Anne Frank
Tagebuch
Edition von Mirjam Pressler (Version d, in Überarbeitung der Fassung von Otto H. Frank)
Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler
FISCHER E-Books
Anne Frank, am 12. Juni 1929 als Kind jüdischer Eltern in Frankfurt am Main geboren, flüchtete 1933 mit ihren Eltern nach Amsterdam. Nachdem die deutsche Wehrmacht 1940 die Niederlande überfiel und besetzte, 1942 außerdem verschärfte Maßnahmen gegen die jüdische Bevölkerung in Kraft traten, versteckte sich die Familie Frank in einem Hinterhaus an der Prinsengracht. Die Familie und ihre Mitbewohner wurden im August 1944 verraten und nach Auschwitz verschleppt. Anne Frank und ihre Schwester Margot starben infolge von Entkräftung an Thypus im März 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Ihr genauer Todestag ist nicht bekannt.
Diese Ausgabe enthält die deutschsprachige Fassung des Tagebuchs von Anne Frank. Von diesem Tagebuch gibt es eine erste und eine zweite, spätere Fassung, die beide von Anne Frank selbst stammen. Sie hatte das von ihr über mehr als zwei Jahre geführte Tagebuch zu einem späteren Zeitpunkt überarbeitet, weil die erste Fassung ihren schriftstellerischen Ansprüchen nicht mehr genügte. Die vorliegende Fassung enthält also ohne jene Auslassungen, die Otto Frank, Annes Vater, aus Diskretion vorgenommen hatte, den von Anne Frank überarbeiteten Tagebuchtext samt den unverändert aus der ersten Fassung übernommenen Teilen, und zwar in einer den Stil des Originals widerspiegelnden Übersetzung von Mirjam Pressler. Dieser vollständige Text, dessen Authentizität seit der kompletten Wiedergabe aller Fassungen in ›Die Tagebücher der Anne Frank‹ (S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1988) unbestritten ist, vermittelt ein eindrucksvolles Bild von Anne Franks Gefühls- und Gedankenwelt und nicht zuletzt von ihren Fortschritten als Schriftstellerin. Das Tagebuch ist für Millionen von Menschen zu einem Symbol für den Völkermord an den Juden durch den nationalsozialistischen Verbrecherstaat geworden.
Covergestaltung: hißmann, heilmann, hamburg
Coverabbildung: Anne Frank Fonds, Basel/Getty Images
Annelies Marie Frank, born June 1929 in Frankfurt/Main, Germany, died in February or March 1945 in the Concentration Camp Bergen-Belsen, is hereby identified as author of this work in accordance with Section 77 of the British Copyright, Designs and Patent Act 1988.
Otto H. Frank and Mirjam Pressler are hereby identified as editors of this work in accordance with Section 77 of the British Copyright, Designs and Patent Act 1988, using exclusively texts written by the author Annelies Marie Frank.
Um einen weiteren Anhang erweitert, Juni 2019
Um einen Anhang erweitert, Oktober 2015
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Die Originalausgabe mit dem Titel »De Dagboeken van Anne Frank«
erschien 1988 bei Staatsuitgeverij, ’s-Gravenhage/Uitgeverij Bert Bakker, Amsterdam
Herausgeber: Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie, Amsterdam
Staatsuitgeverij, ’s-Gravenhage/Uitgeverij Bert Bakker, Amsterdam
© 1986 by ANNE FRANK-Fonds, Basel (Tx 1–942–854 vom 7. November 1986)
© 1986 by Rijksinstituut voor Oorlogsdocumentatie, Amsterdam
(Tx 2 181 757 vom 28. August 1987)
»Die Tagebücher der Anne Frank«, 1988, deutsch von Mirjam Pressler
© 1988 by S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
»Het Achterhuis. Dagboekbrieven 14 Juni 1942 – 1 Augustus 1944«, 1947 von Anne Frank, Fassung: Otto H. Frank
© 1947 by Otto Frank (AF 1164, renewed 1974 578 606)
© 1982 by ANNE FRANK-Fonds, Basel
»Das Tagebuch von Anne Frank« 1949, von Anne Frank, Fassung: Otto H. Frank,
deutsch von Anneliese Schütz. Lambert Schneider GmbH, Heidelberg
© 1949 by Otto Frank
© 1982 by ANNE FRANK-Fonds, Basel
»Anne Frank Tagebuch«
Einzig autorisierte und ergänzte Fassung: Otto H. Frank und Mirjam Pressler
S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main
»Zu diesem Buch« und Nachwort des ANNE FRANK-Fonds, Basel
© 1991 by ANNE FRANK-Fonds, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Nach den Regeln der neuen Rechtschreibung
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402609-1
Rin-tin-tin hieß der Hund in einem bekannten Kinderfilm; A.d.Ü.
Zehn ist die beste Note, fünf bedeutet knapp ungenügend; A.d.Ü.
Van Daan ist ein guter Bekannter des Vaters und Teilhaber der Firma.
Gemeint ist die erste Klasse einer weiterführenden Schule nach sechs Klassen Grundschule; A.d.Ü.
Gemeint sind ihre Cousins Bernhard und Stephan; A.d.Ü.
Margot zog nach Dussels Ankunft ins Zimmer der Eltern; A.d.Ü.
S’il vous plait; A.d.Ü.
Mof. pl. Moffen: Name für Deutsche; A.d.Ü.
