Prof. Dr. Karl Heinz Götze
Was aus der Heimat wurde,
während ich lange weg war
Eine Rückkehr nach Deutschland
FISCHER E-Books
Karl Heinz Götze, geboren 1947 in Hofgeismar, war bis zu seiner Emeritierung Professor für deutsche Literatur und Zivilisation an der Universität Aix-en-Provence. Er hat Bücher über die Geschichte der Germanistik, über Böll, Koeppen und Weiss, über das heutige Frankreich und über die französische Küche veröffentlicht. Bei S. Fischer erschien zuletzt »Französische Affären« und »Les Chefs«. Seit 2015 pendelt er zwischen der Provence und Frankfurt.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
Als jungen Mann zog es Karl Heinz Götze aus der nordhessischen Provinz zum Studium nach Frankreich, für ihn ein Land der Verheißungen. Nach 37 Jahren kehrt er, unterdessen emeritierter Professor, zurück an diesen Erinnerungsort seiner Kindheit und Jugend, um das Wiedergefundene mit dem Heutigen zu konfrontieren.
Wie hat sich das Leben der einst armen Familien verändert? Wie hat sich das Verhältnis zu Kindern, wie haben sich die Kindheiten verändert? Wie stand und steht es mit der Religion? Hat sich gar die Landschaft gewandelt?
Karl Heinz Götze blickt unsentimental auf das, was wir Heimat nennen, eine Heimat, die man nicht austauschen und nicht umtauschen kann, die man braucht, aber in die zurück die Lebenskurve nicht führen muss, damit gelegentlich Glück sein kann.
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2017 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: Schiller Design, Frankfurt
Coverabbildung: Shutterstock
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-403683-0
Lange, das sind ungefähr 37 Jahre. 1979 trat ich meine erste Stelle in Frankreich an, damals in der Absicht, ein Jahr zu bleiben. Die Heimat, das ist Hofgeismar, habe ich schon viel früher verlassen, nach dem Abitur.
Hofgeismar muss man nicht unbedingt kennen. Das Städtchen liegt in Nordhessen, ein paar Kilometer nördlich von Kassel. Es ist schmuck, aber in keiner Hinsicht spektakulär. Es ist weder wie Deutschboden in Brandenburg noch wie Starnberg, gehört weder zu den wachsenden, wirtschaftsstarken, dienstleistungsorientierten, jungen Regionen noch zu denen, in die keiner zieht und wo fast keiner mehr bleibt. Freilich liegt es näher an den letzteren, ganz nahe sogar. Hofgeismar könnte durch viele andere Städtenamen ausgetauscht werden. Es ist nur: Dort habe ich die ersten 18 Jahre meines Lebens verbracht, dort kannte ich jeden Stein, dort wurde ich gemacht und dort habe ich mich gemacht.
Ich habe Hofgeismar verlassen, um zu studieren und dann nicht zurückzukommen. Das ist heute gewöhnlich, damals war es eher die Ausnahme. Der Weggang war kein völliger Bruch mit der Stadt der Herkunft, mit meinen Eltern, mit der proletarischen Schicht, aus der ich stamme. Didier Eribon erzählt in Rückkehr nach Reims von einem solchen totalen Bruch mit seinem Vater, mit der französischen Arbeiterklasse, der der Vater angehörte, mit dem Ort der Herkunft. Kein Kontakt mehr über Jahrzehnte. Als er dann zurückkam, war der Vater tot, war der Front National da, wo früher die Kommunisten eine ganze Kultur bestimmt hatten. Bei mir gingen Abschied und Rückkehr anders zu, durch allmähliche Reformen gewissermaßen, nicht durch Revolutionen, so wie es in Deutschland meist war und in Frankreich selten. Sozialdemokratisch, wenn man so will.
Mein Weggang nach Frankreich war also kein Gang ins Exil, wenn sich auch politische Gründe bewusst wie unbewusst darein mischten. Die Bundesrepublik meiner Kindheit und Jugend war in meiner, ja in der Perspektive meiner Generation ein Land, das sich nicht erinnern wollte an die gerade begangenen furchtbaren Verbrechen, Land bleierner Restauration, in der die alten Eliten bald wieder in Administration und Wirtschaft einrückten, wo überall, auch in der Kunst und Kultur, die Vorliebe für das Bewährte und Bewahrende vorherrschte. Das »Wirtschaftswunder« betraf uns dagegen wenig, wenn man auch rückblickend leicht sehen kann, wie die Verbesserung der Lebensbedingungen eben auch die Grundlage für eine Identifikation mit dem demokratischen Staat schuf.
Dass Frankreich einem, der sich mit seinem Staat nicht identifizieren konnte, zu einem Sehnsuchtsort wurde, längst bevor es mich dorthin verschlug, wird nicht erstaunen. Ich war nicht der Einzige. In Frankreich gab es eine lange revolutionäre Tradition, eine starke Arbeiterbewegung, aus Frankreich kamen die Intellektuellen, die damals zu denken gaben, »Unheimische«, wie Heidegger formulierte, bei denen wir uns wohler fühlten als bei den kompromittierten »Heimischen«. Aus Frankreich kamen Brel und Brassens, in Paris war damals noch das Weltzentrum der Kunst. Und das Essen erst …
Mein erster französischer Arbeitsort war am Mittelmeer, gar nicht so weit von Sanary, aber, noch einmal, es war kein Exil, sondern legale Arbeitsmigration. Der Geruch von frischem Kiefernharz unter der Sonne, zusammen mit dem Geräusch in regelmäßigem Rhythmus anbrandender, mit den großen Kieseln geräuschvoll spielender Wellen, lässt dieses Mittelmeerglück manchmal erneut in mir entstehen. Ein Gewinn und nicht bezahlt mit dem Verlust des Vertrauten für immer, wie bei denen, die in den dreißiger Jahren hierher geflohen waren.
Streng genommen war ich all diese Zeit über nicht wirklich ganz »weg« von Hofgeismar, von Deutschland. Schon weil meine Eltern noch lebten und besucht werden wollten. Die sonstigen Kontakte dünnten sich aus, aber das »Wir« meiner Kindheit und Jugend verschwand nicht völlig. Wer heute legal die Rheinseite wechselt, der ist nicht mehr auf die gleiche Weise vom Land seiner Herkunft getrennt wie Heine, der 1831 nach Paris ging, um erst 1844 mit der Postkutsche nach Hamburg zurückzukehren. Aber man merkt doch auch heute noch an kleinen Zeichen, bei einem Besuch, dass man fremd wird, dass man neue Sprachwendungen, neue Verhaltensweisen, neue Baustile im Land der Herkunft nicht mehr kennt. Für viele Rückkehrer bedeutet das etwas Unangenehmes, bedeutet es, dass das Land, in das man geboren wurde, nicht mehr existiert. Für mich war es eher angenehm, eher eine Hoffnung. Jedenfalls eine positive Erfahrung, wenn ich auf deutschen Autobahnraststätten nördlich der Mainlinie nun Essbares fand und nicht mehr nur durchgebratenes Fleisch in zäher, steif-brauner, undefinierbarer Sauce.
