Eine für alle

Dr. med. Carola Holzner

Eine für alle

Als Notärztin zwischen Hoffnung und Wirklichkeit

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Carola Holzner

Caro Holzner (*1982) ist Fachärztin für Anästhesiologie und spezialisiert in den Bereichen Notfallmedizin und Intensivmedizin. Als Kind des Ruhrgebiets hat Carola Holzner das Herz am rechten Fleck und spricht kein Arztlatein mit ihren Patienten und Lesern, sondern schnörkellos und auf Augenhöhe. Unter dem Namen »Doc Caro« produziert sie Videoblogs zu verschiedenen medizinischen Themen und setzt sich auch seit Beginn der COVID-19-Pandemie für eine umfassende Aufklärung auf diesem Gebiet ein. Mit ihren Postings in den Sozialen Netzwerken erreicht sie mehrere Millionen Menschen. Carola Holzner lebt in Mülheim an der Ruhr.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Über dieses Buch

Sekunden entscheiden. Jeder Patient zählt.

 

Carola Holzner arbeitet in einer Notaufnahme und ist als Notärztin im Einsatz. Nirgendwo sonst ist die Grenze so schmal zwischen Glück und Unglück, Hoffnung und Segen. Leben und Tod. Sekunden entscheiden. Ein Herzschlag entscheidet. Und im besten Fall schlägt das Herz des Arztes für den Patienten. Carola Holzners Herz schlägt vor allem für die Menschen, sie ist als Fachärztin für Anästhesie, Intensivmedizin und Notfallmedizin unermüdlich im Einsatz. Darüber hinaus betreibt sie medizinische Aufklärung in Videoblogs und wird regelmäßig in diverse Radio- und TV-Sendungen eingeladen. Das Buch gibt reale Einblicke in den Arztberuf. Emotionen, Situationen, Gedanken, die fernab sind vom Halbgott in Weiß, sondern an den realen Wahnsinn grenzen und dennoch zeigen, warum sich der ganze Stress lohnt. »Es ist und bleibt der schönste Job der Welt!«

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, 60596 Frankfurt a. M.

 

Covergestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung: Sebastian Drolshagen

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-491524-1

 

Weil du es dir einfach aus Interesse gekauft hast.

 

Vielleicht, weil du weißt, wovon ich spreche, weil du im Gesundheitssystem arbeitest und dich an der ein oder anderen Stelle wiedererkennst; vielleicht weil du selber mal Patient oder Patientin warst oder jemanden kennst, der ein Krankenhaus bereits von innen gesehen hat.

 

Dieses Buch ist für alle und deshalb ist es auch allen gewidmet.

 

Ganz besonders aber ist es für meine Patientinnen und Patienten, die mich geprägt und inspiriert haben. Und für alle Assistenzärztinnen und Assistenzärzte: Haltet durch! Es wird zwar nicht wirklich besser, aber anders. Und eines Morgens werdet ihr mit einem Lächeln aufwachen und feststellen: Dieser Beruf ist alle Kraftanstrengung wert.

Ich gehöre wohl auch zu denen, die auf Arztserien reingefallen sind. Stets gutgelaunte, bildschöne Menschen in blütenweißen Kitteln finden sämtliche noch so seltenen Diagnosen heraus und retten jeden Tag Unmengen von Patienten, die sich im Anschluss überschwänglich bedanken. Achtung Spoiler: Alles gelogen. Aber das erfuhr ich erst, als ich das erste Mal als Studentin im Pflegepraktikum ein Krankenhaus betrat. Es hatte nichts von Ruhm und Ehre, Glorie, Professor mit weißem Kittel und goldenen Manschettenknöpfen. Zwischen überfordertem Pflegepersonal, die fünf Patientenklingeln gleichzeitig bedienen müssen, kaputtsparenden Controllern, für die Krankenhäuser Wirtschaftsunternehmen sind, und schlechtgelaunten Assistenzärztinnen mit Augenringen – stand ich. Was mich bei der Stange hielt, wusste ich damals nicht. Noch nicht. Es war wohl der unterbewusste Wunsch zu helfen. Menschenleben zu retten. Tatsächlich. Aber das erfuhr ich erst viel später, in einer harten Schule. Wenn du das Studium geschafft hast, meinst du, du bist die Größte. Ärztin, dachte ich … wie das klingt! Großartig. Die Freude über das bestandene Examen hielt nur kurz an. Der erste Dienst

