Dieter Kühn
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FISCHER E-Books
Dieter Kühn, 1935 geboren, lebt heute in Brühl bei Köln. Für seine Biographien, Romane, Erzählungen, Hörspiele und Übertragungen aus dem Mittelhochdeutschen (das ›Mittelalter-Quartett‹) erhielt er den Hermann-Hesse-Preis und den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Zu seinen Werken gehören große Biographien (über Clara Schumann, Maria Sibylla Merian, Gertrud Kolmar sowie sein berühmtes Buch über Oswald von Wolkenstein), Romane (›Beethoven und der schwarze Geiger‹, ›Geheimagent Marlowe‹), historisch-biographische Studien (›Schillers Schreibtisch in Buchenwald‹, ›Portraitstudien schwarz auf weiß‹) und Erzählungsbände (›Und der Sultan von Oman‹, ›Ich war Hitlers Schutzengel‹). Zuletzt erschien seine Autobiographie ›Das Magische Auge‹.
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Coverabbildung: Paul Delaroche, ›Napoleon I. in Fontainebleau 1814‹ ©akg-images, Berlin
Erschienen bei FISCHER E-Books
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2014
Überarbeitete Neuausgabe von 2005. Die Originalausgabe erschien 1970 im Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main.
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ISBN 978-3-10-403439-3
CARLO MARIA, ein junger Mann. Er wird als liebenswürdig, ehrgeizig, verschwenderisch, kenntnisreich, vergnügungssüchtig, elegant bezeichnet. Dieser liebenswürdige, ehrgeizige, verschwenderische, kenntnisreiche, vergnügungssüchtige, elegante junge Mann lernte ein junges Mädchen kennen. Dieses junge Mädchen war, was junge Mädchen sein sollen: hübsch und reich. Freilich kam es nicht zu einer Verbindung mit Fräulein Alberti aus Antibes, denn Carlo Maria war erst 17 Jahre alt. Mit 18 heiratete er ein anderes Mädchen.
Mit 18 heiratete er das erwähnte Fräulein Alberti aus Antibes – denn: sie schien ein Jahr Wartezeit wert. In einem Gespräch mit ihren Eltern entwarf er Zukunftspläne, sie galten als hochfliegend. Die Eltern schätzten hochfliegende Zukunftspläne, gaben ihm jedoch den Rat, vor der Eheschließung das erste Examen abzulegen und als junger Jurist offiziell um die Hand der Tochter anzuhalten. Auch die schöne und reiche Tochter versicherte ihm, sie werde bis zum ersten Examen auf ihn warten. Mit 18 heiratete Carlo Maria das Fräulein Alberti aus Antibes.
Wenn es eine typisch korsische Fruchtbarkeit gibt, wie Biographen behaupten, so war dieses Fräulein aus Antibes vielleicht nicht so sehr fruchtbar, es sei denn, sie besaß eine typisch südfranzösische Fruchtbarkeit. Dann wäre es bald nach Eheschluß zur ersten Befruchtung gekommen: es wurde ein Junge oder ein Mädchen geboren; es kam zu einer Fehlgeburt; es wurde ein Junge geboren, der später Geistlicher wurde; es wurden nacheinander sieben Töchter geboren; es kam zu drei Fehlgeburten, nach denen infolge eines gezielten oder mißglückten ärztlichen Eingriffs weitere Befruchtungen nicht mehr möglich waren.
Nicht immer geschieht das Selbstverständliche: Carlo Maria heiratete nicht das Fräulein aus Antibes. Zwar heiratete er nachweislich mit 18, aber er heiratete ein anderes Fräulein. Ein Mädchen seiner Wahl?
Fast hätte er ein Fräulein Ramolino geheiratet. Heirat war im 18. Jahrhundert, war auf Korsika ein Akt der Familienpolitik. Meistens gab es ein Familienmitglied, das für Familienpolitik besonders zuständig war: in diesem Fall etwa ein Onkel Luciano. Der schaute und hörte sich für den Neffen Carlo Maria um, suchte für ihn ein schönes und reiches Mädchen, fand für ihn ein schönes Mädchen, das auch als reich galt, brachte es ins Gespräch. Er sagte dem Vater seines Neffen: Es gibt da ein Fräulein Ramolino, sie gilt als schön, sie ist jung, sie soll reich sein, sie könnte als Ehefrau für Carlo Maria empfohlen werden; als realistisch denkender Geschäftsmann muß ich freilich einige Bedenken geltend machen: der Grundbesitz, den sie mit in die Ehe bringen würde, ist von Schulden belastet oder lagemäßig ungünstig oder verkarstet. Und er empfiehlt, lieber auf das Fräulein aus Antibes zu warten. Hat das Wort dieses Onkels Gewicht, so beachten Vater und Sohn seine Warnung. Und am 2. Juni 1764 wird in der Kirche zu Ajaccio kein junges Paar getraut; Vikar Ronchero hat frei, geht fischen.
