Extrem

Hanns-Christian Gunga

Extrem

Was unser Körper zu leisten vermag

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Hanns-Christian Gunga

Hanns-Christian Gunga, geboren 1954, ist Geologe-Paläontologe und Facharzt für Physiologie sowie Professor für Weltraummedizin und extreme Umwelten an der Charité in Berlin. Er hat Studien in ghanaischen Goldminen, auf der chilenischen Hochebene und auf der Raumstation ISS geleitet. In seinem neuen Buch erzählt er von den Abenteuern, den überraschenden Erkenntnissen und den neuen Fragen, vor die ihn seine Forschung gestellt hat – eine Reise in den menschlichen Körper unter extremen Bedingungen.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Der Weltraummediziner und Physiologe Hanns-Christian Gunga beobachtet den menschlichen Körper unter physischen und psychischen Extrembelastungen – und erklärt, warum die Wissenschaft längst noch nicht alle Geheimnisse gelüftet hat:

Wie wirkt sich Isolation auf unseren Körper aus? Was machen die Arbeit unter Tage, monatelange Schwerelosigkeit oder Flüssigkeitsmangel mit uns? Und wie ist es möglich, dass Körpertemperatur, Blutdruck und Pulsfrequenz auch unter so extremen Bedingungen nur minimal variieren?

Eine Reise in unbekannte Tiefen, schwindelerregende Höhen und tief hinein ins menschliche Innenohr.

Impressum

Originalausgabe

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114,

D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hißmann, Hamburg

Coverabbildung: istockphotos

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491196-0

Sie denkt. Sie lenkt. Sie schenkt.

Dieses Buch handelt von Menschen in extremen Umgebungen und den Grenzen ihrer Belastung. Ich habe als Astronaut bei der Europäischen Weltraumorganisation ESA nahezu ein Jahr in einer sehr extremen Umgebung zugebracht – dem All. Ohne technische Hilfsmittel ist hier ein Leben nicht möglich – und ohne permanente Unterstützung eines hochqualifizierten Teams sowohl am Boden als auch auf der Raumstation ebenfalls nicht. Eine umfassende theoretische und praktische Vorbereitung für einen Aufenthalt auf der Internationalen Raumstation ISS ist unabdingbar, genauso wie die Bereitschaft, sich auf ein Abenteuer einzulassen. Ein intensives Training hilft, sich gerade in den ersten Wochen in dieser neuen Umwelt zurechtzufinden. Auf der ISS, aus der Perspektive eines sehr entlegenen »Lebensraumes«, ist mir erst richtig bewusst geworden, welch enormer technischer und logistischer Aufwand nötig ist, um ein lebensfähiges Habitat für den Menschen außerhalb der Erde zu schaffen. Umso mehr habe ich – gerade als Geowissenschaftler – die natürlichen Ressourcen unseres Planeten Erde zu schätzen gelernt. Das wird spätestens beim ersten Blick aus dem Fenster eines Raumschiffes klar. Dort unten stehen Sauerstoff, Wasser, Nahrungsmittel »einfach so« zur Verfügung – noch. Aber diese Verfügbarkeit wird zunehmend bedroht durch den Menschen selbst. Nicht nachhaltige Nutzung der Ressourcen, Umweltverschmutzung und

ESA-Astronaut Dr. Alexander Gerst auf der Raumstation ISS bei der Durchführung eines Experimentes zur kontinuierlichen Erfassung der Körpertemperatur (Quelle: European Space Agency, ESA)

Wie reagiert der Körper auf monatelange Schwerelosigkeit, auf den arktischen Winter, auf sauerstoffarme Höhenluft, auf große Hitze oder Flüssigkeitsmangel? Wie ist es möglich, dass etwa Körpertemperatur, Blutdruck oder Pulsfrequenz auch unter extrem unterschiedlichen Bedingungen nur vergleichsweise minimal variieren? Die Wissenschaft hat noch längst nicht alle Geheimnisse des Lebens gelüftet.

