Dr. Stefan Klein
Zeit
Der Stoff, aus dem das Leben ist.
Eine Gebrauchsanleitung
FISCHER E-Books
Stefan Klein, geboren 1965 in München, ist der erfolgreichste Wissenschaftsautor deutscher Sprache. Er studierte Physik und analytische Philosophie in München, Grenoble und Freiburg und forschte auf dem Gebiet der theoretischen Biophysik. Er wandte sich dem Schreiben zu, weil er »die Menschen begeistern wollte für eine Wirklichkeit, die aufregender ist als jeder Krimi«. Sein Buch ›Die Glücksformel‹ (2002) stand über ein Jahr auf allen deutschen Bestsellerlisten und machte den Autor auch international bekannt. In den folgenden Jahren erschienen die hoch gelobten Bestseller ›Alles Zufall‹, ›Zeit‹, ›Da Vincis Vermächtnis‹, ›Der Sinn des Gebens‹, das Wissenschaftsbuch des Jahres 2011 wurde, und ›Träume. Eine Reise in unsere innere Wirklichkeit‹. Seine bekannten Wissenschaftsgespräche erschienen unter dem Titel ›Wir sind alle Sternenstaub‹ und ›Wir könnten unsterblich sein‹. Zuletzt erschien im S. Fischer Verlag ›Das All und das Nichts. Von der Schönheit des Universums‹.
Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de
ISBN 978-3-10-403251-1
Núñez und Sweetser 2001
Oates 1986
Siffre 1963
Die gegenüber dem Sonnenlauf längere Periode der inneren Uhr alleine kann allerdings nicht die Fehlzeit von 25 Tagen erklären, die Siffre in seiner Höhle erlebte. Hinzu kommt die Trägheit des Gehirns, die wir auch ganz alltäglich erleben: Wenn wir erwachen, stehen wir nicht sofort auf, wenn wenn wir müde werden, gehen wir nicht gleich schlafen. Wir folgen dem Rhythmus der inneren Uhr also stets etwas verspätet. Wenn das Sonnenlicht oder andere Zeitgeber fehlen, verstärkt sich dieser Effekt – und führt auf Dauer dazu, dass sich Wach-Schlaf-Perioden noch weiter verlängern.
Dunlap, Loros und DeCoursey 2004
Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass sich mit einem verlängerten Tagesrhythmus (etwa in einem Schlaflabor) das subjektive Empfinden einer Stunde etwas verkürzt. Die Zeit scheint also schneller zu laufen. Die Schätzung verändert sich dadurch aber nicht. Siehe Aschoff 1995, Nichelli 1993
Whitrow 1991
Palmer 2002
Und es ist bei weitem nicht das einfachste Geschöpf, das diese Fähigkeit hat. Biologische Uhren wurden selbst in Pilzen und Bakterien gefunden.
Young 2000. Dunlap 1999. Young 1998
Dunlap, Loros und DeCoursey 2004
Yoo et al 2004
Zulley und Knab 2000
Doch wann zehn Minuten vergangen sind, schätzen sie so genau wie vor ihrer Erkrankung. Auch die Zeitsteuerung für Bewegung funktioniert: Diese Patienten können mühelos Tischtennis spielen. Der suprachiasmatische Nucleus kümmert sich also nur um den Tageslauf. Offenbar haben wir mehrere Uhren im Kopf, manche für kürzere, andere für längere Zeiten.
Dunlap, Loros und DeCoursey 2004
Welsh et al 1995
Feldman 1967
siehe z.B. Roenneberg und Merrow 2003
Schon Kerzenschein würde Wirkung zeigen. Die Vermutung, dass nur helles Tageslicht die innere Uhr stellen kann, ist überholt und wurde durch Experimente widerlegt. Siehe z.B. Dunlap, Loros und DeCoursey 2004
Einen Selbsttest können Sie im Internet durchführen unter http://www.imp-muenchen.de/
zitiert nach Martin 2002
Roenneberg et al 2003; Martin 2002; Dunlap, Loros und DeCoursey 2004
Archer 2003, Katzenberg 1998
Smolensky und Lamberg 2000
Folkard 1990
Smoelnsky und Lamberg 2002
Zulley und Knab 2000
Folkard 1977
Lyons et al 2005
Im Original: »Diurnal and weekly, but no lunar rhythms in humans copulation«. Siehe Palmer et al. 1982
Smolensky und Lamberg 2000
Abbott 2003
Smolensky und Lamberg 2000, Carskadon et al 1998
Abbott 2003
Dunlap et al 2004
Nicht nur klassische Stoffwechselstörungen und psychische Leiden werden inzwischen mit der inneren Uhr in Verbindung gebracht, sondern auch Suchtkrankheit und Übergewicht. Siehe McClung et al 2005, Turek et al 2005
Wirz- Justice et al 2005
Pepper 2004
Quelle: Statistisches Bundesamt
Mach 1865
Vierordt 1868
Draasima 2004
siehe Rubia und Smith 2004 und darin zitierte Literatur; Malapani et al. 1998.
Verantwortlich dafür sind so genannte Spiegelneurone im Stirnlappen. Diese grauen Zellen feuern sowohl, wenn ein Tier eine Bewegung ausführt, als auch, wenn es sie beobachtet. Rizzolatti et al 1996
Siehe Coull et al 2003 sowie Rubia und Smith 2004 und darin zitierte Literatur.
Buonamano und Karmarkar 2002
Ivry und Spencer 2004, Lewis und Walsh 2002, Gibbon et al 1997.
Matell und Meck 2000
Hooper 1998
Rammsayer und Lima 1991
Mitrani et al 1977
Rao et al 2001
Lewis 2002, Fuster 1973
Binkofski und Block 1996
James 1993
Das ist das Webersche Gesetz des Zeitsinns: Der Fehler beim Wiedererkennen von Zeitdauern wächst proportional mit der vorgegebenen Dauer. Er beträgt individuell unterschiedlich zwischen zwei und fünf Prozent. Dieser Zusammenhang gilt für Spannen von ungefähr drei bis 50 Sekunden.
