Barbara Wood
Rote Sonne, schwarzes Land
Roman
Roman
Aus dem Amerikanischen von Manfred Ohl und Hans Sartorius
Fischer e-books
Barbara Wood wurde in England geboren, lebt aber seit ihrer Kindheit in den Vereinigten Staaten. Sie arbeitete u.a. als Kellnerin und Hunde-Sitterin, dann zehn Jahre lang als technische Assistentin im OP-Bereich eines Krankenhauses. Seit 1980 widmete sie sich dem Schreiben. Die Recherchen für ihre Bücher führten sie um die ganze Welt. Barbara Woods Romane sind internationale Bestseller und in 30 Sprachen übersetzt. 2002 wurde sie für ihren Roman ›Himmelsfeuer‹ mit dem Corine-Preis ausgezeichnet.
1917: Dr. Grace Treverton erreicht Kenia, das schwarze Land, entschlossen, den Eingeborenen die Segnungen der modernen Medizin zu bringen. Ihr Bruder, Lord Valentine, träumt von der Zukunft dieses britischen Protektorats: ein landwirtschaftliches Imperium, größer als jedes in der alten Heimat.
1944: Die Hoffnungen der weißen Siedler scheitern unter der roten Sonne an jener afrikanischen Großfamilie, die das Land seit Generationen bewohnt. Wachera, die angesehene und gefürchtete Medizinfrau, ist zum Kampf um die Erhaltung eingeborener Traditionen bereit. Ihr alter Fluch scheint in Erfüllung zu gehen und bringt alles in Gefahr, was die weißen Siedler anstrebten. Der Widerstand gegen die Trevertons wird zum Aufstand. 1963: Deborah, die letzte Treverton, flieht aus einem brennenden Land. Jahre später wird sie nach Kenia zurückgerufen. Sie muss eine Antwort finden auf die Frage: »Ist Afrika meine Heimat?«
Die amerikanische Originalausgabe
erschien unter dem Titel ›Green City in the Sun‹
im Verlag Random House, Inc., New York
© Barbara Wood 1988
Published by Arrangement with Authors
Copyright für die deutsche Übersetzung:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1989
Digitalisierung: pagina GmbH, Tübingen
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-400241-5
Für meinen Mann George,
in Liebe.
Ein Personenverzeichnis, Familiengenealogien und eine Chronik der wichtigsten Ereignisse in Kenia seit 1824 finden Sie im Anhang ab Seite 760.
Kenia verdankt seine Existenz einem Zufall.
1894 wollten die Engländer nach Uganda vorstoßen; militärisch gesehen war das ein strategisch wichtiger Punkt am Oberlauf des Nils im Herzen Afrikas. Deshalb baute man eine Bahnlinie von der Ostküste bis zum sechshundert Meilen landeinwärts gelegenen Victoriasee, dem Tor zu Uganda. Die Bahnlinie durchquerte ein Gebiet, das von wilden Tieren und kriegerischen Stämmen bevölkert war. Nur furchtlose Forscher und Missionare wagten sich dort hin. Als sich die Ugandabahn nach ihrer Fertigstellung als finanziell unrentabel und als Belastung erwies, suchte die britische Regierung nach einem Weg, um die Bahn aus den roten Zahlen herauszuholen. Man kam sehr schnell auf die Idee, daß eine Besiedlung entlang der Bahnlinie die Antwort auf das Problem wäre.
Als erstes bot London das »freie« Gebiet zionistischen Juden an, die damals eine dauerhafte Heimat suchten. Die Juden lehnten ab; sie wollten nach Palästina. Also warb die britische Regierung in einer großen Kampagne um Einwanderer aus allen Gegenden des Empire. Im Auftrag der Krone wurden Verträge mit den einheimischen Stämmen abgeschlossen. Sie hatten wenig Ahnung davon, was solche Dokumente bedeuteten, und fragten sich verwirrt, was der weiße Mann bei ihnen suchte. Danach stellte die Regierung billig große Flächen »ungenutzter« Wildnis allen zur Verfügung, die bereit waren, sich dort niederzulassen und das Land zu kultivieren. Das zentrale Hochland hat ein kühles Klima, ist fruchtbar und grün; viele Briten aus England, Australien und Neuseeland, die eine neue Heimat suchten, einen Ort für einen Neuanfang, fühlten sich dorthin gezogen.
Das Kolonialministerium vertrat unerschütterlich den Standpunkt, dieses Gebiet sei nur ein Protektorat und werde seinen schwarzen Bewohnern zurückgegeben, wenn sie gelernt hatten, das Land selbst zu verwalten. Aber 1905, als zweitausend Weißen vier Millionen Afrikaner gegenüberstanden, erklärte der britische Kommissar für das Protektorat Ostafrika, es sei ein Land des weißen Mannes.
»Dr.Treverton?«
Deborah schreckte auf. Die Flugbegleiterin der Pan Am lächelte sie an. Dann spürte sie das Vibrieren des Flugzeuges, was bedeutete, daß sie sich im Anflug auf Nairobi befanden. »Ja?« fragte sie die junge Frau und schüttelte den Schlaf ab.
»Wir haben eine Nachricht für Sie erhalten. Sie werden am Flughafen abgeholt.«
Deborah verschlug es den Atem. »Danke«, murmelte sie und schloß wieder die Augen. Sie war müde. Es war ein langer Flug gewesen – sechsundzwanzig Stunden beinahe nonstop, nur ein Wechsel der Maschine in New York und Auftanken in Nigeria. Man würde sie abholen. Aber wer?
In ihrer Handtasche befand sich der Brief, der vor einer Woche zu ihrer Verblüffung im Krankenhaus für sie eingetroffen war. Er kam von der Mission der barmherzigen Mutter Gottes in Kenia. Man bat Deborah zu kommen, denn Mama Wachera liege im Sterben und wolle sie sprechen.
»Warum gehst du zurück, wenn du nicht willst?« hatte Jonathan gefragt. »Wirf den Brief doch einfach weg. Vergiß ihn.«
Deborah hatte ihm keine Antwort gegeben. Unfähig zu sprechen, lag sie in Jonathans Armen. Er würde nie verstehen, weshalb sie nach Afrika zurück mußte und warum sie Angst davor hatte. Und der Grund dafür: Sie hatte ein Geheimnis vor dem Mann, den sie heiraten würde …
Deborah holte ihren Koffer ab, ging durch den Zoll und entdeckte in der wartenden Menge auf der anderen Seite der Sperre einen Mann mit einer Schiefertafel, auf der ihr Name stand: DR. DEBORAH TREVERTON.
Sie betrachtete den Mann. Es war ein großer, gut gekleideter Afrikaner; ein Kikuju, dachte Deborah. Die Mission hatte den Mann geschickt, um sie abzuholen. Sie ging an ihm vorbei und stieg in eines der Taxis, die in einer langen Schlange am Straßenrand parkten. Deborah hoffte, auf diese Weise etwas Zeit zu gewinnen. In dieser Zeit mußte sie entscheiden, ob sie das alles wirklich auf sich nehmen, zur Mission zurückkehren und Mama Wachera gegenübertreten wollte. Der Fahrer der Mission würde berichten, Dr.Treverton sei nicht mit diesem Flug gekommen, also würde man sie nicht erwarten. Noch nicht.
