Ferda Ataman
Ich bin von hier.
Hört auf zu fragen!
FISCHER E-Books
Deutsche heißen Günter und Gaby, aber eben auch Fatma und Fatih.
Wie viele andere Deutsche, die mit einem ausländischen Namen aufgewachsen sind, reißt Ferda Ataman langsam der Geduldsfaden. Sie hat es satt, dauernd erklären zu müssen, wo sie eigentlich herkommt, wie sie zu Erdogan steht oder was sie vom Kopftuch hält. Nur wegen ihres Namens oder des Geburtslandes ihrer Eltern. In ihrer pointierten Streitschrift stellt Ataman fest: »Wir haben ein Demokratieproblem, kein Migrationsproblem. ABER: Wir sind weltoffener, als wir denken. Also Schluss mit Apokalypse.«
Erschienen bei FISCHER E-Books
© 2019 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main
Covergestaltung: c/o QART Büro für Gestaltung Simone Andjelkovic
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-491114-4
Es ist schön, Menschen nicht auszuschließen. Also möchte ich gern alle Geschlechter in meinem Text ansprechen. Da es mehr gibt als männlich und weiblich, verwende ich das Sternchen (*), das unter jüngeren Leuten teilweise schon üblich ist. Falls Sie das nicht schon kennen: Ich verspreche, man gewöhnt sich daran.
Studie der Universität Bielefeld (IKG) »ZuGleich – Zugehörigkeit und Gleichwertigkeit«, 2019.
Zum Beispiel Stuart Hall, Étienne Balibar, Manuela Bojadzijev, Kien Nghi Ha und viele andere.
Türkisch für »Glückwunsch!«. Wie das jüdische »Maseltov«.
Sonderauswertung des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung: »Zusammenleben in kultureller Vielfalt: Vorstellungen und Präferenzen in Deutschland« (2017) und andere Umfragen.
Klaus J. Bade: »Die multikulturelle Herausforderung«, 1996 und »Kritik und Gewalt«, 2013
»Gespaltene Mitte. Feindselige Zustände«, Friedrich Ebert Stiftung, 2016
Friedrich-Ebert-Stiftung (Hrsg.): »Gespaltene Mitte, Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland«, 2016, Seite 46
Coşkun Canan und Naika Foroutan: »Deutschland postmigrantisch III. Migrantische Perspektiven auf deutsche Identitäten«, 2016
Es ist unmöglich, die Fackel der Wahrheit
durch ein Gedränge zu tragen,
ohne jemandem den Bart zu versengen.
Georg Christoph Lichtenberg (1742–1799)
Ich bin in Gostenhof aufgewachsen, einem Arbeiterviertel in Nürnberg. Meine besten Freundinnen hießen Miriam, Lotta und Gaby. Ich hätte vielleicht auch Freund*innen[1] mit türkischen Namen gehabt, aber die gab es in meiner Klasse nicht. Die meisten Migrantenkinder wurden damals in Ausländerklassen gesteckt. Ich bin da nur deswegen nicht gelandet, weil meine Mutter protestiert hat und darauf bestand, dass ich in die deutsche Regelklasse komme. Also zu Miriam, Lotta und Gaby.
Zwischen meinen Freundinnen und mir gab es keine nennenswerten Unterschiede, höchstens, dass ich eifersüchtig war auf Lottas Wendy-Abo. Bis zu einem gewissen Alter bleibt man verschont von der Integrationsmanie der Deutschen. Doch dann, irgendwann, merkst du, dass du anders bist als deine Freundinnen. Dass du fremden Leuten immer wieder erklären sollst, wo du herkommst. Und dass »Gostenhof« als Antwort nicht reicht, weil sie wissen wollen, wo du wirklich herkommst. Und dass die Leute erst zufrieden sind, wenn du »Türkei« gesagt hast. Oder dass dich Leute einfach so loben: »Du sprichst aber gut Deutsch. Wie kommt das?« Keine Ahnung.
Ich werde schon mein Leben lang gefragt, wo ich herkomme, nur weil ich Ferda heiße. Gut, mein Name ist tatsächlich ungewöhnlich und schwer einzuordnen. Würde ich Fatma heißen, würden die Leute vermutlich nicht fragen. Sie würden wissen, dass ich aus der Türkei komme. Das wäre auch nicht besser.