Nicht jeder Onkel ist freilich in geschäftlichen Dingen erfahren. Onkel Luciano war nach Entscheidung seines Vaters Lehrer, Zahnarzt oder Pferdehändler geworden, hatte keine Erfahrung in der Bewertung von Grundstücken. Er achtete vor allem auf Namen und Familientradition. Er entdeckte einen klangvollen, traditionsreichen Namen wie Ramolino. Er hörte, daß eine Tochter dieser Familie jung war, sehr jung, zudem hübsch und reich. Er empfahl eine Eheschließung zwischen seinem Neffen Carlo Maria und Fräulein Ramolino. Er gab nichts auf Gerüchte, nach denen der Grundbesitz dieser Familie von ziemlich zweifelhaftem Wert sei. Am 2. Juni 1764 wurde in der Kirche zu Ajaccio von Vikar Ronchero die vierzehnjährige Maria Letizia Ramolino mit dem achtzehnjährigen Carlo Maria Bonaparte getraut.
Carlo Maria wollte Vater, Maria Letizia wollte Mutter werden. Sie wollten Eltern eines Jungen werden, von zwei Jungen und einem Mädchen, von zwei Mädchen und zwei Jungen, von Kindern unbestimmter Zahl und zufälligen Geschlechts: rasch sollte es gehen, Kind auf Kind, weil es in der Umwelt so üblich war, weil die Umwelt entsprechende Erwartungen zeigte.
Da Carlo Maria ehrgeizig war, wollte er vor seiner ersten Vaterschaft sein Studium abschließen, eine angestrebte Stellung erreichen. So benutzte er in den ersten Ehejahren Pariser Tüten, Fischblasen.
Carlo Maria ließ es darauf ankommen, und die junge Frau berichtete nach wenigen Monaten, ihre Blutung sei ausgeblieben. Er freute sich, er freute sich nicht, er freute sich ein bißchen, er freute sich ziemlich. Er nahm es zur Kenntnis. Frauen bekommen Kinder. Ehemänner werden Väter. Alles läuft gemäß dem Lauf der Welt.
Es kam zu einer Fehlgeburt, und das ist historisch. Auch das nächste Mal kam es zu einer Fehlgeburt, das ist ebenfalls historisch. Das dritte Mal hätte es gleichfalls zu einer Fehlgeburt kommen können, die junge Frau war offensichtlich zu Fehlgeburten disponiert. Dennoch wurde ein Kind geboren, ein Junge: Joseph. Wie verhielt sich der Vater? Sagte er ihr, sagte er sich, sagte er seiner Umwelt: zweimal Pech, einmal Glück, wir wollen nichts weiter riskieren? Sagte oder dachte er: nun ist die Pechserie beendet, wir wollen es gleich nochmal drauf ankommen lassen? Dachte er fatalistisch: es gibt Fehlgeburten, und es gibt Kinder? Kam es auch in der Folgezeit ganz selbstverständlich zum Koitus, und Folgen wurden weder geplant noch verhütet?
ZUR ZEIT DER VIERTEN BEFRUCHTUNG Maria Letizias durch Carlo Maria geht es dramatisch zu: Freiheitskampf, und das junge Paar beteiligt an diesem Freiheitskampf. Korsika und seine Bewohner wollen frei sein: man spricht von echt oder typisch korsischem Freiheitsdrang. Und weist darauf hin, daß es sich hier vorwiegend um Bergbewohner handelt: Bergbewohner lieben die Freiheit, man spricht dementsprechend von freiheitsliebenden Bergvölkern. Besteht eine zwingende Verbindung zwischen Bergen und Freiheit? Es ist leichter, die Freiheit in den Bergen als an der Küste zu verteidigen: vor einer Küste kann rasch eine feindliche Flotte aufkreuzen, da heißt es vorsichtig sein. So nimmt der offen proklamierte Freiheitsdrang zur Küste hin ab. Allerdings öffnet sich hier wiederum die Freiheit der Meere: aber nur für den Mächtigen. Korsika war nicht mächtig. Die Republik Genua war mächtiger und wollte Korsika unterdrücken. Carlo Marias Familie arrangierte sich mit den Genuesen: die Familie wohnte in einer Küstenstadt. In den Bergen hingegen erhob man sich gegen die Genuesen. In den Bergen erhob man sich auch gegen die Franzosen, als sie die Genuesen ablösten. Ob Genua oder Frankreich – die Korsen wollten, zumindest in den Bergen, frei sein. Sie scharten sich um Paoli, den Freiheitshelden Korsikas.