»Wer ist diese Mama Wachera?« hatte Jonathan gefragt, während er und Deborah beobachteten, wie der Nebel in die Bucht von San Francisco trieb.
Deborah hatte es ihm nicht verraten. Sie hatte es nicht über sich gebracht zu sagen: »Mama Wachera ist eine alte afrikanische Medizinfrau. Sie hat meine Familie vor vielen Jahren verflucht.« Jonathan hätte gelacht und Deborah vorgeworfen, sie nehme das alles viel zu ernst.
Aber das war nicht alles. Wegen Mama Wachera lebte sie in Amerika. Wegen Mama Wachera hatte sie Kenia verlassen. Sie gehörte zu ihrem Geheimnis, zu dem Kapitel ihrer Vergangenheit, über das sie mit Jonathan nie sprechen würde – auch nicht, wenn sie verheiratet waren.
Das Taxi fuhr durch die Dunkelheit. Es war zwei Uhr morgens. Die Nacht war schwarz und kühl. Der Äquatormond leuchtete durch die Zweige der Dornenbäume mit den breiten Kronen. Die Sterne wirkten wie Staub. Deborah versank in Gedanken. Du mußt Schritt für Schritt vorgehen, ermahnte sie sich. Seit sie den Brief mit der Aufforderung erhalten hatte, nach Kenia zu kommen, ging sie nur noch Schritt für Schritt vor. Sie versuchte, nicht daran zu denken, was hinter jedem dieser Schritte lag …
Als erstes hatte sie mit Jonathan besprochen, daß er ihre Patienten übernahm. Sie praktizierten zusammen – zwei Chirurgen mit einer Gemeinschaftspraxis. Sie waren Geschäftspartner geworden, ehe sie beschlossen hatten zu heiraten. Als nächstes hatte sie ihre Vorlesungen an der Universität abgesagt und dafür gesorgt, daß ein anderer den Vorsitz der jährlichen Ärztekonferenz in Carmel übernahm. An den Terminen für den folgenden Monat änderte sie nichts, denn sie zweifelte nicht daran, lange vorher wieder zurück zu sein.
Schließlich besorgte sich Deborah ein Visum von der kenianischen Botschaft – inzwischen war sie Amerikanerin und hatte keinen kenianischen Paß mehr –, kaufte Malariatabletten, ließ sich gegen Cholera und Gelbfieber impfen und hatte erstaunlicherweise vor achtundzwanzig Stunden die Maschine in San Francisco bestiegen.
»Ruf mich sofort an, wenn du in Nairobi angekommen bist«, hatte Jonathan gesagt, während er sie an der Abfertigung fest an sich drückte. »Und ruf mich jeden Tag an, solange du dort bist. Komm bald zurück, Deborah.«
Wie um ihr einen zusätzlichen Anreiz zur Rückkehr zu geben, hatte Jonathan sie vor allen Leuten lange und heftig geküßt. So eine spontane heftige Gefühlsäußerung sah ihm überhaupt nicht ähnlich.
Das Taxi fuhr über die dunkle, leere Schnellstraße und nahm mit hoher Geschwindigkeit eine Kurve. Die Scheinwerfer glitten über eine Tafel am Straßenrand und erleuchteten flüchtig die Worte: WILLKOMMEN IN NAIROBI, DIE GRÜNE STADT IN DER SONNE.
Diese Worte versetzten Deborah einen Stoß. Sie rissen sie nach dem langen Flug aus der Betäubung, und sie dachte: Ich bin wieder zu Hause!
Das Nairobi Hilton erhob sich in der schlafenden Stadt wie eine goldene Lichtsäule. Als das Taxi vor dem hell erleuchteten Eingang anhielt, eilte der Portier, ein Afrikaner mit einem Zylinder und in einem dunkelbraunen Mantel, die Stufen herunter und öffnete die Wagentür. Als Deborah ausstieg und die kühle Februarnacht sie umgab, sagte er: »Willkommen, Madam.« Deborah brachte kein Wort über die Lippen.
Plötzlich erinnerte sie sich: Als junges Mädchen hatte sie Tante Grace bei Einkaufsfahrten nach Nairobi begleitet; damals stand sie auf dem Gehweg und bestaunte die Taxis, die an den eleganten Hotels vorbeifuhren. Touristen stiegen aus diesen Wagen, erstaunliche Menschen von fernen Orten mit Photoapparaten über den Schultern und in funkelnagelneuen Safari-Khakis. Um sie herum türmte sich Gepäck; sie lachten unbeschwert und waren aufgeregt. Die kleine Deborah hatte die Fremden fasziniert angestarrt, sich über sie Gedanken gemacht, sie beneidet und sich gewünscht, in ihre wunderbare Welt zu gehören. Jetzt stand auch sie hier vor einem eleganten Hotel, bezahlte den Fahrer und folgte dem Portier die Marmorstufen hinauf zur glänzenden Glasflügeltür, die er ihr offenhielt.
Deborah bedauerte das kleine Mädchen, denn wie sehr hatte sie sich damals geirrt …
Am Empfang gab es nur Afrikaner; sie waren jung, trugen elegante rote Uniformen und sprachen perfekt Englisch. Die Frauen hatten, wie Deborah bemerkte, die Haare alle in straffe, kleine Zöpfe geflochten und zu kunstvollen vogelnestartigen Frisuren aufgesteckt. Deborah registrierte aber den zurückweichenden Haaransatz, den die jungen Frauen nicht sehen wollten. In wenigen Jahren würden sie beinahe kahl sein. Diesen Preis zahlten sie für die kenianische Mode.
Man begrüßte Dr.Treverton freundlich. Sie erwiderte das Lächeln, sprach jedoch wenig und verbarg sich hinter ihrem Aussehen. Deborah wollte nicht, daß man die Wahrheit über sie ahnte. Sie wollte sich auch nicht durch ihre englische Aussprache verraten. Die Angestellten sahen eine schlanke Frau Anfang Dreißig, die in Jeans und einem Westernhemd sehr amerikanisch wirkte. Sie wußten nicht, daß Deborah keine Amerikanerin war, sondern Kenianerin wie sie selbst und ihre Muttersprache ebenso mühelos beherrschte.
In ihrem Zimmer stand ein Korb mit Früchten, und die Bettlaken waren zurückgeschlagen. Auf dem Kissen lag eine Minzpraline in Silberpapier. Die Direktion wünschte ihr auf einer Karte »lala Salama«, »Schlafen Sie gut«.
Während der Hoteldiener ihr das Bad, die Minibar und den Fernsehapparat zeigte, suchte Deborah das Geld, das sie unten am Empfang gewechselt hatte, und versuchte, sich an den Kurs zu erinnern. Sie gab dem Mann zwanzig Shilling und sah an seinem Lächeln, daß es zuviel war.
Dann war Deborah allein.
Sie trat ans Fenster und blickte hinaus. Es gab nicht viel zu sehen, nur die dunklen Formen einer Stadt, die die Nacht verhüllte. Es war ruhig; es gab kaum Verkehr, und sie sah keinen einzigen Fußgänger. Nairobi – vor fünfzehn Jahren hatte sie diese Stadt verlassen.