Aber dann ist da doch dieses eine Gefühl. Wenn du wirklich jemandem geholfen hast. Wenn du wirklich ein Leben gerettet hast. Es ist das schönste Gefühl der Welt. Es wiegt alles auf.

Ich liebe Menschen. Ich liebe das Leben. Und es gibt daher keine Alternative. Mein Herz ist die Medizin. Mein Leben ist die Medizin. Und ich bin dankbar dafür, dass ich Ärztin werden durfte. Dieses Buch ist mein Herzensprojekt, denn ich bekomme die Möglichkeit zu zeigen, was ich in meinem Beruf bisher erlebt habe. Und was jeden Tag millionenfach auf der Welt passiert: in Krankenhäusern, in Notaufnahmen, beim Rettungsdienst. Ich bin dankbar für die Chance, zu zeigen, was es bedeutet, Ärztin zu sein, und euch einen Blick auf die andere Seite zu gewähren.

Auf der Suche nach einem geeigneten Buchtitel kam mir immer wieder das Wort »Herz« in den Sinn. Wahrscheinlich, weil es naheliegt, dass Medizin, Emotionalität, persönliches Handeln und Gefühle damit zu tun haben. Ein aus zwei Kammern und zwei Vorhöfen bestehendes, autark schlagendes Organ, welches das Blut durch unseren Körper pumpt. Es kann tachykard (schnell) oder bradykard (langsam) schlagen, seine Erregung breitet sich von den Vorhöfen vom Sinusknoten, ausgehend über den AV-Knoten und die HIS-Bündel weiter auf die Kammern aus. Es kann stolpern, gefährlich flimmern oder einfach nur stillstehen. Und dann ist es aus. Aber interessanterweise hatte ich diese Assoziationen und Vorstellungen nicht, als ich über Herz als Titel nachdachte. Ich spürte etwas anderes. Warum kann unser Herz eigentlich so viel mehr als schlagen im anatomischen Sinne? Es kann hüpfen, schmerzen, trauern, lieben, jubeln. Es kann uns zur Verzweiflung bringen und versteinern. Und es kann brechen. Und das tatsächlich. Das Broken Heart Syndrom fühlt sich an wie ein Herzinfarkt, es ist schmerzhaft und wird oft durch emotionalen Stress ausgelöst. Das zeigt, dass man Gefühle und körperliche Symptome oft nicht trennen kann.

Ich arbeite in einer Notaufnahme. Ich habe eine Intensivstation betreut. Ich bin unterwegs als Notärztin. Nirgendwo sonst ist die Grenze so schmal zwischen Glück und Unglück, Hoffnung und Segen. Leben und Tod. Sekunden entscheiden. Ein Herzschlag entscheidet. Und im besten Fall schlägt das Herz des Arztes für den Patienten. Das wünsche ich mir.

Das Herz spielt also eine große Rolle und dennoch habe ich mich für einen anderen Titel entschieden. Denn in jeder Geschichte gibt’s immer irgendwie etwas fürs Herz. Nein, Eine für alle sollte es sein, denn dieser Titel zeigt, dass wir Ärztinnen und Ärzte, vor allem in der Notfallmedizin, immer auf alles gefasst sein müssen. Oder besser: auf jeden. Wir sind für alle da und wir suchen uns unsere Patientinnen und Patienten und unsere Fälle nicht aus. Sie kommen einfach zu uns: mitten in der Nacht, während

Ich möchte reale Einblicke in den Arztberuf geben.