Dieser Paoli wurde so erfolgreich und einflußreich, daß sich auch Küstenbewohner wie Carlo Maria dem Freiheitskampf anschlossen. Da dieser Freiheitskampf in den Bergen ausgetragen wurde, zogen Carlo Maria und Maria Letizia in die Berge.
War Maria Letizia schwanger, als sie mit ihm in die Berge zog, wurde sie in den Bergen befruchtet? Das zweite Kind wurde im August geboren. Korsika verlor den Freiheitskampf nach der Schlacht von Pontenuovo im Mai. Eine Geburt im August setzt eine Befruchtung im November voraus. Wurde das Kind noch zu Hause oder schon im Feld gezeugt?
Romantisch wäre eine Befruchtung zu Felde. Korsischer Winter, in den Bergen Schüsse mit Echo, nachts Sterne, Männer am Lagerfeuer, Wunden verbunden, ein Stück Fleisch am Spieß, eine Flasche Rotwein von Mund zu Mund. Die 18jährige Freiheitskämpferin und der 22jährige Freiheitskämpfer: er führt sie vom Lagerfeuer in einen Olivenwald, in einen Pinienwald, auf eine Felsplatte. Ein biographischer Roman würde beschreiben, wie die jungen Körper sich freimachen und so weiter, aber nicht alle Menschen ziehen sich vor der Vereinigung aus: Rock hoch, Hose auf und bums. Schoß der französische Gegner in jener Nachtstunde unfreiwillig Salut, weil nun eine weltgeschichtliche Erscheinung gezeugt wurde?
Und wenn Carlo Maria keine rechte Lust hatte, im dreistöckigen Familienhaus, im korsischen Wald? Ermüdende Vorarbeiten für das Examen, ein anstrengender Fußmarsch? Jedenfalls Erschöpfung: er will pennen? Und wenn sie sich an ihn kuschelt, sagt er: Heute lieber nicht, zuviel Freiheitskampf? Oder: Wir müssen ein bißchen vorsichtig sein, ich hab noch nicht mein juristisches Examen abgelegt, das soll Ende 69 geschehen, warten wir noch ein bißchen mit dem zweiten Kind, wir haben schließlich kein Vermögen?
Befruchtung im November. Nun war Maria Letizia zu Fehlgeburten disponiert, das hatte sich vorher gezeigt, das zeigte sich auch später – ein Freiheitskampf erhöht die Gefahr von Fruchtabgängen. Maria Letizia auf Bergpfaden, sie muß sich überanstrengen, kann ausrutschen: Fehlgeburt. Maria Letizia bringt Verwundeten erste Hilfe, bringt Kämpfenden Munition: tun das nicht alle jungen Begleiterinnen von Freiheitskämpfern, selbst unter feindlichem Beschuß? Das bedeutet allerdings: akute Bedrohung ihrer Leibesfrucht. Ein Abort kann ebenso durch Aufregung ausgelöst werden: ein ausbrechendes Muli, ein französischer Feuerüberfall. Oder Infektion, fiebrige Erkrankung: Freiheitskampf führt an Sumpfgebieten nicht immer vorbei – Fruchtabgang, Fehlgeburt. Normale Geburt: die werdende Mutter kehrt nach Ajaccio zurück, ist erschöpft, besucht dennoch Mariä Himmelfahrt die Kirche. Kaum betritt sie die Kirche, schon stellen sich Wehen ein. Sie kehrt um, watschelt nach Hause. Gebiert auf einem Sofa, auf einer alten Decke. N ist da.
ÜBER KINDER LÄSST SICH VIEL ERZÄHLEN. Besonders viel läßt sich über Kinder erzählen, die sonderlich sind. Sich absondern. Allein die Umgebung sondieren. Sonderbaren Gedanken nachgehen, in der Einsamkeit: träumen, wovon träumen sie? Sterne entdecken? Welträtsel lösen? Soldaten anführen?