Die damals achtzehnjährige Deborah war verwirrt, zornig und verängstigt; sie hatte sich geschworen, dieses Land nie wieder zu betreten und war mit dem Entschluß, eine neue Heimat zu finden, einen neuen Platz in der Sonne zu finden, in die Maschine gestiegen. In den darauffolgenden Jahren hatte sie schwer daran gearbeitet, eine neue Persönlichkeit zu werden und Afrika zu vergessen, das ihr im Blut lag. In San Francisco, in Jonathan hatte Deborah schließlich ihr Ziel erreicht. Die Stadt und der Mann boten ihr ein Zuhause und eine Zuflucht.
Dann war der Brief eingetroffen. Wie hatten die Nonnen sie nur ausfindig gemacht? Woher kannten sie das Krankenhaus, in dem sie arbeitete? Woher wußten sie überhaupt, daß sie in San Francisco lebte? Die Missionsschwestern hatten offenbar keine Mühe und Kosten gescheut, um sie ausfindig zu machen. Warum? Nur weil jetzt eine alte Frau im Sterben lag?
Warum will sie mich sehen? fragte Deborah stumm ihr Spiegelbild im Fenster. Du hast mich immer gehaßt, Mama Wachera. Du hast mich immer abgelehnt, weil ich eine Treverton bin. Was habe ich mit deinen letzten Augenblicken auf dieser Erde zu tun?
Dringend, stand in dem Brief. Kommen Sie bitte sofort.
Deborah preßte die Stirn gegen das kalte Glas. Sie erinnerte sich an ihre letzten Tage in Kenia und an die schrecklichen Worte der Medizinfrau. Mit der Erinnerung stellten sich der alte Schmerz und die Übelkeit wieder ein. Von all dem hatte Deborah geglaubt, sich befreit zu haben.
Sie ging ins Badezimmer und schaltete das Licht ein. Sie ließ sich ein heißes Bad einlaufen, fügte das Nivea-Schaumbad des HILTON hinzu und betrachtete sich im Spiegel.
Es war ihr letztes Gesicht nach so vielen Gesichtern; Deborah war damit zufrieden. Bei ihrer Ankunft in Amerika vor fünfzehn Jahren hatte sie eine dunkle, sonnengebräunte Haut und kurzgeschnittene, schwarze, lockige Haare gehabt; sie trug ein einfaches kenianisches Baumwollkleid und Sandalen. Jetzt, nachdem sie jahrelang bewußt die Sonne gemieden hatte, war die Haut blaß und so weiß wie nur möglich; die langen, glatten Haare fielen ihr, nur von einer goldenen Spange gehalten, über den Rücken. Bluse und Jeans trugen, wie auch die teuren Laufschuhe, Designer-Etiketten. Deborah hatte sich große Mühe gegeben, wie eine Amerikanerin, wie eine Weiße auszusehen.
Denn ich bin eine Weiße, sagte sie sich immer wieder.
Dann dachte sie an Christopher. Würde er sie wiedererkennen?
Nach dem Bad wickelte sich Deborah ein Handtuch um den Kopf und setzte sich auf den Bettrand. Sie war nicht müde. Im Flugzeug hatte sie lange genug geschlafen.
Sie griff nach ihrer Umhängetasche, die sie seit der Abreise aus San Francisco nicht aus den Augen gelassen hatte. Außer Paß, Rückflugtikket und Reiseschecks befand sich etwas noch Kostbareres darin. Deborah nahm es heraus und legte es neben sich auf das Bett.
Es war ein kleines, in braunes Papier gewickeltes und verschnürtes Päckchen. Sie öffnete es und sortierte den Inhalt: ein Umschlag mit verblaßten Fotos, alte, von einem Band zusammengehaltene Briefe und ein Tagebuch.
Sie betrachtete diese Dinge lange.
Das war Deborahs Erbe; mehr hatte sie bei ihrer Flucht aus Afrika nicht mitgenommen; mehr war von der einst stolzen – und verrufenen – Familie Treverton nicht geblieben. Die Photos hatte sie nicht mehr angesehen, seit sie die Bilder vor fünfzehn Jahren in den Umschlag gesteckt hatte; die Briefe hatte sie seit dem schrecklichen Tag, an dem Mama Wachera mit ihr gesprochen hatte, nicht wieder gelesen, und das Tagebuch, ein alter, abgegriffener Lederband, das vor achtundsechzig Jahren begonnen worden war, hatte Deborah nie angerührt. Auf dem Einband war in Gold der Name TREVERTON geprägt.
Der Name Treverton besaß in Kenia einen besonderen Zauber. Deborah war die Reaktion auf den Gesichtern der jungen Afrikaner am Empfang nicht entgangen. Als sie ihren Namen nannte, waren sie sichtlich überrascht gewesen. Es folgte ein durchdringender Blick, aus dem eine gewisse Verzauberung sprach, und danach natürlich der typisch leere, unverbindliche Ausdruck, der Rückzug hinter ein starres Lächeln, um Haß und Groll auf all die anderen Dinge zu tarnen, für die der Name Treverton stand. Als Kind war Deborah an diesen Blick gewöhnt; es überraschte sie eigentlich nicht, ihm immer noch zu begegnen.
Es hatte eine Zeit gegeben, in der der Name Treverton in Kenia verehrt worden war. Das HILTON stand an einer breiten Straße, die früher einmal die Lord Treverton Avenue gewesen war. Heute war es die Joseph Gicheru Street, genannt nach einem Kikuju, der für die Unabhängigkeit gestorben war. Das Taxi war am ehemaligen Treverton-Gymnasium vorbeigefahren, und Deborah hatte die neue Tafel mit der Aufschrift MAMA WANJIRU GYMNASIUM gesehen.
Es sieht aus, dachte Deborah, als versuchen sie, jede Erinnerung an uns auszulöschen.
Aber Deborah wußte, wie weit die Kenianisierung auch gehen mochte, die Trevertons waren für immer mit diesem Land verbunden. Sie waren Teil seiner Seele, seines Schicksals und fest mit Kenia verwachsen. Die Mission, in der Mama Wachera im Sterben lag, hieß jetzt Mission der barmherzigen Mutter Gottes; die katholischen Schwestern hatten sie so genannt, als Deborahs Tante sie ihnen vor vielen Jahren übergab. Davor hieß sie einfach Grace Treverton-Mission nach ihrer Gründerin Dr.Grace Treverton, der berühmten Pionierin des öffentlichen Gesundheitswesens in Kenia.
Dr.Grace Treverton hatte die Missionsstation vor achtundsechzig Jahren mitten in der Wildnis der Zentralprovinz gegründet; sie war ebenso legendär wie ihr faszinierender Bruder, der Earl. Grace hatte Deborah anstelle ihrer leiblichen Mutter großgezogen, und sie hatte große Geheimnisse mit ins Grab genommen. Deborah wußte, Tante Grace hatte alles miterlebt; sie war Zeugin und Mitwirkende jedes Triumphs und jeder Schande der Trevertons gewesen; sie hatte den Aufstieg, den Fall und den erneuten Aufstieg Kenias erlebt.
Deborah strich mit den Fingern über die Dinge auf dem Bett. Sie fürchtete sich beinahe davor. Die Photos – sie wußte kaum noch, wer die Menschen darauf waren. Christopher als Junge. Nicht als Mann. Wie schade. Und die Briefe – Deborah erinnerte sich nur an ein paar niederschmetternde Sätze. Schließlich das Tagebuch. Es war das einzige Vermächtnis von Tante Grace.