Intensivstation, Schockraum, Notarzt-Einsätze: Was genau passiert da eigentlich? Wie sieht der Alltag in einer Notaufnahme aus? Gibt es den überhaupt? Was passiert in einem Schockraum, wer arbeitet da und welche Fälle werden dort betreut? Was geschieht, wenn ein Notruf bei der Feuerwehr eingeht? Ich nehme euch mit auf meine Schicht und erkläre euch, was wir da genau machen. Und was ich dabei denke und fühle. Wie es in mir tatsächlich aussieht, auch wenn es niemand sieht. Emotionen, Situationen, Gedanken, die fernab sind von der heilen Arztserienwelt, sondern eher an den »ganz normalen« Wahnsinn grenzen, und dennoch zeigen, warum sich der ganze Stress lohnt. Es ist und bleibt der schönste Job der Welt! In diesem Job – und das möchte ich euch in diesem Buch zeigen – weißt du nie, was passiert. So wie ich ständig ohne Vorbereitung mit neuen Situationen konfrontiert werde, werde ich auch euch konfrontieren. Gerade noch in der Notaufnahme finden wir uns plötzlich im Notarzteinsatzfahrzeug, dem NEF, wieder. Während wir uns in einem Moment freuen, weil eine Geschichte ein schönes Ende gefunden hat, wartet unmittelbar danach ein schreckliches Erlebnis auf uns. Ihr wisst nie, was euch erwartet. Hinter jeder Tür, durch die ich als Notärztin gehe, wartet ein neues Schicksal. Jeder Mensch, der die Notaufnahme betritt, bringt seine eigene Geschichte mit. So wie alle, die unter Lebensgefahr auf einer Trage in den Schockraum geschoben werden. Mein Leben als Ärztin zwischen Notaufnahme, Intensivstation

Bevor ihr nun mit mir auf diese Reisen geht, möchte ich euch warnen. Das, was ich erlebe, ist nicht nur sehr oft blutig und schlimm, es ist mitunter eklig, abstoßend und schockierend. Manches mag man auf nüchternen Magen vielleicht nicht lesen, einiges eignet sich nicht als Lektüre kurz vor dem Einschlafen. Einige Geschichten sind traurig und tragisch, sie machen betroffen oder rühren an unsere

All diese Gefühle gehören zum Leben. Aber es gibt auch Schönes, wenn zum Beispiel jemand lächelnd die Notaufnahme verlässt. Lustiges, wenn wir uns vor Lachen in einem Einsatz kaum noch zusammenreißen können, und Nützliches: Wann rufe ich die 112? Wie formuliere ich eine Patientenverfügung? Woran erkenne ich Diabetes? Wie zeigt sich eine Posttraumatische Belastungsstörung? Und vieles mehr. Denn: Wissen kann auch Leben retten! Und ihr seid vor Ort, der Notarzt kommt immer später. Aber seht selber. Denn darum geht es mir in diesem Buch. Ich möchte, dass ihr genauso unvorbereitet seid wie ich es (meistens) bin. Kommt einfach mal mit in den Schockraum.

»Mann, was haben Sie für ’n scheiß Job«, grinst der Typ zynisch, als er in Handschellen vom Rettungsdienst in den Schockraum gebracht wird. Ein Notarzt, drei Notfallsanitäter, drei Polizisten, zwei Schwestern, eine Assistenzärztin und ich. »Staraufgebot.« Er lacht gekünstelt.

