320-Meter-Marke das Regal 11. Ein junger Beta-Minus-Monteur hantierte mit Schraubenzieher und Maulschlüssel an der Blutsurrogatpumpe einer vorüberziehenden Ballonflasche. Mit jeder minimalen Drehung der Mutter stimmte er das Brummen des E-Motors weiter herunter. Tiefer, tiefer … eine letzte Teildrehung, ein Blick auf den Drehzahlmesser, und fertig. Der Monteur rückte zwei Schritte weiter und nahm sich die nächste Pumpe vor.

»Verringert die Drehzahl«, erklärte Mr Foster. »So zirkuliert das Surrogat langsamer, sprich durchströmt die Lunge in längeren Abständen, sprich der Embryo bekommt weniger Sauerstoff. Es geht nichts über Sauerstoffmangel, wenn man einen Embryo unterdurchschnittlich halten will.« Wieder rieb er sich die Hände.

»Aber weshalb wollen Sie den Embryo denn unterdurchschnittlich?«, fragte einer der Studenten arglos.

»Schwachkopf!«, bemerkte der Direktor und brach damit sein langes Schweigen. »Haben Sie sich noch nie überlegt, dass ein Epsilon-Embryo nicht nur eine Epsilon-Heredität verlangt, sondern auch ein Epsilon-Milieu?«

Nein, das hatte der Student sich offenbar noch nie überlegt. Er wand sich vor Verlegenheit.

»Je niedriger die Kaste«, erklärte Mr Foster, »desto weniger Sauerstoff.« Als erstes Organ wurde das Gehirn affiziert. Dann der Knochenbau. Bei siebzig Prozent der

»Die uns rein gar nichts nützen«, schloss Mr Foster.

Dabei wäre (hier wurde sein Ton verschwörerisch und sehr eindringlich) die Entwicklung einer Technik, die den Reifezyklus abkürzen könnte, ein wahrer Triumph, eine Wohltat für die Gesellschaft!

»Denken Sie nur an das Pferd.«

Sie dachten.

Mit sechs Jahren ausgewachsen, der Elefant mit zehn. Während der Mensch mit dreizehn noch nicht geschlechtsreif war und erwachsen erst mit zwanzig. Daher natürlich die Frucht der verzögerten Entwicklung: die menschliche Intelligenz.

»Doch bei Epsilons«, sagte Mr Foster sehr treffend, »brauchen wir keine menschliche Intelligenz.«

Brauchten sie nicht und bekamen sie nicht. Obwohl aber das Epsilon-Hirn mit zehn ausgereift war, blieb der Epsilon-Körper erst mit achtzehn einsatzfähig. Lange Jahre überflüssiger und vergeudeter Unreife. Ließe sich die körperliche Entwicklung auf das Tempo beispielsweise von Kühen beschleunigen, was für eine enorme gesamtgesellschaftliche Ersparnis!

»Enorm!«, murmelten die Studenten. Mr Fosters Enthusiasmus war ansteckend.

Er wurde nun etwas sehr technisch, sprach von endokrinen Anomalien, die für das verzögerte Wachstum des Menschen verantwortlich waren, nannte als mögliche Ursache germinale Mutationen. Konnten deren Folgen aufgehoben

Pilkington9 in Mombasa hatte Wesen produziert, die mit vier geschlechtsreif und mit sechseinhalb voll ausgewachsen waren. Ein wissenschaftlicher Triumph. Gesellschaftlich allerdings irrelevant. Sechsjährige Männer und Frauen waren selbst für Epsilon-Arbeit zu blöd. Und leider hieß es bei dem angewandten Verfahren eben alles oder nichts: entweder die ganze Modifikation oder gar keine. Noch suchte man also den idealen Kompromiss zwischen zwanzig- und sechsjährigen Erwachsenen. Bisher erfolglos. Mr Foster seufzte und wiegte bekümmert den Kopf.

Ihr Rundgang durchs blutrote Zwielicht hatte sie in die Nähe der 170-Meter-Marke am Regal 9 geführt. An diesem Punkt verschwand Regal 9 in der Ummantelung des Tunnelbrüters, in dem die Ballonflaschen den restlichen Weg zurücklegten und in dem es nur hier und da Scharten von zwei, drei Metern Breite gab.

»Hitzekonditionierung«, bemerkte Mr Foster.