Deborah hatte das Tagebuch nie gelesen. Beim Tod von Tante Grace war sie so von Kummer überwältigt, daß sie es nicht über sich gebracht hatte. Später hatte sie sich von der Familie und der Vergangenheit abgewandt, die dieses Buch repräsentierte und enthielt.
Jetzt griff sie danach und hielt es zwischen den Händen.
Sie glaubte zu spüren, daß eine Kraft davon ausging. Die Trevertons! In den Augen der Öffentlichkeit eine elegante Familie, unvorstellbar reich, Mitglieder des Adels, lebensfrohe, Polo spielende Spitzen der Gesellschaft, die ersten bahnbrechenden Pioniere in Ostafrika. Doch in Wahrheit lasteten Geheimnisse auf ihnen, brachte die Neigung eines armen Jungen Schande über die Familie, gerieten sie durch einen Sensationsprozeß weltweit in die Schlagzeilen, wurden sie getrieben von verbotenen Lieben und Begierden und noch dunkleren Geheimnissen – Gerüchte sprachen sogar von Menschenopfern und Mord.
Und sie waren Opfer des Aberglaubens – Mama Wachera hatte sie verflucht!
Christopher, überlegte Deborah, mein hübscher, sanfter Christopher. Waren auch wir Opfer des Schicksals der Trevertons?
Deborah öffnete den Umschlag und zog den Inhalt heraus. Es waren sieben Photos. Das oberste war von 1963, also kurz vor der Unabhängigkeit Kenias und dem Ende der Welt, wie Deborah sie gekannt hatte. Das Gruppenbild war mit einer alten Box Brownie gemacht worden. Vier Kinder standen, der Größe nach geordnet, nebeneinander. Der elfjährige Christopher war der größte und älteste. Neben ihm stand Sarah, seine kleine Schwester; sie war ebenso alt wie die achtjährige Deborah in der Mitte. Der letzte in der Reihe war Terry Donald, zehn Jahre alt und schon damals ein kräftiger kleiner Junge. Er trug einen Jagdanzug aus Khaki.
Tränen verschleierten Deborahs Blick, als sie die lächelnden Gesichter aufmerksam betrachtete. Vier barfüßige, schmutzige und glückliche Kinder standen offenbar unbeschwert von allen Sorgen inmitten von Ziegen und Hühnern. Sie schienen nichts von dem Sturm zu bemerken, der sich um sie herum zusammenbraute und ihre Welt zerstören sollte. Vier Kinder – zwei Afrikaner, zwei Weiße, und alle eng miteinander befreundet. Sarah, meine beste Freundin, dachte Deborah traurig. Wir sind zusammen aufgewachsen, haben mit Puppen gespielt und später die Jungens entdeckt. Die schwarze, schöne Sarah hatte Deborah ihre Pläne anvertraut. Sie waren sich so nahe wie Schwestern gewesen und hatten von einer gemeinsamen Zukunft geträumt. Aber die alte Medizinfrau hatte sie auseinandergerissen. Was ist wohl aus Sarah geworden? Lebt sie noch in Kenia?
Deborah griff nach einem anderen Photo. Es stammte von 1930 und zeigte Tante Grace. Als Deborah das liebe ovale Gesicht betrachtete, das Lächeln, das Haar mit den weichen Dauerwellen, das ihren Kopf wie ein leuchtender Heiligenschein zu umgeben schien, konnte sie nicht glauben, daß man Grace Treverton einmal vorgeworfen hatte, ein »Mannweib« zu sein. Diese bemerkenswerte Frau hatte sich neben der Gründung der Missionsstation noch durch eine andere große Leistung einen Namen gemacht. Sie hatte ein Buch mit dem Titel geschrieben: Wenn SIE der Arzt sein müssen … Es war vor achtundvierzig Jahren zum ersten Mal veröffentlicht, ständig revidiert und auf den neuesten Stand gebracht worden. Inzwischen war es in der Dritten Welt eines der am weitesten verbreiteten medizinischen Handbücher.
Das nächste Bild zeigte einen dunklen, gut aussehenden Mann auf einem Polopony. Das war Valentine, der Earl von Treverton, Deborahs Großvater – sie hatte ihn nie kennengelernt. Selbst auf dem kleinen, etwas unscharfen Bild sah sie, was alle in ihm gesehen hatten – ein ins Auge fallend attraktiver Mann, der eine gewisse Ähnlichkeit mit Laurence Olivier besaß. Auf der Rückseite stand: Juli 1928 – an diesem Tag Mittagessen mit Seiner Königlichen Hoheit Prinz Edward, Prinz von Wales.
Das vierte Photo trug kein Datum und keine Beschriftung, aber Deborah wußte, wer es war – Lady Rose, Countess von Treverton. Das Bild wirkte wie ein Schnappschuß. Rose blickte überrascht über die Schulter in die Kamera. Das Bild hatte etwas Zeitloses durch das schlichte weiße Batistkleid, die lässige Art, in der sie den weißen Sonnenschirm hielt, und durch das Haar, das ihr wie einem jungen Mädchen über die Schulter fiel, obwohl sie damals bereits etwa dreißig Jahre alt gewesen sein mußte. Ihre Augen fesselten Deborah; etwas Gequältes lag darin, eine eigenartige Melancholie, durch die sich die Frage aufdrängte, worunter diese Frau litt.
Deborah brachte es nicht über sich, die drei letzten Bilder anzusehen. Das Zimmer füllte sich mit Geistern, und einige waren die Geister von Menschen, die noch nicht tot waren. Wo befand sich zum Beispiel Sarah in diesem Augenblick? Sarah mit den großen Träumen und dem Ehrgeiz, Karriere zu machen. Sie besaß eine künstlerische Begabung, die Deborah verblüfft und neidisch gemacht hatte. Sarah wollte in der Mode einen völlig neuen »Kenia Look« kreieren. Sie träumte von Ruhm und Reichtum, und an dieser gefährlichen Wegscheide hatte Deborah sie von einem auf den anderen Tag verlassen.
Sarah Wachera Mathenge, seufzte Deborah, meine Schwester …
Deborah dachte an Terry Donald, einen gut aussehenden Jungen, der von den ersten Abenteurern und Erforschern des dunklen Kontinents abstammte; er war der letzte einer Reihe von Weißen, die in Kenia geboren wurden. Allen diesen Männern lag das wilde Kenia mit seinen Savannen, dem Dschungel und der Jagd im Blut.
Und schließlich Christopher …
Deborah schob die Bilder in den Umschlag zurück.
Befand sich Christopher noch in Kenia? Sie hatte ihn vor fünfzehn Jahren verlassen, ohne ihm zu sagen, daß sie das Land verließ und weshalb. Sie hatten heiraten wollen. Sie liebten sich. Aber sie hatte ihn und Sarah ohne einen Blick zurück im Stich gelassen.
Plötzlich wußte Deborah, sie war nicht nach Afrika zurückgekommen, weil eine alte, sterbende Frau sie sehen wollte. Sie hoffte, sich und die Menschen, die zu ihr gehörten, wiederzufinden.