Es ist 23.14 Uhr, und ich wollte eigentlich gerade nach Hause gehen. Eigentlich. Wie so oft. Als der Rettungsdienst anruft und einen Patienten ankündigt, der unzählige Tabletten genommen hat, ändere ich meine Pläne. Wie immer. Pläne sollte man abschaffen. Also statt gemütlicher Feierabend: Endoskopie. Ich hatte die »Endo«, wie wir sie liebevoll nennen, bereits zusammengetrommelt: Kommt mal schnell, der Notarzt bringt gleich irgendwas mit Tabletten. Und da muss man natürlich in den Patienten hineinschauen, um zu erfahren, was sich im Magen an Tabletten angesammelt hat. Daher die Endoskopie, zu der man auch die entsprechende Mannschaft braucht. Die Kollegin am anderen Ende des Telefons hatte sich sofort gemeinsam mit ihrer Pflegekraft in Bewegung gesetzt, um uns im Schockraum zu unterstützen. Da sind wir nun alle. Und auf der Trage liegt er. Gutaussehend, groß, mein

»Was ist passiert?«, frage ich einen der Polizisten. »Seine Schwester hat ihn mehrfach telefonisch nicht erreicht, da hat sie uns informiert. Er hat die Tür nicht aufgemacht. War wohl nicht der erste Suizidversuch. Also Gefahr im Verzug. Wir haben die Tür aufgebrochen. Wohl noch rechtzeitig, er hatte die Tabletten gerade erst geschluckt.« »Und warum die Handschellen?«, hake ich nach. »Er war mega aggressiv, wollte auch nicht mitkommen, da blieb uns nichts anderes übrig.« »Gerade noch rechtzeitig«, denke ich. Das erklärt seinen Zustand. Er ist zwar etwas müde, aber die Wirkung der Tabletten ist noch nicht eingetreten. Zum Glück.

Der Polizist ist ganz bemüht und möchte wissen, ob ich noch Hilfe benötige, immerhin war der Mann schwer renitent. Zumindest war er das zu Hause. Irgendwie verständlich, wenn du gegen deinen Willen mitgenommen wirst.

»Moment noch«, sage ich und drehe mich zu dem Mann

»Mann, was haben Sie ’nen scheiß Job«, wiederholt er. »Ich will mich umbringen, und Sie müssen mich retten. Verkehrte Welt, was? Aber ich sag Ihnen: Ich meine es ernst. Erst Tabletten, dann wollte ich mir einen Dolch ins Herz rammen. Damit es endlich vorbei ist. Ich ertrage das nicht mehr. Offenbar aber nicht heute. Da haben die mir jetzt einen Strich durch die Rechnung gemacht«, raunt er in Richtung des Rettungsdienstes.

Ich glaube, ich höre nicht richtig. Alter Schwede. Dolch ist ’ne Hausnummer. Ich habe schon einige Selbstmorde oder Selbstmordversuche als Ärztin gesehen. Vereinfacht gesprochen, kann man sagen, je brutaler ein Mensch sich umbringen möchte, desto ernster ist es ihm. Also zum Beispiel: Säge, Springen, Erhängen, Erschießen und Erstechen. Diese Menschen haben keine Angst oder sind wirklich so entschlossen, dass meist der eine Versuch reicht. Die, die Tabletten nehmen oder es mit Gas, Kohlegrill oder laufendem Automotor versuchen, um sich mit Kohlenmonoxid zu vergiften, haben tatsächlich oft mehrere gescheiterte Versuche hinter sich, da in diesen Fällen der Tod ja nicht unmittelbar, sondern erst verzögert eintritt. Ich habe da oft den Eindruck, sie riskieren es, gefunden zu werden. Es ist mehr eine Art Hilferuf. Ich habe schon einige,

In solchen Situationen bin auch ich hin- und hergerissen zwischen Mitgefühl und Wut. Da gerate ich dann in einen ordentlichen Anschiss-Modus. Denn sich vor einen Zug zu werfen ist aus meiner Sicht extrem unfair der Zugführerin oder dem -führer gegenüber. Ich habe schon von einigen gehört, die danach nie wieder ihren Beruf ausüben konnten. Verständlich. Und da kann ich mir eine anständige Standpauke manchmal nur schwer verkneifen.

Aber zurück zu meinem Patienten. Hat er gerade Dolch ins Herz gesagt? Er hat Dolch ins Herz gesagt. Dolch ist echt ’ne Ansage. Der meint es ernst. Oder tut er nur so?