Je mehr ich mich in Frankreich einlebte, dessen Zeichen und Gesichter ich erst über lange Jahre lesen lernen musste, entstand eine Neugierde darauf, was aus diesem neuen, unterdes vereinten Deutschland geworden war, wie das Neue sich verhielt zu dem, was ich kannte. Erst als die Verwurzelung in Frankreich stark und selbstverständlich genug war, konnte ich den Blick zurückwenden. Es gibt eine ideale Distanz für solche Unternehmungen der fremden Nähe. Ist man zu nah am Wald, sieht man keinen Wald, sondern nur noch Bäume. Ist man zu weit entfernt, sieht man einen unstrukturierten grünen Farbklecks. Aus der richtigen Distanz, sieht man, was der Wald für ein Wald ist, ob er aus Eichen besteht wie häufig im Reinhardswald oder aus Schirmkiefern wie häufig im französischen Midi. Immer noch in Frankreich lebend, war es an der Zeit, nun Deutschland erneut zu entziffern, nicht mehr Frankreich.
Mit der richtigen Distanz allein ist es nicht getan, es bedarf auch des rechten Blickwinkels. Lust auf wissenschaftliche Beschäftigung mit der Frage, was aus Deutschland geworden ist, hatte ich nicht. Ich bin kein Soziologe, auch kein Politologe mehr, sondern Literaturwissenschaftler. Aber ich bin auch kein Journalist, der hätte hoffen können, mit Reportagen Exemplarisches zutage zu fördern. Ich wollte mein Buch so schreiben, wie meine Neugier entstanden war, aus Beobachtungen, die auf Erinnerungen stießen, wollte nicht Theorie, sondern alte Geschichten, alte und neue. Ich suchte die Dinge, die uns Geschichten erzählen, nicht die Geschichten, die allein erzählt werden, um Theorien zu stützen.
Meine Neugier brauchte einen Ort, von dem ich viele Geschichten kannte, der aber zugleich überschaubar war. Da blieb mir keine Wahl: Hofgeismar.
Hofgeismar ist immer noch der einzige Ort auf der Welt, wo ich eine Chance hätte, außerhalb der Bürozeiten einen Pass zu bekommen, wenn ich ihn dringend brauchen würde. Der Leiter der Stadtverwaltung hat mit seinen Eltern im selben Haus gewohnt wie ich. Mit dem ehemaligen langjährigen Bürgermeister habe ich als Schüler auf dem Bau gearbeitet. Das schafft über alle Unterschiede hinweg Bindungen, die Jahrzehnte überleben, ohne gepflegt worden zu sein. Hofgeismar kenne ich eben. Schon die Geschichten im fünf Kilometer entfernten Grebenstein kenne ich nicht mehr. Von Bad Karlshafen, der Stadt, aus der meine Mutter stammte, wo ich je nachdem »Götzens Karl seiner« oder, ohne Umstände mit dem Possessivpronomen, »Flecksteins Lieschen seiner« war, kenne ich auch ein paar, aber ich war zu jung, als wir aufhörten, jeden Sonntag dorthin zu fahren. Außerdem hätte ich dann die Linie überschritten zu dem Teil Deutschlands, der von allen verlassen wird.
Texte, die auf Erfahrungen, Erinnerungen und Beobachtungen aufbauen, können wohl nicht so ganz falsch sein wie falsche Theorien. Aber selektiv, unzuverlässig sind sie allemal. Wir, die wir damals Altersgenossen oder Klassenkameraden waren, haben alle im Kopf einen Film geschnitten aus dem unendlich reichen Material, das da von jedem von uns aufgenommen wurde. Manches, was als wichtig galt, haben alle im Kopf gespeichert, selbst wenn der Fokus verschieden war. Aber der Film unseres Lebens, in den wir es eingebaut haben, damit die vielen einzelnen Stücke mindestens durch einen dünnen roten Faden verbunden würden, ist jeweils verschieden. Es muss uns also nicht nur beschäftigen, was man sieht in Hofgeismar, sondern auch, wer es ist, der da sieht, und wie er geprägt wurde von dem Hofgeismar, das einmal war. Das Buch handelt notwendig auch von mir.
Damit ist sein Inhalt umrissen: Ein erstes Kapitel besteht aus einer Wiederbegegnung mit der Stadt meiner Kindheit und Jugend, einer Fahrt und dann – ab der Fußgängerzone – einem Gang durch eine Stadt, deren Grundlagen sich fundamental geändert haben. Es geht vom Ortseingang über das Zentrum bis zum Museum. Da kann man folgen, das ist nicht weit.
Was von dem, das mir in die Augen fiel, lässt sich verallgemeinern? Wo steht Hofgeismar in einem Land, das auseinanderdriftet, wo zwei Drittel der Gemeinden Bewohner verlieren und in anderen kein einigermaßen bezahlbarer Wohnraum mehr gefunden werden kann? Eine kleine Zwischenbilanz mit Zahlen zur nordhessischen Region bietet Material, die Stellung Hofgeismars im Zusammenhang der Entwicklungstendenzen des ländlichen und städtischen Raums in Deutschland zu verorten.
Der Begriff »Erinnerungsort«, von Pierre Nora geprägt und von Étienne François und Hagen Schulze ins Deutsche gewendet, verweist auf ein Konzept, das sich zur Rekonstruktion »meines« Hofgeismar der fünfziger und sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts als sehr brauchbar erwies. Während das erste Kapitel die Breite vermisst, wird in denen über Erinnerungsorte in die Tiefe der Zeit gelotet, um das Wiedergefundene mit dem Heutigen zu konfrontieren. Zunächst Haus und Familie. Da sind Erinnerungen an die Lebensweise einer armen Familie der Nachkriegszeit, die alle Chancen ergriff, die Armut hinter sich zu lassen, Armut, die jedenfalls ganz anders war als die heutige. Es sind Erinnerungen an Verhältnisse und Mentalitäten, die uns, auch mir, längst vergessen scheinen und doch die von gestern waren.
Die zweite Gruppe von Erinnerungsorten geht aus dem Haus: Wie waren früher hier Kindheiten? Wo kam uns Kindern Orientierung her, wo waren Gesellen? Wie stand und steht es mit der Religion? Wie mit den Vereinen und den Kneipen? Und dann natürlich die Schulen von der Ohrfeigenpädagogik des Anfangs über die Mittelschule bis zum Abitur. Wie schwer es damals war, Abitur zu machen, wenn man von unten kam, wie schwer es immer noch ist. Wie viel Glück man brauchte und wie viel Wohlwollen. Wie man wurde.
Gerade in diesem Kapitel fehlt so vieles von den Dingen und den Geschichten, die wichtig waren. Das Schwimmbad zum Beispiel, in dem wir über viele Jahre den ganzen Sommer verbrachten. Die Erfahrungen als Schüler auf dem Bau, wo Kräne noch selten waren und polnische Arbeiter auch. Wie Arbeiter waren, habe ich da erst gelernt. Mein Vater war Arbeiter auf der Arbeit, aber zu Hause, wo ich ihn erlebte, war er in erster Linie Familienvater.