Plötzlich sah Deborah alles klar: In San Francisco wartete zwar Jonathan auf sie. Aber jetzt gestand sie sich ein, daß sie irgendwie vor dem letzten Schritt gezögert hatte, der ihn an sie und an die Familie band, die sie zusammen gründen wollten. Sie mußte zuerst die Gegenwart mit der Vergangenheit aussöhnen. Jonathan wußte wenig über Deborahs Vergangenheit, über die Suche nach ihrer Identität. Er wußte nichts von Christopher oder von der schmerzlichen Wahrheit über ihn, die Deborah erfahren hatte. Deborah hatte Jonathan auch nichts davon erzählt, daß sie vor fünfzehn Jahren plötzlich feststellte, daß Mama Wachera, die afrikanische Medizinfrau, ihre Großmutter war.
Deborah griff nach dem Tagebuch von Tante Grace. Plötzlich wollte sie es lesen. Die Seiten übten einen starken Sog aus. Sie zitterte bei dem Gedanken, welche Enthüllungen sie möglicherweise lesen würde; vielleicht würde sie aber auch einen Schlüssel finden, der ihr Frieden schenken konnte.
Ihre Blicke richteten sich auf die erste Seite, auf die verblaßte Tinte und das Datum: 10. Februar 1919. Deborah dachte: Vielleicht war das vor so vielen Jahren doch die beste Zeit gewesen. Damals war Kenia jung und unschuldig; nichts trübte den Blick. Die Menschen wußten, wohin sie gingen. In ihren Herzen waren sie aufrecht. Mutige und abenteuerlustige Männer und Frauen kamen nach Kenia, keine durchschnittlichen Menschen. Sie trieb der Geist von Pionieren, die für sich und ihre Kinder ein neues Land schaffen wollten.
Wie sehr ich mich auch bemüht habe, vor ihnen davonzulaufen, sie sind ein Teil von mir; sie leben immer noch in mir. Es gibt aber auch andere Menschen, die schon immer hier waren. Sie lebten schon lange in dem uralten Land ihrer Vorfahren, als die weißen Fremden kamen. Auch sie sind ein Teil von mir …
»Wie gewöhnlich hatten die Eingeborenen ihre Dörfer verlassen und sich mit all ihrem Vieh aus dem Staub gemacht. Doch wir durchstöberten den Wald und fanden eine ganze Menge Vieh. Dann zogen wir weiter durch das Land und sandten Kolonnen aus, um die Dörfer zu verbrennen und Ziegen einzusammeln etc. Wir sahen kaum Leute, und wenn, dann nur in weiter Entfernung. So hatten wir wenig Spaß, aber wir zerstörten eine ungeheure Zahl von Dörfern … Wir fingen insgesamt 10 000 Ziegen und einige Rinder ein, und nach der vorhergehenden Expedition wird das ein ganz schön schwerer Schlag für die Leute gewesen sein.«
Francis Hall
Britischer Offizier
und Verwaltungsbeamter in Kenia,
1919
»Hilfe! Wir brauchen einen Arzt! Ist ein Arzt im Zug?«
Grace Treverton hörte das aufgeregte Rufen, öffnete das Abteilfenster, sah hinaus und entdeckte den Grund für das plötzliche Anhalten des Zugs: Neben den Schienen lag ein Mann.
»Was ist los?« fragte Lady Rose, als ihre Schwägerin nach der Arzttasche griff.
»Ein verletzter Mann.«
»Oje.«
Grace zögerte einen Augenblick, bevor sie das Abteil verließ. Rose sah nicht gut aus. Ihre Haut war in der letzten Stunde beunruhigend blaß geworden. Die Hafenstadt Mombasa, wo sie den Zug bestiegen hatten, lag erst achtzig Meilen hinter ihnen. Bis Voi, wo es Abendessen geben würde, lagen noch einige Meilen vor ihnen. »Du solltest etwas essen, Rose«, sagte Grace und warf Fanny, der Zofe von Rose, einen auffordernden Blick zu, »und trink etwas. Ich werde mich nur rasch um den armen Mann kümmern.«
»Mir geht es gut«, erwiderte Rose. Sie betupfte mit einem parfümierten Taschentuch die Stirn und legte die Hände auf den Leib.
Grace zögerte immer noch. Wenn etwas nicht in Ordnung war, besonders mit dem Baby, konnte man sich nicht darauf verlassen, daß Rose es zugeben würde. Grace sah Fanny noch einmal nachdrücklich an, was soviel bedeutete wie: Weichen Sie nicht von ihrer Seite, und verließ eilig das Abteil.
Im nächsten Moment glaubte Grace, von der Wüstensonne und dem Staub verschlungen zu werden. Nach dem wochenlangen Eingesperrtsein auf dem Schiff und den achtzig Meilen im winzigen Abteil des Zuges verschlug ihr der endlose afrikanische Himmel den Atem und machte sie benommen.
Als Grace den Verletzten erreichte, standen bereits Fahrgäste um ihn herum, die in einer Mischung aus Englisch, Hindi und Suaheli aufgeregt durcheinanderredeten. Grace sagte: »Moment bitte«, und versuchte sich durchzudrängen.
»Bleiben Sie lieber weg, Miss. Das ist kein Anblick für eine Dame.« Ein Mann drehte sich um und wollte sie aufhalten. Er zog die Augenbrauen hoch.
»Vielleicht kann ich ihm helfen«, erwiderte Grace und ging an ihm vorbei, »ich bin Ärztin.«
Die anderen Männer sahen sie überrascht an, und als sie sich neben den Gestürzten kniete, verstummten alle.
Die Männer hatten noch nie eine so seltsam gekleidete Frau gesehen.
Grace Treverton trug eine weiße Bluse mit einer schwarzen Krawatte, eine schwarze Jacke, einen dunkelblauen Rock, der bis zu den Knöcheln reichte, und, am merkwürdigsten von allem, einen breitkrempigen Dreispitz aus schwarzem Samt. Diese Siedler, die fern von jeder Zivilisation in einem Winkel des britischen Empire lebten, kannten die Uniform eines weiblichen Offiziers der königlichen Marine nicht.
Sie sahen erstaunt zu, wie sie die Wunden des Mannes ungerührt untersuchte, ohne ohnmächtig zu werden. Der Mann blutete, dachten sie, und diese merkwürdige Frau blieb so ruhig wie beim Tee-Eingießen!
Unter den Männern entstand ein Gemurmel. Grace achtete nicht darauf. Sie versuchte, dem bewußtlosen Mann, einem Afrikaner, zu helfen. Er trug Felle und Perlen und schien das Opfer eines Löwen geworden zu sein. Während sie die Wunden desinfizierte und verband, hörte Grace die leisen Stimmen der Männer um sie herum und verstand sehr wohl den Tenor ihrer Worte.
Einige schockierte und entsetzte ihr Verhalten, andere amüsierten sich, und alle waren skeptisch. Keine wirkliche Dame, so hatte Grace gehört, seit sie angefangen hatte, in London Medizin zu studieren, würde sich mit solchen unangenehmen Dingen beschäftigen. Was sie tat, gehörte sich einfach nicht! Doch diese Männer hatten keine Ahnung davon, daß die Wunden dieses armen Afrikaners nichts waren im Vergleich zu den Verletzungen, die Grace an Bord des Lazarettschiffs behandelt hatte, das bei der Räumung von Gallipoli eingesetzt worden war.