Grüsser 1986
Ferdinand Binkofski, persönliche Mitteilung. Siehe auch Ebert et al 2002. Ein Selbstversuch ist einfach: Ziehen Sie sich mit einer zweiten Person an einen ruhigen Ort zurück. Schließen Sie die Augen, damit Sie sich nicht an der Außenwelt orientieren können. Dann holen Sie eine Weile tief und ruhig Luft; dabei nehmen Sie sich vor, zwei Minuten lang durchzuhalten. Ihr Freund sieht zur Kontrolle auf die Uhr. Legen Sie eine Pause ein, dann wiederholen Sie die Übung mit hastigem Atem. Der Freund wird Sie dann sehr wahrscheinlich darauf hinweisen, dass sie beide Male viel eher als vor Ablauf von zwei Minute Schluss gemacht haben. Das ist normal: Wir überschätzen die Zahl der Minuten, wenn uns ein äußerer Anhaltspunkt fehlt. Vor allem aber wird die zweite Runde noch kürzer als die erste gedauert haben. Ihre innere Zeit hat sich mit dem Atem beschleunigt.
Buckhout 1977
Loftus et al. 1987
Unter http://www.dartmouth.edu/~psych/people/faculty/tse/timedemo.htm . Die Ergebnisse einer kontrollierten Versuchsreihe sind nachzulesen in Tse 2004
Psychologen sprechen im ersten Fall von einer prospektiven Schätzung (wenn den Zeitsignalen besonderes Augenmerk gilt), im zweiten Fall von einer retrospektiven Schätzung (wenn die Zeitsignale nicht beachtet werden).
Coull et al 2003
Gruber und Block 2003, siehe auch Botella et al 2001
Für Experten der Psychopharmakologie: Der Effekt kann nicht auf die dopaminerge Wirkung des Koffeins zurückgeführt werden. Denn als Dopaminagonist müsste Koffein die einen wie auch immer gearteten inneren Takt beschleunigen. Die äußere Zeit erschiene verglichen damit verlangsamt. Im Experiment aber beobachtet man das Gegenteil.
Auch dies deutet darauf hin, dass es sich tatsächlich um einen Wirkung der veränderten Aufmerksamkeit handelt. Siehe auch Frankenhauser 1959
Mandela 1997
Diese Spekulation geht bis auf Kirchenlehrer Augustinus zurück, der sich wiederum auf eine Stelle im ersten Korintherbrief der Bibel bezieht. Siehe Pabst 1997
Wenn Schall am rechten Ohr eintrifft, wird er in einen elektrischen Impuls übersetzt und gleichzeitig über mehrere, verschieden lange Leitungen in den Hinterkopf geschickt. Am linken Ohr geschieht dasselbe. Die Länge der Leitungen gleicht nun den Zeitunterschied zwischen rechts und links aus. Wenn das Geräusch rechts früher als links zu hören war, muss das Signal von rechts eine längere Leitung nehmen, damit es im Hinterkopf gleichzeitig mit dem linken Signal ankommt. Spezielle Neuronen im so genannten Rautenhirn sprechen auf den synchronen Empfang an; sie stellen jene zwei Leitungen – eine kürzere und eine längere – fest, deren Impulse gleichzeitig ankamen. Daraus erschließt das Gehirn, wie groß der Zeitunterschied war.
Leibod und van Hemmen 2002, Joris et al 1998
Hören wir aber in der Zwischenzeit ein anderes Geräusch, sind fünf hundertstel Sekunden Abstand nötig.
Fraisse 1974
Eagleman und Holcombe 2002
Libet 1999
Eagleman 2004, Lau et al 2004, Haggard et al 2002
Eine weitere Manipulation der Gegenwart ist der so genannte »Attentional Blink« – eine Dunkelperiode des Bewusstseins. Der Verstand ist nämlich nicht zu allen Zeitpunkten aufnahmefähig. Einzelne Schnappschüsse, die wir ständig von der Wirklichkeit machen, sind sogar durch eine kurze Dunkelperiode getrennt. Offenbar braucht das Gehirn nach dem Empfang von zusammen gehörigen Daten zudem eine kurze Ruhepause, um wieder aufnahmefähig zu sein. So schaltet sich die Aufmerksamkeit ab, wenn wir einen Reiz empfangen haben, und wir werden für den nächsten Moment buchstäblich blind und taub – als müsse das Bewusstsein erst wieder frei geräumt werden. (Zum akustischen »attentional blink« siehe Marois et al 2000.)
Dabei kommen die Signale von Auge und Ohr im Hirn sehr wohl an, wie sich anhand von Hirnströmen und Computertomographien nachweisen lässt. Doch die neuen Informationen gelangen nicht ins Bewusstsein. Es ist, als hätten wir die Bilder während der Dunkelperiode niemals gesehen, die Geräusche niemals gehört. Bis zu einer halben Sekunde lang dauert dieser gespenstische Zustand. Dabei besteht keine Aussicht, dass wir die Lücken im Film jemals bemerken. Die Eindrücke vorher und nachher fügt das Bewusstsein nahtlos zusammen. Und was fehlt, haben wir ja niemals erfahren. Sergent et al 2005, Luck et al 1996
Siehe z.B. Gruber et al 2000 und darin zitierte Literatur
Della Sala and Logie 1993
James 1993
Giambra 1995
Schooler et al 2004
Zu diesen Zentren im Großhirn gehört beispielsweise der dorsale mediale präfrontale Cortex hinter der Stirn: Gunsnard und Raichle 2001. Frith und Frith 1999.
Hurlburt 1990
Für Reize, die eine Gefahr bedeuten könnten, ist im Gehirn eine Art Expressweg eingerichtet. Wenn auch nur ein böses Gesicht in unserem Blickfeld erscheint, bewirkt diese Schaltung, dass sich die Aufmersamkeit sofort darauf richtet. Dabei spricht ein Amygdala genannter Kern auf der Unterseite der Großhirnrinde an, und zwar noch bevor wir bewusst etwas bemerken. Die Amygdala sorgt dafür, dass Emotionen wie Angst oder Angriffslust ausgelöst werden. Detailliert sind diese Vorgänge in Joseph Ledoux' ausgezeichnetem Buch »Das Netz der Gefühle« beschrieben. Reize, die eine Belohnung versprechen, werden auf einem anderen Weg verarbeitet. Hier springt das so genannte Belohnungssystem an, dessen Funktion ich in meinem Buch »Die Glücksformel« ausführlich behandelt habe.