Es fehlt ein Kapitel über die Sprache in Hofgeismar, über die so metaphernreiche Sprache der Arbeiter, über die Spruchweisheiten meiner Eltern, über die eigenwillige Grammatik, die im Komparativ das »als« allemal durch ein »wie« (»die Frau ist schöner wie …«) ersetzt, um es zu schonen für den häufigen Einsatz an der Stelle von »fortwährend« oder »dauernd« (»er hat als getrunken und wollte nicht aufhören«. »Alszu« an der Stelle von »als« ist auch erlaubt). Entscheidend und unverwechselbar aber ist die Aussprache, ganz anders als schon im nahen Kassel jenseits der Benrather Linie. Aber die Aussprache kann man mit Schrift nicht abbilden, außer durch Lautschrift, und die ist nur für Spezialisten und ohne Witz.
Es fehlt auch ein Kapitel über die Sexualität. Jugend, der Sexualität nicht wichtig wäre, gibt es nicht. Und da gäbe es zu berichten. Das ginge von dem peniblen Moment, als ich, verleitet von einem Landarbeiter, an einen geladenen Weidezaun pinkelte, über schüchterne Annäherungen ans andere Geschlecht bis zur ersten großen, weit ins Leben strahlenden Liebe. Ich könnte auch erzählen, wovon ich noch nie erzählt habe, weil ich mich schämte, erzählen von einer frühen Vergewaltigung durch einen etwas blöden Knecht, der dann wegen ähnlicher Vorfälle an anderen Kindern irgendwohin verschwand. Ich könnte erzählen vom Schicksal eines Hofgeismarer Transsexuellen, über das nie gesprochen werden durfte, als sei er aussätzig. Das war lange vor der Zeit, in der das bei Modeleuten in Berlin und New York als chic galt und beliebter Gegenstand von Gender Studies wurde. Aber Sexualität ist ein Bereich, der zum Glück auch heute noch weitgehend dem Blick von außen verschlossen ist. Ich weiß nichts über Sexualität in Hofgeismar heute. Nur eine Zahl hätte ich da zu bieten: zwischen 2012 und 2015 ist die Zahl der jährlichen Eheschließungen in Hofgeismar von 190 auf 144 zurückgegangen. Aber was bedeutet das schon?
Das nächste Kapitel führt hinaus aus der Stadt in den Wald, den Reinhardswald, zu Dornröschen, zur Sababurg, in den Tierpark, in den Urwald, zu dem, woraus Hofgeismar sein Image bilden und womit die Stadt Touristen anziehen möchte. Es führt aber auch zu den Stellen im Wald, wo bald statt der Blätter die Windräder rauschen und die Landschaft gründlich verändern werden. Dornröschens Wald wird so nicht bleiben, wie sie ihn gesehen hat, als der Prinz kam.
Zum Schluss die Frage nach der Heimat. Auf dem Friedhof findet man am besten die Antwort auf die Frage, was Heimat ist, die man nicht austauschen und nicht umtauschen kann, die man braucht, aber in die zurück die Lebenskurve nicht führen muss, damit gelegentlich Glück sein kann.
Ich habe für vielfältige Unterstützung beim Verfassen dieses Buches zu danken. Mein Dank gilt Herrn Burmeister, dem langjährigen Leiter des Museums, Frau Drinnenberg für Suche im Archiv, gilt Winfried Eckard für die Zahlen und Informationen über Hofgeismar, die er mir großzügig zur Verfügung stellte, gilt »Henner« Sattler für lange Gespräche und Führung durch das ihm so langjährig Vertraute, gilt Günter Rößner und Anne Faupel für Informationen und Dokumente über meine Realschulklasse, der Albert-Schweitzer-Schule für den Zugang zu Abiturarbeiten und Lehrergutachten.
Eine Wiederbegegnung mit der Stadt der frühen Jahre
Wir kommen vom Süden, von Kassel her, auf der Umgehungsstraße. Wie die meisten. Im Osten liegt die Weser und liegen die Steigungen des Reinhardswalds. Dahinter eine gefühlte Tagesreise entfernt Göttingen. Was hätte Hofgeismar, die nordhessische Kleinstadt, schon mit Göttingen, der niedersächsischen Universitätsstadt zu tun? Oder mit dem westfälischen Warburg im Westen, wo man, wenn überhaupt, zur »Kierche« geht statt zur Kirche? Warburg gehört woanders hin, das merkt man schon am Akzent. Sicher, dahinter kommt irgendwann das Ruhrgebiet, aber noch nicht so bald, dazwischen sind viele Bäume. Und vom Norden kommt man schon längst nicht. Da liegt Bad Karlshafen und dann lange nichts in Richtung Hannover, Bad Karlshafen, bilderbuchschön, aber ökonomisch notleidend im nördlichsten Zipfel Hessens. Was sollte von dort kommen? Selbst die wenigen Radtouristen folgen abwärts dem Lauf der Weser. Was, wenn nicht gerade Hessentag ist, hätten sie in Hofgeismar zu suchen?
Wir kommen natürlich mit dem Auto. Um mit dem ICE zu kommen, hätten wir die Fahrkarte entweder bis Kassel-Wilhelmshöhe oder bis Göttingen lösen müssen. Aber von Göttingen kommt man nicht direkt weiter. Von Kassel-Wilhelmshöhe schon und ziemlich direkt, ungefähr jede Stunde.
Das ist die Strecke, die mein Vater »nach dem Krieg« bis zur Rente jeden Werktag fuhr. Damals natürlich nur bis zum ehemaligen Hauptbahnhof, jetzt als »Kulturbahnhof« unwichtig geworden, außer alle fünf Jahre bei der Documenta. Jedenfalls gilt immer noch, dass Hofgeismar ökonomisch vielfältig mit Kassel zusammenhängt, und so gehört der frühere Kreis Hofgeismar ja auch seit 1972 administrativ zum Landkreis Kassel.
Unser Auto muss, um nicht aufzufallen, schon der Mittelklasse zugehören. Nichts finden meine französischen Studenten, wenn sie vom Aufenthalt in Deutschland berichten, so auffällig wie die vielen großen, schnellen, schönen, unverbeulten und unzerkratzten Autos auf deutschen Straßen. Auf dem Land gilt das natürlich besonders. Hier kann man ohne Auto nur schwer auskommen. Und hier wird es nur verkratzt, wenn man die Kratzer selbst anbringt, nicht von bösen Buben mit einem scharfkantigen Schlüssel. Kein Auto zu haben ist hier nicht nur unpraktisch, sondern ein Armutszeichen. Und da fast alle eines haben, taugt es auch zur sozialen Einsortierung.