Liebe Ausschließlichdeutsche ohne Migrationshintergrund, hört bitte auf damit. Ich weiß, diese Fragen sind meistens keine böse Absicht. In unzähligen Diskussionen haben mir Leute erklärt, dass sie ein Zeichen für Interesse an der Person sind, ja sogar ein Fortschritt, weil sich Deutsche endlich trauen, auf Ausländer zuzugehen. Nur genau da liegt das Problem. Für mich sind die Fragen ein Zeichen dafür, wo mich die Fragenden verorten: nämlich unter nicht-deutsch. Unter nicht-von-hier.
Dabei ist das Kuriose: Mir wird das Deutschsein abgesprochen und etwas anderes geschenkt. Irgendwie halten mich alle für eine Türkei-Expertin und eine Islam-Gelehrte. Nur wegen meines Namens und dem Geburtsland meiner Eltern. Ist das nicht verrückt? Leute wie ich werden automatisch migrantisiert und muslimisiert.
Ich habe aber keine Lust, mein Leben lang zu erklären, wo meine Gene herkommen, wie ich zum türkischen Präsidenten stehe oder was ich vom Kopftuch halte. Ich verstehe gut, dass viele meiner Freund*innen mit Migrationszusatz den Nachnamen ihrer originaldeutschen besseren Hälfte annehmen und den Kindern Vornamen geben wie Nora, Lena oder Jakob. Sie wollen ihrem Nachwuchs die Ausbürgerung durch Fragen ersparen. Das ist quasi die Integrationsguerilla meiner Generation: Bald kann man an den Namen nicht mehr erkennen, wer migrationshintergründig ist und wer nicht.
An der Namensguerilla beteiligen sich mitunter auch Standarddeutsche, wofür ich ihnen sehr dankbar bin. Ich hatte früher in Ostberlin einen Weinhändler, der faszinierenderweise Mustafa Lehmann hieß. Faszinierend, weil Mustafas ureingeborene deutsche Eltern sich offenbar nichts dabei dachten, als sie ihrem Sohn in der DDR einen türkischen Vornamen verpassten. Sie fanden ihn einfach gut. Doch Mustafa sitzt damit im gleichen Boot wie wir. Auch er muss oft die Frage nach seiner Herkunft beantworten. Für mich sind seine Eltern wahre Integrations-Pioniere. Wenn mehr Volldeutsche ihren Kindern Namen mit Migrationshintergrund geben, wäre die Guerilla schneller effektiv. Irritation für Integration.
Natürlich werden nicht alle migrantisierten Menschen ständig gefragt. Mein Freund Mehmet sieht offenbar so aus, wie man sich in Deutschland einen Mehmet vorstellt. Und er sieht offenbar auch aus wie ein Islamexperte. Also wird er ungefragt für einen Türken und Religionsgelehrten gehalten, obwohl sein Türkisch nicht akzentfrei ist und seine Kenntnis über den Glauben bescheiden. Würde man ihn fragen, könnte er die Situation wenigstens aufklären.
Sie sehen schon, das mit den Fragen ist nicht leicht. Mein Tipp, falls Sie zu den Fragenden gehören: Lassen Sie sich nicht verunsichern. Ich will niemanden vom Smalltalk abhalten. Aber vielleicht könnten Sie bei Menschen mit internationalen Namen den gleichen Smalltalk führen, wie bei allem anderen auch: Wetter, Beruf, Straßenverkehr. Wenn Sie unbedingt Biografisches rauskitzeln wollen, empfehle ich zu fragen, wo der Name herkommt und nicht die Person. Das bürgert weniger aus. Nur in meinem speziellen Fall klappt das leider nicht so gut, da »Ferda« ein persischer Name ist. Also werde ich dann als Iranerin abgespeichert.
Wenn ich mit Leuten über die Wo-kommst-du-her-Frage diskutiere, wird es meistens ungemütlich. Ich glaube, weil über dem Thema unweigerlich die »Rassismus-Keule« schwingt. Aber das sollte uns nicht davon abhalten. Nur weil man eine mutmaßlich migrantische Person nach ihrer Herkunft fragt, ist man natürlich kein*e Rassist*in. Aber wer einwandfrei Deutsch sprechende Leute nur wegen ihres Namens oder ihres Aussehens woanders verortet, hat ein herkunftsdefiniertes Bild vom Deutschsein. Die Frage steht für eine zentrale Wahrnehmungsstörung im Einwanderungsland: Deutsch ist für viele nur, wer von Deutschen abstammt. Die gesellschaftliche Realität ist aber eine andere. Viele Dragans, Cemiles, Rafikis und Ceijas sind Deutsche und von hier. Punkt. Aus. Nix, aber von wo.