Fan et al 2005
Rees, Frtih und Lavie 1997
Klein 2002
Hilts 1996. Einen Überblick über die zu wichtigsten Forschungsarbeiten zu H.M. gibt Corkin 2002
Milner 1966
Dies ist kein Widerspruch zur in Kapitel 5 getroffenen Aussage, wonach die Erinnerung im Arbeitsgedächtnis bereits nach drei Sekunden verblasst. Wenn ein Reiz wichtig bleibt, können wir ihn im Arbeitsgedächtnis behalten, indem wir die Erinnerung im Prinzip beliebig oft auffrischen, etwa, indem wir uns die Information immer wieder neu vorsagen. Dazu ist auch H.M. in der Lage. Da das Arbeitsgedächtnis aber nur sehr begrenzt aufnahmefähig ist, wird in der Regel spätestens nach 20 Sekunden die nächste Information geladen.
Richards 1973
Über die neurobiologischen Grundlagen eines solchen »Gefühls, etwas zu wissen«, siehe Miyashita 2004
Eindrucksvoll zeigt sich dieser Mechanismus, wenn man das Merkvermögen von Schachgroßmeistern überprüft. Experten in diesem Spiel können sich mühelos komplizierte Stellungen mit vielen Figuren einprägen – aber nur dann, wenn diese Formationen tatsächlich in einem Spiel auftreten können. Zeigt man ihnen hingegen eine beliebige Verteilung von Figuren auf dem Schachbrett, so ist ihr Merkvermögen genau so schlecht wie das von Laien. Die Schachmeister können sich die komplizierten Spielsituationen nur deswegen merken, weil sie gelernt haben, sie zu kodieren. Siehe Squire und Kandel 1999
Austerlitz, S. 200
McCleland et al 1995
Damasio 1994
siehe z.B. Fujii et al 2002 und darin zitierte Literatur.
Neisser 1967
Dieser Vorgang hießt Langzeitpotenzierung. Für Einzelheiten siehe z.B. Squire und Kandel 1999
Diese Experimente hat der Münchner Neurowissenschaftler Tobias Bonhoeffer angestellt; sie sind in meinem Buch »Die Glücksformel« beschrieben.
Rosenbaum et al 2005, Tulving 2002
Wagennaar 1986
Liegt es daran, dass das Gehirn mit der Frage »wann«? einfach nicht allzu viel anfangen kann? Man könnte nun annehmen, dass wir uns wenn schon nicht Daten, so doch zumindest die Reihenfolge unserer Erfahrungen merken. Vielleicht ist ja jede Erinnerung mit einer Art von Wegweisern verbunden, die uns auf dem Weg durch unsere Vergangenheit an die Erfahrungen unmittelbar vorher und nachher vermitteln. In diesem Fall allerdings müsste es uns zumindest leichtfallen, bekannte Erlebnisse ohne weiteren Fingerzeig zeitlich zu ordnen. Jahre etwa nach der Reise in eine fremde Stadt vermöchten wir dann zu sagen, in welcher Abfolge wir welche Sehenswürdigkeit zum ersten Mal sahen. Ist es wirklich so? Neben vielen anderen Erfahrungen, die dagegen sprechen, hat Wagenaar auch hier ein überzeugendes Resultat anzubieten. An 157 Tagen nämlich notierte er statt einem zwei Ereignisse, die ihm besonders erinnernswert erschienen. Auf den Karteikärtchen machte er sich dann einen Vermerk, dass es für den betreffenden Tag noch eine niedergeschriebene Erinnerung gab. Zog er nun in der Rückschau eine solche Karte, versuchte er sich auch des anderen Erlebnisses dieses Tags zu entsinnen. Das gelang ihm in 314 Versuchen ganze 22 Mal. Und von diesen handelten 20 von Erlebnissen, die sich am selben Ort abgespielt hatten. Nur zwei Ereignisse also konnte er einzig aufgrund ihrer zeitlichen Nähe erinnern – bei solch einer geringen Erfolgsquote wohl reine Glückstreffer.
Offenbar speichert das Gehirn einen zeitlichen Zusammenhang vor allem dann, wenn die zwei Ereignisse miteinander zu tun haben. Wenn wir dagegen morgens ein Erlebnis und abends ein anderes haben, zwischen denen nicht die geringste innere Verbindung besteht, prägen wir uns die zeitliche Nähe auch nicht besonders ein. Wir wissen zwar noch am darauf folgenden Tag, was gestern war, doch diese chronologische Information verflüchtigt sich bald. Wir können die Ereignisse der vorigen Woche anhand ihrer Wochentage abrufen, weil uns noch so viele Einzelheiten präsent sind, dass wir die richtige Reihenfolge daraus leicht rekonstruieren können. Doch eben diese Details, anhand derer wir sagen können, ob etwas am Montag oder am Dienstag geschah, gehen verloren.
Für eine Übersicht siehe Lepage et al. 1998 sowie Lytton und Lipton 1999
siehe z.B. Ledoux 1998
Doch solche Erlebnisse sind die Ausnahme. Wahrscheinlich können Sie auch sagen, wo Sie waren, als Sie vom Fall der Berliner Mauer erfuhren. Doch über das Wann sind sich die meisten Menschen weniger sicher. Das Datum 11. September hat sich uns eingeprägt, weil es selbst ein Symbol geworden ist. Beim nicht minder bewegenden Mauerfall hat aber der genaue Zeitpunkt nie diese Bedeutung erlangt. So wird Ihnen paradoxerweise, doch aus gutem Grund eher geläufig sein, zu welcher Tageszeit als an welchem Tag die deutsche Geschichte diese Wendung nahm. Um 23 Uhr stürmten die Massen den Berliner Grenzübergang Bornholmer Straße – wir wissen das, weil wir entweder spätabends vor dem Fernseher saßen oder die ungeheure Neuigkeit am nächsten Morgen beim Frühstück erfuhren. Dass man den 9. November schrieb, ist hingegen viel schwächer in den Köpfen verankert.
Dass wir die Stunde, doch nicht den Tag dieses historischen Ereignisses erinnern, ist typisch dafür, wie wir uns Zeitpunkte merken. Das Gedächtnis speichert die Umstände, unter denen wir etwas erlebten; auf den Zeitpunkt schließen wir aufgrund dieser Umstände zurück: Wir sehen uns noch Radio hörend am Frühstückstisch sitzend. Über die Tageszeit kann daher kaum Zweifel bestehen. Für das Datum hingegen fehlt uns solch ein starker Anhaltspunkt. Dieser Effekt, den der amerikanische Psychologe William Friedman nachgewiesen hat, ist ein starkes Indiz dafür, dass das Gehirn nicht Zeitpunkte aufzeichnet, sondern sie erst im Nachhinein aus anderen Fakten rekonstruiert. Siehe Friedman und Wilkins 1985.