Auf dem Land? Kassel wäre Stadt, Hofgeismar läge auf dem Land, wäre Land? Wie triftig sind solche Unterscheidungen noch, wenn auf dem Land die Landwirtschaft kaum mehr eine Rolle spielt, wenn hier gewohnt und dort gearbeitet wird? Und dann ist Hofgeismar ja auch eine Stadt und stolz darauf. 1223 soll sie die Stadtrechte vom Mainzer Erzbischof erhalten haben. Die kleine Stadt macht auch nicht den Eindruck, ein Dorf zu sein, wie wir uns ein Dorf vorstellen. In meiner Kindheit war jedenfalls Hofgeismar die Stadt, und die Dörfer lagen drumherum: Sababurg, Beberbeck, Karlsdorf, Hombressen, Hümme, Kelze, Schöneberg, Friedrichsdorf. Die sind heute alle eingemeindet. Das mag verwaltungstechnisch sinnvoll sein, aber natürlich ist, wie anderen und höheren Orts auch, nicht zusammengewachsen, was vielleicht zusammengehören sollte. Jedenfalls ist seltsam, dass unsere Begriffe die wirklichen Siedlungsformen und die ihnen entsprechenden Lebensweisen kaum zutreffend abbilden: Klar, Berlin-Mitte ist Stadt; Hamburg um die Alster und in Sankt Pauli, das ist Stadt. Lokstedt oder Stellingen, das ist noch Hamburg, sicher, aber ist es Großstadt? Unsere Vorstellungen von dem, was ein Dorf ist, stammen häufig aus dem 19. Jahrhundert, in dem der Bauer noch die Rösslein einspannte und ringsum bis zum Waldsaum golden die Kornfelder wogten. Sie lassen sich in reiner Form in Deutschland kaum noch auffinden. Es gibt Dörfer, da wohnen fast nur noch Zugezogene aus der Stadt und kaum noch eine alteingesessene Familie. Es gibt aber auch Dörfer, da wohnt fast niemand mehr, weder Zugezogene noch Eingeborene.
Aber ein Dorf ist Hofgeismar eben nicht. »Ackerbürgerstadt« sagen die Historiker, und das ist, das war zumindest ein ziemlich zutreffender Ausdruck. Der Akzent lag auf »Acker«. Eine Stadt, umgeben und lebend von Ackerland. Nicht vom Handel, obgleich es an Anläufen nicht gefehlt hatte. Der berühmteste, das Projekt des Landgrafen Carl von Hessen-Kassel, die Weser bei Karlshafen zwecks Umschiffung der Braunschweigischen Zollrechte in Münden durch einen Kanal auf hessischem Terrain direkt mit Kassel und dann weiter mit der Lahn zu verbinden, scheiterte am Wassermangel erst der Diemel und dann vor Hofgeismar dem der Esse, des Flüsschens, über das wir als Kinder im Sommer an schmalen Stellen hüpften.
Die schönen Reste des angesichts der damaligen Möglichkeiten verrückten Projekts kann man noch besichtigen. Carls Nachfahre Friedrich II. von Hessen-Kassel hatte dann mehr Handelsglück mit dem Verkauf von 12000 Soldaten an Großbritannien, die als Söldner im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg Dienst taten, aber diesem Warenverkehr fehlte es schließlich an Nachhaltigkeit. Auch die Eisenbahn, im 19. Jahrhundert mit großen Hoffnungen und majestätischen Bahnhöfen zwischen Kassel, Hümme und Karlshafen errichtet, wartete vergeblich über gut ein Jahrhundert auf ökonomische Bedeutung, endete mangels Brücke in der Weser und ist heute ein hübscher Öko-Radweg. Ich weiß das deshalb, weil im Kleiderschrank meines Großvaters eine sorgfältig gebügelte blaue Uniform mit Epauletten und Kragenspiegeln hing, die ich bei besonderen Anlässen bewundern durfte. Er erhielt sie als königlich-preußischer Beamter und Bahnhofsvorstand der Bahnhöfe in Karlshafen, erst linkes Ufer, dann rechtes. Ja, Bahnhofsvorsteher waren damals noch etwas, zu der Zeit, als selbst die kleinen Bahnhöfe sich als mächtige Tempel des Fortschritts in Szene setzten.
Auch die Industrielle Revolution kam nur bis Kassel. Bis »zum Henschel«, wie man dort noch sagt, obgleich es Henschel nicht mehr gibt. Eine Industriestadt war Hofgeismar nie, wurde also auch keine Wüste der Deindustrialisierung. Aber wo sollte in dieser Stadt bürgerlicher Lebensstil herkommen? Den paar Bürgern klebte doch allemal Ackerkrume an den Stiefeln, die die einen stolz vorzeigten, die anderen leicht beschämt abwischten.
Beinahe hätten wir die Abfahrt verpasst, kurz nach dem Kelzer Teich, wo es früher immer so nach Abdeckerei roch. Das kommt daher, dass die Abfahrt neu ist, neu für mich. Hier kam immer (wir sind leicht zur Hand mit dem »immer«, das doch meist nur die eigene Lebenszeit meint) eine langgezogene Rechtskurve, dann eine knappe Linkskurve, eine kleine Steigung und dann sah man Hofgeismar in seiner Senke zwischen Reinhardswald rechts, geradeaus der Kette von Schöneberg, Westberg, Heuberg, links Kelzer Berg, Rosenberg, Messhagen. Das war nun wirklich fast schon immer so, immer schon ganz hübsch, vorzüglich im Sommerhalbjahr und vor allem für die, die nicht hier wohnen.
Verpasst hätten wir die Abfahrt beinahe deshalb, weil Hofgeismar seit drei Jahren eine Umgehungsstraße hat. Die B 83 führt jetzt in elegantem und schnellem Bogen um Hofgeismar herum. Der Fuß muss nicht vom Gas, die Straße ist glatt, eben, verläuft geschützt in einer begrünten Schlucht, ermöglicht gerade einen kurzen Blick auf das Gymnasium, wo ich Abitur gemacht habe, und dann ist es schon vorbei: Hofgeismar.
Später werde ich erfahren, dass die Hofgeismarer in der Frage, ob diese Umgehungsstraße eine gute Idee war, geteilter Meinung sind. Die einen sagen, die Stadt sei nun abgehängt und dem Fetisch des fließenden Verkehrs sei mit Verspätung und entgegen anderenorts gemachten Erfahrungen nun auch hier gehuldigt worden, die anderen verweisen darauf, dass die dicken Lastwagen, die durch die Stadt brummten, zu deren Wohlfahrt gewiss nicht beigetragen hätten. Man mag sich da als Fremder nicht einmischen. Ich wohne ja seit Jahrzehnten nicht mehr hier. Und ich müsste ja nicht sagen, dass ich ziemlich zufrieden bin damit, dass das letzte fehlende Stück der Umgehungsstraße zwischen Aix-en-Provence, wo ich lebe, und dem TGV-Bahnhof bzw. dem Flughafen nun endlich fertig ist und sich die alltäglichen Staus auflösen, obgleich da Quadratkilometer provenzalischer Landschaft planiert wurden.