»Wir müssen ihn in den Zug bringen«, sagte sie schließlich, als sie nichts weiter tun konnte.
Keiner der Männer rührte sich. Sie hob den Kopf. »Er muß richtig behandelt werden. Die Wunden müssen genäht werden. Er hat viel Blut verloren. Mein Gott, stehen Sie doch nicht einfach so herum!«
»Der ist erledigt«, brummte jemand.
»Keine Ahnung, wer es ist«, sagte einer.
»Ein Massai«, sagte ein dritter, als sei das eine Erklärung. Grace erhob sich. »Zwei von Ihnen tragen ihn in einen Wagen. Sofort!«
Die Männer waren unentschlossen. Ein paar drehten sich um und gingen. Die anderen sahen sich fragend an. Wer war sie, um ihnen etwas zu befehlen? Die Männer blickten Grace wieder an. Sie war sehr hübsch und schien eine Dame zu sein.
Schließlich hoben zwei Männer den Afrikaner auf, trugen ihn zum Bremswagen und legten ihn hinein. Als Grace zu ihrem Abteil zurückging, hörte sie abfälliges Lachen, und zwei Männer musterten sie mit unverhüllter Verachtung.
Aber an ihrem Wagen wartete ein sonnengebräunter, lächelnder Mann, der ihr die unmöglich hohen Stufen hinaufhalf. »Machen Sie sich nichts daraus«, sagte er und legte die Hand an die Hutkrempe. »Die sind zehn Jahre hinter der Zeit zurück.«
Grace lächelte dankbar, blieb auf der kleinen Plattform stehen und sah dem Mann nach, der mit großen Schritten zum Wagen der zweiten Klasse ging.
Rose saß auf ihrem Platz, fächelte sich Luft zu und starrte aus dem Fenster.
Grace beugte sich vor und griff nach dem dünnen Handgelenk ihrer Schwägerin. Der Puls war stark und gleichmäßig. Dann betastete sie den Leib unter dem Batist des Sommerkleides.
Alarmiert richtete sie sich auf. Das Kind hatte sich in das Becken gesenkt.
»Rose«, fragte sie vorsichtig, »wann hat sich das Baby gesenkt?«
Lady Rose drehte den Kopf und zwinkerte, als sei sie weit weg gewesen – draußen in der Steppe unter den Dornenbäumen und dem dürren Busch. »Als du draußen warst«, sagte sie.
Grace versuchte, ihre Besorgnis nicht zu zeigen. Rose mußte vor allem ruhig und gelassen bleiben. Diese Fährt trug natürlich nicht gerade dazu bei!
Grace öffnete die Flasche Mineralwasser, goß etwas Wasser in einen Silberbecher und reichte ihn ihrer Schwägerin. Rose trank und verschüttete etwas, als der Zug mit einem Ruck wieder anfuhr. Grace versuchte nachzudenken.
Das Kind hatte sich zu früh gesenkt. Es war zu früh. Es sollte erst in mehr als einem Monat geboren werden. Deutete das auf Komplikationen hin? Und wie lange konnte es jetzt noch bis zur Geburt dauern? Bestimmt haben wir noch Zeit, sagte sie sich und dachte an diesen jämmerlichen kleinen Zug, dessen Abteile alle nur Türen ins Freie hatten, wodurch die Passagiere voneinander getrennt waren. Wenn der Zug fuhr, konnte man ihn nicht anhalten und Hilfe herbeirufen.
Grace war wütend auf sich. Sie hätte nicht zulassen dürfen, daß Rose die Reise unternahm. Sie hätte es ihr energisch ausreden müssen. Rose war keine kräftige Frau, und die Strapazen der Reise von England forderten ihren Tribut. Aber Rose ließ sich nicht von ihrem Entschluß abbringen. »Ich möchte, daß mein Sohn in unserem neuen Haus geboren wird«, hatte sie auf ihre unlogische Art immer wieder erklärt, die einen zum Wahnsinn treiben konnte. Seit Valentine, ihr Mann und der Bruder von Grace, in seinen überschwenglichen Briefen das prächtige Haus beschrieb, das er im zentralen Hochland von Britisch-Ostafrika gebaut hatte, war Rose von der Idee wie besessen, das Kind dort zur Welt zu bringen. Es hatte Graces Position noch weiter geschwächt, als Valentine schrieb und darauf bestand, daß sie sich auf die Reise machten, weil er mit seiner Frau darin übereinstimmte, daß sein Sohn in der neuen Heimat geboren werden sollte.
Grace hatte ihrem Bruder mehrmals zornig geschrieben. Aber sowohl Valentine als auch Rose hatten sich über alle Vernunft hinweggesetzt, um ihren unsinnigen Traum zu verwirklichen.
Und so hatten die beiden Frauen England und BELLA HILL, das alte Herrenhaus der Familie in Suffolk, mit ihren Besitztümern und in Begleitung von sechs Dienstboten verlassen, waren über die nach dem Krieg wieder sicheren Meere gefahren und hatten das erst vor kurzem entmilitarisierte exotische und lockende Protektorat Britisch-Ostafrika erreicht.
Lady Rose beugte sich vor und machte sich an ihren Rosensträuchern zu schaffen. Die fünf anderen Dienstboten und die Hunde der Familie fuhren im Wagen der zweiten Klasse. Aber die Rosen begleiteten die Gräfin, als seien es ihre Kinder. Grace betrachtete sie ärgerlich; die Sträucher hatten seit der Abreise aus England mehr als einmal zu unangenehmen Episoden geführt; aber sie wurde weich, als sie sah, wie ihre Schwägerin sich besorgt um sie kümmerte.
Bald, dachte Grace, wird sie das Baby haben, das dann im Mittelpunkt ihres Lebens steht. Rose hatte sich das Baby so verzweifelt gewünscht, auch als die Ärzte in London erklärten, sie könne keine Kinder bekommen. Dieses Baby, so hoffte Rose, würde Valentine dazu bringen, ein geordnetes Leben zu führen.
Grace seufzte und blickte aus dem Fenster. Ihr Bruder war ein ruheloser Mann, und dieses wilde Land gefiel ihm. Grace verstand, weshalb Ostafrika ihn so faszinierte, und sie verstand seinen Entschluß, BELLA HILL in die Obhut ihres jüngeren Bruders zu geben und hierher zu kommen, um sich in der Wildnis ein neues Reich zu schaffen.
Vielleicht wird ihn dieses Land zähmen, dachte Grace, während das Schaukeln des Zugs sie in den Schlaf wiegte. Vielleicht wird aus Valentine ein neuer Mensch …
Grace dachte immer noch an Männer, als der Zug in Voi hielt und die Fahrgäste zum Essen in die Hütte strömten. Sie hatte wieder von dem Lazarettschiff und von Jeremy geträumt.