Schon anatomisch sind Gedächtnis und Wahrnehmung gar nicht voneinander zu trennen. Denn die einzelnen Erinnerungen sind in eben jenen Systemen des Gehirns aufgezeichnet, die auch zur Wahrnehmung der Gegenwart dienen. Gedächtnisbilder zeichnet der visuelle Cortex auf, der sich ganz allgemein mit Verarbeitung der Signale vom Auge befasst. Klänge der Vergangenheit wiederum sind in den Regionen aufgezeichnet, die für Höreindrücke zuständig sind. Und Gefühlserinnerungen kommen aus den Zentren, die Emotionen erzeugen.
Schacter 1999
Lewis und Critchley 2003
LeDoux 1998
Ochsner et al 2004. Ochser sieht in diesem Umgang mit der vergangenen Zeit einen Schlüssel zur seelischen Gesundheit. Menschen mit einer stabilen Persönlichkeit seien in der Lage, sich ihre Geschichte so auszudeuten, dass sie mit ihr leben könnten, ohne den Bezug zur Wirklichkeit zu verlieren. Wer hingegen unter Depressionen leide, grübele übermäßig über seine schlechten Erfahrungen. Abgesehen davon, dass die Stimmung nur noch weiter sinkt, besetzt man so die Vergangenheit erst recht mit negativen Gefühlen. In einer Verhaltenstherapie lässt sich lernen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Siehe Ochsner 2005.
Squire 1992, MacKinnon und Squire 1989
Nooteboom 1985
Schacter 1999
Block 1982
Ein ähnliches Phänomen erleben wir oft, wenn wir Träume erinnern. Träume erscheinen uns im Nachhinein sehr lang, weil sie bildreich sind. Versuche in Schlaflabors zeigen aber, dass die Szenen, die wir als Minuten dauernd erinnern, im Schlaf Traumphasen von meist nur wenigen Sekunden entprechen.
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band 7: Die wiedergefundene Zeit. Übersetzung des Autors
Man testet dies, indem man den Kindern erst eine Sequenz zu hören gibt, bis sie daran das Interesse verlieren, was sie etwa durch eine neue Blickrichtung zu erkennen geben. Dann folgt eine andere Sequenz. Wenn das Interesse des Kindes wieder erwacht, hat es den Unterschied offensichtlich bemerkt. Siehe Friedman 1990
Hannon und Trehub 2005
Phillips-Silver und Trainor 2005
Eliot 2001
Friedman 1990
Gogtay et al. 2004, Levine 2004 und darin zitierte Literatur.
McClelland et al 1995
Siehe Draasima 2004 und darin zitierte Literatur
Training kann allerdings diese Leistung verbessern. Siehe Friedman 1990
Nichelli 1993 und darin ziterte Literatur
Piaget 1955
Zur Hirnentwicklung in der Pubertät: Gogtay et al 2005, Thopson et al 2005, Paus et al 1999
Da wir selbst nicht spüren, wie sich so unserer eigener Zeitmaßstab verschiebt, würden wir die Veränderung der Außenwelt zuschreiben: Die Welt scheint zu rasen. Als Beweis werden meist Experimente angeführt, in denen Menschen vorgegebene Zeitintervalle nachmachen sollen. Ältere Leute geben dabei normalerweise kürzere Intervalle wieder als junge. (Siehe z.B. Coelho et al. 2004, Block et al 1998)
Doch diese Erklärung muss scheitern. Einmal angenommen, es gäbe in unseren Köpfen solch einen Zeitmesser für Sekunden und Minuten: Wenn er nachginge, dürfte sich die wiedergegebene Dauer trotzdem nicht ändern. Während wir mit einer zu langsam tickenden Uhr eine Zeitperiode stoppen, zählen wir zwar beispielsweise statt zehn Sekunden nur sieben. Doch wenn wir diese Periode wiedergeben sollen, gebrauchen wir dieselbe Uhr; wir warten also ab, bis sie sieben Sekunden anzeigt. Weil die Uhr nachgeht, entsprechen diese subjektiv sieben Sekunden tatsächlich zehn Sekunden – wir haben die Dauer richtig wiedergegeben. Ein erlahmendes Chronometer kann an der scheinbar verkürzten Vergangenheit also nicht schuld sein.
Auch der Zeitgeber für den Tageslauf – die einzige physiologische Uhr, die zweifellos existiert – kann das Rätsel nicht lösen. Denn diese innere Uhr verlangsamt sich keineswegs, sondern läuft im Gegenteil in hohen Jahren zu schnell, wie wir im &. Kapitel sehen werden. Daran liegt es übrigens, dass die meisten Menschen im Alter Frühaufsteher werden.
Aber es meint ja auch niemand Minuten, Stunden und Tage, wenn er sagt, dass die Zeit mit den Jahren zu rasen beginnt. Denn die Wahrnehmung dieser kurzen Zeiträume verändert sich kaum. Was gemeint ist, sind viel größere Dauern – Wochen, Monate oder gar Jahre –, die in der Rückschau wie verschwunden erscheinen.
Schacter 1999
James 1890. Eigene Übersetzung
Für einen guten Überblick siehe Whalley et al 2004
Hultsch et al 1999
siehe z.B. Richards et al 2003 und darin zitierte Literatur.
Meyer Fortes 1970
Der Brief datiert vom 6. Juni. Im Original steht statt »Erleichterungen« das heute nicht mehr gebräuchliche Wort »Fazilitäten«.
Repräsentative Forsa-Umfrage im Auftrag der Zeitschrift »Stern«, April 2005
Bei der älteren Erhebung handelt es sich um eine Untersuchung des Soziologen Manfred Garhammer (siehe Garhammer 1999), bei der neuen um die Befragungswelle 2002 des Sozio-Ökonomischen Panels des Deutschen Instituts für Wirschaftsforschung (SOEP; nach Hamemermesh 2004).
