Anton Tschechow
Ausgewählte Dramen
Aus dem Russischen von Andrea Clemen
Fischer e-books
Mit den Beiträgen zu allen ausgewählten Werken aus Kindlers Literatur Lexikon.
Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur.
Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK.
Originalausgabe
Covergestaltung: bilekjaeger, Stuttgart
Illustration: John Singer Sargent, »The Wyndham Sisters« (Detail) © Corbis
Für die deutschen Übersetzungen: © Fischer Taschenbuch Verlag GmbH, Frankfurt am Main 1996
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2011
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ISBN 978-3-10-401787-7
(Tschaika)
Komödie in 4 Akten
IRINA NIKOLAJEWNA ARKADINA, verheiratete Trebljowa, Schauspielerin
KONSTANTIN GAWRILOWITSCH TREPLJOW, ihr Sohn, ein junger Mann
PJOTR NIKOLAJEWITSCH SORIN, ihr Bruder
NINA MICHAILOWNA SARJETSCHNAJA, ein junges Mädchen, Tochter eines reichen Gutsbesitzers
ILJA AFANASJEWITSCH SCHAMRAJEW, Leutnant a.D., Gutsverwalter bei Sorin
POLINA ANDREJEWNA, seine Frau
MASCHA, seine Tochter
BORIS ALEXEJEWITSCH TRIGORIN, Schriftsteller
JEWGENIJ SERGEJEWITSCH DORN, Arzt
SEMJON SEMJONOWITSCH MEDWEDJENKO, Lehrer
JAKOW, Arbeiter
EIN KOCH
EIN STUBENMÄDCHEN
Die Handlung spielt auf dem Gut Sorins.
Zwischen dem dritten und vierten Akt
vergehen zwei Jahre.
Ein Teil des Parks auf dem Gut von Sorin. Eine breite Allee führt vom Zuschauer aus in die Tiefe des Parks zum See hin, wird aber versperrt durch eine Bühne, die man hastig für eine Laienaufführung zurechtgezimmert hat, so daß der See nicht zu sehen ist. Rechts und links von der Bühne Gebüsch. Ein paar Stühle, ein kleiner Tisch. Die Sonne ist eben untergegangen. Hinter dem herabgelassenen Vorhang auf der Bühne stehen Jakow und andere Arbeiter. Man hört sie husten und hämmern. Mascha und Medwedjenko kommen, von einem Spaziergang zurückkehrend, von links.
MEDWEDJENKO
Warum gehen Sie immer in Schwarz?
MASCHA
Aus Trauer um mein Leben. Ich bin unglücklich.
MEDWEDJENKO
Warum? Nachdenklich Das verstehe ich nicht … Sie sind gesund, Ihr Vater ist zwar nicht reich, aber er hat sein Auskommen. Ich habe es viel schwerer als Sie. Ich verdiene nur dreiundzwanzig Rubel im Monat, und davon geht noch die Altersversicherung ab, und trotzdem trage ich keine Trauer.
Sie setzen sich.
MASCHA
Es geht nicht um Geld. Auch ein armer Mensch kann glücklich sein.
MEDWEDJENKO
In der Theorie, aber in der Praxis sieht das so aus: Ich, meine Mutter, zwei Schwestern, mein kleiner Bruder – und dabei ein Gehalt von nur dreiundzwanzig Rubel. Und essen und trinken muß man doch? Und Tee und Zucker braucht man doch? Und Tabak? Wie soll man da auskommen!
MASCHA blickt zur Bühne
Gleich fängt die Vorstellung an.
MEDWEDJENKO
Ja. Spielen tut die Sarjetschnaja, und das Stück ist ein Werk von Konstantin Gawrilowitsch. Die beiden sind verliebt ineinander, und heute verschmelzen ihre Seelen in dem Bestreben, ein gemeinsames Kunstwerk zu schaffen. Aber meine Seele und Ihre haben keine gemeinsamen Berührungspunkte. Ich liebe Sie, ich halte es vor Sehnsucht zu Hause nicht aus, jeden Tag komme ich hierher, gehe zu Fuß sechs Werst hin und sechs Werst zurück und stoße nur auf Gleichgültigkeit bei Ihnen. Das ist ja verständlich. Ich habe kein Geld, meine Familie ist groß … Warum sollten Sie einen Mann heiraten wollen, der selber nichts zu essen hat?
MASCHA
Darum geht es nicht. Schnupft Tabak Ihre Liebe rührt mich, aber ich kann sie nicht erwidern, das ist alles. Reicht ihm die Tabakdose Bedienen Sie sich.
MEDWEDJENKO
Ich will nicht.