Hafen von Amsterdam; A.d.Ü.
Die Großmutter war schwer krank; A.d.Ü.
Oma ist die Großmutter mütterlicherseits, Omi die Mutter des Vaters; A.d.Ü.
Deutsch im Original; A.d.Ü.
Mitglieder der niederländischen Exilregierung in London; A.d.Ü.
Mitglieder der niederländischen Exilregierung in London; A.d.Ü.
Nationalsozialistische Bewegung der Niederlande; A.d.Ü.
Cousin Bernhard (genannt Buddy) Elias; A.d.Ü.
Vgl. hierzu Willy Lindwer, Anne Frank. Die letzten sieben Monate. Augenzeugen berichten. Frankfurt am Main. 1993
Zu ihrem 13. Geburtstag am 12. Juni 1942 in Amsterdam erhielt Anne Frank von ihren Eltern ein Tagebuch geschenkt. Ab diesem Tag schrieb sie darin Briefe an Kitty, ihre imaginierte Freundin.
Anne führte das Tagebuch in den ersten Wochen in der elterlichen Wohnung am Merwedeplain. Doch bald nach ihrem Geburtstag flüchtete die Familie in ein Hinterhaus, in dem sie sich gemeinsam mit vier anderen Mitbewohnern vor den Nationalsozialisten versteckte. Zunächst schrieb sie die Briefe nur für sich selbst, doch im Frühjahr 1944 hörte sie mit ihrer Familie beim verbotenen Abhören eines ausländischen Radiosenders, wie ein niederländischer Minister aus dem Londoner Exil vorschlug, nach dem Krieg eine Sammlung von Tagebüchern und Briefen aus der Zeit der deutschen Besatzung zu veröffentlichen. Unter dem Eindruck dieser Rede entschied sich Anne, nach Kriegsende einen Roman mit dem Titel »Het Achterhuis« zu veröffentlichen; ihr Tagebuch sollte dafür als Grundlage dienen. Sie begann, ihre Aufzeichnungen zu überarbeiten, und versah in ihrer neuen Version die meisten der vorkommenden Personen mit einem Pseudonym.
Annes Tagebuch endet mit dem Eintrag vom 1. August 1944. Drei Tage später, am 4. August, wurde sie, zusammen mit allen anderen Mitbewohnern, im Hinterhaus entdeckt, verhaftet, deportiert und später – mit Ausnahme von Otto Frank, der den Krieg überlebte und als einziger Bewohner des Hinterhauses aus der Lagerhaft zurückkehrte – umgebracht. Bis heute konnte nicht eindeutig geklärt werden, ob und von wem das Versteck der Hinterhausbewohner verraten wurde.
Anne Frank wurde am 12. Juni 1929 als zweite Tochter von Edith und Otto Frank in Frankfurt am Main geboren; ihre Schwester Margot war drei Jahre älter. Die Vorfahren von Ottos Seite stammten aus einer großbürgerlichen deutsch-jüdischen Familie in Frankfurt; Edith, geborene Holländer und ebenfalls Jüdin, war die Tochter eines wohlhabenden Fabrikanten aus Aachen.
Angesichts des aufkommenden Nationalsozialismus in Deutschland, ökonomischer Schwierigkeiten und der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 sah die Familie keine weitere Zukunft für sich in Deutschland. Als Erster zog Otto Frank bereits im Sommer 1933 nach Amsterdam; ihm folgten mit wenigen Monaten Abstand zunächst seine Frau Edith, später Margot und schließlich, im Februar 1934, Anne, die zuletzt für kurze Zeit bei ihrer Großmutter in Aachen gelebt hatte.
In den ersten Jahren in Amsterdam erlebte Anne zunächst eine ganz normale Kindheit. Die Familie wohnte am Merwedeplein, und Anne fand rasch Freundinnnen. Anfänglich besuchte sie den Montessori-Kindergarten, später die Montessori-Schule und schließlich das Jüdische Lyzeum.
Nachdem die Deutschen im Mai 1940 die Niederlande besetzt hatten, änderte sich das Leben für die Familie Frank. Am 20. Juni 1942 notierte Anne: »Juden müssen einen Judenstern tragen; Juden müssen ihre Fahrräder abgeben; Juden dürfen nicht mit der Straßenbahn fahren; Juden dürfen nicht mit einem Auto fahren, auch nicht mit einem privaten; Juden dürfen nur von 3–5 Uhr einkaufen; Juden dürfen nur zu einem jüdischen Frisör; Juden dürfen zwischen 8 Uhr abends und 6 Uhr morgens nicht auf die Straße; Juden dürfen sich nicht in Theatern, Kinos und an anderen dem Vergnügen dienenden Plätzen aufhalten; Juden dürfen nicht ins Schwimmbad, ebenso wenig auf Tennis-, Hockey- oder andere Sportplätze; Juden dürfen nicht rudern; Juden dürfen in der Öffentlichkeit keinerlei Sport treiben; Juden dürfen nach acht Uhr abends weder in ihrem eigenen Garten noch bei Bekannten sitzen; Juden dürfen nicht zu Christen ins Haus kommen; Juden müssen auf jüdische Schulen gehen und dergleichen mehr.«
Otto Frank durfte als Jude ab Oktober 1940 keine eigene Firma mehr besitzen; Anne und Margot wurden im Herbst 1941 gezwungen, auf das Jüdische Lyzeum zu wechseln; und die ganze Familie musste, wie all die anderen Juden in Holland, unter ihnen zahlreiche deutsche Emigranten, ab Mai 1942 einen Judenstern sichtbar an der Kleidung tragen.