Aus einem Kreis ein Quadrat machen, aus dem Quadrat wieder einen Kreis, und nichts bleibt übrig, die restlose Verwandlung, endlich gelungen, und das feiern die Professoren, sie verneigen sich vor dem Jungen, er trägt einen Talar, die Eltern schauen zum Podium hoch, die Mutter betupft die Augenwinkel, der Vater nickt, das Kind spricht lateinisch über die Entdeckung, das Dokument ist ebenfalls lateinisch verfaßt, ein großes, rotes Siegel hängt an einer Goldbrokatschnur, pendelt vor dem Kind, es hebt die Rolle grüßend zu den Eltern: wer hätte das gedacht, ausgerechnet unser kleiner N, wer hätte das gedacht?
Das Feuer auf dem Marktplatz, über dem Feuer die Ballonhülle, heiße Luft steigt in die schlaffe Ballonhülle, macht sie straff, noch nicht straff genug, Feuerschein, viele Gesichter im Kreis, die stärksten Männer halten die Seile, die Hülle endlich straff, Hornsignal, der Ballon steigt hoch mit Gondel, Feuer, Kind und Fernrohr, die winkenden Hände ringsumher, die winkenden Hände schon unten, Rufe, Musik, das Kind steigt höher, ein Kind ist keine schwere Last, die Häuser von oben, die Sterne noch immer von unten, das Feuer geschürt, die Ballonhaut immer straffer, Nacht, Sternennacht, der Ballon sehr hoch, die Luft sehr dünn und sauber, die Sterne klar wie nie zuvor im Teleskop, und jeder Stern, den er entdeckt, trägt nach der Rückkehr seinen Namen: N 1, N 2, N 3, N 4, das wird auf Sternatlanten eingetragen.
Der General brütet, die Hand stützt den Kopf, der Kartentisch den Ellbogen, die Adjutanten stramm, der Gegner hat viele Trommeln, Trommelschläge ringsherum, der General reglos über der Karte, die Soldaten reinigen Bajonette, zählen Kugeln, ölen Gewehrschlösser, Trommeln ringsherum, reglos der General, bis er kommt, ein Junge, einfache Uniform, der Junge legt seinen Jungenzeigefinger auf die Karte, ein Ausweg, der General stutzt, der General zögert, der General nickt, der General gibt Befehle, die Soldaten gruppieren sich, alle folgen dem Jungen, der mit sicherem Schritt vorangeht, er führt die eingeschlossenen Freiheitskämpfer auf einen sehr schmalen Gebirgspfad, den der General nicht kannte, den seine Offiziere nicht kannten, den der Gegner nicht kennt, den nur der Junge kennt: dieser Weg führt zwischen Trommeln hindurch, führt in den Rücken der Trommeln, und der Morgen verzeichnet einen glänzenden Sieg nach sicherer Niederlage: eine Jungenbrust ist für einen Orden nicht zu klein.
Wenn ein Kind etwas Besonderes sein will, sonderbar wirkt, sich häufig absondert, in einer Bretterbude rechnet und geometrische Figuren zeichnet, in einer Grotte hockt und aufs Meer glotzt, wenn dieses Kind auch noch einen ziemlich dicken Kopf hat und zubbelig herumläuft, Haarsträhnen in der Stirn, nicht alle Knöpfe geschlossen – so wird es von anderen Kindern normalerweise gehänselt: ›Wuschelkopp, Wasserkopp, Strohnase!‹ Neigt dieses Kind aufgrund von Erbanlagen zum Jähzorn, so haut es blindlings in die Gruppe, die Gruppe schlägt zurück, das Geschehen wird unübersichtlich, nicht jede Bewegung läßt sich berechnen: in den Bauch schlagen, ans Schienbein treten, in den Schwitzkasten nehmen, Muskel reiten, wieder hoch, wieder runter, Schlag in den Magen, Tritt in die Kniekehlen, Sturz nach vorn, Steine scharfkantig: Augen sind verletzlich. Das hab ich nicht gewollt, das haben wir bestimmt nicht gewollt! Hornhaut durchstoßen, die Hornhaut bleibt milchig. Solch ein Kind kann beispielsweise nicht mehr Berufssoldat werden.
Der Vater will, daß N Soldat wird. Der erste Sohn wird Geistlicher, der zweite Soldat. Stirbt der erste Sohn frühzeitig, so wird der zweite Sohn Geistlicher und der dritte wird Soldat.
Der Vater will, daß der älteste Sohn Soldat wird und erst der zweite Geistlicher: man ist schließlich Freiheitskämpfer gewesen, da muß der Erstgeborene Offizier werden. Der zweite mag dann ruhig Geistlicher werden, damit die beiden einflußreichen Onkel des Familienclans endlich Ruhe geben.
