Das Archiv der Gefühle

Peter Stamm

Das Archiv der Gefühle

Roman

Roman

FISCHER E-Books

Inhalt

Über Peter Stamm

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane »Weit über das Land«, »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« sowie die Erzählung »Marcia aus Vermont«. Unter dem Titel »Die Vertreibung aus dem Paradies« erschienen seine Bamberger Poetikvorlesungen. »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt« wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018.

Über dieses Buch

Die Sängerin Fabienne heißt eigentlich Franziska, und es ist 40 Jahre her, dass sie eng befreundet waren und er ihr seine Liebe gestand. Fast ein ganzes Leben. Seitdem hat er alles getan, um Unruhe und Unzufriedenheit von sich fernzuhalten. Er hat sich immer mehr zurückgezogen und nur noch in der Phantasie gelebt. Er hat sein Leben versäumt. Aber jetzt taucht Franziska wieder auf. Gefährdet das seine geschützte Existenz, oder nimmt er diese zweite Chance wahr?

Impressum

Erschienen bei FISCHER E-Books

 

© 2021 Peter Stamm

© 2021 S. Fischer Verlag GmbH, Hedderichstr. 114, D-60596 Frankfurt am Main

 

Covergestaltung: Andreas Heilmann und Gundula Hissmann, Hamburg

Coverabbildung: Erin Cone

 

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.

ISBN 978-3-10-490925-7

Manchmal taucht sie so unvermittelt auf, ohne dass ich an sie gedacht habe, leistet mir ein wenig Gesellschaft und verschwindet dann, wie sie gekommen ist, und ich bin wieder allein.

 

Wie lange bin ich schon gegangen? Eine halbe Stunde, eine Stunde? Vor mir läuft ein schwarzer Käfer über den Weg, und ich stehe still und beobachte ihn. Was für ein Käfer ist das? Es gibt Hunderttausende von Insektenarten, und ich kenne kein Dutzend davon, Marienkäfer, Mai- und Junikäfer, Wanzen, Asseln, Tausendfüßler, Heuschrecken, Bienen und Hummeln, Ameisen, was weiß ich. So vieles fehlt mir noch.

Ich habe die Fußgängerbrücke genommen und bin auf der anderen Seite des Flusses zurückgegangen. Der Weg ist etwas breiter hier, aber weniger begangen, an manchen Stellen ist die Erde aufgeweicht, Pfützen haben sich gebildet, in denen sich die Hochspannungsleitung und die Wolken spiegeln. Als ich mich dem Stadtrand nähere, werden die Geräusche wieder lauter.

Der namenlose Weg, auf dem ich gehe, die Schrebergärten, einige schon vorbereitet für die Frühlingsbepflanzung, andere noch im Winterschlaf und einige ganz verwahrlost, vermutlich seit Jahren nicht bestellt, dahinter die Bahnlinie und etwas weiter entfernt die Autobahn. Das Rauschen des Flusses, das Rauschen der Autos, der Lkws, ein hohes Sirren und dann noch ein anderes Rauschen, das metallisch klingt und pulsiert, ein Zug, der vorüberfährt. Wie soll das alles beschrieben, wie festgehalten werden?

Das Gehen hat mich müde gemacht, ich bin es nicht mehr gewohnt und habe mich unterhalb des Wehrs auf eine Holzbank gesetzt. Ich sitze am Fluss und bin überwältigt von der Fülle der Eindrücke, die auf mich einströmen. Es ist dieses Gefühl der

 

Ich muss an Franziska denken, die jetzt bestimmt daheim ist und Hausaufgaben macht oder einen Kuchen bäckt oder tut, was Mädchen eben tun. Wir teilen uns ein Stück des Schulwegs. An der großen Kreuzung, wo unsere Wege sich trennen, stehen wir oft lange und reden. Worüber haben wir uns damals nur immer unterhalten? Der Gesprächsstoff schien uns nie auszugehen. Dann schaut einer von uns auf die Uhr und merkt, wie spät es schon ist, und dass unsere Mütter mit dem Mittagessen auf uns warten. Ein Lachen, ein hastiger Abschied.