Meine Eltern kamen vor über 40 Jahren als »Gastarbeiter« aus der Türkei. Ich bin in Deutschland geboren. Für mich reicht das, um von hier zu sein. Mein Bedürfnis, das zu betonen, ist in den letzten Jahren gewachsen. Denn es wird immer deutlicher, dass Leute wie ich nicht in die Kategorie »Deutsche« fallen, sondern in die Kategorie »Überfremdung«.
Obwohl ich formal keine Migrantin bin, fühle ich mich angesprochen, wenn Politiker*innen Migration zum Problem erklären oder Integration zur kostspieligen Mammutaufgabe. Und in letzter Zeit fühle ich mich leider sehr oft angesprochen.
Seit 2015, seit über eine Million Geflüchtete nach Deutschland kamen, sind wir geradezu besessen vom Thema Migration. Von morgens bis abends reden wir über Flüchtlinge, Islam und Integration. Fluchtmigration steht zeitweise auf Platz eins der dringlichsten Themen, für die unsere Politik alles andere stehen und liegen lässt. Danach kommt lange nichts. Und dann erst Armut, Wohnungsnot, Bildung, Rente und so weiter.
Auf den ersten Blick hat diese Asyldebatte nichts mit mir zu tun. Auf den zweiten Blick aber schon. Denn seit neuestem stellen wir wieder infrage, ob wir überhaupt ein Einwanderungsland sein wollen. Als wären ich und Millionen andere nicht schon längst da.
Wir waren schon mal weiter. Wir waren eigentlich schon dabei, das Einwanderungsland politisch zu gestalten, zum Beispiel mit einem neuen Staatsangehörigkeitsgesetz im Jahr 2000 und neuen Gesetzen für Zuwanderung 2005. Doch so, wie wir die Debatten gerade austragen, fühle ich mich zurückversetzt in die 1980er Jahre, als ich noch ein Kind war und meine Eltern ausländische Mitbürger genannt wurden, oder in die 1990er Jahre, als die rechtsextreme Deutsche Volksunion (DVU) in mehrere Landesparlamente einzog.
Bei dem aktuellen Dauergerede über Migration passiert etwas, das bei mir und vermutlich vielen anderen ein enormes Frustrationspotential freisetzt:
Wir tun so, als könnten wir ernsthaft entscheiden, ob wir Migranten im Land haben wollen oder nicht, und wenn ja, wie viele wir davon vertragen. Das ist Blödsinn. Sie sind längst da – und ein Teil des »Wir«. Doch seit 2015 sind die Schonlangehier-Migranten und Bindestrich-Deutschen irgendwie unsichtbar geworden. Das wäre nicht weiter schlimm, wenn sie unter »wir Deutsche« subsumiert würden. Werden sie aber nicht. Vielmehr tun wir so, als hätte es sie (also uns) nie gegeben, als wüssten wir in Deutschland nicht, wie man Eingewanderte in die Gesellschaft integriert. Wir pflegen das Bild von einer christlichen, weißen Gemeinschaft, in die nun – Achtung, neu – muslimische Migranten reinkommen. Doch die Vorstellung von einer homogenen deutschen Aufnahmegesellschaft ist eine deutsche Lebenslüge.
Gleichzeitig bekommt man bei den Migrationsdebatten das Gefühl vermittelt, dass es eine gesellschaftliche Obergrenze für Migranten gibt, ab der die Stimmung kippt. Im Koalitionsvertrag 2018 heißt es dazu: »Wir sind uns darüber einig, dass die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft nicht überfordert werden darf.« Nach dem Motto: Zu viele Migranten verursachen zu viel Stress. Nennen Sie mich paranoid, aber bei diesem Stressfaktor können doch unmöglich nur die rund eine Million Geflüchteten gemeint sein, die seit 2015 nach Deutschland gekommen sind. Da sind die unsichtbaren Migranten wieder im Spiel. Da bin auch ich gemeint. Bei solchen Sätzen merke ich, wie die Wut in mir aufsteigt: Wie lange sollen wir uns eigentlich noch anhören, dass unsere Anwesenheit manche Deutschen stresst?
Die Bundesrepublik und auch die Deutsche Demokratische Republik waren de facto schon immer ein Einwanderungsland – wir haben nur absurde 50 Jahre gebraucht, um das zu akzeptieren. Dabei hat jedes dritte Kind, das in die Schule kommt, bereits einen sogenannten Migrationshintergrund – und das ist konservativ gezählt. Unsere Gesellschaft ist nicht multikulturell – sie ist superdivers. Deutsche heißen Günter und Gaby, aber eben auch Fatma und Fatih, Khuê und Romani.