Heiße und kühle Tunnelabschnitte wechselten einander ab. Mit der Kühle ging Unbehagen in Gestalt harter Röntgenstrahlung einher. Bis zur Dekantierung würden die Embryos eine Aversion gegen Kälte entwickelt haben. Sie waren zur Emigration in die Tropen prädestiniert, als Bergleute, Acetatseidenspinner oder Stahlarbeiter. Ihre Hirne würden beizeiten dazu gebracht werden, das Urteil ihrer Körper zu billigen. »Wir konditionieren sie darauf, viel Hitze

»Und genau das«, merkte der Direktor geschwollen an, »ist das Geheimnis von Tugend und Glück – zu lieben, was man tun muss. Darauf zielt alle Konditionierung ab: den Menschen ihre unentrinnbare soziale Bestimmung genehm zu machen.«

In einer der Lücken zwischen zwei Tunnelabschnitten führte eine Pflegerin vorsichtig eine lange, dünne Kanüle in den gallertartigen Inhalt eines vorbeiziehenden Glasballons ein. Die Studenten und ihre Mentoren blieben stehen und sahen einen Augenblick schweigend zu.

»Nun, Lenina10«, sagte Mr Foster, als sie schließlich die Nadel herauszog und sich aufrichtete.

Die junge Frau fuhr überrascht herum. Unverkennbar war sie trotz Lupus und purpurvioletter Augen ungemein hübsch.

»Henry!« Sie strahlte ihn an – eine Reihe korallroter Zähne.

»Reizend, reizend«, murmelte der Direktor, der ihr zwei-, dreimal den Hintern tätschelte und im Gegenzug ein eher respektvolles Lächeln erhielt.

»Und was injizierst du?«, fragte Mr Foster betont geschäftsmäßig.

»Ach, den üblichen Typhus und Schlafkrankheit.«

»Tropenarbeiter werden ab Meter 150 vakziniert«, erklärte Mr Foster den Studenten. »Da haben die Embryonen noch Kiemen. Wir immunisieren den Fisch gegen die Krankheiten des künftigen Menschen.« Dann wandte er

»Reizend«, wiederholte der Direktor und eilte nach einem letzten Tätscheln seiner Gruppe hinterher.

Die kommende Generation von Chemiekräften des Regals 10 wurde reihenweise auf Blei-, Ätznatron-, Teer- und Chlortoleranz getrimmt. Die ersten Stellagen einer Charge von zweihundertundfünfzig pränatalen Raketeningenieuren passierten soeben die Elfhundertmetermarke auf Regal 3. Eine spezielle Vorrichtung sorgte für stetige Rotation der Glasballons. »Um ihren Gleichgewichtssinn zu schulen«, erklärte Mr Foster. »Denn Außenreparaturen an einer Rakete im Einsatz vorzunehmen ist heikle Arbeit. Wir drosseln den Kreislauf, wenn sie aufrecht stehen, bis sie fast verhungern, und verdoppeln den Surrogatfluss, wenn sie kopfüber hängen. Irgendwann setzen sie die verkehrte Welt mit Wohlbefinden gleich; im Grunde fühlen sie sich am Ende nur wirklich wohl, wenn sie auf dem Kopf stehen.«

»Und jetzt«, fuhr Mr Foster fort, »möchte ich Ihnen noch die sehr interessante Konditionierung unserer Alpha-Plus-Intellektuellen vorführen. Wir haben gerade eine große Charge im Regal 5. Erste Galerie«, rief er zwei Jungen zu, die im Begriff waren, ins Parterre hinabzusteigen.

»Sie sind etwa bei Meter 900«, erläuterte er. »Effektive intellektuelle Konditionierung ist eigentlich erst möglich, wenn die Föten ihre Schwänze verloren haben. Hier entlang.«

Doch der Direktor schaute auf seine Uhr. »Zehn vor drei«,

Mr Foster war enttäuscht. »Aber doch wenigstens einen Blick in die Dekantierstation«, flehte er.

»Also gut.« Der Direktor lächelte begütigend. »Einen kurzen Blick.«

Mr Foster blieb auf der Dekantierstation zurück. Der DCK und seine Studenten betraten den nächstbesten Fahrstuhl und wurden in den fünften Stock befördert.

FRÜHLERNSTATION. NEOPAWLOWSCHER KONDITIONIERUNGSTRAKT11 verkündete die Anschlagtafel.