Aber in einem bin ich mir sicher: Die Landschaft hier ist nicht mehr dieselbe wie die, die ich kannte: Sie ist nun egalisiert, automobilglattgestrichen. Man merkt das kleine Flusstal nicht mehr, das man überquert, nicht die Hügel, die verschiedenen Farben der Felder. Die Perspektive auf die östliche Stadt entfaltet sich nicht allmählich, sondern man sieht sie aus dem Augenwinkel, und dann ist sie auch schon wieder weg. Mein Vater hat noch Holz geholt mit Pferdegespannen. Da konnte eine kleine, feuchte Senke ein riesiges Hindernis sein. Nicht zufällig heißt ein Straßenabschnitt, nicht weit von hier, die »Hölle«. Im schlimmsten Falle musste per Hand wieder ein Teil der Ladung abgeladen werden, damit es die Pferde schafften. Und ich erinnere mich noch daran, dass da drüben die Steigung am Krähenberg selbst im ersten Gang meines Torpedo-Rades nur an guten Tagen zu schaffen war. Jetzt ist hier alles (fast) eben, zumindest für das Auto. Die Er-fahrung ist eine ganz andere.
Aber wir haben die Abfahrt ja gar nicht verpasst, sondern fahren hinein nach Hofgeismar, das, wie es sich gehört, anfängt mit Ackerland links und rechts. Die Aral-Tankstelle, die gab es hier früher nicht, die Großbäckerei auch nicht. Früher standen hier nur Aussiedlerhöfe, zwei ganz nah an der Straße. Die Aussiedlerhöfe markieren in dieser Region die Landschaft. Ökonomisch gesehen, waren sie schon überflüssig, als die ersten sich gerade im Bau befanden. Und so haben die Schmuckstücke der Dorfmodernisierung der sechziger und siebziger Jahren heute eine schlechte Presse. Stehen nicht in den agrarisch bestimmten Dörfern und kleinen Städten gerade der nordhessischen Region schmucke Fachwerkhöfe wegen dieser Aussiedlerhöfe leer, die ihr Versprechen nicht gehalten haben, das Überleben der Landwirtschaft zu behausen? Und man muss zugeben, dass diese Höfe es vom Erscheinungsbild her nicht mit den alten Fachwerkhäusern aufnehmen können, weil es ihnen an Tradition und Individualität fehlt. Weiß getüncht sind sie alle, fast alle bestehen sie aus einer großen Halle mit Scheune und angegliedertem Stall, einem flachen Maschinenschuppen und einem Wohnhaus. Insbesondere an und auf den Wirtschaftsgebäuden wurde reichlich Asbestzement verbaut, besser bekannt unter dem Markenamen »Eternit«, der heute doppelt unbeliebt ist: wegen »Asbest« und wegen »Zement«.
Dabei galten die Aussiedlerhöfe in einer noch gar nicht so fernen Zeit, die das Wort »Fortschritt« noch ohne Stottern und Erröten aussprechen konnte, als Gebot der Vernunft für die Dorfmodernisierung wie für die bäuerliche Produktion. Die Bauern kamen heraus aus der beengten, nicht erweiterbaren Dorflage, bekamen eine rationale Gebäudestruktur, wohnten näher bei ihren Feldern, mussten sich nicht um die teure Instandsetzung der alten Dächer und Fachwerke kümmern. Nur verloren diese Bauernhöfe, die noch alles produzierten, was Bauernhöfe so produzierten, Pferde, Rinder, Kühe, Schweine, Getreide … rasch ihre ökonomische Basis, nicht nur in Nordhessen. Ihre ökonomische Basis und zugleich den Modernitätsbonus, weil sich die Werte änderten und der Bonus ein Malus wurde.
Spätestens seit den achtziger Jahren verlangte der Zeitgeist nach dem guten Alten, nach restauriertem Fachwerk, verkleidetem Beton, rückgebauten Straßen, »renaturierten« Flussläufen. Nein, die Moden machen auch vor dem ländlichen Bereich nicht halt. In der Stadt ist der Boden teuer, und die Furien des Verschwindens sind zahlungskräftig. Kann das weg? Alles kann weg. Auf dem Land aber werden auch die Irrtümer erhalten. Und mit ihnen die Frage, ob es denn Irrtümer waren, wie die städtischen »Renaturierer« gerne meinen. Die Mehrzahl der Bauernhöfe hatte, das ist schon vergessen, in den fünfziger Jahren keine Toilette im Wohntrakt, sondern das Häuschen mit dem Herzen in der Tür draußen auf dem Hof, von Badezimmern oder Zentralheizungen ganz zu schweigen.
Der Aussiedlerhof meines Lieblingscousins, der nur ein paar hundert Meter entfernt von dem Haus lag, in dem ich meine Jugend verbrachte, erschien nicht nur mir damals geradezu paradiesisch: Die spannende Lebenswelt eines trotz aller Traktoren und Melkmaschinen noch traditionell produzierenden Bauernhofs, verbunden mit modernem Wohnkomfort, viel Licht und einem weiten Blick auf von Wäldern gerahmte Wiesen und Felder. Bei meinem letzten Besuch auf dem Hof, der heute keiner mehr ist, saßen Berliner Besucher am großen Fenster des Wohnhauses, beobachteten zwei Rehe und einen Fuchs auf dem verschneiten Land und konnten sich gar nicht sattsehen. Der Maschinenschuppen ist jetzt Garage, das kleine Haus für die Familie des Knechts – ja, damals sagte man noch Knecht, auch wenn man nicht Hegel zitieren wollte – vermietet, die Miste verschwunden. Im Stall sind noch ein paar Pferde für die Freizeit von Mädchen in der Vorpubertät, und die Scheune hat ein Schrotthändler angemietet. Sicher, das Eternit machte seinem Namen wenig Ehre und ist nicht in Würde gealtert, die Stadt hat den Aussiedlerhof längst wieder eingeholt und eingesiedelt, aber man wird doch zugeben müssen, dass das Leben dort Vorzüge hat gegenüber dem Leben in einem der gleichfalls aufgegebenen, aber sorgsam renovierten Bauernhäuser im Ortszentrum, bestaunt von Hessentagsbesuchern, wo die Bewohner nicht wissen, was sie denn mit der hohen Diele machen sollen, in die früher der Heuwagen gezogen wurde oder das Getreide gedroschen.
Mein Cousin war ein leidenschaftlicher Bauer, ganz bestimmt kein dummer und keiner, der der Technisierung ablehnend gegenübergestanden hätte. Warum er schließlich aufgegeben hat? Eine wichtige Rolle dürfte gespielt haben, dass er spürte, wie die Zeitläufte gegen ihn arbeiteten. Schon in der Zeit zwischen 1949 und 1963 haben 40 % der hessischen Landwirte die Sense und dann auch den Mähdrescher beiseitegestellt, von den rund 200000 Betrieben wurden mehr als 50000 aufgegeben. Bereits am 5. Januar 1955 berichtet die Hofgeismarer Zeitung von einem Vortrag des Präsidenten des Hessischen Bauernverbandes, in dem dieser befürchtet, dass mit dem Niedergang der Landwirtschaft »die Blutquelle des deutschen Volkes verlorengehe«. So sprach man damals noch.