Die aktuelle Migrationsdebatte ist auffällig Islam-fixiert. Aus Menschen, die ihre Haut vor dem Bürgerkrieg in Syrien retten wollen, ist eine »Massenmigration« aus muslimischen Ländern geworden. Muslime werden schon seit langem mit allen möglichen schlimmen Klischees versehen: Sie seien frauenverachtend, kriminell, antisemitisch und potentiell terroristisch. Das hinterlässt seine Spuren. Nicht nur Rechtsextreme stellen sich die Frage, ob sich die muselmanischen Mitmenschen überhaupt integrieren lassen. Inzwischen stimmt eine Mehrheit der Menschen in Deutschland dem Satz zu: »Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein Fremder im eigenen Land.« 56 Prozent der Befragten bejahten das laut der Leipziger Autoritarismus-Studie von 2018.
Was macht unsere Politik mit solchen Befunden? Sie reagiert, wie so oft, unterkomplex. Als Grund für die »Fremdheitsgefühle« machen viele Politiker*innen die gestiegene Zahl der Asylsuchenden aus. Wären aber wirklich die Geflüchteten der Anlass für die »Ängste«, dann müsste das harmlose Migrantenmuffensausen parallel zur Asylstatistik abnehmen. Tut es aber nicht. Im Gegenteil. Wir erleben gerade einen handfesten, historischen Rechtsruck in Politik und Medien. Aber nur wenige sehen den Rechtsruck als zentrales politisches Problem.
Stattdessen wollen die meisten Politiker*innen sensibel auf die »Überfremdungsangst« reagieren und gehen auf die Sorgen »der Deutschen« ein. Damit meinen sie nicht meine oder vielleicht auch Ihre Sorge vor dem Rechtsruck. Sie meinen die Angst vor einer »Umvolkung« der Deutschen, die es ins Repertoire der allgemein akzeptierten Phobien geschafft hat. Als Lösung kommt manche Partei wie die CSU also auf krude Ideen wie mehr Abschiebungen, geschlossene Grenzen und stärkere Heimatgefühle. Auch CDU, SPD, FDP und Teile der Linkspartei antworten auf den grassierenden Rassismus (im Volksmund »Fremdenfeindlichkeit« genannt) immer wieder mit Abgrenzungspolitik.
Auf Dauer kann eine Demokratie aber mit Verständnis für Ressentiments nichts gewinnen, davon bin ich fest überzeugt. Und ja, es sind Ressentiments. Denn alles war gut, als Fatma die Toiletten geputzt hat und Ali Müllmann war. Jetzt, wo beide Lehrer werden wollen oder gar in die Chefetage schielen, fühlen sich manche auf einmal fremd im eigenen Land. Wenn aber germanische Ureinwohner Probleme mit aufsteigenden Migranten und ihren Nachkommen haben, dann ist das keine berechtigte Sorge, sondern Neid. Oder, akademischer ausgedrückt: Dann wollen sie »Etablierten-Vorrechte« behalten. In der Wissenschaft nennt man das auch Rassismus.
Viele denken, Rassismus habe nur was mit Nazis zu tun, und lehnen es ab, darüber zu reden. Doch bei Rassismus geht es nicht immer um die Wahnvorstellung, Menschen würden bestimmten »Rassen« angehören. Moderner Rassismus – auch Neorassismus genannt – reduziert Menschen eher auf eine bestimmte Herkunft, Kultur oder Wurzel. Und am Ende des Tages geht es um die Gretchenfrage einer jeden Nation: Wer gehört dazu? Und: Wer darf das bestimmen?
Auf Dauer muss eine Einwanderungsgesellschaft ihre Verteilungskämpfe offen austragen. Um da ein Wörtchen mitzureden, engagiere ich mich seit Jahren in Vereinen. Einer davon heißt »Neue deutsche Medienmacher«. Das ist ein Journalisten-Club für Leute, die von der Statistik mit einem »Migrationshintergrund« gesegnet wurden und ein bisschen Schwung in die Medien bringen wollen. Um auch jenseits von Medienfragen mitzureden, haben wir ein Netzwerk gegründet, das »Neue Deutsche Organisationen« heißt. Hier kommen Initiativen von Bindestrich-Deutschen aus ganz Deutschland zusammen und engagieren sich für eine postmigrantische Gesellschaft. Wir haben uns »Neue Deutsche« genannt, weil wir klarstellen wollen:
Wir sind von hier.