Bei dem Zustand ihrer Schwägerin wäre es unschicklich gewesen, wenn sie mit den anderen Reisenden gegessen hätten. Deshalb brachte ein älterer, seriös wirkender Afrikaner ihnen das Abendessen in ihr Abteil und bediente sie. Grace rührte das gekochte Rindfleisch und den Kohl kaum an. Sie blickte durch das Fenster in die Wüstennacht und zum hellerleuchteten Bungalow, in dem das Dinner serviert wurde. Grace beobachtete die Männer; sie saßen an Tischen mit ordentlichen weißen Tischdecken, aßen mit Silberbesteck von Porzellantellern und wurden von Weinkellnern und Kellnern in weißen Jacken bedient. Das laute Lachen und Reden der Reisenden hallte durch die Nacht, und der Rauch ihrer Zigarren trieb durch die Luft. Grace beneidete sie.
Rose trank roten Bordeaux aus einem Kristallglas mit Stiel und sprach ruhig von ihren Plänen für das neue Haus. »Ich werde meine Rosen so pflanzen, daß ich sie immer sehen kann. Und ich werde jeden Mittwoch zum Tee einladen und dazu in Frage kommende Damen der Gegend in unserem neuen Haus empfangen.«
Grace lächelte ihre Schwägerin nachsichtig an. Sie sah keinen Anlaß, Rose bereits jetzt die Illusionen zu nehmen. Sie würde die Realität ihres neuen Lebens bald genug kennenlernen, wenn sie die Plantage sah, feststellte, daß die nächsten Nachbarn viele Meilen entfernt lebten, und daß die »Damen«, von denen sie sprach, schwer arbeitende Farmersfrauen mit wenig Zeit für Einladungen zum Tee waren.
Draußen vor dem Fenster erregte etwas ihre Aufmerksamkeit. Es war der Mann, der ihr die Stufen zum Abteil hinaufgeholfen hatte. Er beaufsichtigte das Verladen von Gepäckstücken auf Wagen. Grace sah, es waren Gewehre und Zelte. Er ist also Jäger und steigt hier in Voi aus, dachte sie.
Grace beobachtete ihn neugierig. In Khaki und mit dem Tropenhelm sah er sehr attraktiv aus. Als er sich plötzlich umdrehte und ihre Blicke sich trafen, setzte ihr Herz einen Schlag aus. Er lächelte, schwang sich auf sein Pferd, salutierte und ritt davon.
Sie sah ihm nach, als er in der Nacht verschwand, und ihr wurde plötzlich bewußt, daß es mit ihr und Männern immer so war – und immer so sein würde. Sie stieß sie entweder vor den Kopf wie diese Männer heute nachmittag, die nicht gewußt hatten, wie sie sich ihr gegenüber verhalten sollten. Oder sie weckte eine unerklärliche Ablehnung in ihnen, oder sie machten ihr das höchste Kompliment wie dieser Jäger. Das heißt, in ihren Augen war sie ebensogut wie jeder Mann und es deshalb wert, wie ein Kamerad behandelt zu werden.
Grace dachte an die Männer auf dem Lazarettschiff und an die Verwundeten, die täglich an Bord gebracht wurden. Anfangs war der Umgang mit ihnen wunderbar, denn sie hielten Grace für eine Krankenschwester. Aber das änderte sich abrupt, wenn sie feststellten, daß sie Ärztin und Offizier war. Plötzlich stellten sich Ehrerbietung und sehr großer Respekt ein. Es entstand eine unsichtbare Barriere, die Grace nicht überwinden konnte.
Als sie vor neun Jahren zum Medizinstudium angenommen worden war, hatte eine ältere Ärztin zu Grace gesagt: »Sie werden feststellen, daß Ihr neuer Titel sowohl ein Fluch als auch ein Segen ist. Viele Ärzte werden es Ihnen verübeln, daß Sie in ihre eifersüchtig gehütete Bruderschaft eindringen, und viele Patienten werden Sie für unfähig halten.« Dr.Smythe hatte hinzugefügt: »Sie werden kein normales gesellschaftliches Leben führen können, denn Sie spielen keine der akzeptierten weiblichen Rollen. Manche Männer werden Sie auf einen Sockel stellen und dadurch unerreichbar machen. Andere werden Sie als Kuriosität und als Außenseiterin abstempeln. Sie werden die einen amüsieren, die anderen einschüchtern. Sie begeben sich in eine Männerwelt, ohne als vollwertiges Mitglied akzeptiert zu sein, und man wird Ihnen wenige Privilegien dieser Welt einräumen.«
Die unverheiratete, aber sechzigjährige Dr.Alice Smythe hatte die Wahrheit gesagt. Grace Treverton war inzwischen neunundzwanzig und – ledig.
Sie lehnte sich im Sitz zurück und schloß die Augen.
Es war der »Preis«, vor dem man sie gewarnt hatte, als sie vor Jahren ihre Absicht verkündete, Medizin zu studieren. Ihr Vater, der alte Earl, hatte es abgelehnt, sie zu unterstützen. Ihre Brüder hatten gelacht und vorausgesagt, sie werde ihre Weiblichkeit opfern. Einiges von dieser Prophezeiung hatte sich erfüllt. Sie hatte tatsächlich Opfer gebracht. Inzwischen bestanden nur noch wenig Aussichten auf eine Ehe und Kinder. Mit beinahe dreißig war sie Jungfrau, obwohl sie zwei Jahre unter Tausenden Soldaten auf See gearbeitet hatte.
Aber nicht alle Männer waren wie ihre Brüder oder wie diese rauhen Burschen dort drüben. Es gab auch den Jäger, dem sie aufgefallen war. In Ägypten, wo sie während des Kriegs stationiert gewesen war, hatte Grace Offiziere kennengelernt, kultivierte Herren, die ihre Rangabzeichen an der Uniformjacke und den Doktor vor ihrem Namen respektierten.
Und es hatte Jeremy gegeben.
Als Jeremy ihr den Verlobungsring über den Finger schob, war ihr Dr.Smythes Voraussage als sehr übertrieben erschienen. Aber dieser Traum war mit dem torpedierten Schiff und mit Jeremy im kalten, dunklen Wasser des Mittelmeeres versunken.
Das Geschirr wurde abgeräumt, und die beiden Frauen gingen auf die Plattform hinaus, während die Betten gemacht wurden. Grace stützte ihre Schwägerin am Ellbogen, während sie am Geländer standen, die kühle Nachtluft atmeten und den prächtigen Sternenhimmel bewunderten. Bald würde der Vollmond über dem Kilimandscharo aufgehen.
England schien Welten entfernt zu sein, beinahe, als habe es nie existiert. So lange schien die Abfahrt in Southampton zurückzuliegen. Und dann die drei Wochen, in denen sie nach Süden und Osten auf dem Meer gefahren waren, und jeder Tag sie weiter weg von vertrauten Plätzen und tiefer hinein in das Unbekannte geführt hatte. Port Said war Grace fremd erschienen; der Krieg war zu Ende, und die Touristen stellten sich allmählich wieder ein. Einheimische waren mit ihren Waren und den »garantiert« antiken Stücken an Bord gekommen; Händler hatten Speisen und starken ägyptischen Wein angeboten. Dann der Suezkanal inmitten der unwirtlichen, kahlen Wüste und Port Sudan mit den imposanten Kamelkarawanen und den Arabern im Burnus. Von Aden, einer trostlosen Oase in der Wildnis, hatte der Dampfer sie entlang der exotischen Somaliküste in den drückend heißen Indischen Ozean gebracht, wo der Sonnenuntergang den Himmel scharlachrot und gold färbte. Schließlich Mombasa, die Küste von Britisch-Ostafrika mit seinen ausgebleichten, weißen Gebäuden, Kokospalmen, Mangobäumen, blühenden Büschen in leuchtenden Farben und Arabern, die alles verhökerten, was man sich wünschen konnte. Wo waren die Nebel von Suffolk, die ehrwürdigen alten Steine von BELLA HILL, die elizabethanischen Pubs an den ländlichen Wegen? Sie gehörten in eine andere Welt und in eine andere Zeit.