In dieser Zeit bemühte sich Otto Frank mehrfach und intensiv um die Ausreise seiner Familie aus den Niederlanden – leider vergeblich, denn keines der Länder, in deren Konsulaten er um ein Visum ersuchte, erklärte sich bereit, die – inzwischen staatenlose – Familie aufzunehmen.
Was weder Anne noch Margot wusste: Dass ihre Eltern seit einiger Zeit ein Versteck vorbereiteten, in dem die Familie untertauchen konnte. Als Margot Anfang Juli einen Aufruf erhielt, sich zum Einsatz im Arbeitslager zu melden, erfuhren die beiden Mädchen von dem geheimen Versteck in einem Hinterhaus an der Prinsengracht, in das Otto Frank schon seit Monaten unauffällig Kleider, Geschirr, Medikamente etc. gebracht hatte. Und so packten Anne und Margot am Abend des 5. Juli 1942 ein paar Gegenstände in ihre Rucksäcke, mit denen sie am nächsten Morgen die Wohnung verließen. Verabschieden konnte sich Anne nur noch von Mortje, ihrer geliebten Katze.
Am 6. Juli erreichte Anne ihr Versteck, das sie bis zu ihrer Verhaftung am 4. August 1944 nicht mehr verlassen würde.
Anne Franks erstes Tagebuch, das sie zum 13. Geburtstag geschenkt bekommen hatte.
© ANNE FRANK-Fonds, Basel
Zwischen dem 12. und dem 14. Juni 1942 hat Anne Frank unter dem Datum des 28. September 1942 eine Selbstbeschreibung nachgetragen:
Hier müssen die 7 oder 12 Schönheiten (nicht meine!) hinkommen, dann kann ich ausfüllen, was ich nicht und was ich doch besitze.
28. Sept. 1942. (selbstgemacht.)
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© ANNE FRANK-Fonds, Basel
Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei niemandem gekonnt habe, und ich hoffe, du wirst mir eine große Stütze sein.
Ich habe bis jetzt eine große Stütze an dir gehabt. Auch an Kitty, der ich jetzt regelmäßig schreibe. Diese Art, Tagebuch zu schreiben, finde ich viel schöner, und ich kann die Stunde fast nicht abwarten, wenn ich Zeit habe, in dich zu schreiben.
Ich bin, oh, so froh, dass ich dich mitgenommen habe!
Ich werde mit dem Augenblick beginnen, als ich dich bekommen habe, das heißt, als ich dich auf meinem Geburtstagstisch liegen gesehen habe (denn das Kaufen, bei dem ich auch dabei gewesen bin, zählt nicht).
Am Freitag, dem 12. Juni, war ich schon um sechs Uhr wach, und das ist sehr begreiflich, da ich Geburtstag hatte. Aber um sechs Uhr durfte ich noch nicht aufstehen, also musste ich meine Neugier noch bis Viertel vor sieben bezwingen. Dann ging es nicht länger. Ich lief ins Esszimmer, wo ich von Moortje, unserer Katze, mit Purzelbäumen begrüßt wurde.
Kurz nach sieben ging ich zu Papa und Mama und dann ins Wohnzimmer, um meine Geschenke auszupacken. An erster Stelle warst du es, die ich zu sehen bekam und was wahrscheinlich eines von meinen schönsten Geschenken ist. Dann ein Strauß Rosen, eine Topfpflanze und zwei Pfingstrosen. Von Papa und Mama habe ich eine blaue Bluse bekommen, ein Gesellschaftsspiel, eine Flasche Traubensaft, der ein bisschen nach Wein schmeckt (Wein wird ja aus Trauben gemacht), ein Puzzle, Creme, Geld und einen Gutschein für zwei Bücher. Dann bekam ich noch ein Buch, »Camera Obscura«, aber das hat Margot schon, darum habe ich es getauscht, selbst gebackene Plätzchen (von mir gebacken, natürlich, denn im Plätzchenbacken bin ich zur Zeit stark), viele Süßigkeiten und eine Erdbeertorte von Mutter. Auch einen Brief von Omi, ganz pünktlich, aber das ist natürlich Zufall.
Edith Frank-Holländer, Annes Mutter, Mai 1935.
© ANNE FRANK-Fonds, Basel
Otto Frank, Annes Vater, Mai 1936.
© ANNE FRANK-Fonds, Basel
Dann kam Hanneli, um mich abzuholen, und wir gingen zur Schule. In der Pause bewirtete ich Lehrer und Schüler mit Butterkeksen, dann ging es wieder an die Arbeit.
Ich kam erst um fünf Uhr nach Hause, weil ich zum Turnen gegangen war (obwohl ich nie mitmachen darf, da ich mir leicht Arme und Beine ausrenke) und für meine Klassenkameraden Volleyball als Geburtstagsspiel ausgesucht habe. Sanne Ledermann war schon da. Ilse Wagner, Hanneli Goslar und Jacqueline van Maarsen habe ich mitgebracht, die sind bei mir in der Klasse. Hanneli und Sanne waren früher meine besten Freundinnen, und wer uns zusammen sah, sagte immer: »Da laufen Anne, Hanne und Sanne.« Jacqueline van Maarsen habe ich erst auf dem Jüdischen Lyzeum kennen gelernt, sie ist jetzt meine beste Freundin. Ilse ist Hannelis beste Freundin, und Sanne geht in eine andere Schule und hat dort ihre Freundinnen.