U.S. General Social Survey, http://www.icpsr.umich.edu:8080/GSS/rnd1998/merged/cdbk/rushed.htm , siehe auch Robindson und Godbey 1996
Gefragt wurde, ob die Angestellten während wenigstens eines Viertels ihrer Arbeitszeit ein hohes Tempo vorlegen müssen oder unter Zeitdruck stehen. Quelle: Europäische Stiftung zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen; Erste und dritte Umfrage über die Arbeitsbedingungen. Zusammenfassung http://www.eurofound.eu.int/publications/files/EF00128DE.pdf
Befragungswelle 2002 des SOEP (nach Hamemermesh 2004)
Untersuchung der Nürnberger GfK
Beispielsweise wird der Begriff »Stunde« erst im Mittelfranzösischen nach 1400 allgemein in seiner heutigen Bedeutung einer Zeitdauer verwendet. Bis dahin bezeichnete das Wort »heure« im allgemeinen Sprachgebrauch allein einen Zeitpunkt. Siehe Glasser 1936
Seifert 1988
zitiert nach Whitrow 1991
zitiert nach Weber 1993
Raybeck 1992
Levine 1998
Amtsblatt des Ministeriums für Kultus und Sport Baden-Württemberg vom 21. Februar 1994
O'Malley 1990
Lamprecht 1912
Aus »Kochira katsushikaku kameari koen mae hashutsujo« von Akimoto Osamu. Den Hinweis auf diesen Manga und die Übersetzung verdanke ich Florian Coulmas Buch »Japanische Zeiten«.
Coulmas 2000
Levine 1998
Kelly 1998
Schulze 1992
New York Times, Beilage der Süddeutschen Zeitung vom 5.12.05
Helprin 1996
Experimentell zeigten dies z.B. Callejas, Lupiáñez und Tudela 2004. Siehe auch Posner 1994
Gonzales und Mark 2004
Dies liegt zum einen oft an verändertem Schlafrhythmus, zu einem anderen daran, dass die Symptome stärker wahrgenommen werden, sobald die gewohnte Ablenkung fehlt. Torelli et al 1999
Weber 1993
Levine 1998
Hinz 2000, King 1986, Bost 1984, Macan 1994
Macan 1996, Kaufman-Scarborough und Lindquist 2003
siehe auch Macan 1994 und Slaven und Totterdell 1993
Kaufman-Scarborough und Lindquist 2003
Jiang 2004, Jiang, Saxe und Kanwisher 2003, siehe auch Adcock et al 2000
siehe z.B. Meyer et al 1998. Beide Resultate – langsamere Reaktion und mehr Fehler beim so genannten Multitasking – zeigt auch ein mittlerweile gängiges psychologisches Testverfahren, der so genannte Trail Making Test B. Dieser gibt ein Maß für die Verarbeitungsgeschwindigkeit im Gehirn an.
Unter bestimmten Voraussetzungen können wir zwar zwei Dinge gleichzeitig bewusst wahrnehmen, doch niemals gleichzeitig zwei bewusste Entscheidungen treffen – und seien sie noch so einfach. Siehe Pashler 1994. Zum so genannten »automatisierten Multitasking« siehe z.B. Schumacher et al 2001
Gibbs 2005
Douglas et al 2005
Eine eindrucksvolle Demonstration, wie entscheidend ein effektiver Filtermechanismus für die Kontrolle der Aufmerksamkeit und die Leistungsfähigkeit bei vielen Aufgaben ist, geben die in Vogel et al 2005 beschriebenen Versuche.
Gogtay et al 2004
Ich habe über diese Zusammenhänge ausführlich in meinem Buch »Die Glücksformel« geschrieben.
So weichen denn auch die Strukturen im Stirnhirn von Patienten mit Aufmerksamkeitsstörung von der Norm ab, wie sich mit bildgebenden Verfahren (etwa der Postitronen-Emissions-Tomographie und der Kernspintomographie) feststellen lässt. Für eine Übersicht siehe Barkley 1998
Zum Beispiel das Gen DAT1, welchen die genaue Form eines Dopamin-Transportermoleküls festlegt. Siehe Rueda et al 2005 und darin zitierte Literatur
Das Training steht zum Download im Internet bereit: www.teach-the-brain.org
Dass es tatsächlich Posners Spiele waren, die die Kinder vorangebracht haben, beweist eine Kontrollgruppe von Kindern, die Videos glotzen durften, während die anderen am Bildschirm Schafe retteten. In der Kontrollgruppe gibt es viel weniger Unterschiede zwischen vorher und nachher. Siehe Rueda et al 2005
Klingberg et al 2005
Olesen, Westerbeg und Klingberg 2003
Ich habe darüber ausführlich in meinem Buch »Die Glücksformel« geschrieben.
Diese Untersuchungen wurden bei Patienten mit Zwangsstörungen und Depressionen angestellt (Baxter et al 1992, Brody et al 2001) . Bei Aufmerksamkeitsstörungen laufen die entsprechenden Studien erst an.
Safren et al 2005 und darin zitierte Literatur
Durchschnittswerte nach der Zeitbudgeterhebung des Statistischen Bundesamtes Wiesbaden 2001–2002 für Männer zwischen 18 und 65 Jahren.
Friedman und Rosenman 1959
Sapolsky 1998
Die beiden Kardiologen zogen ihre Schlüsse aus den Daten 83 ausschließlich männlicher Patienten, die sie teilweise selbst als »Typ A« ausgesucht hatten. Die Befunde wurden mit Ergebnissen einer weiteren Gruppe Männer verglichen, die Friedman und Rosenman wiederum selbst ausgesucht hatten: »Typ B«. Dies waren nach subjektiver Einschätzung ungewöhnlich ruhige Menschen. Schließlich wurde als bizarrer Vergleich auch noch eine Schar blinder Arbeitsloser herangezogen (»Typ C«). Die Daten der Gruppen unterschieden sich; beim »Typ A« waren die höchsten Cholesterinwerte verbreitet. Daraus schlossen Friedman und Rosenman, dass die Hektiker unter besonderem Herzinfarktrisiko leben.
Um ihre Behauptung zu untermauern, hätten Friedman und Roseman aber zeigen müssen, wie sich der Gesundheitszustand von Menschen mit einem bestimmten Merkmal – etwa Vorliebe für Hektik – gegenüber dem Zustand von Menschen abweicht, die nur dieses Merkmal nicht haben, sonst aber unter völlig vergleichbaren Umständen leben. Die diagnostischen Kriterien für das Vorliegen einer Herzerkrankung waren mangelhaft. Tatsächlich finden sich unter den »Typen A« der Studie ein Drittel mehr Raucher als bei den Patienten »Typ B«. Und vor allem qualmten die Raucher »Typ A« pro Tag mehr als doppelt so viel, nämlich über eine Schachtel am Tag. Dies allein wäre mehr als genug, um die Unterschiede zu erklären – eigentlich wundert man sich, dass die Cholesterinwerte der als »Typ A« bezeichneten Kettenraucherversammlung nicht noch viel schlechter ausgefallen sind.