Der Weg nach Hause, in Gedanken noch immer bei Franziska, ihre Stimme, ihr Lachen im Ohr, die Dinge, die sie sagt, und jene, die sie nicht sagt. Dann das Quietschen des Gartentors, das Knirschen des

Wenn am Nachmittag keine Schule war und ich herumstreunte, dachte ich oft an Franziska. Ich dachte nicht an sie, sie war einfach da, ging neben mir durch den Wald, beobachtete mich bei allem, was ich tat, saß mit mir am Fluss und warf Steine ins Wasser wie ich. Sie kitzelt mich mit einem Grashalm im Nacken, es ist wie eine scheue Liebkosung. Hast du gewusst, dass man sich selbst nicht kitzeln kann?, sagt sie und fährt sich mit dem Grashalm über das Gesicht und lächelt mich an.

War ich verliebt in Franziska? Dauernd hieß es in der Klasse, der ist in die verliebt oder die in jenen, die beiden gehen miteinander, aber was bedeutete das? Meine Gefühle waren viel größer, viel verwirrender als diese kindischen Pärchenspiele, die ebenso schnell zu Ende gingen, wie sie begonnen hatten. Meine Gefühle für Franziska überwältigten mich, wenn ich mit ihr zusammen war, kam es mir vor, als befände ich mich in der Mitte der Welt, als gäbe es nur uns beide und diesen Moment und nichts und niemanden sonst, keine Schule, keine Eltern, keine Kameraden. Aber Franziska liebte mich nicht.

 

Ich gehe zur Bank, wenn mir das Bargeld ausgeht, zum Friseur, wenn meine Haare sich gar nicht mehr bändigen lassen. Wann ich zum letzten Mal

 

Die meiste Zeit verbringe ich damit, die Zeitungen und Zeitschriften durchzuarbeiten, die ich abonniert habe, die relevanten Artikel auszuschneiden und aufzukleben, zu codieren und in die entsprechenden Akten einzuordnen, die Arbeit, für die ich früher bezahlt wurde und die ich seit meiner Entlassung für mich alleine weiterführe, weil ich nicht weiß, wie ich sonst meine Zeit verbringen soll. Auch wenn alle sagen, das Archiv werde nicht mehr gebraucht, es sei ein Anachronismus in Zeiten der Datenbanken und der Volltextsuche. Warum taten sich meine Chefs dann so schwer damit, mir das Archiv zu überlassen? Die Entscheidung, alles wegzuwerfen, war schnell getroffen von irgendeinem Geschäftsleitungsmitglied, einem jener dynamischen Typen, die Leute wie ich nur bei der jährlichen Weihnachtsfeier aus der Ferne zu sehen bekamen. Aber als ich vorschlug, das ganze Archiv inklusive des fahrbaren Regalsystems zu übernehmen und in meinem Keller unterzubringen, wurde die Geschäftsleitung misstrauisch und rang wochenlang mit der Entscheidung. Mein direkter Vorgesetzter brachte alle möglichen Einwände vor, das sei doch viel zu teuer, ob mein Haus überhaupt das Gewicht der Akten aushalte, ob die Feuerwehr es erlaube, eine so große Menge Papier in einem

Selbst nachdem ich vor meinem Chef alle Einwände entkräftet hatte, dauerte es noch einmal Wochen, bis man sich endlich dazu durchgerungen hatte, das Papierarchiv in meine Hände zu geben. Es wurde ein komplizierter Vertrag ausgearbeitet, in dem es um Urheberrechte und um den Persönlichkeitsschutz ging und in dem geregelt wurde, dass ich das Archiv weder zu kommerziellen Zwecken nutzen noch weiterveräußern dürfe. Ich las den Vertrag mehrmals Wort für Wort durch, ich habe Verträge immer gemocht, die winzige Schrift, das dünne Papier, die Struktur der Paragraphen und diese seltsam umständliche Sprache, die jede Eventualität erfassen soll. Es war mir manchmal, als fingen Dinge erst an zu existieren, wenn sie in einem Vertrag geregelt waren, eine Ehe, ein Arbeitsverhältnis, ein Hauskauf, eine Erbschaft.