»Sie mag ich«, wendet er sich mir zu. »Ich mache alles mit, fangen Sie an.« Ich bin fassungslos, lasse mir aber natürlich nichts anmerken. Ich habe jetzt keine Zeit für Small Talk und gehe stoisch mein ABCDE durch. Es gibt ein Schema zur Versorgung von Schwerverletzten, das folgende Behandlungsschritte umfasst:

 

Atemwege (bzw. Sicherung dieser)

B Beatmung (und alles was damit zu tun hat)

C circulation (Sicherung eines Minimalkreislaufs)

D neudeutsch Disability (also die neurologische Beurteilung)

E environment (oder wie ich immer zu sagen pflege: E wie Einfach alles andere)

 

Also los: Atemwege frei, keine Tabletten im Mund, beidseits Atemgeräusche, Kreislauf stabil, EKG unauffällig. »Ultraschall auch«, ruft meine Assistenzärztin. Keine freie Flüssigkeit in Bauchraum oder Brustkorb. Keine im Herzbeutel. »Blutentnahme erledigt, Rest auch«, so die Schwester. Gut, Zugänge wären also drin, Monitoring komplett. Ich drehe mich um. »Wir legen jetzt eine Magensonde. Und gleich gibt’s eine Magenspülung.« Ich schaue ihn an. Abseits von Technik und all den Dingen, die noch anstehen, blicke ich in seine Augen. Sie wirken traurig. Leer. Verzweifelt. »Wieso das alles?«, frage ich ihn. »Scheiß Job«, murmelt er. »Stress, Familie, Depression.« So langsam komme ich aus meinem Trott und realisiere, was hier eigentlich gerade passiert. Während er sich völlig entspannt die Magensonde einschieben lässt und wir jetzt bereits Unmengen an blauem Zeug absaugen, merke ich, wie er irgendwas in mir auslöst. »Scheiße«, sage ich. »Du bist doch ’n toller Typ. Was soll das? Und die Dosis! Letal. Mann, Junge, das kann tödlich enden.« Was für ein blöder Satz von mir! Sollte es ja auch! Aber der Wunsch des Patienten interessiert in diesem Fall niemanden. Mich am allerwenigsten. Er ist nicht geschäftsfähig, also muss ich

Wir werden über 100 Tabletten eines Antidepressivums finden, ihn stabil auf die Intensivstation verlegen, es wird alles gutgehen und er wird schon zwei Tage später in die Psychiatrie verlegt werden. Was bleibt aber, ist der Anblick, den ich nie vergessen kann. Den ich ertragen musste. »Mann, was haben Sie einen scheiß Job.« Ich verstehe, was er meint. Es geht nicht um das Medizinische, um das Arzt sein. Um das Retten, um die Medikamentengabe. Es geht um etwas anderes. Den Anblick eines gestandenen Mannes, der nur mit OP-Hemd bekleidet, zusammengekauert wie ein Häufchen Elend auf einer Schockraumtrage zittert. Der am Ende ist. Der eigentlich alles hat. Auf den ersten Blick. Dessen Blicke mir so viel sagen, den ich einfach nur in den Arm nehmen möchte. Dessen Schicksal mich noch länger beschäftigen wird, weil ich mich irgendwie wiedererkenne. Ich kenne diese Situationen, in denen man am Ende ist. Wenn man einfach nicht mehr kann. Weil man wochenlang Dienste geschoben hat und Dinge gesehen oder erlebt hat, die einem sehr nahegehen, und vielleicht sogar einen Fehler mit Folgen begangen hat. Es geht um Menschen. Dass wir Ärztinnen und Ärzte auch Menschen sind, wird leider oft vergessen. Wenn die Not-Situation vorbei ist, sehe ich nicht mehr nur die Intoxikation, den Blutdruck, die EKG-Kurve, den Patienten. Ich sehe den Menschen. Ist das eigentlich alles zu ertragen? Für viele eben nicht. Jeder hat eine andere Grenze. Seine war offenbar überschritten. Ich glaube, so geht es vielen. Ärzten, Ärztinnen, Schwestern, Pflegern, Rettungsdienstpersonal.