Arnsten 1998
Zahrt et al 1997, Arnsten 1997, Arnsten und Goldman-Rakic 1990. Diese Erkenntnis steht im Widerspruch zu einem berühmten »Gesetz« der Psychologie, welches die amerikanischen Verhaltenswissenschaftler Yerkes und Dodson im Jahr 1908 aufgestellt haben. Demnach steige mit zunehmender Stressbelastung die Lernfähigkeit – und, wie viele behaupteten, auch das allgemeine Leistungsvermögen – stark an, bis sie bei hohem Stress wieder abnehme. Diese Relation, die grafisch dargestellt die Kurve eines umgekehrten »U« ergibt, findet sich in fast jedem Lehrbuch der Psychologie und klingt plausibel. Das »Gesetz« von Yerkes und Dodson wurde aber nie schlüssig belegt. (Für eine gute Übersicht siehe z.B. Teigen 1994.) Die umgekehrte »U«-Kurve hat nur insofern ihre unbestrittene Berechtigung, als bei Unterstimulation wie Überstimulation des dopaminergen Systems die Leistungsfähigkeit des Gehirns abfällt. (Zahrt et al 1997) Doch dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass Stressbelastung der geeignete Parameter wäre, um das dopaminerge System auf den Punkt zu bringen, der dem Leistungsoptimum entspricht. Richtig ist die umgekehrte U-Kurve allenfalls, wenn man sie auf einer sehr weiten Skala zieht. Irgendwo zwischen der tiefen Entspannung des Schlafs und der höchsten Stressbelastung muss es ein Leistungmaximum geben. Doch diese Aussage ist trivial.
Sapolsky 1998
Marmot et al 1991 und 1997.
Sogar den Bossen einer Pavianhorde scheint diese Methode vertraut. Wie der Stressforscher Sapolsky in der Serengeti beobachtete, kann ein Männchen von hohem sozialen Rang einem anderen beispielsweise vorschreiben, wann es trinken darf: Wenn sich das Alphatier dem Wasserloch nähert, muss sich ein Schwächerer trollen. Obwohl die Underdogs keineswegs Mangel leiden, weil es in der Serengeti genug Futter und Wasser für alle gibt, leiden sie dennoch gewaltig unter ihrer Position. Ihr Gesundheitszustand ist deutlich schlechter als bei den Anführern der Gruppe. Je niedriger Paviane in der Hierarchie stehen, desto mehr Stresshormone zirkulieren in ihrem Blut, desto häufiger sind sie krank, und desto früher sterben sie (Sapolsky 2000; Sapolsky 1998; Sapolsky 1993).
Siehe Sapolsky 1998 und darin zitierte Literatur
Siehe z.B. Rennecker und Godwin 2005 und darin zitierte Literatur
Chandola, Kuper et al 2004
Einiges spricht dafür, dass Männer stärker als Frauen auf Hierarchien achten, Hackordnungen ausfechten und dementsprechend auch mehr darunter leiden, wenn sie einen Rangkampf verlieren. Verhaltensforschung an anderen Arten von Affen bestätigt nicht nur diesen Befund, sondern auch, dass Unterwerfung gerade für männliche Tiere ein erheblicher Stressor ist. Im Unterschied zu Affen können Menschen allerdings mehr als einer Hierarchie angehören. So kann ein kleiner Angestellter, der sich in seinem Betrieb ducken muss, in seiner Freizeit als Vorsitzender eines Sportvereins hohe Anerkennung genießen. Siehe auch Sapolsky 2003.
Hamermesh und Lee 2003
Holz 2002
Man könnte vermuten, dass psychische Krankheiten in Finnland generell weniger verbreitet sind und darum auch Eltern weniger als anderswo betroffen sind. Eine genaue statistische Analyse zeigt aber, dass diese Erklärung nicht zutrifft. Siehe Chandola et al 2003
Umfrage des Kölner ISO-Institus 2003
Hellert 2001
Ausgenommen sind einzig die Angestellten von Kleinunternehmen mit weniger als 15 Mitarbeitern.
Hochschild 2002
Leserbrief in der Ausgabe vom 30. Juli 2005
Ich halte mich hier an den üblichen Sprachgebrauch. In meinem Buch »Die Glücksformel« habe ich argumentiert, dass dieses System treffender »Erwartungssystem« genannt würde, da es Informationen über die Erwartung von Belohnung und nicht über die Belohung selbst verarbeitet.
Freeman und Edwards 1998
Ein erschütterndes Beispiel für diesen Effekt haben die österreichischen Soziologen Marie Jahoda und Paul Lazarsfeld in einem Städtchen namens Marienthal beschrieben. Während der Wirtschaftskrise nach 1929 brach der große Arbeitgeber an diesem Ort, eine Textilfabrik, zusammen; Ersatz für die verlorenen Jobs war nirgends zu finden. Jahoda und Lazarsfeld zeigten, wie den Arbeitslosen von Marienthal nicht nur ihr Einkommen, sondern auch alles Zeitgefühl verloren ging. So stoppten die beiden Wissenschaftler, wie schnell sich die Leute in der Hauptstraße des Ortes bewegten. Die Schrittgeschwindigkeit der Arbeitslosen betrug weniger als drei Kilometer pro Stunde: Damit schlichen nicht einmal halb so schnell wie ein zielstrebig marschierender Fußgänger dahin. Oft blieben sie sogar ganz stehen und blickten in die Luft. In Zeiterfassungsbögen, die auf Bitte der Wissenschaftler angelegt wurden, finden sich denn auch Einträge wie: »16–17 h: Um die Milch gegangen. 17–18 h: Vom Park nach Hause gegangen.« Wofür der Schreiber zwei Stunden zubrachte, war ein Weg von ein paar Hundert Metern.