Der Direktor öffnete eine Tür. Sie betraten einen großen, leeren Raum, sehr hell und sonnig, weil die ganze Südfront aus Glas bestand. Ein halbes Dutzend uniformierte Pflegerinnen in den vorgeschriebenen Anzügen aus weißem Viskoseleinen, die Haare aseptisch mit weißen Kappen bedeckt, war damit beschäftigt, auf dem Fußboden in einer langen Reihe Rosenschalen abzustellen. Große, randvolle Schalen. Tausende weit offener, seidiger Blüten, rund wie die Backen unzähliger Putten, Putten aber, die im strahlenden Licht nicht ausschließlich rosarot arisch waren, sondern teils schimmernd chinesisch, teils mexikanisch, teils apoplektisch vom übermäßigen Blasen der Himmelsposaunen, teils totenbleich, von posthumer Marmorblässe.

Die Pflegerinnen nahmen Haltung an, als der DCK den Raum betrat.

»Legen Sie die Bücher aus«, befahl er knapp.

Still kamen die Pflegerinnen der Aufforderung nach. Zwischen die Rosenschalen wurden Bücher platziert – eine

»Und nun bringen Sie die Kinder herein.«

Die Pflegerinnen hasteten davon und kehrten nach ein, zwei Minuten schon zurück, jede eine Art Stummen Diener vor sich her schiebend, dessen vier übereinander gestapelte Maschendrahtverschläge mit acht Monate alten Kleinstkindern beladen waren, alle vollkommen identisch (unverkennbar eine einzige Bokanowski-Gruppe) und alle (da sie der Kaste der Deltas angehörten) in Khaki gekleidet.

»Setzen Sie sie auf den Boden.«

Die Kleinstkinder wurden abgeladen.

»Drehen Sie sie so, dass sie die Blumen und Bücher sehen können.«

Gedreht, verstummten die Kinder, dann krabbelten sie auch schon auf die geballten, geschmeidigen Farben zu, auf die so lustigen und blanken Bilder auf den weißen Seiten. Im selben Moment brach die Sonne hinter einer Wolke hervor. Die Rosen loderten wie von plötzlichem innerem Feuer auf; neue und tiefe Bedeutung tränkte die leuchtenden Buchillustrationen. Von der krabbelnden Phalanx stiegen kleine, aufgeregte Kiekser auf, gurgelnde, glucksende Freudentöne.

Der Direktor rieb sich die Hände. »Ausgezeichnet!«, sagte er. »Fast wie bestellt.«

Die schnellsten Krabbler hatten bereits ihr Ziel erreicht. Kleine Hände grapschten, berührten, packten, entblätterten die verklärten Rosen, zerknitterten die illuminierten

Die Oberpflegerin, die am anderen Ende des Raums schon an einer Schalttafel bereitstand, drückte einen kleinen Hebel herunter.

Es tat einen Donnerschlag. Schrill und schriller jaulte eine Sirene. Alarmglocken bimmelten wild.

Die Kinder schraken zusammen, sie schrien und grimassierten vor Angst.

»Und nun«, brüllte der Direktor (denn der Lärm war ohrenbetäubend), »nun verleihen wir der Lektion noch mit milden Elektroschocks Nachdruck!«

Er gab erneut ein Zeichen, und die Oberpflegerin legte einen zweiten Hebel um. Das Kreischen der Krabbelkinder nahm ganz neue Töne an. Ihnen entfuhren nun Japser und spitze Schreie von einer verzweifelten, halb wahnsinnigen Dringlichkeit. Die kleinen Körper zuckten und krampften, ihre Glieder ruckten, als würde an unsichtbaren Drähten gezupft.

»Wir können den gesamten mittleren Bodenstreifen unter Strom setzen!«, bellte der Direktor zur Erklärung12. »Aber das genügt jetzt.« Er gab der Pflegerin ein Zeichen.

Das Donnergetöse hatte schlagartig ein Ende, die Glocken hörten zu bimmeln auf, Ton um Ton erstarb das Jaulen der Sirene. Die steif ruckenden Körper entspannten sich, und was sich zum Geheul frühkindlicher Berserker ausgewachsen hatte, beruhigte sich wieder zu gewöhnlichem Angstbrüllen.