Ob der erste oder zweite Sohn Soldat wird, läßt der Vater abhängen von früh gezeigten Anlagen.
Der Vater will, daß der erste Sohn Geistlicher und der zweite Sohn Soldat wird. Basta.
Ob der erste Sohn Geistlicher und der zweite Sohn Offizier werden, hängt nicht allein von den Vorstellungen, von den Entscheidungen des Vaters ab: ein armer Anwalt kann die Ausbildung seiner Kinder nicht selbst finanzieren. Sie brauchen Freistellen, Stipendien. Bekommt das Kind, das der Vater zur Offizierslaufbahn bestimmt hat, keine Freistelle in einer Provinzialmilitärschule, so muß es eben eine andere berufliche Laufbahn einschlagen. Das Kind eines Freiheitskämpfers aus Korsika erhält nicht so leicht eine Freistelle an einer französischen Militärschule wie das Kind eines französischen Offiziers, der die Rebellen auf Korsika bekämpft hat, versteht sich. Was muß geschehen, wenn das Kind eines korsischen Freiheitskämpfers dennoch ein Stipendium für eine französische Militärschule erhält, obwohl die Zahl der Freistellen begrenzt ist?
Ein korsischer Freiheitskämpfer darf nicht weiter für die Freiheit kämpfen, nachdem die Schlacht von Pontenuovo verloren, Paoli nach England emigriert und die Insel von den Franzosen besetzt ist: er schließt sich am besten der Delegation an, die den Sieger um Frieden bittet, und zeigt Bereitwilligkeit zur Kollaboration. Da sich auch andere Bewohner so verhalten, vor allem in den Küstenstädten, bringt dies allein noch keine Freistelle ein. Da muß zusätzlich die Mutter einen französischen Offizier kennenlernen, den Stadtkommandanten oder Gouverneur. Damit eine Beziehung zwischen einem Besatzungs-Offizier und der Frau eines Freiheitskämpfers entsteht, muß die Frau noch als ansehnlich, zumindest als interessant gelten – falls der Offizier Ansprüche stellt. Die Umwerbung des französischen Offiziers darf nicht rigoros zurückgewiesen werden, sein mögliches Interesse auch am Schicksal der Familie wäre sonst verspielt. Die Mutter empfängt den General zum Tee. Sie läßt sich von ihm, laut Berichten, auf italienische Weise den Hof machen. Wie macht man auf italienische Weise den Hof?
Ob der französische General auf italienische oder französische Art den Hof macht, ob Maria Letizia sich auf italienische oder französische Art den Hof machen läßt, entscheidet noch nicht darüber, ob der erste Sohn eine Freistelle zur Ausbildung als Geistlicher und der zweite eine Freistelle zur Ausbildung als Offizier erhält. Dazu muß der General wiederum mit einem Mann in Verbindung stehen, der Einfluß hat auf die Besetzung von Freistellen.
Frau Maria Letizia hat Kontakt mit General Graf Marbeuf. General Marbeuf hat Kontakt mit dem Erzbischof von Lyon, er ist zufällig sein Neffe. Der Erzbischof von Lyon entscheidet über die Verteilung königlicher Stipendien. So weist ihn der General auf die korsischen Knaben hin. Nun gibt nicht jeder Erzbischof etwas auf die Empfehlungen eines Neffen, der Offizier ist; manche Bischöfe wünschen unbedingt, daß ihre Neffen in den geistlichen Stand eintreten; wird so ein Querkopf trotzdem Soldat, so belastet das die Beziehung – da interessiert sich ein Onkel nicht für irgendwelche korsischen Bälger einer korsischen Dame, die ein Neffe in seinem Standort kennengelernt hat: private Beziehungen berechtigen noch nicht zum Bezug königlicher Stipendien.
Bestehen hingegen keine Spannungen zwischen Onkel und Neffe, so mag der Hinweis von General Marbeuf Erfolg haben – falls zu diesem Zeitpunkt die Freistellen der Militärprovinzialschule in Brienne nicht bereits vergeben sind.
DA KOMMT EIN SÜDLÄNDER in den Norden, da kommt ein Korse unter die Franzosen, da kommt ein armer Stipendiat unter reiche Adlige, da wird man verspottet, verlacht, verprügelt, da zieht man sich zurück, in Gartenwinkel, in Saalecken, hat auch da keine Ruhe, schreit und schlägt, schreibt dem Vater schließlich einen ultimativen Brief: Mehr Geld oder weg von Brienne!