Sonntagnachmittag war meine Geburtstagsfeier. Rin-tin-tin[1] hat meinen Klassenkameraden gut gefallen. Ich habe zwei Broschen bekommen, ein Lesezeichen und zwei Bücher. Der Club hat mir ein tolles Buch geschenkt, »Niederländische Sagen und Legenden«, aber sie haben mir aus Versehen den zweiten Band gegeben. Deshalb habe ich zwei andere Bücher gegen den ersten Band getauscht. Tante Helene hat noch ein Puzzle gebracht, Tante Stephanie eine Brosche und Tante Leny ein tolles Buch, nämlich »Daisys Ferien im Gebirge«.
Heute Morgen im Bad dachte ich darüber nach, wie herrlich es wäre, wenn ich so einen Hund wie Rin-tin-tin hätte. Ich würde ihn dann auch Rin-tin-tin nennen, und er würde in der Schule immer beim Pedell oder, bei schönem Wetter, im Fahrradunterstand sein.
Ich möchte noch einiges von meiner Klasse und der Schule erzählen und will mit ein paar Schülern anfangen.
Betty Bloemendaal sieht ein bisschen ärmlich aus, ist es, glaube ich, auch. Sie ist in der Schule sehr gescheit. Aber das liegt daran, dass sie so fleißig ist, denn nun lässt die Gescheitheit schon was zu wünschen übrig. Sie ist ein ziemlich ruhiges Mädchen.
Jacqueline van Maarsen gilt als meine beste Freundin. Aber eine wirkliche Freundin habe ich noch nie gehabt. Bei Jopie dachte ich erst, sie könnte es werden, aber es ist schief gegangen.
Lenij Duijzend ist sehr nervös, vergisst alles mögliche und bekommt Strafarbeit um Strafarbeit. Sie ist sehr gutmütig, vor allem Miep Lobatto gegenüber. Nannie Blitz schwätzt so entsetzlich, dass es nicht mehr schön ist. Wenn sie einen etwas fragt, fasst sie einen immer an den Haaren oder Knöpfen an. Man sagt, dass Nannie mich nicht ausstehen kann. Aber das ist nicht schlimm, weil ich sie auch nicht sehr sympathisch finde.
Henny Mets ist fröhlich und nett, nur spricht sie sehr laut und ist, wenn sie auf der Straße spielt, sehr kindisch. Es ist sehr schade, dass sie eine Freundin hat, Beppy, die einen schlechten Einfluss auf sie hat, weil dieses Mädchen schrecklich schmutzig und schweinisch ist.
Über Danka Zajde könnten ganze Romane geschrieben werden. Sie ist ein angeberisches, tuschelndes, ekliges, erwachsentuendes, hinterhältiges Mädchen. Sie hat Jopie eingewickelt, und das ist schade. Sie weint beim kleinsten Anlass und ist schrecklich zimperlich. Immer muss Fräulein Danka Recht haben. Sie ist sehr reich und hat einen ganzen Schrank voll mit goldigen Kleidern, in denen sie aber viel zu alt aussieht. Das Mädchen bildet sich ein, sehr schön zu sein, aber sie ist gerade das Gegenteil. Danka und ich können einander nicht ausstehen.
Ilse Wagner ist ein fröhliches und nettes Mädchen, aber sie ist sehr genau und kann stundenlang jammern. Ilse mag mich ziemlich gern. Sie ist auch sehr gescheit, aber faul.
Hanneli Goslar oder Lies, wie sie in der Schule genannt wird, ist ein bisschen eigenartig. Sie ist meist schüchtern und zu Hause sehr frech. Sie tratscht alles, was man ihr erzählt, an ihre Mutter weiter. Aber sie hat eine offene Meinung, und vor allem in der letzten Zeit schätze ich sie sehr.
Nannie v.Praag-Sigaar ist ein kleines, gescheites Mädchen. Ich finde sie ganz nett. Sie ist ziemlich klug. Viel ist über sie nicht zu sagen.
Eefje de Jong finde ich großartig. Sie ist erst zwölf Jahre alt, aber ganz und gar eine Dame. Sie tut, als wäre ich ein Baby. Und sie ist sehr hilfsbereit, deshalb mag ich sie auch.
Miep Lobatto ist das schönste Mädchen in der Klasse. Sie hat ein liebes Gesicht, ist aber in der Schule ziemlich dumm. Ich glaube, dass sie sitzen bleibt, aber das sage ich natürlich nicht zu ihr.
(Nachtrag)
Sie ist zu meiner großen Verwunderung doch nicht sitzen geblieben.
Und am Schluss von uns zwölf Mädchen sitze ich, neben Miep Lobatto
Über die Jungen lässt sich viel, aber auch wenig sagen.
Maurice Coster ist einer von meinen vielen Verehrern, aber er ist ein ziemlich unangenehmer Junge.
Sally Springer ist ein schrecklich schweinischer Junge, und es geht das Gerücht um, dass er gepaart hat. Trotzdem finde ich ihn toll, denn er ist sehr witzig.
Emiel Bonewit ist der Verehrer von Miep Lobatto, aber sie macht sich nicht viel daraus. Er ist ziemlich langweilig.