Die Pflegerinnen gehorchten, doch schon beim Anblick der Rosen, schon bei Sichtung der kunterbunten Bilder von Hoppe-Hase und Ki-ke-ri-ki und Muh-Kuh kauerten sich die Kleinstkinder panisch zusammen, und das Gebrüll nahm prompt wieder an Lautstärke zu.

»Sehen Sie?«, freute sich der Direktor. »Sehen Sie?«

Bücher und schrille Töne, Blumen und Stromschläge – schon jetzt waren diese Pole im frühkindlichen Hirn negativ gekoppelt und würden nach zweihundert Wiederholungen dieser und ähnlicher Lektionen eine feste Verbindung eingehen. Denn was der Mensch zusammengefügt hat, soll die Natur nicht scheiden.13

»Sie werden mit einer, wie die Psychologen einst sagten, ›instinktiven‹ Abscheu vor Büchern und Blumen aufwachsen. Einem unabänderlich konditionierten Reflex. Sie werden ihr Leben lang vor Büchern und der Botanik gefeit sein.« Der Direktor wandte sich an seine Pflegerinnen. »Bringen Sie sie fort.«

Noch immer laut plärrend wurden die Khaki-Babys auf die Stummen Diener geladen und hinausgerollt, und es blieben nur der Geruch nach saurer Milch und eine sehr willkommene Stille zurück.

Einer der Studenten hob die Hand, und obwohl ihm natürlich einleuchtete, dass man Niedrigkastigen schlecht gestatten konnte, Zeit, die dem Kollektiv gehörte, mit Büchern zu vergeuden und womöglich etwas zu lesen, was dummerweise ihre Reflexe dekonditionierte, war ihm … na

Der DCK erklärte geduldig. Kinder dazu zu bringen, schon beim Anblick von Rosen zu schreien, geschah im übergeordneten Interesse der Ökonomie. Vor nicht allzu langer Zeit (hundert Jahren vielleicht), waren Gammas, Deltas, ja, selbst Epsilons konditioniert worden, Blumen zu mögen – Blumen im Besonderen und die unberührte Natur im Allgemeinen. Dahinter habe das Kalkül gestanden, sie in jeder freien Minute aufs Land streben und somit Transport konsumieren zu sehen.

»Haben sie das denn nicht?«, fragte der Student.

»In hohem Maße«, erwiderte der DCK. »Aber eben sonst nichts.«

Primeln und Landschaft, erläuterte er, hätten eben einen entscheidenden Nachteil: Es gebe sie umsonst. Die Liebe zur Natur laste keine Produktionsanlagen aus. Man beschloss daher, die Liebe zur Natur abzuschaffen, zumindest bei den niedrigen Kasten, nicht aber den Bedarf an Transport. Denn selbstverständlich war man darauf angewiesen, dass die Menschen, und sei es widerstrebend, aufs Land hinaus fuhren. Die Herausforderung bestand darin, einen ökonomisch schlüssigeren Grund für den Transportkonsum zu finden als die schlichte Freude an Primeln und Landschaft. Er wurde gefunden.

»Wir konditionieren die Massen«, schloss der Direktor, »auf Naturfeindlichkeit bei gleichzeitiger Begeisterung für alle Natursportarten. Und wir sorgen dafür, dass alle

»Verstehe«, sagte der Student und schwieg schwer beeindruckt.

Das Schweigen drohte lastend zu werden, da räusperte sich der Direktor und hob erneut zu sprechen an. »Einst, als Unser Ford14 noch auf Erden weilte, lebte ein kleiner Junge namens Reuben Rabinovitch.15 Reuben war das Kind polnischer Eltern.« Der Direktor unterbrach sich. »Sie wissen, was Polnisch ist, oder?«

»Eine tote Sprache.«

»Wie Französisch und Deutsch«, ergänzte ein zweiter Student neunmalklug.

»Und ›Eltern‹?«, fragte der DCK.

Es herrschte betretenes Schweigen. Etliche Jungen wurden rot. Sie hatten noch nicht gelernt, den entscheidenden, aber oftmals sehr feinen Unterschied zwischen Schweinkram und Wissenschaft zu machen. Einer aber traute sich schließlich, die Hand zu heben.

»Menschen waren einmal …« – er zögerte, das Blut schoss ihm in die Wangen. »Nun, sie waren einmal lebendgebärend.«

»Ganz recht, vivipar.« Der Direktor nickte wohlwollend.