Was Menschen zu leisten vermögen, über welche enorme Anpassungsfähigkeit der menschliche Körper verfügt, gibt auch der Medizin immer wieder Rätsel auf. Trotz aller Fortschritte in der medizinischen Forschung, trotz aller diagnostischen und therapeutischen Erfolge, wirft das Leben bis heute Fragen auf, die wir noch nicht beantworten können – deren Beantwortung aber sowohl für die Prävention als auch für die Therapie von Krankheiten ungeheuer wichtig wäre. Nehmen wir zum Beispiel die neuesten Erkenntnisse der Bluthochdruckforschung: Bei Isolationsstudien im Vorfeld zu Langzeitmissionen ins All hat sich überraschend gezeigt, dass die Haut offensichtlich als ein beachtlicher Speicher für Kochsalz im Körper dient. Wer diesen Speicher etwa aus genetischen Gründen nicht aktivieren kann, wird eher unter Bluthochdruck leiden. Nicht ausgeschlossen, dass in Zukunft Pharmakologen ein neues Medikament entwickeln, dass zur Blutdruckregulation therapeutisch in diesen Salzhaushalt der Haut eingreift. Sollten

Gerade Extremsituationen, zum Beispiel solche Ereignisse wie Pandemien, Hungersnöte, Hitzewellen oder die vollkommene Isolation eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen offenbaren oftmals überraschende Zusammenhänge, die uns in Demut erkennen lassen, dass der Mensch in Teilen immer noch ein »unbekanntes Wesen« ist. Die extreme physische und psychische Belastung kann dabei unwillentlich erfolgen, etwa im Rahmen einer Naturkatastrophe, oder willentlich aus beruflichen, sportlichen oder touristischen Gründen. Die medizinische Erforschung des Lebens in solchen extremen Umwelten, von denen der Weltraum zweifellos die lebensfeindlichste darstellt, ist deshalb alles andere als ein medizinisches Orchideenfach; sie motiviert uns, die Grenzen unseres Wissens zu überschreiten, um neue Erkenntnisse zu erlangen.

»Das ist ja schön und gut«, mögen Sie, verehrte Leserin, lieber Leser, nun einwenden. Aber was genau heißt das? Was, im Namen des Hippokrates, ist und macht ein Physiologe? Jeder weiß, womit sich ein Kardiologe, ein Orthopäde, ein Augen- oder Hautarzt beschäftigt. Viele wissen, was ein Onkologe oder ein HNO-Arzt beruflich so treibt, auch Pneumologen, Visceralchirurgen und – aufgrund ihrer aktuellen Medienpräsenz – Virologen mag man vielleicht noch kennen. Aber einen »Facharzt für Physiologie« wird wohl noch kaum jemand konsultiert haben. Entsprechend wurde ich schon als Physiotherapeut, Physiker, Psychologe oder Philologe eingeordnet, und freundliche Menschen machten mir Bücher über Astronomie, Astrologie und Demenz zum Geschenk. Aber dass die Berufsbezeichnung derart unbekannt ist, liegt gewissermaßen in der Natur der Sache. Wenn man so will, bin ich ein Arzt für Gesunde – etwa für die ja vergleichsweise topfitten Astronauten auf der Raumstation

Wie aber erklärt sich bei allen biologisch-physiologischen Gemeinsamkeiten solche Unterschiedlichkeit? Und welche Lehren lassen sich daraus ziehen? Geht man diesen Fragen auf den Grund, wird schnell deutlich, dass die Antworten nicht allein von Medizin, Biologie oder Physiologie gefunden werden können. Um das »unbekannte Wesen« Mensch besser zu verstehen, ist tatsächlich ein ganzheitlicher Ansatz erforderlich, der viele andere Wissensgebiete, von der Geologie bis zur Astronomie, von der Paläontologie bis zur Psychologie, einschließt, der aber bei den deshalb erforderlichen »Ausflügen« in andere Wissenschaften stets den Körper des Menschen in den Mittelpunkt stellt. (»Das stimmt ja gar nicht«, würde meine Frau an dieser Stelle einwenden, »es werden ja meistens nur Männer untersucht!« Sie hat, mindestens was die Vergangenheit angeht, nicht unrecht.) Inwiefern also die eine oder andere »medizinfremde« Erkenntnis oder Beobachtung zum Verständnis unseres »Soseins« beiträgt, wird vielleicht nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich – und erfordert hin und wieder ein gewisses Durchhaltevermögen. Manchmal fügen sich die Dinge – Was hat unser Herz-Kreislauf-System, unsere Temperaturregulation oder unser Flüssigkeitshaushalt mit dem Urknall