Rob Cohen war auch verliebt in mich, aber jetzt kann ich ihn nicht mehr ausstehen. Er ist heuchlerisch, verlogen, weinerlich, verrückt und unangenehm und bildet sich schrecklich viel ein.
Max van de Velde ist ein Bauernjunge aus Medemblik, aber ganz annehmbar, würde Margot sagen.
Herman Koopman ist auch arg schweinisch, genau wie Jopie de Beer, der ein richtiger Schürzenjäger ist.
Leo Blom ist der Busenfreund von Jopie de Beer und auch vom Schweinischsein angesteckt.
Albert de Mesquita kommt von der Montessorischule und hat eine Klasse übersprungen. Er ist sehr klug.
Leo Slager kommt von derselben Schule, ist aber nicht so klug.
Ru Stoppelmon ist ein kleiner, verrückter Junge aus Almelo, der erst später in die Klasse gekommen ist.
Pim Pimentel tut alles, was nicht erlaubt ist.
Jacques Kocernoot und Pim sitzen hinter uns, und wir lachen uns oft krank (Miep und ich).
Harry Schaap ist der anständigste Junge aus unserer Klasse, er ist nett.
Werner Joseph auch, ist aber zu still und wirkt dadurch langweilig.
Edith Frank mit ihren Töchtern Anne (links) und Margot bei der Hauptwache in Frankfurt am Main, 1933.
© ANNE FRANK-Fonds, Basel
Sam Salomon ist ein Rabauke aus der Gosse, ein Mistjunge. (Verehrer!)
Appie Riem ist ziemlich orthodox, aber auch ein Dreckskerl. Jetzt muss ich aufhören. Beim nächsten Mal habe ich wieder so viel in dich zu schreiben, d.h. dir zu erzählen. Tschüs! Ich finde dich so toll!
Es ist für jemanden wie mich ein eigenartiges Gefühl, Tagebuch zu schreiben. Nicht nur, dass ich noch nie geschrieben habe, sondern ich denke auch, dass sich später keiner, weder ich noch ein anderer, für die Herzensergüsse eines dreizehnjährigen Schulmädchens interessieren wird. Aber darauf kommt es eigentlich nicht an, ich habe Lust zu schreiben und will mir vor allem alles Mögliche gründlich von der Seele reden.
Papier ist geduldiger als Menschen. Dieses Sprichwort fiel mir ein, als ich an einem meiner leicht-melancholischen Tage gelangweilt am Tisch saß, den Kopf auf den Händen, und vor Schlaffheit nicht wusste, ob ich weggehen oder lieber zu Hause bleiben sollte, und so schließlich sitzen blieb und weitergrübelte. In der Tat, Papier ist geduldig. Und weil ich nicht die Absicht habe, dieses kartonierte Heft mit dem hochtrabenden Namen »Tagebuch« jemals jemanden lesen zu lassen, es sei denn, ich würde irgendwann in meinem Leben »den« Freund oder »die« Freundin finden, ist es auch egal.
Nun bin ich bei dem Punkt angelangt, an dem die ganze Tagebuch-Idee angefangen hat: Ich habe keine Freundin.
Um noch deutlicher zu sein, muss hier eine Erklärung folgen, denn niemand kann verstehen, dass ein Mädchen von dreizehn ganz allein auf der Welt steht. Das ist auch nicht wahr. Ich habe liebe Eltern und eine Schwester von sechzehn, ich habe, alle zusammengezählt, mindestens dreißig Bekannte oder was man so Freundinnen nennt. Ich habe einen Haufen Anbeter, die mir alles von den Augen ablesen und sogar, wenn’s sein muss, in der Klasse versuchen, mit Hilfe eines zerbrochenen Taschenspiegels einen Schimmer von mir aufzufangen. Ich habe Verwandte und ein gutes Zuhause. Nein, es fehlt mir offensichtlich nichts, außer »die« Freundin. Ich kann mit keinen von meinen Bekannten etwas anderes tun als Spaß machen, ich kann nur über alltägliche Dinge sprechen und werde nie intimer mit ihnen. Das ist der Haken. Vielleicht liegt dieser Mangel an Vertraulichkeit auch an mir. Jedenfalls ist es so, leider, und nicht zu ändern. Darum dieses Tagebuch.
Anne (links) und Margot, 1933.
© ANNE FRANK-Fonds, Basel
Um nun die Vorstellung der ersehnten Freundin in meiner Phantasie noch zu steigern, will ich nicht einfach Tatsachen in mein Tagebuch schreiben wie alle andern, sondern ich will dieses Tagebuch die Freundin selbst sein lassen, und diese Freundin heißt Kitty.
Meine Geschichte! (Idiotisch, so etwas vergisst man nicht.)
Weil niemand das, was ich Kitty erzähle, verstehen würde, wenn ich so mit der Tür ins Haus falle, muss ich, wenn auch ungern, kurz meine Lebensgeschichte wiedergeben.
Mein Vater, der liebste Schatz von einem Vater, den ich je getroffen habe, heiratete erst mit 36 Jahren meine Mutter, die damals 25 war. Meine Schwester Margot wurde 1926 in Frankfurt am Main geboren, in Deutschland. Am 12. Juni 1929 folgte ich. Bis zu meinem vierten Lebensjahr wohnte ich in Frankfurt. Da wir Juden sind, ging dann mein Vater 1933 in die Niederlande. Er wurde Direktor der Niederländischen Opekta Gesellschaft zur Marmeladeherstellung. Meine Mutter, Edith Frank-Holländer, fuhr im September auch nach Holland, und Margot und ich gingen nach Aachen, wo unsere Großmutter wohnte. Margot ging im Dezember nach Holland und ich im Februar, wo ich als Geburtstagsgeschenk für Margot auf den Tisch gesetzt wurde.