»Und wenn Babys dekantiert wurden …«

»Geboren«, wurde er korrigiert.

»Nun, dann waren sie Eltern – das heißt, nicht die Kinder natürlich, die anderen.« Der arme Kerl war ganz konfus vor Verlegenheit.

Er kehrte zu Klein-Reuben zurück, Klein-Reuben, in dessen Zimmer Vater und Mutter (BOMBE! und BOMBE!) eines Abends aus Versehen das Radio angelassen hatten.

(»Denn Sie müssen bedenken, dass Kinder in dieser kruden Ära viviparer Reproduktion stets von ihren Eltern betreut wurden, nicht in Weltstaatskonditionierungscentern.«)

Während das Kind schlief, setzte die Übertragung eines Rundfunkprogramms aus London ein, und am Morgen wiederholte Reuben – zur Verwunderung von BOMBE! und BOMBE! (die mutigeren Studenten riskierten mittlerweile ein Grinsen) – beim Aufwachen Wort für Wort einen sehr langen Vortrag des kuriosen einstigen Autors (»einer der wenigen, dessen Werke man auf uns hat kommen lassen«) George Bernard Shaw16, der einer gut dokumentierten Tradition zufolge über sein eigenes Genie sprach. Für Klein-Reubens GRINS! und ZWINKERN! war der Vortrag natürlich vollkommen unverständlich, und aus Angst, ihr Kind habe plötzlich den Verstand verloren, schickten sie nach einem Arzt. Der verstand zum Glück Englisch,

»Das Grundprinzip des Schlaflernens, der Hypnopädie, war gefunden.« Der DCK machte eine bedeutungsvolle Pause.

Das Prinzip war gefunden, aber es sollte noch viele, viele Jahre dauern, ehe es nutzbringend angewandt werden konnte.

»Die Sache mit Klein-Reuben geschah nur dreiundzwanzig Jahre, nachdem das Modell T Unseres Ford auf den Markt gelangt war.« (Hier machte der Direktor auf Bauchhöhe das T-Zeichen, und alle Studenten folgten andächtig seinem Beispiel.) Und doch …

Die Studenten kritzelten eifrig. Hypnopädie, offiziell erstmals 214 n.F. Warum nicht eher? Zwei Gründe: (a) …

»Frühe Experimente«, erläuterte der DCK, »gingen in die falsche Richtung. Man dachte, die Hypnopädie könnte zur Erziehung des Geistes eingesetzt werden …«

(Ein kleiner Junge schläft auf der rechten Seite, sein rechter Arm ragt über die Bettkante hinaus, die rechte Hand hängt schlaff herab. Aus dem runden Sprechloch eines Kastens säuselt eine Stimme.

»Der Nil ist der längste Fluss Afrikas und der zweitlängste der Welt. Wiewohl nicht so lang wie der Missouri-Mississippi-Strom, übertrifft der Nil alle anderen Flüsse im Hinblick auf die Länge seines Fließwegs, welcher sich vom 35sten Breitengrad bis …«

»Der-Nil-ist-der-längste-Fluss-Afrikas-und-der-zweitlängste-der-Welt …« Die Worte stürzen in einem Schwall hervor. »Wiewohl-nicht-so-lang …«

»Na siehst du, welches ist also der längste Fluss Afrikas?«

Leerer Blick. »Weiß ich nicht.«

»Na, der Nil, Tommy.«

»Der-Nil-ist-der-längste-Fluss-Afrikas-und-der-zweitlängste-der-Welt …«

»Welches ist also der längste Fluss, Tommy?«

Tommy bricht in Tränen aus. »Ich weiß es nicht!«, jault er.)

Dieses Gejaule machte der Direktor nun für die Resignation früher Forscher verantwortlich. Die Experimente wurden eingestellt. Es wurde kein weiterer Versuch unternommen, Kindern die Länge des Nils im Schlaf beizubringen.17 Und zu Recht. Man lernt ein Fach nicht, wenn man keine Ahnung hat, worum es dabei geht.