Die Unterzeichnung des Schriftstücks war die

Diese Leute haben den wahren Zweck des Archivs nie begriffen, sie haben nur die Kosten gesehen und sie durch die Anzahl der Rechercheaufträge geteilt und gemerkt, dass es sich nicht auszahlt. Aber was zahlt sich schon aus? Das Archiv verweist nicht nur auf die Welt, es ist ein Abbild der Welt, eine Welt für sich. Und im Gegensatz zur realen Welt hat es eine Ordnung, alles hat seinen festgelegten Platz und kann mit etwas Übung jederzeit schnell gefunden werden. Das ist der wahre Zweck des Archivs. Da zu sein und Ordnung zu schaffen.

Der Einbau der Rollregale in meinem Keller wurde durch eine spezialisierte Firma ausgeführt, die den Boden aufmeißelte und die Schienen verlegte. Der ohrenbetäubende Lärm des Presslufthammers erfüllte das Haus, der Staub drang bis herauf in die Wohnräume, ein feiner Nebel, in dem die Strahlen des Sonnenlichts hervortraten, das weiße Licht des Aufbruchs.

Dann kam endlich der große Tag, an dem ein Laster vor meinem Haus hielt und Packer stöhnend und fluchend die Kisten mit Akten in meinen Keller schleppten. Ich erschrak ein wenig, als ich sah, wie viele Kisten es waren, wie viel Material, das nun

 

Es ist jedes Mal eine Freude, die richtige Stelle für ein Ereignis zu finden. Eine Naturkatastrophe, die Scheidung einer prominenten Persönlichkeit, ein öffentliches Bauprojekt, ein Flugzeugabsturz, die gegenwärtigen Umstände, es gibt nichts, wofür es im System nicht einen Platz gäbe, wofür nicht ein Platz geschaffen werden könnte. Und indem etwas eingeordnet wird in die Hierarchie der Themen, wird es verstehbar und beherrschbar. Wenn alles wie im Internet gleichwertig ist, hat nichts mehr einen Wert.

Die Akten zu aktuellen Ereignissen, die oft täglich ergänzt werden und anwachsen, liegen auf dem Schreibtisch oder auf dem Boden meines Büros, die anderen verstaue ich in den Rollregalen im Keller, bis ein Thema wieder an die Oberfläche kommt und damit auch die Akte dazu.

Das Archiv nachzuführen bedeutet viel Arbeit und erfordert große Sorgfalt. Ein falsch klassierter Artikel ist so gut wie verloren. Bestimmt gibt es Hunderte solcher verwaister Texte, die in der falschen Mappe

Die viele Arbeit mag ein Grund sein, weshalb ich das Haus mit den Jahren immer seltener verlassen habe, und je weniger ich es tat, desto mehr Überwindung und Kraft kostete es mich. Nach meiner Entlassung war es wohl erst Scham, die mich davon abhielt, in die Öffentlichkeit zu gehen. Ich wollte nicht zu den verlorenen Männern gehören, denen man von weitem ansieht, dass sie nicht mehr gebraucht werden, also blieb ich zu Hause und tat meine Arbeit für mich. Mit der Zeit gewöhnte ich mich an dieses einsame Leben, und inzwischen fühle ich mich am wohlsten in meinen eigenen vier Wänden, im Haus, in dem ich aufgewachsen und in das ich nach dem Tod meiner Mutter wieder gezogen bin. Wenn ich draußen bin, fühle ich mich unsicher und befangen, zu Hause bin ich abgeschirmt vom Durcheinander der sich dauernd verändernden Welt, das mich stört in meinen Gedanken und Erinnerungen, in meinen täglichen Routinen.