Ich ging bald in den Kindergarten der Montessorischule. Dort blieb ich bis sechs, dann kam ich in die erste Klasse. In der 6. Klasse kam ich zu Frau Kuperus, der Direktorin. Am Ende des Schuljahres nahmen wir einen herzergreifenden Abschied voneinander und weinten beide, denn ich wurde am Jüdischen Lyzeum angenommen, in das Margot auch ging.
Unser Leben verlief nicht ohne Aufregung, da die übrige Familie in Deutschland nicht von Hitlers Judengesetzen verschont blieb. Nach den Pogromen 1938 flohen meine beiden Onkel, Brüder von Mutter, nach Amerika, und meine Großmutter kam zu uns. Sie war damals 73 Jahre alt.
Ab Mai 1940 ging es bergab mit den guten Zeiten: erst der Krieg, dann die Kapitulation, der Einmarsch der Deutschen, und das Elend für uns Juden begann. Judengesetz folgte auf Judengesetz, und unsere Freiheit wurde sehr beschränkt. Juden müssen einen Judenstern tragen; Juden müssen ihre Fahrräder abgeben; Juden dürfen nicht mit der Straßenbahn fahren; Juden dürfen nicht mit einem Auto fahren, auch nicht mit einem privaten; Juden dürfen nur von 3–5 Uhr einkaufen; Juden dürfen nur zu einem jüdischen Frisör; Juden dürfen zwischen 8 Uhr abends und 6 Uhr morgens nicht auf die Straße; Juden dürfen sich nicht in Theatern, Kinos und an anderen dem Vergnügen dienenden Plätzen aufhalten; Juden dürfen nicht ins Schwimmbad, ebenso wenig auf Tennis-, Hockey- oder andere Sportplätze; Juden dürfen nicht rudern; Juden dürfen in der Öffentlichkeit keinerlei Sport treiben; Juden dürfen nach acht Uhr abends weder in ihrem eigenen Garten noch bei Bekannten sitzen; Juden dürfen nicht zu Christen ins Haus kommen; Juden müssen auf jüdische Schulen gehen und dergleichen mehr. So ging unser Leben weiter, und wir durften dies nicht und das nicht. Jacque sagt immer zu mir: »Ich traue mich nichts mehr zu machen, ich habe Angst, dass es nicht erlaubt ist.«
Im Sommer 1941 wurde Oma sehr krank. Sie musste operiert werden, und aus meinem Geburtstag wurde nicht viel. Im Sommer 1940 auch schon nicht, da war der Krieg in den Niederlanden gerade vorbei. Oma starb im Januar 1942. Niemand weiß, wie oft ich an sie denke und sie noch immer lieb habe. Dieser Geburtstag 1942 ist dann auch gefeiert worden, um alles nachzuholen, und Omas Kerze stand daneben.
Aber es ist noch auszuhalten, trotz Stern, getrennter Schulen, Sperrstunde usw. usw. Margot und ich sind im Oktober 1941 ins Jüdische Lyzeum übergewechselt, sie in die 4. Klasse, ich in die 1.
Uns vieren geht es noch immer gut, und so bin ich dann bei dem heutigen Datum angelangt, an dem die feierliche Einweihung meines Tagebuchs beginnt, dem 20. Juni 1942.
Liebe Kitty!
Dann fange ich gleich an. Es ist schön ruhig, Vater und Mutter sind ausgegangen, Margot ist mit ein paar jungen Leuten zu ihrer Freundin zum Pingpongspielen. Ich spiele in der letzten Zeit auch sehr viel, sogar so viel, dass wir fünf Mädchen einen Club gegründet haben. Der Club heißt »Der kleine Bär minus 2«. Ein verrückter Name, der auf einem Irrtum beruht. Wir wollten einen besonderen Namen und dachten wegen unserer fünf Mitglieder sofort an die Sterne, an den Kleinen Bären. Wir meinten, er hätte fünf Sterne, aber da haben wir uns geirrt, er hat sieben, genau wie der Große Bär. Daher das »minus zwei«. Ilse Wagner hat ein Pingpongspiel, und das große Esszimmer der Wagners steht uns immer zur Verfügung. Da wir Pingpongspielerinnen vor allem im Sommer gerne Eis essen und das Spielen warm macht, endet es meistens mit einem Ausflug zum nächsten Eisgeschäft, das für Juden erlaubt ist, die Oase oder das Delphi. Nach Geld oder Portemonnaie suchen wir überhaupt nicht mehr, denn in der Oase ist es meistens so voll, dass wir immer einige großzügige Herren aus unserem weiten Bekanntenkreis oder den einen oder anderen Verehrer finden, die uns mehr Eis anbieten, als wir in einer Woche essen können.
Anne Frank 1934 in Aachen.