Das Verb »erzählen« ist mit Bedacht gewählt. Zwar werde ich auf manche Fachausdrücke nicht verzichten können. Mein Anliegen hier ist aber kein primär wissenschaftliches. Und meine Adressaten sind nicht in erster Linie die geschätzten Kolleginnen und Kollegen, sondern im Grunde jede und jeder an den Wundern des Lebens Interessierte. Rätselhafte Phänomene aufzuklären ist eine spannende, häufig anstrengende und nicht selten abenteuerliche Aufgabe. Wenn es mir gelingt, dies im Folgenden hinreichend anschaulich machen zu können und damit einen bescheidenen Beitrag zum besseren Verständnis des Menschen, im Grunde alles Lebendigen, zu leisten – was zu beurteilen jeder Leserin und jedem Leser vorbehalten bleibt –, würde ich mich glücklich schätzen.

 

Hanns-Christian Gunga, im Juni 2021

Mein Weg zur Physiologie

Wie kommt der Sohn einer evangelischen Pfarrersfamilie dazu, Geologe, Mediziner und Physiologe zu werden? Und was hat die Physiologie, die Wissenschaft von den Funktionen und Abläufen in den Zellen und Organen aller Lebewesen, mit der Entstehung und Entwicklung des Universums, unseres Sonnensystems und unseres Planeten zu tun? Ein persönlicher Rückblick.

Ich hatte der Biologielehrerin einmal im Unterricht von meiner Begeisterung für das Fossiliensuchen erzählt. Da war ich ungefähr zwölf. Kurz darauf rief der Schulrektor bei uns

Pfarrkränzchen im elterlichen Pfarrhaus ca. 1966

Mit Feldbuch, Hammer, Meißeln und der Lokalzeitung im Rucksack – »Der Patriot« eignete sich hervorragend zum

Einem anderen, weniger direkten Mentor bin ich ebenfalls dankbar. Es muss in der Mitte der sechziger Jahre gewesen sein – zu Zeiten, in denen das Fernsehen noch schwarzweiß war. Emma Peel jagte in der Krimiserie Mit Schirm, Charme und Melone in fabelhaften Overalls als Agentin Verbrecher, das Raumschiff Orion plante den Rücksturz zur Erde, im Westdeutschen Rundfunk wurde die Sendung zur Entstehung der Arten gezeigt, und im ZDF lief die Fernsehreihe Unser blauer Planet. Ein weißhaariger Physiker mit eigenwilliger Intonation berichtete aus einem kargen Studio über die Naturgeschichte der Erde. Meistens saß er hinter einem Schreibtisch, die Kamera direkt auf ihn gerichtet, auf einem Drehstuhl, der ihm geringe, aber pointierte Änderungen der Blickrichtung zum Zuschauer ermöglichte, wenn es ihm notwendig erschien, die Aufmerksamkeit besonders zu fördern. Sein Sprachfluss war minimal verlangsamt. Er behielt die Zeit genau im Auge und trug stets eine ans innere Handgelenk gedrehte Armbanduhr, auf die er zwischendurch einen flüchtigen Blick werfen konnte. Alles sehr kontrolliert. Im Hintergrund standen im Studio vereinzelt Pinnwände mit Bildern auf Pappkarton, eine Tafel, vielleicht auch mal ein Globus, aber stets vor ihm auf seinem Schreibtisch: ein schneeweißer DIN-A1-Block mit dicken Kohlestiften. Hierauf skizzierte der Moderator, Heinz Haber, anschaulich komplizierte Planetenbahnen und erläuterte physikalische Gesetze. Nur ausnahmsweise verließ er den Platz hinter dem Schreibtisch und schrieb das Erklärte

Was war das Faszinierende, das Besondere an ihm? Er hat kosmologisches und astronomisches mit geologischem Wissen der Erdgeschichte verknüpft. Das war neu. Diese Einbeziehung der Erde hat die entferntesten Galaxien, die Strahlung im All und von der Sonne nah an den Zuschauer herangebracht. Er sprach über Themen, die im schulischen Lehrplan so gut wie keine Berücksichtigung fanden. Was Haber berichtete, evozierte Staunen und Erstaunen, indem er die wunderlichsten Dinge so erklärte, dass man glaubte, in tiefe Geheimnisse eingeweiht zu werden. Er hat das Komplizierte scheinbar einfach gemacht, ohne es zu trivialisieren. In Wahrheit blieb natürlich auch bei ihm vieles rätselhaft, aber gerade das (noch) nicht Enträtselte machte seine Sendung oft spannend wie einen Krimi, und die Kargheit des Studios lenkte das Interesse auf das Wesentliche.