 

Ich stehe jeden Morgen um halb sieben auf, dusche, lese die Daten meiner kleinen Wetterstation ab und

Ist das wahr? Franziska lacht. Lach mich nur aus. Ich weiß schon, es ist kindisch, aber wenn du von einem Geliebten singst, dann stelle ich mir vor, ich sei es, nach dem du dich sehnst. Da bist du nicht der Einzige, sagt sie und runzelt die Stirn. Aber ich wollte das nicht mehr, sage ich, also fing ich an, Musik zu meiden. Inzwischen liebe ich die Stille im Haus, die nur vom Summen des Kühlschranks, einem tropfenden Hahn, leisen Geräuschen von der Straße oder von irgendwoher durchbrochen wird. Ich mag die Vorstellung, wie meine Stimme durch dein Haus weht,

Alle meine Tage verlaufen gleich, seien es Werk-, Sonn- oder Feiertage. Selbst meinen Geburtstag würde ich wohl vergessen, wenn nicht der oder jene mir ein Kärtchen schicken würden mit der Aufforderung, mich doch wieder einmal zu melden. Aber ich melde mich bei niemandem, ich wüsste nicht, was ich mit den Leuten reden sollte. Es geschieht ja nichts in meinem Leben, und Meinungen auszutauschen hat mich nie interessiert. Wen kümmert es, was ich von diesem oder jenem Politiker halte, wie ich die Situation in meinem Land oder in meiner Stadt einschätze, ob ich für oder gegen die Abschaltung von Atomkraftwerken bin. Meinungen haben nichts mit Fakten zu tun, nur mit Gefühlen, und meine Gefühle gehen niemanden etwas an. Meine Aufgabe ist das Sammeln und Ordnen. Das Interpretieren der Welt sollen andere übernehmen.

 

Mag sein, dass ich mir irgendwann ein anderes Leben für mich ausgemalt hatte, dass ein anderes

Es kommt vor, dass ich mich frage, warum alles so gekommen ist, wann es sich entschieden hat, wie ich leben würde, aber es hat keinen Sinn, sich das zu fragen. Ich hadere nicht mit meinem Schicksal. Vielleicht waren die entscheidenden Dinge gar nicht jene, die geschehen, sondern jene, die nicht geschehen sind. Den Rest erledigte die Zeit, die immer weiterlief und Kleines zu Großem machte, Zufälliges zu Unveränderbarem. Das Leben, das ich führe, ist nur eines von vielen möglichen, so wie diese Welt nur eine von vielen möglichen ist.

 

Ich habe keine sehr deutlichen Erinnerungen an meine Kindheit. Ich habe keinen Grund, sie nicht für glücklich zu halten, aber wenn ich über die Gefühle nachdenke, zwischen denen ich damals

 

Eine Kindheitserinnerung. Es ist der Tag vor Heiligabend. Auf dem Schulweg komme ich an einem brachliegenden Feld vorbei, auf dem im letzten Sommer Mais wuchs. Es ist früh morgens und noch dunkel, es ist kalt. Der Boden ist gefroren, und ich gehe quer über das Feld, stolpere über die Stoppeln und Furchen. Um die Straßenlaternen jenseits des Feldes

Wenn ich in meinem Leben an irgendetwas geglaubt habe, dann daran, dass alles einen Grund hat, auch wenn wir ihn in den seltensten Fällen erkennen, und daran, dass alles, was wir tun, von Bedeutung ist, auch wenn wir die Folgen nicht erahnen können.

Ich werde zu spät zum Unterricht kommen, ich werde keine Erklärung dafür haben. Mein Lehrer wird es hinnehmen, er weiß längst, dass es keinen Sinn hat, in mich zu dringen. Ich stehe da und schaue zu, wie die Kerze hinunterbrennt und erlischt.

 

Ich kann mich nicht erinnern, jemals getragen worden zu sein, das habe ich mir wohl auch gar nie gewünscht. Ich wollte schon früh auf eigenen Beinen stehen und in Ruhe gelassen werden. Vermutlich habe ich mir nie viel aus Menschen gemacht,