© ANNE FRANK-Fonds, Basel
Ich nehme an, du bist ein bisschen erstaunt über die Tatsache, dass ich, so jung ich bin, über Verehrer spreche. Leider (in einigen Fällen auch nicht leider) scheint dieses Übel auf unserer Schule unvermeidbar zu sein. Sobald mich ein Junge fragt, ob er mit mir nach Hause radeln darf, und wir ein Gespräch anfangen, kann ich in neun von zehn Fällen damit rechnen, dass der betreffende Jüngling die Gewohnheit hat, sofort in Feuer und Flamme zu geraten, und mich nicht mehr aus den Augen lässt. Nach einiger Zeit legt sich die Verliebtheit wieder, vor allem, weil ich mir aus feurigen Blicken nicht viel mache und lustig weiterradle. Wenn es mir manchmal zu bunt wird, schlenkere ich ein bisschen mit dem Rad, die Tasche fällt runter, und der junge Mann muss anstandshalber absteigen. Wenn er mir die Tasche zurückgegeben hat, habe ich längst ein anderes Gesprächsthema angefangen. Das sind aber noch die Unschuldigen. Es gibt auch einige, die mir Kusshändchen zuwerfen oder versuchen, mich am Arm zu nehmen. Aber da sind sie bei mir an der falschen Adresse! Ich steige ab und weigere mich, weiter seine Gesellschaft in Anspruch zu nehmen. Oder ich spiele die Beleidigte und sage ihm klipp und klar, er könne nach Hause gehen.
So, der Grundstein für unsere Freundschaft ist gelegt. Bis morgen!
Deine Anne
Liebe Kitty!
Unsere ganze Klasse bibbert. Der Anlass ist natürlich die anstehende Lehrerkonferenz. Die halbe Klasse schließt Wetten über Versetzungen oder Sitzenbleiben ab. Miep Lobatto, meine Nachbarin, und ich lachen uns kaputt über unsere beiden Hintermänner, Pim Pimentel und Jacques Kocernoot, die schon ihr ganzes Ferienkapital verwettet haben. »Du wirst versetzt«, »von wegen«, »doch …«, so geht es von morgens bis abends. Weder Gs flehende Blicke noch meine Wutausbrüche können die beiden zur Ruhe bringen. Meiner Meinung nach müsste ein Viertel der Klasse sitzen bleiben, solche Trottel sitzen hier drin. Aber Lehrer sind die launenhaftesten Menschen, die es gibt. Vielleicht sind sie ausnahmsweise auch mal launenhaft in der richtigen Richtung. Für meine Freundinnen und mich habe ich nicht so viel Angst, wir werden wohl durchkommen. Nur in Mathematik bin ich unsicher. Na ja, abwarten. Bis dahin sprechen wir uns gegenseitig Mut zu.
Ich komme mit allen Lehrern und Lehrerinnen ziemlich gut aus. Es sind insgesamt neun, sieben männliche und zwei weibliche. Herr Keesing, der alte Mathematiklehrer, war eine Zeit lang sehr böse auf mich, weil ich so viel schwätzte. Eine Ermahnung folgte der anderen, bis ich eine Strafarbeit bekam. Ich sollte einen Aufsatz über das Thema »Eine Schwatzliese« schreiben. Eine Schwatzliese, was kann man darüber schreiben? Aber ich machte mir erst noch keine Sorgen, steckte das Aufgabenheft in die Tasche und versuchte, mich ruhig zu verhalten.
Abends, als ich mit den anderen Aufgaben fertig war, entdeckte ich plötzlich die Eintragung für den Aufsatz. Mit dem Füllerende im Mund fing ich an, über das Thema nachzudenken. Einfach irgendetwas schwafeln und die Worte so weit wie möglich auseinander ziehen, das kann jeder, aber einen schlagenden Beweis für die Notwendigkeit des Schwätzens zu finden, das war die Kunst. Ich dachte und dachte, und dann hatte ich plötzlich eine Idee. Ich schrieb die drei aufgegebenen Seiten und war zufrieden. Als Argument hatte ich angeführt, dass Reden weiblich sei, dass ich ja mein Bestes täte, mich zu bessern, aber ganz abgewöhnen könnte ich es mir wohl nie, da meine Mutter genauso viel redete wie ich, wenn nicht mehr, und dass an ererbten Eigenschaften nun mal wenig zu machen ist.
Herr Keesing musste über meine Argumente lachen. Aber als ich in der nächsten Stunde wieder schwätzte, folgte der zweite Aufsatz. Diesmal sollte es »Eine unverbesserliche Schwatzliese« sein. Auch der wurde abgeliefert, und zwei Stunden lang hatte Herr Keesing nichts zu klagen. In der dritten wurde es ihm jedoch wieder zu bunt. »Anne Frank, als Strafarbeit für Schwätzen einen Aufsatz mit dem Thema: ›Queck, queck, queck, sagte Fräulein Schnatterbeck.‹«
Die Klasse lachte schallend. Ich musste auch lachen, obwohl mein Erfindungsgeist auf dem Gebiet von Schwätzaufsätzen erschöpft war. Ich musste etwas anderes finden, etwas sehr Originelles. Meine Freundin Sanne, eine gute Dichterin, bot mir ihre Hilfe an, um den Aufsatz von vorn bis hinten in Reimen abzufassen. Ich jubelte. Keesing wollte mich mit diesem blödsinnigen Thema reinlegen, aber ich würde es ihm doppelt und dreifach heimzahlen.