Es ist Visite, der Alltag ruft. »Weißt du eigentlich, auf was du dich da eingelassen hast?«, frage ich meinen Studenten. Er sieht so klein und unschuldig aus. »Voll cool. Leben retten und so«, seine Augen strahlen. Er hat keine Ahnung. Muss er auch nicht. »Du musst noch viel lernen«, sage ich. Aber er weiß nicht, wie ich das gemeint habe. Er denkt, es geht ums Bücherlesen und Auswendiglernen. Aber das, was wir brauchen, steht in keinem Medizinbuch. Das erzählt einem nämlich niemand. Oder es glaubt einem keiner. Oder beides.

Ärztinnen und Ärzte am Limit

Zahlreiche Erhebungen (vom Statistischen Bundesamt bis zum Ärzteblatt) zeigen, dass pro Jahr angeblich zwischen 100 und 200 Ärzte in Deutschland Suizid begehen. So genau kann die Statistik das nicht beziffern und die Dunkelziffer ist hoch. Doch selbst wenn wir von »nur« hundert Menschen ausgehen, heißt das, alle drei bis vier Tage nimmt sich ein Arzt in Deutschland das Leben.

Medizinerinnen und Mediziner weisen eine höhere Suizidrate auf als die Allgemeinbevölkerung. Und das ist empirisch belegt.

Depressive Störungen und Substanzabusus (Tabletten, Alkohol, Drogen) sind die häufigsten Ursachen für einen Freitod. Ärztinnen und Ärzte stehen unter einem enormen Stress: unzählige Überstunden, die ständige Konfrontation mit Leiden und Tod, die große Verantwortung, der erhöhte Stresslevel und eine Burn-out-Symptomatik bringen sie an den Rand der Belastungsfähigkeit. Und das ist einem gnadenlosen Gesundheitssystem geschuldet. Zu wenig Personal und immer wieder: Einsparungen.

Der Burn-out, also der Zustand tiefer emotionaler, körperlicher und geistiger Erschöpfung, ist bei Medizinern keine Seltenheit. Am Ende des Burn-outs steht oft eine Depression. Sie geht mit Niedergeschlagenheit, Interessenverlust und mangelndem Antrieb einher. Diese Krankheitszeichen lassen sich auch bei einem fortgeschrittenen Burn-out beobachten.

Egal, ob Ärztin, Krankenschwester, Bauarbeiter, Managerin oder Verkäuferin: Wer depressive Verstimmungen hat und so verzweifelt ist und glaubt, dass sich das Leben nicht mehr lohnt, der braucht dringend Hilfe.

Und die gibt es für jeden von uns:

Telefonseelsorge: 0800/1110111

Nummer gegen Kummer: 116111 (Kinder- und Jugendtelefon)

0800/1110550 (Elterntelefon)

Scheiß Job: das waren die Worte des Kollegen. So sehe ich das nicht. Aber ihr werdet den Menschen, der da verzweifelt und lebensmüde in meinem Schockraum gelandet ist, im Laufe des Buches vielleicht mehr und mehr verstehen. Sicher hat auch er sich diesen Job alles andere als scheiße vorgestellt, als er als junger Assistenzarzt im weißen Kittel stolz durch die Krankenhausflure rauschte. Aber die Ernüchterung lässt nicht lange auf sich warten. Der dauernde Spagat zwischen Hoffnung und Wirklichkeit kann einen fertigmachen. Hoffnung ist etwas Schönes, aber die

 

#verunsichert

Ich weiß nicht, ob es richtig ist, was ich tue. Ich stehe alleine am Patientenbett und muss Entscheidungen treffen. Ich entscheide über Therapie, Konzepte und manchmal sogar über Leben und Tod. Und vielleicht bin ich nicht nur verunsichert, vielleicht habe ich einfach tierische Angst, einen Fehler zu machen.