Was ich damals noch nicht wusste: Haber hatte über Jahre hinweg eng mit dem renommierten Physiologen Otto Gauer (19101979) zusammengearbeitet. Der hatte das Physiologische Institut an der Freien Universität Berlin in den sechziger Jahren mit aufgebaut und zu einem Zentrum medizinisch-physiologischer Forschung von überregionaler Bedeutung gemacht. Otto Gauer war Kreislaufphysiologe und interessierte sich für die Auswirkungen von Gravitationskräften auf das Herz-Kreislauf-System des Menschen, insbesondere auf die Durchblutung des Gehirns. Durch seine Experimente kam er zu dem (richtigen) Schluss, dass die plötzlich eintretende Bewusstlosigkeit von Piloten,

Direkt nach dem Krieg war Gauer, mit Haber und anderen führenden Luft- und Raumfahrtwissenschaftlern, in den Gebäuden des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts in Heidelberg von den Amerikanern interniert worden, auch um sicherzustellen, dass diese Experten nicht in die Hände der Sowjets fielen. Gemeinsam arbeiteten die beiden während der Internierung in Heidelberg an dem Buch German Aviation in World War II und an einer theoretischen Arbeit mit dem Titel Man under gravity-free conditions – der weltweit ersten Publikation, die sich mit den möglichen Auswirkungen der Schwerelosigkeit auf den menschlichen Körper beschäftigte. Anfang der 1950er Jahre wurde Otto Gauer mit über 60 anderen Wissenschaftlern und Technikern in einer geheimen, von den Amerikanern durchgeführten Aktion namens »Operation Paperclip« über Mexiko in die Vereinigten Staaten gebracht. Dort hatten sie die Aufgabe, den Auf- und Ausbau des amerikanischen Luft- und Raumfahrtprogramms der NASA zu unterstützen. Erst 1960 kehrte Gauer aus den USA nach Deutschland zurück – gemeinsam mit Heinz Haber.

Dessen gleichnamiges Taschenbuch zur Sendung Der blaue Planet war das erste wissenschaftlich ausgerichtete Buch, das ich in einem Zug durchgelesen habe. Die darin behandelten Themen faszinierten mich, machten mich

Nicht allzu überraschend fand alsbald ein kleines Teleskop seinen Weg in den elterlichen Garten. In den Wintermonaten gestattete unser Grundstück nach Süden hin einen ausgezeichneten Blick auf Orion, seinen Nebel und die Planeten hoch am Himmel. Unter den paläontologischen Büchern nahm Herbert Wendts Ehe die Sintflut kam sicherlich eine besondere Stellung ein, sonst hätte ich es mir nicht antiquarisch Jahrzehnte später wieder besorgt, dieses bibeldicke Buch mit zwei Seelilien aus dem Jura auf dem gelb-weißen Umschlag – Seelilien, die aus der Sammlung des Urwelt-Museums Hauff stammten. Die Geschichten und Erzählungen zur Paläontologie, das verstehe ich heute, waren offensichtlich eine willkommene Flucht aus der Enge des elterlichen Pfarrhauses – und weckten meinen Wunsch, Paläontologie zu studieren. Physiologie als Fachgebiet war mir damals so dunkel und weit weg wie das Präkambrium.

Es begann also mit Tagträumen beim Fossiliensuchen am

Gleichwohl war unser Zuhause ein offenes Haus. Betrat man es, hing dort im Windfang, der durch eine Pendeltür vom Innenraum des Hauses abgetrennt war, ein kleines, wirklich bescheidenes, einfaches Kreuz und daneben eine farbige geologische Karte des Sauerlands im Maßstab 1:200000. Mit farbigen Stecknadeln waren darauf Fundorte für Fossilien und Mineralien in der Umgebung markiert. Der eine oder andere Besucher verweilte ein wenig irritiert davor, bis die Erklärung folgte, dass dies das Hobby eines der Kinder sei. Die Besucher traten, derart aufgeklärt, dann ins Pfarrhaus ein und wurden ins große »Herrenzimmer« linker Hand geführt. Zu jeder Tages- und Nachtzeit konnte dies passieren. Pfarrhaus, Pfarrer, Pfarrfamilie und Gemeinde