Pause
MASCHA
Es ist schwül, es gibt bestimmt ein Gewitter heute nacht. Immer philosophieren Sie oder reden vom Geld. Ihrer Ansicht nach gibt es kein größeres Unglück als Armsein, aber meiner Ansicht nach ist es tausendmal leichter, in Lumpen zu gehen und zu betteln als … Ach, das können Sie nicht verstehen …
Von rechts kommen Sorin und Trepljow.
SORIN stützt sich auf einen Stock
Irgendwie, mein Junge, ist das Leben auf dem Lande nichts für mich, und, das ist doch klar, ich werde mich hier nie einleben. Gestern habe ich mich um zehn hingelegt, und heute morgen um neun wache ich auf mit einem Gefühl, als ob mir mein Hirn am Schädel festklebt und so weiter. Lacht Und nach dem Essen bin ich aus Versehen wieder eingeschlafen, und jetzt bin ich ganz erschlagen, ich fühle mich schrecklich, letzten Endes …
TREPLJOW
Es stimmt, du müßtest in der Stadt leben. Sieht Mascha und Medwedjenko Meine Herrschaften, sobald es anfängt, wird man Sie rufen, aber jetzt können Sie hier nicht bleiben. Gehen Sie bitte.
SORIN zu Mascha
Marja Iljinitschna, seien Sie so lieb, bitten Sie Ihren Vater, er möge den Hund von der Kette lassen, er heult sonst dauernd. Meine Schwester hat wieder die ganze Nacht nicht geschlafen.
MASCHA
Reden Sie selbst mit meinem Vater, ich tue es nicht. Verschonen Sie mich. Zu Medwedjenko Gehen wir!
MEDWEDJENKO zu Trepljow
Also, wenn es anfängt, geben Sie uns Bescheid.
Beide ab
SORIN
Das heißt, wieder wird die ganze Nacht der Hund heulen. So ist das, nie habe ich auf dem Land so gelebt, wie ich wollte. Immer das gleiche: Ich nehme mir Urlaub für achtundzwanzig Tage und fahre hierher, um mich zu erholen, ja ja, und dann machen sie dir hier das Leben so zur Hölle mit diesen ständigen Reibereien, daß du schon am ersten Tag wieder weg willst. Lacht Ich bin immer mit Vergnügen von hier abgereist … Ja, aber jetzt bin ich pensioniert, jetzt kann ich nirgends hin, letzten Endes. Jetzt muß ich hier leben, ob ich will oder nicht …
JAKOW zu Trepljow
Wir gehen baden, Konstantin Gawrilowitsch.
TREPLJOW
Gut, aber in zehn Minuten seid ihr auf euren Plätzen. Blickt auf die Uhr Es fängt bald an.
JAKOW
Jawohl. Geht ab
TREPLJOW betrachtet die Bühne
Das nenne ich ein Theater! Vorhang, dann erste Kulisse, zweite Kulisse und dahinter der leere Raum. Keinerlei Dekorationen. Der Blick fällt direkt auf den See und den Horizont. Genau um halb zehn, wenn der Mond aufgeht, ziehen wir den Vorhang hoch.
SORIN
Großartig.
TREPLJOW
Wenn sich die Sarjetschnaja verspätet, ist natürlich der ganze Effekt dahin. Sie müßte längst hier sein. Es ist schwer für sie, von zu Hause wegzukommen, ihr Vater und ihre Stiefmutter bewachen sie wie eine Gefangene. Rückt dem Onkel das Halstuch zurecht Deine Haare und dein Bart sind ganz zerzaust. Du müßtest sie schneiden lassen, wirklich …
SORIN kämmt sich den Bart
Die Tragödie meines Lebens. Schon in meiner Jugend habe ich immer ausgesehen wie ein Quartalsäufer, jaja. Die Frauen haben mich nie geliebt. Setzt sich Warum ist meine Schwester schlecht gelaunt?
TREPLJOW
Warum? Sie langweilt sich. Setzt sich neben ihn Sie ist eifersüchtig. Sie ist schon jetzt sowohl gegen mich als auch gegen die Aufführung als auch gegen mein Stück, weil nicht sie spielt, sondern die Sarjetschnaja. Sie kennt mein Stück noch gar nicht, aber sie haßt es bereits.
SORIN lacht
Das bildest du dir ein, wirklich.
TREPLJOW
Sie ärgert sich jetzt schon, weil auf dieser kleinen Bühne da die Sarjetschnaja Erfolg haben wird und nicht sie. Blickt auf die Uhr Ein psychologisches Kuriosum – meine Mutter. Unbestreitbar talentiert, gescheit, sie ist fähig, über ein Buch in Tränen auszubrechen, legt dir den ganzen Nekrassow auswendig hin, pflegt Kranke wie ein Engel, aber wage es, in ihrer Gegenwart die Duse zu loben. Hoho! Nur sie darf man loben, nur über sie darf man schreiben, bravo rufen, in Begeisterung ausbrechen über ihr unvergleichliches Spiel in der »Kameliendame« oder im »Rausch des Lebens«, aber weil sie hier auf dem Land diese Droge nicht bekommt, langweilt sie sich und wird böse, wir alle sind ihre Feinde, wir sind schuld. Außerdem ist sie abergläubisch, sie fürchtet sich vor drei Kerzen, der Zahl dreizehn. Und geizig ist sie. Sie hat in Odessa auf der Bank siebzigtausend Rubel – das weiß ich genau. Aber bitte sie mal, dir was zu leihen, da fängt sie an zu weinen.