Grace blickte zu den Männern hinüber, die mit Brandy und Zigarren auf der Veranda der Hütte saßen und darauf warteten, daß ihre Betten gemacht wurden und die Fahrt weiterging. Welche Träume hatten sie in dieses wilde, unberührte Land geführt? Wer von ihnen würde überleben? Wer würde versagen? Was wartete am Ende der Fahrt auf sie? Man mußte beinahe einen ganzen Tag auf der Bahn verbringen, ehe man Nairobi erreichte. Danach würden für Gräfin Treverton und ihr Gefolge noch viele Tage im Ochsenwagen auf dem unbefestigten Weg nach Nyeri im Norden kommen.
Grace zitterte bei dem Gedanken. Am Ende dieses Wegs durch die Wildnis lag ihr Traum – der Traum, den sie mit Jeremy während der grausam kurzen Zeit zusammen geteilt hatte. Jeremy hatte ihr diese wunderbare Vision in den Kopf gesetzt von einem Zufluchtsort der Hoffnung und der Barmherzigkeit in der Wildnis; er hatte geplant, nach dem Krieg in Afrika den Heiden das Wort Gottes zu verkünden. Sie wollten zusammen arbeiten: Jeremy würde den Geist und Grace den Körper heilen. An den Abenden auf dem Schiff führten sie lange Gespräche über die Missionsstation, die sie in Britisch-Ostafrika gründen wollten, und nun war es bald soweit. Grace würde das Krankenhaus gründen – für Jeremy; sie würde sein strahlendes Licht in die afrikanische Dunkelheit bringen …
»Ach je«, stöhnte Lady Rose und lehnte sich an ihre Schwägerin, »ich glaube, ich muß mich hinlegen.«
Grace sah sie an und erschrak; das Gesicht ihrer Schwägerin war so weiß wie das Tüllkleid. »Rose? Hast du Schmerzen?«
»Nein …«
Grace kämpfte gegen ihre Unentschlossenheit. Sollten sie die Reise fortsetzen oder hierbleiben? Aber diese Bahnstation in der Wüste war nicht der richtige Ort für eine Frau, die bald ein Kind bekommen würde. Nairobi war nur noch eine Tagesfahrt entfernt.
Gib uns Zeit, HERR, betete Grace, als Fanny und sie Rose zu Bett brachten. Laß es nicht hier geschehen. Ich habe kein Chloroform, kein heißes Wasser.
Nichts in ihrem Gesicht wies darauf hin, daß Rose Schmerzen hatte. Sie wirkte verträumt, als sei sie weit weg. Sie fragte nur: »Sind meine Rosen versorgt?«
Grace wartete, bis ihre Schwägerin eingeschlafen war, dann zog sie die Marineuniform aus, bürstete sie und hängte sie auf. Man warf vielen Ärztinnen vor, sie übernähmen männliche Eigenschaften. Es stieß auf Argwohn, daß Grace die Uniform trug, obwohl sie bereits vor einem Jahr aus der Marine ausgeschieden war. Alles Unsinn. Grace war einfach eine praktische Frau. Die Uniform war aus gutem Stoff; die Streifen am Ärmel waren entfernt, und es gab keinen Grund, weshalb sie die Sachen nicht noch jahrelang tragen sollte.
»Unser kleiner Matrose«, hatte Valentine sie genannt. Ihr Vater hatte zwar im Krimkrieg gekämpft, und Valentine hatte sich freiwillig gemeldet, um in Ostafrika gegen die Deutschen zu kämpfen. Er war Regimentsoffizier gewesen. Doch die Familie mißbilligte es sehr, daß Grace zur Marine gegangen war. Grace besaß die Hartnäckigkeit der Trevertons und war ihrem Gewissen gefolgt, so wie sie ihm jetzt hier in Afrika folgte. Sie war entschlossen, einen Traum zu verwirklichen, der auf einem Kriegsschiff im Mittelmeer Gestalt angenommen hatte.
Valentine billigte ihren Plan nicht, im Busch ein Krankenhaus zu bauen, da er Missionare ganz allgemein zutiefst verachtete, und er hatte seine Schwester davon in Kenntnis gesetzt, daß er sie bei einem solchen törichten Unternehmen auf keinen Fall unterstützen werde. Aber Grace war auf Valentines Hilfe nicht angewiesen; aus ihrem Erbteil bezog sie ein kleines Einkommen; ein paar Kirchen in Suffolk unterstützten sie in bescheidenem Maß, und sie besaß ebensoviel Rückgrat wie ein Mann.
Lady Rose stöhnte. Grace drehte sich schnell um. Ihre zarte Schwägerin atmete schwer und preßte die Hände auf den Leib.
»Alles in Ordnung?« fragte Grace.
Rose lächelte. »Uns geht es gut.«
Grace erwiderte zuversichtlich das Lächeln, um ihre Angst zu verbergen. Noch so viele Meilen, noch so viele Tage – und der schlimmste Teil der Reise lag noch vor ihnen.
»Strampelt er?« fragte sie. Rose nickte.
Man hatte beschlossen, das Kind Arthur zu nennen – nach dem jüngeren Bruder, der sofort im ersten Kriegsjahr in Frankreich gefallen war. Der ehrenwerte Arthur Currie Treverton hatte sich als einer der ersten jungen Männer freiwillig gemeldet, als England in den Krieg eintrat.
Sie hörte die Trillerpfeife, und der Zug setzte sich in Bewegung. Grace blickte aus dem Fenster und sah, wie die tröstlichen Lichter von Voi hinter ihnen zurückblieben; dann umgab sie nur noch Nacht. Der Zug fuhr schnaufend durch eine öde und unfruchtbare Landschaft; die Strecke folgte einer alten Sklavenroute zum Victoriasee. Im Grunde trennte das moderne Jahr 1919 nur sehr wenig von den Tagen der arabischen Karawanen, als Afrikaner in Ketten sich auf diesem Weg zu den Sklavenschiffen an der Küste und somit zu ihrem bitteren Ende geschleppt hatten. Die Propaganda der britischen Regierung hatte die Peinlichkeit einer Bahnlinie, die so viel gekostet hatte und nirgendwo hinzuführen schien, zum Teil damit erklärt, man wolle diese Strecke überwachen, um den illegalen Sklavenhandel zu unterbinden. Während goldene Funken von der Lokomotive am Fenster vorbeiflogen, sah Grace im Geist die Lager der Sklavenhändler vor sich, die unter dem Sternenhimmel hockten, während die verstörten, an Ketten gefesselten Gefangenen jammerten und klagten. Wie war es für diese unschuldigen Afrikaner gewesen, auf einem furchteinflößenden Schiff aus der Heimat verschleppt zu werden? Und dann hatte man sie gezwungen, Herren auf der anderen Seite der Welt zu dienen …