Unsere Vereine sind keine Ausländervereine – es sind deutsche Vereine.
Themen wie Rassismus, Chancengleichheit und Bildung sind keine Migrantenthemen, sondern deutsche Themen.
Es ist höchste Zeit, dass in den Debatten deutlich wird: Das ist auch unser Land!
Wir haben in Deutschland eine völlig schiefe Wahrnehmung von dem, wer »wir Deutschen« und »die Migranten« sind. Unsere Debatten über Integration und Migration zeigen, wie wenig wir über unsere Gesellschaft wissen und dass wir einer Reihe peinlicher Missverständnisse aufsitzen. Darüber sollten wir reden. Deswegen biete ich in dieser Streitschrift zehn Thesen an: Fünf Kapitel über die gröbsten Missverständnisse, fünf Kapitel darüber, was sich ändern muss, damit wir Deutschland als modernes Einwanderungsland neu verstehen können.
Mir macht es großen Spaß, um neue Sichtweisen zu ringen. Ich rede dabei gern Klartext und wirke wohl manchmal etwas missionarisch auf Leute. Das weiß ich von meinen Freund*innen, die jedes Mal lieb und geduldig mit mir diskutieren, wenn ich mit meinen Standpunkten ankomme. Manchmal ziehe ich diskursiv den Kürzeren – das gehört dazu. Mir ist wichtig, dass die Auseinandersetzung nicht verbissen geführt wird. Aber gerade bei Integration, Migration und Rassismus habe ich das Gefühl, dass viele Menschen im Internet und in der Politik total humorfrei an die Sache rangehen. Als stünde die Apokalypse ins Haus, wenn man sich etwas lockerer damit befasst. Das sehe ich anders. Man kann auch einfach mal darüber schmunzeln, wenn sich Blutwurst auf das Büffet der Islamkonferenz verirrt, wie 2018 geschehen, ohne gleich einen Kulturkampf daraus zu machen. Ausgerechnet Blutwurst, der Mix aus Schweineblut, Speck und Schwarte, bei einem ministeriellen Empfang für Muslime. Eine der vielen Irrungen und Wirrungen im Einwanderungsland.
Vielleicht könnten Sie mir den Gefallen tun und dieses Buch nicht als Debattenbeitrag einer Migrantin lesen, sondern als den Einwurf einer Bürgerin, die sich Sorgen um ihr Land macht. Einer besorgten Bürgerin quasi.
Viel Spaß!
Missverständnis Nr. 1
Wir wollen Einwanderung nur, wenn sie uns etwas nützt. Gleichzeitig erwarten wir von Migranten Dankbarkeit. Das macht keinen Sinn.
»Gastarbeiter« ist wirklich ein schräges Wort. Wer bitte lässt seine Gäste Toiletten putzen und Akkordarbeit am Fließband verrichten? Das Wörtchen »Gast« sollte eigentlich nur klarstellen: die gehen wieder. Denn am Anfang der Gastarbeitereinwanderung in den 1950er und 60er Jahren galt ein »Rotationsprinzip«: Die werktätigen Ausländer wurden vertraglich verpflichtet, Deutschland nach kurzer Zeit wieder zu verlassen. Doch weil die frisch angelernten Gäste jedes Mal von unerfahrenen Neulingen ersetzt wurden, war das auf Dauer zu teuer für die Wirtschaft. Die Bosse wollten ihre Arbeiter behalten. Die Rotation wurde aufgehoben. Dass ich 1979 als Kind von türkischen Gastarbeitern in Deutschland geboren wurde, lag lediglich am wirtschaftlichen Interesse der Bundesregierung. Es ging ganz bestimmt nicht um Gastarbeiterfreundlichkeit.
Ich bin mir nicht sicher, ob das allen in Deutschland bewusst ist, aber einwanderungsfreundlich war unsere Politik noch nie. Trotzdem erwarten viele Menschen Dankbarkeit von Migranten. Bis heute gilt: Sie sollen ranklotzen wie Arbeiter, aber sich zurückhalten wie Gäste. Bloß keine Ansprüche stellen. Diese Erwartung an Menschen »mit Migrationshintergrund« wird sogar vererbt. Auch ich soll dankbar sein, dass ich hier leben darf, und soll bitteschön die Politik 272018[2]