Die Forscher ziehen ein bitteres Fazit: »Wer weiß, mit welcher Zähigkeit die Arbeiterschaft seit den Anfängen ihrer Organisation um die Verlängerung der Freizeit kämpft, der könnte meinen, dass in allem Elend der Arbeitslosigkeit die unbegrenzte freie Zeit für den Menschen doch ein Gewinn sei. Aber bei näherem Zusehen erweist sich diese Freizeit als tragisches Geschenk. Sie (die Arbeitslosen), die sich nicht mehr beeilen müssen, beginnen auch nichts mehr und gleiten allmählich ab (…) ins Ungebundene und Leere.« Siehe Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel 1975.
Damasio 1995
Toplak et al 2005
Douglas und Parry 1994. Douglas und Parry 1983. Barkley 1997
Hamermesh und Lee 2003
Es handelte sich um die Befragung des sozio-oekonomischen Panels (SOEP), die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung jährlich an 24000 Personen vornimmt.
In der Gruppe der nicht erwerbstätigen Frauen aus den drei Prozent der Haushalte mit landesweit höchsten Einkommen beklagen sich 19 Prozent über häufige oder ständige Zeitknappheit. Der entsprechende Durchschnitt aller Hausfrauen liegt bei 14 Prozent. 39 Prozent der reichsten Hausfrauen schätzen sich glücklich, kaum oder gar keinen Zeitstress zu kennen. Im Durchschnitt sind es 49 Prozent. Siehe Hamermesh und Lee 2003
de Grazia 1962
Zur Neurobiologie unserer Unersättlichkeit siehe mein Buch »Die Glücksformel«
Der genaue Faktor, um den sich die Zeit streckt, ist 1,8. Er berechnet sich nach der Formel . v ist die Fluggeschwindigkeit der Rakete und c die Lichtgeschwindigkeit.
Aus der Graphik lässt sich der in voriger Anmerkung genannte Faktor ableiten. Louise sieht das Licht auf Thelmas Uhr von einem Spiegel zum anderen eine Strecke c t zurücklegen. Währenddessen hat sich die Rakete um die Distanz v t vorwärts bewegt. Thelma hingegen ist gegenüber der Rakete (und ihren Spiegeln) in Ruhe. Aus ihrer Sicht ist das Licht auf dem kürzesten Weg zwischen den beiden Spiegeln unterwegs; es legt aus ihrerWarte eine Strecke c t’ zurück. t’ ist die Zeit, die Thelma misst. Die drei Strecken bilden ein rechtwinkliges Dreieck. Nach dem Satz des Pythagoras gilt also c2 t2 = c2 t’2 + v2 t2. Daraus ergibt sich der obige Faktor. Die Zeichnung ist nicht maßstabgetreu.
GPS wertet die Laufzeit von Signalen aus, die aus Satelliten zur Erde gefunkt werden. Die Uhren auf den Satelliten gehen aber anders als auf der Erde. Dies liegt zum einen an der Geschwindigkeit, mit der die Satelliten die Erde umkreisen, zum anderen daran, dass die Satelliten imWeltraum einer schwächeren Schwerkraft ausgesetzt sind (wie im weiteren Verlauf dieses Kapitels besprochen). Mit Einsteins Gleichungen lassen sich dies Abweichungen berechnen und ausgleichen. Ohne die relativistische Korrektur wäre die GPS-Navigation viel ungenauer.
Wir können Zeitunterschiede bestenfalls auf ein Hunderstsel der betrachteten Dauer auflösen; im Fall einer Dauer von einer Sekunde erkennen wir also gerade einen Zeitunterschied von 1/100 Sekunde. Die nötige Reisegeschwindigkeit ergibt sich dann nach der Formel aus obiger Fußnote.
Pound und Rebka 1960
Unruh 1995
In der Teilchenpyhsik gibt es allerdings Vorgänge unter Wirkung der so genannten schwachen Wechselwirkung, bei neben der Zeit auch die Ladung und der Raum gespiegelt werden müssen, um die Dynamik zu erhalten. Dies ist CPT-Invarianz. Wie sich zeigt, trifft diese Ausnahme von der Regel der alleinigen Zeitsymmetrie aber nur bei wenigen Prozessen mit recht exotischen Teilchen zu, den K- und B-Mesonen. Diese Teilchen kommen in der freien Natur nicht vor, sie müssen aufwendig in Teilchenbeschleunigern erzeugt werden und haben eine Lebensdauer von weniger als einer Millionstel Sekunde. Daher spricht vieles dafür, dass diese Ausnahme für die Richtung des Zeitpfeils in alltäglichen physikalischen Vorgängen völlig irrelevant ist.
Für Experten: Genau gesprochen müsste es hier »fast niemals« heißen. Fluktuationen im System können die Entropie vorübergehend verringern. Im Langzeitmittel aber spielen sie keine Rolle.
Einstein, Besso: Correspendance. Paris 1979
Wittman et al 2006
De Grazia 1962
Für Alexandra
Die Entdeckung der inneren Zeit
Es gibt Augenblicke, da scheinen die Gesetze der Zeit ihre Gültigkeit zu verlieren. Dies sind die Momente, die man magisch nennt: Auf dem Gipfel eines Berges oder angesichts der Ozeanbrandung, im Schaffensrausch oder während der Liebe verlieren Pläne, Sorgen, Erinnerung ihre Bedeutung. Die Zeit steht still; der Augenblick umfasst alles, was je war und sein wird. Manche Menschen berichten von der Empfindung, dass sich dabei sogar die Grenzen ihrer Körper auflösten; sie begannen, sich als Teil von etwas Größerem zu fühlen.
Manchmal reicht auch schon ein angeregter Abend mit alten Freunden oder eine Arbeit, in der man ganz aufgeht, und Stunden vergehen, als seien es Minuten. Die letzte U-Bahn ist verpasst, das Mittagessen lange überfällig, und niemand hat es bemerkt im Zauber des Hier und Jetzt.
Doch irgendwann kehrt unvermeidbar die Zeit ins Bewusstsein zurück; es ist ein Gefühl, als sei man aus einem rauschhaften Schlaf erwacht.
Und dann trifft der Blick eine Uhr. Selten ist der Bann, den dieses Instrument über uns ausübt, so schmerzhaft zu spüren. Der Dichter W.G. Sebald beschrieb die Macht der Uhren einmal als das »Vorrücken dieses, einem Richtschwert gleichenden Zeigers, wenn er das nächste Sechzigstel einer Stunde von der Zukunft abtrennt«. Im Sinn hatte Sebald dabei eine riesige Uhr, die über der Halle des Bahnhofs von Antwerpen genau im Schnittpunkt aller Blickachsen thront – dort, wo die Baumeister alter Kirchen einst das Auge Gottes angebracht haben. Alle Reisenden müssen ständig zu diesen Zeigern aufschauen. Umgekehrt ist von der Bühne des Ziffernblatts aus jeder Mensch in der Halle zu erkennen – und alles, was er tut.