Ich bin müde, als zum fünften Mal in dieser Nacht das Telefon schellt. »Augen auf bei der Berufswahl«, denke ich und weiß nicht genau, wer ich bin und warum ich hier eigentlich im Dunkeln liege. Ach ja, ich bin es. Und es ist 3.43 Uhr. Ich liege in einem Bett, das bei jeder Hotelbewertung durchfallen würde, in einem Raum, der mehr einer Abstellkammer als einem Zimmer ähnelt. Die Schreibtischlampe, die keine ist, weil es hier ja gar keinen Schreibtisch gibt, hat den Geist aufgegeben. Schon wieder. Während ich versuche, den Lichtschalter zu finden, taumele ich gegen den Schreibtischstuhl, der ja keiner ist, weil es keinen Schreibtisch gibt, und stoße mir den kleinen Zeh. »Scheiße«, murmle ich.

»Bitte was? Caro, bist du dran?« Tja, da hatte ich wohl schon den Hörer abgehoben.

»Ja, was ist denn?« Schwester Karina bittet mich nochmal auf die Intensivstation. »Dem Patienten in Zimmer 3 geht es nicht gut, komm schnell!«

»Ich komme, lass mich eben nur meine Hose richtigrum anziehen«, stammele ich und renne mit halb offenem Reißverschluss den Weg zur Intensivstation. Zum dritten

Ich bin seit 16 Stunden im Dienst, fühle mich angeschlagen und hatte heute einen echt miesen Tag. Wenn du schon vor dem ersten Kaffee den ersten Schockraumalarm hast, weißt du, Murphys Gesetz schlägt zu: es ist Freaky Friday. Ich stapfe die Treppen rauf und suche vor der Intensivstation meinen Transponder. Na klar. Der liegt natürlich noch im Dienstzimmer. Was auch sonst.

»Na, wieder den Schlüssel vergessen?«, fragt mich Tobi, einer der Intensivpfleger, der heute auch Nachtdienst hat,

»Ne, ich schelle nur so.« Ich bin genervt. Ich betrete das Zimmer und sehe Karinas Stirn in Falten liegen. Das verheißt nichts Gutes. Der laute Alarm des Beatmungsgeräts und des Monitors ist besser als jeder Wecker. Jetzt bin ich wach.

»Ich kriege keine Luft mehr rein«, sagt sie und fummelt an Kabeln, Beatmungsschlauch und dem Beatmungsgerät rum. Ich weiß nicht, ob sie sich gerade sortiert oder ihre Hilflosigkeit kompensiert. »Ich habe schon alles versucht, aber der Patient lässt sich einfach nicht beatmen!«

Vor mir liegt er. Hat sich nicht zum Arzt begeben wollen, als er beim Fußball mit Bauchkrämpfen zusammengesackt ist. Ist lieber nach Hause gegangen, um sich eine Wärmflasche auf den Bauch zu legen. Darmperforation mit Peritonitis, Bauchfellentzündung also. Kam im septischen Schock auf den OP-Tisch. Will heißen: Hat einen Darmdurchbruch verschleppt, die Bakterien haben sich im Bauchraum verteilt und zu einer Blutvergiftung geführt. Prognose: nicht gut. 37 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. Sechs und vier Jahre. Den ganzen Tag habe ich bereits mit dem Patienten und um ihn herum verbracht. Ins CT, in den OP, aus dem OP zurück und auf die Intensiv. Neue zentrale Katheter, Medikamente angepasst, Antibiotikum. Mein Tageswerk: »die Peritonitis« – bloß keine emotionale Bindung aufbauen. Jetzt ist er beatmet und bekommt Kreislauf unterstützende Medikamente. Zumindest war er beatmet, bis Karina angerufen hat. Irgendwas stimmt hier nicht. Konzentrier dich, Carola. Okay. Fangen wir oben an.