Wenn es die weitere Gemeindearbeit in der Woche zuließ, fuhr er mich zu Veranstaltungen in verschiedenen Volkshochschulen in der Region, so dass ich mehr über die Geologie unserer Umgebung erfahren konnte. Ich würde heute zu gern wissen, was er sich damals dabei gedacht hat,

Mutter war intellektuell, schnell, schlagfertig, scharfsinnig, und ihrer Beobachtungsgabe entging nichts. Sie besaß eine kolossale Empathie für geistig und körperlich Behinderte, baute allerdings in der Familie einen starken Bindungsdruck auf, dem ich mich irgendwie entziehen konnte – oder sie ließ dieses Sich-Entziehen bei mir aus irgendeinem Grund eher zu; meinen Geschwistern gelang dies nach eigenen Angaben nur bedingt, um es ein wenig euphemistisch ausdrücken. Sie achtete penibel darauf, dass die Vorbildfunktion des Pfarrhauses nicht angekratzt wurde. Ein aufschlussreiches Beispiel hierfür stellt ein banaler Möbeltransport dar. Ich hatte bei dem Bundeswettbewerb »Reporter der Wissenschaft« den Sonderpreis des Rundfunks gewonnen und mir von dem Preisgeld bei einem Trödler in Lippstadt einen Schreibtisch aus Eiche mit zahlreichen Schubfächern und einem hübschen Furnier gekauft. Als es um den Transport des Objekts nach Münster ging, bat ich einen Studienfreund darum, mir seinen geräumigen Mercedes Kombi dafür zu leihen, was dieser auch tat. So fuhr ich von Münster nach Hause und parkte den Wagen direkt vor dem Elternhaus. Nun ja, zugegebenermaßen, war es kein

Zum Leben war zu Hause immer genug da. Die Eltern waren Stolz darauf, zu sagen, dass jeder von uns 20 Semester studieren könne – nur Achtung, auch hier wurde engmaschig kontrolliert; Arbeiten, Scheine, Examina, alles war vorzuweisen, nicht erst auf Nachfrage. Brauchte man zusätzlich Büchergeld, auch kein Problem, aber bitte nur gegen Quittung. Und wir? Wir hatten auch kein Problem, diese Vorgabe von 20 Semestern umzusetzen. Überlappend studierte mein Bruder erst Theologie, dann Medizin, meine Schwester zunächst Psychologie und wechselte dann vor dem Abschluss in die Theologie, und ich begann zunächst mit dem Geologie-Paläontologie-Studium, dann in den höheren Semestern kam die Medizin hinzu.

In das Medizinstudium bin ich tatsächlich eher beiläufig geraten, im Anschluss an ein Gespräch mit einer

Die ganze Angelegenheit mit dem Studienplatz behielt ich für mich. Es gab damals allzu viele Studenten, die sich eigentlich nur in das Geologie-Studium einschrieben, um Grundlagenfächer wie Biologie, Chemie und Physik belegen zu können. Nach dem Erwerb dieser Scheine bestand für sie die Möglichkeit, sich dann in höhere Semester für das Medizinstudium einzuklagen. Das wurde verständlicherweise am Geologie-Institut nicht so gern gesehen, und mit jenen Studenten wollte ich mich nicht gemein machen. Allerdings

Von den optionalen Veranstaltungen, die ich in dieser Zeit belegte, blieb mir besonders der Kurs zur Darstellung von Wissenschaft in Film und anderen Medien in Erinnerung. Dieses spezielle Interesse verdankte sich nicht nur meiner jugendlichen Begeisterung für die Sendungen von und mit Heinz Haber, sondern es rührte auch daher, dass ich in den siebziger Jahren mit dem Dokumentarfilmer Martin Schliessler aus Baden-Baden Kontakt aufgenommen hatte. Seine interessanten Berichte über riskante Expeditionen – vornehmlich zu Ostern und Weihnachten im Fernsehen gesendet – hatten mein Interesse geweckt. Er folgte in seinen Dokumentarfilmen Alexander von Humboldt den Orinoco hinauf oder bestieg auf seinen Spuren den Chimborasso. Er verdiente sein Geld mit solchen Reportagen und Vorträgen, die ihn in die entlegensten Orte auf diesem Planeten brachten. Das gefiel mir.