Vor den Uhren kann sich niemand in der heutigen Gesellschaft verstecken. Sie sind überall. Das ganze Leben ist nach ihnen ausgerichtet. Wir jagen engen Terminen nach und denken mit Wehmut daran, was wir alles gern täten, wenn wir nur wüssten, wann. Mitunter fühlen wir uns wie in einen Strudel geraten und fürchten, fortgerissen zu werden. Doch der Lohn für die Eile bleibt aus: Ausgerechnet die hektischen Tage hinterlassen am wenigsten Erinnerungen – als wäre diese Zeit spurlos vorübergegangen und für immer verloren.
Wir haben uns an die Herrschaft der Uhren so sehr gewöhnt, dass sie ganz selbstverständlich erscheint. Wir sehen diese Instrumente geradezu als Stellvertreter einer höheren Macht. Nicht nur in der Bahnhofshalle von Antwerpen gehorchen die Reisenden zwei Zeigern hoch über ihren Köpfen. Mehr oder weniger bewusst glauben wir alle, dass der Takt einer geheimnisvollen kosmischen Uhr unser Leben bestimmt. Abzulesen ist dieser Takt am Sekundenzeiger am Handgelenk. Wenn wir die Gegenwart der Uhren einmal vergessen, zweifeln wir später oft insgeheim, ob dieses Erlebnis Traum oder Wirklichkeit war.
»Zeit ist der Stoff, aus dem das Leben besteht«, schrieb der amerikanische Erfinder und Staatsmann Benjamin Franklin. Doch ist die Zeit unseres Lebens wirklich identisch mit dem, was die Uhren anzeigen? Manche Stunden rasen dahin, andere scheinen sich beinahe unendlich zu dehnen. Der große Zeiger aber hat ungerührt wie immer seine Runde gemacht. Es scheint, als sei mit dem Lauf der Uhren eine andere, zweite Zeit verwoben: eine Zeit, die in uns selber entsteht.
Die innere Zeit gehorcht ihren eigenen, geheimnisvollen Gesetzen. Weshalb vergehen ausgerechnet die unangenehmen Situationen so langsam, Glücksmomente dagegen so rasch? Warum ist man gerade in den schönsten Stunden so oft geistesabwesend? Wieso verrinnt das Leben immer schneller, je älter man wird?
Nur eine Erfahrung mit der Zeit ist uns hinlänglich bekannt – dass sie fehlt. Das ist merkwürdig, denn gemessen in Stunden und Jahren sind wir reicher als Menschen es jemals waren. Keiner Generation waren so viel Freizeit und eine so lange Lebensspanne beschert. Dennoch gibt mehr als ein Drittel aller Deutschen an, oft unter Zeitknappheit zu leiden. Und von Umfrage zu Umfrage werden es mehr.
Erschreckend sind diese Zahlen vor dem Hintergrund neuer Ergebnisse aus der Neurobiologie: Das Gefühl, ständig unter Druck zu stehen, bedeutet Stress. Chronischer Stress kann das Gehirn dauerhaft in Mitleidenschaft ziehen; er schadet der Gesundheit und mindert die Lebenserwartung.
Besonders heimtückisch ist die unablässige Hetze, weil sich der Zeitdruck selber nährt. Schnell kommt ein Teufelskreis in Gang: Ist die Furcht, seiner Aufgaben nicht rechtzeitig Herr zu werden, einmal entstanden, lässt sie den Gestressten den Überblick verlieren und schafft sich so immer neue Anlässe. Zeitnot macht kurzsichtig für die Zukunft; man rennt den Ereignissen hinterher, statt sie zu gestalten.
Mit raffinierten Kalendern und Aufgabenlisten allein ist das Problem nicht zu lösen. Denn sie erfassen nur die äußere Zeit der Uhren. Doch das Empfinden der Hetze entsteht im Bewusstsein, und dieses orientiert sich an der inneren Zeit. Es gilt also, die Gesetze der inneren Zeit zu verstehen, um besser mit ihr umgehen zu können.
Besonders auffallend sind die Unterschiede zwischen innerer und äußerer Zeit, betrachtet man den persönlichen Tagesrhythmus: Allein der Takt der Armbanduhr kann nicht erklären, wie sich der Organismus durch den Tag steuert. Manche Menschen müssen sich jeden Morgen neu damit quälen, aus dem Bett und einigermaßen in Fahrt zu kommen; andere sprühen zur selben Stunde vor Energie. Uhrzeit, Sonnenlicht, auch die Kaffeeration sind für alle gleich. Also muss der Gegensatz in uns selbst liegen.
Und warum haben einige Zeitgenossen die Ruhe weg und bewältigen gut gelaunt Termin um Termin, während andere schon über ein oder zwei Verpflichtungen am Tag stöhnen? Berühmt ist das »Rentner-Syndrom«, die Klagen über Zeitmangel im Ruhestand, die sich ganz offensichtlich nur durch das innere, subjektive Zeitempfinden erklären lassen.
Ohnehin ist die äußere Zeit nur ein winziger Ausschnitt aus dem, was wir als Zeit unseres Lebens erfahren. Der Sekundenzeiger kennt einzig die Gegenwart. Vergangenheit und Zukunft erfasst er nicht. Menschen jedoch leben auch in ihrer Erinnerung – sie ist gewissermaßen im Gedächtnis geronnene Zeit. Nach welchen Gesetzmäßigkeiten wandelt sich erlebte Zeit in Erinnerung um? Wie kommt es, dass man im Geiste in die Vergangenheit zurückreisen kann? Und ist es wirklich möglich, dass ein Mensch in einem einzigen Moment der Lebensgefahr sein ganzes Leben an sich vorüberziehen sieht?
Dieses Buch handelt von den verborgenen Dimensionen der Zeit. Sein Thema sind all die Phänomene, die sich nicht ohne weiteres in Minuten und Stunden messen lassen. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie das Erleben der Zeit zustande kommt – und wie wir lernen können, achtsamer mit ihr umzugehen.