Es war erst der Anfang. Man konnte aber damals mit meinem Cousin noch hoffen, mittlere Betriebsgrößen, die sich modernen Technologien öffneten, könnten überleben, und das ging auch eine Zeitlang ziemlich komfortabel. Aber dann merkte er, dass er vergrößern musste, mietete ein Gut dazu, das, wie es immer gewesen war, sein ältester Sohn versorgte, der bald merkte, dass es eben nicht so ging, wie es immer gegangen war, und schließlich die Landwirtschaft aufgab. Man kann sich die Schmerzen und die familiären Verwerfungen vorstellen, die das auslöste. Der Sohn setzte sich dann an den Computer und rechnet heute in einer agroindustriellen Firma die optimalen Düngermengen aus. Das macht die Landwirtschaft noch effektiver, so dass wir noch weniger Landwirte brauchen.
Der Effektivitätsschub der Landwirtschaft seit 1949 ist in der Tat atemberaubend. 1949 ernährte ein Landwirt zehn Menschen, im Jahr 2010 waren es 140. Der Erfolg des Einsatzes von chemischen Mitteln zur Bekämpfung von Krankheiten, Schädlingen und Unkräutern war so groß, dass heute kaum mehr jemand von Schädlingen und Unkraut überhaupt zu reden wagt, die Traktoren ersetzten die Pferde, die Mähdrescher die Sensen und die Flegel. Aber gerade die modernisierungsbereiten und modernisierungsfähigen Landwirte trugen zur Erübrigung ihres Berufsstands bei. Nur den dummen Bauern ist versprochen, dass sie dicke Kartoffeln ernten, und selbst bei denen wurde das Versprechen auf Dauer nicht gehalten. Und der zweite Sohn meines Cousins? Der widmete sich mit Erfolg der Kunst. Und die Tochter heiratete natürlich keinen Landwirt – die waren rar geworden –, sondern siedelte sich in der Schweiz an. Derlei Geschichten, die nicht alle so gut ausgehen, ranken sich um viele der aufgegebenen Höfe hier in Hofgeismar.
Als das Ende seines Hofs schon ziemlich nahe war, stand mein Cousin einmal mit mir am Gartentor und sagte unvermittelt – sein innerer Druck muss so groß geworden sein, dass er gegen seine Gewohnheit mit mir über so etwas redete – »Was soll nur werden? Dieses Land will sein Land nicht mehr bebauen und denen kein Auskommen mehr sichern, die es tun.« Er dachte noch, wie es nicht nur seiner Generation eingebläut wurde, in nationalen Kategorien und konnte sich keine Nation vorstellen, die sich nicht selbst ernähren konnte. Sich nicht selbst ernähren können, das bedeutete, solange man denken konnte, immer Elend und Abhängigkeit, gerade hier in Nordhessen auch Auswanderung. Damals waren die Römischen Verträge, die Gründungsurkunde der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, schon unterschrieben. Sie beglaubigten die Vorherrschaft der deutschen Industrie in Europa ebenso wie das langsame Absterben der Landwirtschaft. Der gemeinsame Markt entstand, keine gemeinsame Nation. Also zählte fortan der Markt und nicht die Nation, der Markt und nicht die Agrarpolitik.
Blickt man aus der Gegenwart auf diese Zeit zurück, so blickt man auf eine soziale und technologische Revolution, von der heute niemand mehr redet und die erstaunlicherweise niemanden auf die Barrikaden getrieben hat: 1949 gab es in der Bundesrepublik 1644000 landwirtschaftliche Betriebe, 2010 gab es noch 256000. Zieht man davon die Nebenerwerbsbetriebe ab, bleiben noch 127300 zumeist kleinere oder mittlerere Betriebe – rund 90 % sind verschwunden. Noch beeindruckender ist der Rückgang der Zahl derer, die in der Landwirtschaft arbeiten. 1950 waren es ca. 5 Millionen, 2010 noch 239000 Beschäftigte, das macht ungefähr 1 % aller Erwerbstätigen überhaupt. Zur Erinnerung: Es arbeiten heute sechsmal so viele Menschen im Gesundheitswesen und immerhin doppelt so viele als Lehrer (Geißler, S. 172). Die Soziologen sagen, aus einer ehemals »strukturprägenden Schicht« sei eine kleine Randgruppe mit häufig »angespannt[er] finanziell[er] Situation« (Geißler, S. 173) geworden. Angespannt sind nicht mehr die Rösslein, sondern nur noch die Finanzen, außer natürlich in der Agrarindustrie und bei den Großgrundbesitzern. Man kann es deutlicher sagen: Früher war in Nordhessen Landbesitz eine solide Grundlage für eine zumindest gesicherte, manchmal komfortable soziale Existenz. Das ist weitgehend vorbei, da hat eine ökonomische Flurbereinigung stattgefunden, anders, aber nicht weniger nachhaltig als die Bodenreform in der DDR.
Die bäuerlichen Betriebe, die überlebt haben, waren gezwungen, sich zu spezialisieren. Unter den ersten war der Aussiedlerhof gleich links am Ortseingang. Hier entstanden die ersten lokalen Legebatterien für effektive Eierproduktion, Horrorkäfige in der Perspektive der naturfreundlichen Stadtbewohner, die sie mit ihrem geilen Geiz zugleich befördern.
Mit der Agrarrevolution, die sich hier zwischen meiner Kindheit und der Gegenwart vollzogen hat, ging ziemlich plötzlich etwas zu Ende, was seit Menschengedenken, immer schon da gewesen war: die Bindung der sozialen Stellung an den Landbesitz. Dass diese Veränderung mit ihren sozialen Folgen nicht zum offenen Politikum wurde, lag an vielerlei Faktoren. Zum einen daran, dass die Bauern in Deutschland – in Frankreich ist das manchmal anders – eine überwiegend konservative Schicht sind, Aufständen und allem Kollektiven eher abgeneigt. Und dann vollzog sich der Umbruch nicht so scharf wie die Entlassung eines Arbeiters in die Arbeitslosigkeit. Häufig blieb da noch eine Zeitlang ein Nebenerwerbsbetrieb oder mindestens ein großer Garten. Durch Selbstausbeutung ließ sich das Ende hinauszögern. Der Schrumpfungsvorgang vollzog sich zudem im Allgemeinen mit dem Generationswechsel und zwang selten zum beschämenden Gang zum Arbeitsamt. Von Subventionen, Flurbereinigungen und immer neuen politischen Absichtserklärungen zur Rettung des Bauernstandes nicht zu reden.
Dieses Schicksal der Landwirtschaft in einer traditionell agrarisch bestimmten Region betrifft nicht nur die Bauern selbst und ihre Lebensgrundlagen. Es betrifft die Geschicke aller. Kein anderer Autor in der deutschen Literatur beschreibt das so eindrücklich wie Gottfried Keller in »Romeo und Julia auf dem Dorfe«. Da wird am Anfang die an Arbeitsfleiß und Bodenbesitz gebundene Ordnung eines Schweizer Dorfes geschildert, aus der zwei Bauern durch eigenes Unrecht herausfallen, sich zutiefst verfeinden und deshalb verelenden. Die Kinder der aus eigener Schuld Unglücklichen verlieben sich ineinander, können aber auf dieser Welt keinen Platz für ihre Liebe finden, weil sie keinen Landbesitz mehr haben und deshalb keine soziale Existenz, nicht einmal das Recht, einander zu heiraten. Als Ausweg sehen sie nur den Selbstmord.