»Hätten sie dagegen mit der moralischen Erziehung begonnen …«, sagte der Direktor und schritt voraus zu einer Tür, während ihm die Studenten, im Gehen und noch im Fahrstuhl eifrig kritzelnd, folgten, »die nie, unter keinen Umständen, rational sein darf …«

»Ruhe, Ruhe«, wisperte ein Lautsprecher, als sie im vierzehnten Stock ausstiegen; »Ruhe, Ruhe« wiederholten die Posaunenmäuler in Intervallen unermüdlich auf allen

Nach fünfzig Metern auf Zehenspitzen gelangten sie an eine Tür, die der Direktor vorsichtig aufdrückte. Sie traten über die Schwelle ins Zwielicht eines lamellenverdunkelten Schlafsaals. Achtzig Gitterbetten standen in Reih und Glied an der Wand. Man hörte leises, gleichmäßiges Atmen und ein anhaltendes Murmeln – wie sehr fernes Getuschel.

Eine Pflegerin erhob sich bei ihrem Eintritt und stand vor dem Direktor stramm.

»Was wird heute Nachmittag gelehrt?«, fragte er.

»Die ersten vierzig Minuten hatten wir Grundstufensex«, antwortete sie. »Jetzt läuft Grundklassenbewusstsein.«

Langsam schritt der Direktor die lange Reihe Gitterbetten ab. Rosig und schlafgelockert lagen dort sanft atmend achtzig kleine Jungen und Mädchen. Unter jedem Kopfkissen war ein Flüstern. Der DCK blieb stehen, beugte sich über eines der kleinen Betten und lauschte aufmerksam.

»Grundklassenbewusstsein, sagen Sie? Dann wollen wir doch mal eine Posaune auf laut stellen.«

An der Stirnseite des Raums ragte ein Lautsprecher aus der Wand. Der Direktor trat hin und betätigte einen Schalter.

»… tragen alle grün«, begann eine sanfte und doch sehr klare Stimme mitten im Satz, »und Delta-Kinder tragen Khaki. Nein, nein, ich will nicht mit Delta-Kindern spielen.

Es gab eine Pause, dann hob die Stimme erneut an.

»Alpha-Kinder tragen Grau. Sie arbeiten viel härter als wir, weil sie so furchtbar schlau sind. Ich bin wirklich heilfroh, dass ich Beta bin, denn ich muss nicht so hart arbeiten. Und immerhin sind wir viel besser als Gammas und Deltas. Gammas sind dumm. Sie tragen alle grün, und Delta-Kinder tragen Khaki. Nein, nein, ich will nicht mit Delta-Kindern spielen. Und Epsilons sind noch schlimmer. Die sind so dumm …«

Der Direktor schnippte den Schalter wieder in die Ausgangsstellung. Die Stimme verstummte. Nur ein gespenstisches Echo murmelte unter achtzig Kopfkissen weiter.

»Das kriegen sie noch vierzig, fünfzig Mal zu hören, ehe sie aufwachen; dasselbe am Donnerstag und noch einmal am Samstag. Einhundertundzwanzig Mal dreimal die Woche dreißig Monate lang. Danach geht es mit anspruchsvollerem Lernstoff weiter.«

Rosen und Elektroschocks, die Khakifarbe der Deltas und die Duftnote Stinkasant – feste Verbindungen, noch ehe ein Kind sprechen kann. Doch vorsprachliche Konditionierung ist primitiv und undifferenziert, sie kann keine feinen Unterschiede lehren, taugt nicht zur Internalisierung komplexer Verhaltensmuster. Dazu bedarf es der Worte, allerdings Worte ohne Sinn und Verstand. Kurzum, Hypnopädie.

Die Studenten notierten es sich in ihren kleinen Notizbüchern. Aus berufenem Munde.

Erneut drückte der Direktor den Schalter.

»… so furchtbar schlau sind«, sprach die sanfte, einschmeichelnde, unermüdliche Stimme. »Ich bin wirklich heilfroh, dass ich Beta bin, denn …«

Weniger wie stete Wassertropfen – obwohl Tropfen, das lässt sich nicht leugnen, auf Dauer härtesten Granit aushöhlen –, eher wie flüssiges Siegelwachs, dessen Tropfen mit dem, worauf sie fallen, verkleben, verwachsen, verkrusten, bis der Fels ein einziger roter Klumpen ist.

»Bis schließlich der Kindergeist mit den Einflüsterungen identisch ist, die Summe der Einflüsterungen mit dem Kindergeist. Und nicht nur dem Kindergeist. Sondern auch dem des Erwachsenen – ein Leben lang. Der Geist, der urteilt und will und entscheidet – gemacht aus diesen Einflüsterungen. Und alle diese Einflüsterungen sind unsere Einflüsterungen!«

Der Direktor war vor Begeisterung sehr laut geworden. »Einflüsterungen des Staats.«18 Er hieb mit der Faust auf den nächstbesten Tisch. »Das heißt …«

Ein Geräusch ließ ihn herumfahren.