Der Kontakt mit Schliessler half mir, meine eigenen Reiseberichte für Zeitungen, Zeitschriften und Vortragsabende über Marokko zu professionalisieren. Ein Land, das gut in ein paar Tagen zu erreichen war und zudem – aus damaliger Sicht – für viele Bundesbürger noch als relativ exotisch

Als nach sechs Semestern die Geländearbeit für die geologische Diplomarbeit näher rückte, entschied ich mich naheliegend für eine Arbeit im Antiatlas Marokkos. Alle Vorbereitungen und Genehmigungen des Ministère de Mines in Rabat lagen vor, da brach im Frühjahr 1976 endgültig der schwelende Westsaharakonflikt aus. Marokko führte Krieg gegen die Frente Polisario, die Freiheitskämpfer der Sahrauis, der Bevölkerung in dieser Region an der Atlantikküste Nordwestafrikas. Sie hatten nach dem Abzug der ehemaligen Kolonialmacht Spanien ein Jahr zuvor die Demokratische Arabische Republik Sahara ausgerufen und damit das Königreich Marokko herausgefordert. Diese politischen Entwicklungen machten alle meine Planungen zunichte, und ich war gezwungen, eine Alternative zu suchen.

Zusammen mit Stephan, einem Freund aus Jugendtagen, übernahm ich daraufhin eine geologische Kartierung der Montes de Toledo in Zentralspanien. Für mehrere Wochen schlugen wir in Porzuna, einem winzigen Dorf in der

Und natürlich ließ sich am Tapeziertisch nicht nur gut arbeiten, sondern auch prächtig tafeln – die Dorfjugend nahm daran begeistert teil, und mancher Abend endete später in der einzigen Bar des Dorfes an der Plaza Central bei Los Hermanos. Wir schienen eine willkommene Abwechslung zu sein. Die örtlichen Vertreter der Guardia Civil mit ihrem für uns komisch anmutenden Tricornio, lackierten Dreispitz-Hüten mit einem trapezförmigen Hutaufschlag am Hinterkopf, interessierte eher die Arbeitserlaubnis für unser seltsames Treiben in Porzuna. Aber hierauf waren wir gut vorbreitet gewesen. Ein entsprechend voluminös abgestempeltes Schreiben auf Spanisch aus Münster und Madrid hatten wir griffbereit.

Nach Erhalt des Diploms wurde mir dann die besagte Halbtagsstelle im Geologischen Institut angeboten, um dabei mitzuhelfen, hochauflösende Aufnahmen der APOLLO-15-, -16- und -17-Missionen fotogeologisch auszuwerten. Die Arbeit war eingebunden in den Sonderforschungsbereich (SFB) Planetologie »Erde-Mond-System« an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Der SFB untersuchte die Frage, ob der Mond am Anfang seiner Entwicklungsgeschichte vollständig geschmolzen war oder sich aus kalten, umherirrenden Trümmerteilen in der Frühphase des Planetensystems gebildet hat. Wie aktuell diese wissenschaftliche Frage noch heute ist, mag man daran

Für diese Arbeit wurden wir zunächst heftig kritisiert, als allgemein akzeptierte Lehrmeinung galt, dass der Mond kalt ist und immer kalt war. Dreißig Jahre später – im Jahr

Ich nahm daraufhin für einige Monate eine noch offene Assistentenstelle im Paläontologischen Institut an und grub für ein Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Sauerland Iguanodonten – schlicht gesagt: Dinosaurierknochen – aus der Kreidezeit aus, die zur Rekonstruktion einer ungewöhnlichen Fossillagerstätte bei Brilon führten. Eine nüchterne Analyse der eigenen Situation ergab: Ambitionen auf eine Promotion in Münster kannst du getrost vergessen, was auch hieß: Schließ mit der Geologie-Paläontologie ab und konzentriere dich auf das Studium der

Um aus der persönlich misslichen Lage in Münster herauszukommen, schien mir zunächst ein Studienplatz-, genauer: ein Ortswechsel angebracht, im heutigen »Beratersprech« eine Disruption, möglichst schnell, möglichst weit weg – von Münster. Klingt einfach, war und ist aber auch heute im Medizinstudium nicht so leicht zu arrangieren, denn man muss einen Tauschpartner finden. Ich fand ihn, genauer gesagt sie, 1984 in Berlin. Ich war zuvor nur einmal, kurz vor meinem Abitur 1973, in tristen, nebligen,