So tragisch-schön geht es in Hofgeismar nicht zu. Die Dinge, die sich ändern, sind unauffälliger. Mein Vater, der kein Bauer war, kannte zum Beispiel sehr genau die »guten« und die »schlechten« Äcker der Gemarkung und hatte eine ungefähre Vorstellung davon, wie viel sie eintrugen. »Guck mal hier, wie steinig der Boden ist. Hier macht man sich den Pflug kaputt und anschließend wächst ohnehin nichts.« Mich hat das damals nicht interessiert, aber ich musste es mir anhören, wenn ich, selten genug, mit ihm spazieren gehen wollte. Wenn ich heute von meinem provenzalischen Wohnort ins Hinterland fahre oder gar noch etwas weiter in die Haute Provence, dann sehe ich nicht nur die strahlende Schönheit der Landschaft, nicht nur Sonnenblumen und Thymian und Lavendel, sondern ich sehe auch, ohne es zu wollen, dass »die Felder nichts taugen«, wie mein Vater gesagt hätte, weil die Krume manchmal nur fünf Zentimeter dick ist und die Äcker nach dem Pflügen weiß sind vom aufgepflügten Kalkgestein.
Meine Besucher, meist aus der Stadt, schwärmen zwar von »Roof Gardening« und züchten Thymian auf der Terrasse, aber das mit dem mageren Boden sehen sie nicht, so wenig wie sie eine Erklärung dafür wissen, weshalb in der Küche der Provence das Lamm einen wichtigen Platz einnimmt, die Rinder hingegen kaum. Wer unter den jüngeren Bürgern von Hofgeismar weiß wohl noch, wo die guten und wo die schlechten Äcker liegen? Dieses Wissen dürfte sich verloren haben, ersetzt vielleicht um das heute viel wichtigere Wissen, was als Bauland ausgewiesen ist und was nicht. Es ist wie mit der Umgehungsstraße: unsere Wahrnehmung gleitet und wir nehmen es nicht wahr.
Jetzt sind wir am gelben Ortsschild.
Rechts liegt immer noch der Jahn-Sportplatz. Da mussten wir als Schüler unsere Runden drehen. Gerade in den ersten Jahren ging es noch ziemlich militärisch zu. Antreten nach Größe, Liegestütze für Faulenzer, abtreten. Im Geiste des Turnvaters Jahn, der das Vaterland vor den Franzosen gerettet hatte, wie wir vom Sportlehrer erfahren durften. Wer wohl heute noch weiß, wer der Turnvater Jahn war? Wie komisch würde das paramilitärische Getue auf Jugendliche dieses Jahrhunderts wirken? Wir kannten Turnunterricht (ja, es hieß »Turnen« im Zeugnis, erst später »Sport«) nicht anders, aber es war da doch ein diffuses Unbehagen gegenüber einem Umgangsstil, an dem sich seit 1945 im Kern kaum etwas geändert hatte. Diffuses Unbehagen, das beschreibt vielleicht ganz gut eine Grundstimmung meiner Kindheit.
Hier auf dem Jahn-Sportplatz waren wir aber gern, um den Sportheroen meiner frühen Jahre zuzusehen, unseren Messis, Ronaldos, Müllers und Lewandowskis. Champions League gab es nicht, von spanischen oder englischen Supervereinen hatten wir nicht einmal die Namen gehört, und selbst die Bundesliga war noch nicht gegründet. Unsere Helden spielten Feldhandball im Turn- und Sportverein Hofgeismar und hießen Weisel, Enzeroth, Weiland oder Schorn. Besonders Schorn. Der war zugezogen, hatte nach Hofgeismar eingeheiratet, aber das machte nichts, weil er den Ball über das halbe Spielfeld werfen konnte. Das soll ihm erst mal einer nachmachen, heute, wo niemand mehr Feldhandball spielt, sondern allenfalls Hallenhandball. Von Sportlern außerhalb Hofgeismars habe ich lange Zeit nichts gehört. Die Fußballweltmeisterschaft 1954 muss an mir vorübergegangen sein, vermutlich, weil ich früh ins Bett gesteckt wurde und wir keinen Fernsehapparat hatten. Nur Uwe Seeler vom HSV aus der Oberliga Nord, den kannte ich früh, denn mein Vater hatte mit dessen Vater im Arbeitersportverein gekickt und es gewiss an die hundert Male erzählt.
Ich habe viel später in Marokko erlebt, dass sich die Männer des Landes spalteten in Anhänger von FC Barcelona und Real Madrid im nahen und doch ganz unerreichbaren Spanien. Leidenschaftlich spalteten, in allen Cafés, in denen ich Fußballübertragungen mit diesen spanischen Clubs im Fernsehen ansah. Fußball global. Damals in Hofgeismar waren die sportlichen Frontlinien lokal, nicht einmal national und längst nicht global. Da gab es neben den schon erwähnten Handballern die Fußballer, meist weniger erfolgreich, und natürlich die Turner, manchmal wie z.B. die Familie Schildknecht Turner in dritter Generation, genealogisch also bis fast auf den Turnvater Jahn zurückreichend. Irgendwie, so scheint mir nachträglich, waren fast alle in einem Verein, was natürlich nicht unbedingt bedeutete, dass man Sport trieb, aber allemal unbedingt dazu verpflichtete, beim Sportlerball anwesend zu sein.
Heute jedenfalls liegt der Jahn-Sportplatz verwaist, die Aschenbahn ist mit Gras überwachsen und die Bäume, hinter deren Stämmen man sich mit etwas Glück damals vor dem Sportlehrer verstecken konnte, um sich einige Runden beim 3000-Meter Lauf zu ersparen, sind noch dicker geworden. Es gibt einen neuen Sportplatz, besser gelegen.
Dann auf der rechten Seite sauber aufgereiht Wohnhäuser aus den fünfziger Jahren in dem, was die Architekturhistoriker »Heimatschutzstil« nennen: Längsseite, rechter Winkel, Querseite, drüber ein Satteldach mittlerer Neigung, so wie unbegabte deutsche Kinder eben ein Haus zeichnen. Auch hier hat die Stunde null nichts verändert.