»O Ford!!«, sagte er in ganz anderem Ton. »Jetzt habe ich die Kinder geweckt.«

Draußen im Garten war Spielstunde. In der warmen Junisonne liefen sechs-, siebenhundert nackte kleine Jungen und Mädchen kreischend über den Rasen, spielten Ball oder hockten still zu zweit, zu dritt in den blühenden Sträuchern. Die Rosen blühten, zwei Nachtigallen monologisierten im Gehölz, in den Linden traf ein Kuckuck letzte Töne. Die Luft war trunken vom Sirren der Bienen und Helikopter.

Der Direktor und seine Studenten verweilten etwas, um eine Partie Zentrifugen-Ballyhoo19 zu verfolgen. Zwanzig Kinder hatten sich im Kreis um einen Chromstahlturm aufgebaut. Ein auf die trichterförmige Plattform an der Spitze des Turms hochgeworfener Ball rollte nach innen, landete auf einer Zentrifugenscheibe, wurde zu einer der vielen Öffnungen des zylindrischen Gehäuses herausgeschleudert und musste gefangen werden.

»Eigenartig«, sinnierte der Direktor, als sie sich abwandten, »wenn man bedenkt, dass noch zu Zeiten Unseres Ford die meisten Spiele ohne viel mehr Gerät als einem Ball, ein paar Schlägern und gelegentlich etwas Netz gespielt wurden. Stellen Sie sich die Kurzsichtigkeit vor, Menschen ausgeklügelte Spiele spielen zu lassen, die in keiner Weise den Konsum steigern. Irrwitz. Heute lassen die Controller kein neues Spiel zu, das nicht erwiesenermaßen mindestens so

»Was für ein reizendes Bild«, sagte er und wies mit der Hand.

In einer kleinen Rasenbucht zwischen hohen Besenheidesträuchern waren zwei Kinder, ein Junge von etwa sieben Jahren und ein kleines, höchstens ein Jahr älteres Mädchen mit großem Ernst und der gesammelten Konzentration von Forschern an der Schwelle zu einer Entdeckung in ihr Spiel vertieft. Ein rudimentäres Sexspiel.

»Reizend, reizend!«, wiederholte der DCK gerührt.

»Reizend«, stimmten ihm die Studenten höflich zu. Aber sie lächelten eher herablassend. Sie hatten solch kindische Vergnügungen selbst zu kurz erst hinter sich, um sie jetzt schon ohne leise Verachtung mit ansehen zu können. Reizend? Na ja, ein paar Kinder, die herummachten, mehr nicht. Eben Kinder.

»Ich sage immer …«, bemerkte der Direktor im selben nostalgischen Ton, als er von lautem Geplärre unterbrochen wurde.

Aus einigen angrenzenden Sträuchern zerrte eine Pflegerin einen kleinen, greinenden Jungen an der Hand hervor. Hinterdrein trottete ein besorgt blickendes Mädchen.

»Was gibt es?«, fragte der Direktor.

»Nichts weiter«, antwortete die Pflegerin mit einem Achselzucken. »Der Kleine hier scheint sich nur unwillig auf die üblichen erotischen Spiele einzulassen. Ich habe das nun schon ein-, zweimal bei ihm beobachtet. Und heute wieder. Als er angefangen hat zu schreien …«

»Natürlich nicht, meine Liebe«, beschwichtigte die Pflegerin. »Ich werde ihn mal zum Stellvertretenden Chefpsychologen bringen. Er soll prüfen, ob da irgendetwas anormal läuft.«

»Sehr richtig«, sagte der Direktor. »Bringen Sie ihn zur Prüfung. Augenblick, Kleine«, ergänzte er hastig, als die Pflegerin sich mit ihrem noch immer greinenden Schützling auf den Weg machte. »Wie heißt du?«

»Polly Trotzki20

»Ein sehr guter Name«, sagte der Direktor. »Und nun ab mit dir, suche dir einen anderen kleinen Jungen zum Spielen.«

Das Kind lief in die Büsche zurück und war ihren Blicken entschwunden.

meiste