Ein Tubus liegt in der Regel etwa je nach Größe des Patienten zwischen 22 und 26 Zentimeter tief, von der Zahnreihe aus gemessen bis in die Luftröhre hinein. Dann liegt er genau so, dass er vor der Aufteilung der Luftröhre in die beiden Hauptbronchen platziert ist. Ziel ist es, die rechte und linke Lunge gleichmäßig beatmen zu können. Liegt er zu tief, ist er meist in den rechten Hauptbronchus gerutscht, da dieser anatomisch nicht so steil abgeht wie der linke. Dann wird nur die rechte Lunge beatmet. Deshalb hören wir nach der Intubation immer die Lunge ab und kontrollieren so die Tubuslage. In diesem Falle wäre die rechte Lunge also besser gewesen als rausgerutscht. Karina wird blass. Ich werde blass. Das war der Patient, der so schlecht zu intubieren war! Heute im OP musste mein Oberarzt helfen. Oft haben Menschen anatomische Gegebenheiten, die eine Intubation erschweren. Eine kleine Mundöffnung zum Beispiel, ein fliehendes Kinn oder einen kurzen Hals. All das kann dazu beitragen, dass, wenn man mit dem Laryngoskop (Larynx = Kehlkopf) den Kehlkopf und die Stimmritze bestimmen möchte, dies nur schwer gelingt. Hier ist also der Tubus raus. Hängt irgendwo auf Höhe der Stimmritze. Ich realisiere: Gleich bekommen wir ein Problem.

»Intubation vorbereiten!«, brülle ich und wähle hastig die Nummer meines Oberarztes im Hintergrund. Gott sei Dank gibt es den Retter in der Not. Während die Assistentinnen und Assistenten vor Ort sind, gibt es zumindest

Also, mal kurz erklärt: Was versuchen Karina und ich hier eigentlich? Eine Intubation ist das Einführen des Tubus (Beatmungsschlauch) über Mund oder Nase bis in die Luftröhre. Das ist zumindest das, was wir tun sollten. Was aber eben leider nicht klappt. Katastrophe!

Ich funktioniere mechanisch: Narkose vertiefen, Maskenbeatmung, Intubationsversuch. Ich schaffe es nicht. Ich kann die Stimmritze nicht einsehen. Ich bekomme den Tubus einfach nicht rein. Die Sättigung fällt weiter, der Herzschlag wird langsamer, und ich stehe wie gelähmt und starre auf den Monitor und dann auf die Fotos der Kinder des Patienten. Die hat seine Frau heute liebevoll auf der Fensterbank platziert. Ein weißer Rahmen, auf den die Kinder Pappherzen geklebt haben. Eins mit Mama, eins mit Papa. Der Sohn sitzt auf einem roten Bobbycar, die Tochter klammert sich an einen Teddybären.

»Carola, tu was, der stirbt gleich, der bekommt keine Luft mehr!«, schreit Karina mich an. Träume ich? Sie schubst mich zur Seite und greift sich die Beatmungsmaske. »Drück auf den Beutel. Na, mach schon!« Ich folge ihren Anweisungen. Ich bin handlungsunfähig. Mein Kopf ist leer. Das Einzige, was ich denke ist: Wie erklärst du das den Kindern? Handeln kann ich nicht. »Carola! Carola!!! Hey, aufwachen!«, ruft sie und stößt mich an. »Drück

Wir bekommen Sauerstoff in den Patienten, und als nach 20 Minuten mein Oberarzt eintrifft und übernimmt, taumele ich zur Seite und hocke mich in die Zimmerecke auf den Boden. Bei ihm scheint es kein Problem gegeben zu haben. Vielleicht habe ich es auch nur nicht gemerkt. Der Patient ist intubiert, und das Beatmungsgerät tut sein Übriges. Karina lagert den Kopf des Patienten. Nachdem die Situation sich stabilisiert hat, kommt er rüber. Er sagt nichts. Hält mir seine Hand hin und hilft mir auf. Es ist 5.15 Uhr. »Kaffee?«, fragt er. »Ich bleib dann wohl direkt hier.«

OP