Dann kommt ein »Kreisel«, ein Kreisverkehr mit sorgfältig begrünter Verkehrsinsel und darauf in großen Lettern: »Willkommen in Hofgeismar«. Kreisel sind praktisch, weil sie Stoppschilder und Ampeln vermeiden. In Frankreich gibt es in jedem Dörfchen einen Kreisverkehr, gern auch mehrere. Die Verkehrsinselvegetation ist höchst unterschiedlich. In den USA gibt es kaum Kreisel, warum, weiß niemand. In Hofgeismar gab es früher auch keine. Und niemand wurde schon von weitem willkommen geheißen. Viele Bürger meinten im Gegensatz zum letzten Bürgermeister, man hätte auch weiterhin darauf verzichten können, und gaben ihm deshalb den Spitznamen »Kreisel-Henner«. Aber die Hofgeismarer sind seit je nicht eben versessen auf Neues. »Wat de Bur nich kennt, dat frett hei nich.« Und Bauern gab es hier ja viele.
An den Kreisel grenzt die Manteuffel-Anlage, die »Kaserne«, wie sie kurz hieß. Das ist, gemessen an der Stadtgröße, ein sehr weitläufiges, beinahe zentral gelegenes und für Hofgeismar seit langer Zeit bedeutendes Areal. Vertraut man der Stadtgeschichtsschreibung, dann war Hofgeismar seit über 775 Jahren Garnisonsstadt, also Armeestandort. So tief ins verwirrende Halbdunkel der Historie zu schauen, darf man ruhig den Spezialisten überlassen. Aber dass die Mehrheit der Bürger bis vor kurzer Zeit stolz darauf war, in einer Garnisonsstadt zu leben, dafür gibt es viele Belege.
Die erste Kaserne wurde ab 1838 mit einem »palastartigen Hauptgebäude« errichtet (König, S. 39), damals für die kurhessischen Husaren. Nur Spezialisten kennen noch den Unterschied zwischen Husaren, Dragonern und Kavallerie, man weiß allenfalls, dass das alles mit Militär und mit Pferden zu tun hat. Das änderte sich auch nicht, als ab 1866 die kurhessischen Husaren zu preußischen wurden. Hofgeismar war als ländlicher Standort gut für die Pferde. Für Soldaten, so scheint es, weit weniger. Hofgeismar war gern mal der Ort für eine Art Strafversetzung. So schon 1848, als der hessische Kurfürst seine unbeliebte Leibwache, die besonders brutal gegen die aufständischen Bürger vorgegangen war, aus der Schusslinie nahm, indem er sie nach Hofgeismar versetzte. Das blieb auch in der preußischen Zeit so, als ein Husarenregiment aus den Großstädten Frankfurt und Mainz nach Hofgeismar, also von Rhein und Main an die Esse versetzt wurde, das »der Inbegriff der Öde und Abgeschiedenheit war«. (König, S. 47) Über die materiellen Bedingungen dort wurde immer wieder Klage geführt. Sie seien primitiv und der gesellschaftliche Verkehr sehr eingeschränkt, von anderen Vergnügungen mit Ausnahme der Jagd ganz abgesehen.
Das Regiment wurde auf Kaisers Geheiß hin bald nach General-Feldmarschall von Manteuffel benannt, was wenig zu bedeuten hatte, denn der Pate war nur ein einziges Mal in Hofgeismar, wo ewig dankbar immer noch zwei Straßen und das ehemalige Kasernengelände nach ihm heißen. Die Verehrung all’ dessen, was eine Uniform trug, möglichst mit viel Lametta, war dem Geist der Zeit geschuldet und gewiss keine Hofgeismarer Besonderheit. Die Besonderheit war vielmehr die ökonomische Bedeutung, die das Regiment mit seinen 520 permanent stationierten Unteroffizieren und Soldaten sowie den ca. 600 Pferden für die kleine Stadt hatte. Es war wohl so, dass beim damaligen Produktionsstand der Landwirtschaft die Bauern der Stadt und der Randgemeinden allein von den Aufträgen der Garnison leben konnten, vom Erlös aus dem Verkauf der Pferde ans Militär ganz abgesehen. Ackerbau und Militär, das passte gut zusammen, die Fabrikschlote waren so weit entfernt wie die Mietskasernen und die Proleten.
Das Ende des Ersten Weltkriegs machte erst einmal Schluss mit der Soldatenherrlichkeit zu Pferde, aber Hofgeismar schaffte es auch unter den Bedingungen des durch den Versailler Vertrag auf 100000 Mann reduzierten Heeres, wieder Garnisonstadt zu werden. Die Pickelhauben waren durch den Stahlhelm ersetzt, die schönen blauen Uniformen durch feldgraue, aber sonst hatte sich unter dem Helm wenig verändert. Es waren dann ausgerechnet die Nationalsozialisten, die Schluss machten mit den Soldaten zu Pferde. Das Reiterregiment 16 wurde zur »Kraftfahrkampftruppe«, die Soldaten in Hofgeismar gehörten fortan zur Nachrichtenabteilung oder zum Postschutz. Militarisierung der Gesellschaft geht auch ohne Pferde.
Über das Schicksal der Kaserne zwischen 1945 und 1947 ist wenig zu erfahren, wenig von den Historikern, aber auch wenig aus den privaten Erzählungen. Meine ganze Kindheit und Jugend über wusste ich nicht, dass die Kaserne über zwei Jahre ein DP-Camp war, ein Lager für »Displaced Persons«, zumeist wohl Juden aus Osteuropa, die der Shoah entkommen waren. Es lag 200 Meter entfernt von meinem Elternhaus. Wie muss es den »Displaced persons« gegangen sein im Land der Täter, die es auf einmal nicht mehr gewesen sein wollten? Wie viele waren sie? Wie wurden sie ernährt? Wie viele wanderten nach Israel aus? Hatten sie an Todesmärschen teilgenommen? Vielleicht mussten sie deshalb aus dem Gedächtnis und aus den Erzählungen gestrichen werden, weil sie die Scheidung in ein zu vergessendes »Damals« vor 1945 und das »Heute«, das am 8. Mai 1945 begann, verwischten?
Deutschland, das im Westen und das im Osten, hatte bald nach der Kapitulation wieder Verwendung für Soldaten. Zuerst kamen sie grün-paramilitärisch als Bereitschaftspolizisten daher und wurden dann auch wieder in den Kasernengebäuden untergebracht. Die Polizei nutzte die Kaserne noch bis 1960, dann zog die neu gegründete Bundeswehr in die allmählich baufällig werdenden Gebäude ein. Hofgeismar war wieder Standort und die Kaserne wieder Kaserne. Und die Armee trug wieder zum ökonomischen Wohlergehen der Stadt bei. 600 Soldaten waren es am Ende, die ihren Sold dort ausgaben, ihre Autos dort reparieren ließen, Zehntausende Kilo Fleisch, Wurst, Kartoffeln, Gemüse in der Truppenküche verzehrten, Arbeitsplätze schufen. (König, S. 75) In den achtziger Jahren brachte man die Kaserne noch einmal richtig in Schuss, bevor dann ohne einen Schuss die Mauer fiel und man glaubte, mangels Feind zahlreiche Standorte schließen zu können. Am 8. Juni 1993 wurde der langen Tradition der Hofgeismarer Husaren, Dragoner und selbst der schon vom Namen her weniger glänzenden »Instandsetzungsausbildungskompanie« der Bürger in Uniform der letzte Zapfenstreich geblasen.