Das Gedicht wurde fertig und war großartig. Es handelte von einer Mutter Ente und einem Vater Schwan mit drei kleinen Entchen, die wegen zu vielen Schnatterns von ihrem Vater totgebissen wurden. Zum Glück verstand Keesing Spaß. Er las das Gedicht samt Kommentaren in der Klasse vor, dann noch in anderen Klassen. Seitdem durfte ich schwätzen und bekam nie mehr eine Strafarbeit. Im Gegenteil, Keesing macht jetzt immer Witzchen.
Deine Anne
Liebe Kitty!
Es ist glühend heiß. Jeder schnauft und wird gebraten, und bei dieser Hitze muss ich jeden Weg zu Fuß gehen. Jetzt merke ich erst, wie angenehm eine Straßenbahn ist, vor allem eine offene. Aber dieser Genuss ist uns Juden nicht mehr beschieden, für uns sind Schusters Rappen gut genug. Gestern musste ich in der Mittagspause zum Zahnarzt in die Jan Luikenstraat. Von unserer Schule in den Stadstimmertuinen ist das ein langer Weg. Nachmittags schlief ich im Unterricht dann auch fast ein. Ein Glück, dass einem die Leute von selbst was zu trinken anbieten. Die Schwester beim Zahnarzt war wirklich eine herzliche Frau.
Das einzige Fahrzeug, das wir noch benützen dürfen, ist die Fähre. Der Fährmann an der Jozef-Israëls-Kade nahm uns sofort mit, als wir ums Übersetzen baten. An den Holländern liegt es wirklich nicht, dass wir Juden es so schlecht haben.
Ich wünschte nur, dass ich nicht zur Schule müsste! Mein Fahrrad ist in den Osterferien gestohlen worden, und Mutters Rad hat Vater Christen zur Aufbewahrung gegeben. Aber zum Glück nähern sich die Ferien in Windeseile. Noch eine Woche, und das Leid ist vorbei.
Gestern Morgen habe ich was Nettes erlebt. Als ich am Fahrradabstellplatz vorbeikam, rief mich jemand. Ich schaute mich um und sah einen netten Jungen hinter mir stehen, den ich am vorhergehenden Abend bei Wilma getroffen hatte. Er ist ein Cousin um drei Ecken von ihr, und Wilma ist eine Bekannte. Ich fand sie erst sehr nett. Das ist sie ja auch, aber sie spricht den ganzen Tag über nichts anderes als über Jungen, und das wird langweilig. Der Junge kam ein bisschen schüchtern näher und stellte sich als Hello Silberberg vor. Ich war erstaunt und wusste nicht so recht, was er wollte. Aber das stellte sich schnell heraus. Er wollte meine Gesellschaft genießen und mich zur Schule begleiten. »Wenn du sowieso in dieselbe Richtung gehst, dann komme ich mit«, antwortete ich, und so gingen wir zusammen. Hello ist schon sechzehn und kann von allen möglichen Dingen gut erzählen.
Heute Morgen hat er wieder auf mich gewartet, und in Zukunft wird es wohl so bleiben.
Anne
Liebe Kitty!
Bis heute hatte ich wirklich keine Zeit zum Schreiben. Donnerstag war ich den ganzen Nachmittag bei Bekannten, Freitag hatten wir Besuch, und so ging es weiter bis heute.
Hello und ich haben uns in dieser Woche gut kennen gelernt, er hat mir viel von sich erzählt. Er stammt aus Gelsenkirchen und ist hier in den Niederlanden bei seinen Großeltern. Seine Eltern sind in Belgien. Für ihn gibt es keine Möglichkeit, auch dorthin zu kommen. Hello hat ein Mädchen, Ursula. Ich kenne sie, sie ist ein Muster an Sanftmut und Langeweile. Nachdem er mich getroffen hat, hat Hello entdeckt, dass er an Ursuls Seite einschläft. Ich bin also eine Art Wachhaltemittel! Ein Mensch weiß nie, wozu er noch einmal gebraucht wird.
Samstag hat Jacque bei mir geschlafen. Mittags war sie bei Hanneli, und ich habe mich tot gelangweilt.
Hello sollte abends zu mir kommen, aber gegen sechs rief er an. Ich war am Telefon, da sagte er: »Hier ist Helmuth Silberberg. Kann ich bitte mit Anne sprechen?«
»Ja, Hello, hier ist Anne.«
»Tag, Anne. Wie geht es dir?«
»Gut, danke.«
»Ich muss dir zu meinem Bedauern sagen, dass ich heute Abend nicht zu dir kommen kann, aber ich würde dich gerne kurz sprechen. Ist es in Ordnung, wenn ich in zehn Minuten vor deiner Tür bin?«
»Ja, in Ordnung. Tschüs!«
Hörer aufgelegt. Ich habe mich rasch umgezogen und mir meine Haare noch ein bisschen zurechtgemacht. Und dann hing ich nervös am Fenster. Endlich kam er. Wunder über Wunder bin ich nicht sofort die Treppe hinuntergesaust, sondern habe ruhig abgewartet, bis er geklingelt hat. Ich ging hinunter. Er fiel gleich mit der Tür ins Haus.
»Hör mal, Anne, meine Großmutter findet dich noch zu jung, um regelmäßigen Umgang mit dir zu haben. Sie meint, ich sollte zu Löwenbachs gehen. Aber du weißt vielleicht, dass ich nicht mehr mit Ursul gehe.«
»Nein, wieso? Habt ihr Streit gehabt?«