SORIN
Du hast dir eingeredet, daß dein Stück deiner Mutter nicht gefällt, und schon regst du dich darüber auf, jaja. Beruhige dich, deine Mutter betet dich an.
TREPLJOW reißt einer Blume die Blütenblätter aus
Sie liebt mich – sie liebt mich nicht – sie liebt mich – sie liebt mich nicht – sie liebt mich – sie liebt mich nicht. Lacht Siehst du, meine Mutter liebt mich nicht. Wie soll sie auch. Sie will leben, lieben, helle Blusen tragen, aber ich bin schon fünfundzwanzig und erinnere sie ständig daran, daß sie nicht mehr jung ist. Wenn ich nicht da bin, ist sie zweiunddreißig, aber wenn ich da bin, ist sie dreiundvierzig, und dafür haßt sie mich. Außerdem weiß sie, daß ich das Theater nicht anerkenne. Sie liebt das Theater, sie meint, sie diene der Menschheit, der heiligen Kunst, aber meiner Ansicht nach ist das zeitgenössische Theater reine Routine, Konvention. Wenn der Vorhang aufgeht und bei abendlicher Beleuchtung in einem Zimmer mit drei Wänden diese großen Talente, diese Priester der heiligen Kunst, vorführen, wie Menschen essen, trinken, lieben, herumgehen und ihre Jacketts tragen; wenn sie versuchen, aus trivialen Bildern und Phrasen eine Moral herauszufischen – eine kleine Moral, leicht verdaulich, nützlich für den täglichen Hausgebrauch; wenn sie mir in tausend Variationen immer wieder das gleiche, immer das gleiche, immer das gleiche vorsetzen – dann laufe ich davon, ich laufe davon wie Maupassant vor dem Eiffelturm davongelaufen ist, der ihm das Hirn erdrückt hat durch seine Trivialität.
SORIN
Aber wir brauchen Theater.
TREPLJOW
Wir brauchen neue Formen. Neue Formen brauchen wir, und wenn wir die nicht haben, ist es besser, wir haben nichts. Blickt auf die Uhr Ich liebe meine Mutter, ich liebe sie sehr, aber sie führt ein so sinnloses Leben, immer schleppt sie diesen Schriftsteller mit sich herum, ihr Name wird dauernd durch die Zeitungen gezerrt, das macht mich krank. Manchmal spricht in mir einfach der Egoismus eines normalen Sterblichen, und dann bedauere ich, daß meine Mutter eine berühmte Schauspielerin ist, und denke mir, wäre sie eine normale Frau, wäre ich glücklicher. Onkel, gibt es eine verzweifeltere und dümmere Situation, und das ist oft so: Sie hat Gäste, lauter berühmte Leute, lauter Schauspieler und Schriftsteller, und ich als einziger von allen bin nichts, ich werde nur geduldet, weil ich ihr Sohn bin. Wer bin ich? Was bin ich? Ich bin im dritten Semester von der Universität abgegangen, aus Gründen, die, wie man so sagt, nicht von der Redaktion abhängen, ich habe keinerlei Talent, ich besitze keine Kopeke, laut Paß bin ich ein Kiewer Kleinbürger. Mein Vater war schließlich ein Kiewer Kleinbürger, obwohl auch er ein berühmter Schauspieler war. Ja – und wenn dann all diese Künstler und Schriftsteller in ihrem Salon mir ihre gnädige Aufmerksamkeit schenken, spüre ich, wie sie mit ihren Blicken meine Nichtigkeit abmessen. Ich errate ihre Gedanken, ich leide unter der Erniedrigung …
SORIN
Übrigens, sag bitte, was ist das für ein Mensch, dieser Schriftsteller? Man wird nicht klug aus ihm, er schweigt immer.
TREPLJOW
Gescheit, einfach, ein bißchen, weißt du, melancholisch, sehr anständig, noch keine Vierzig und schon sehr berühmt – satt bis zum Kragen. Was sein Schreiben betrifft, ja … wie soll ich sagen? Nett, begabt, aber … nach Tolstoj oder Zola hat man nicht unbedingt Lust, Trigorin zu lesen.
SORIN
Ich, mein Junge, liebe die Schriftsteller. Früher wollte ich leidenschaftlich gern zwei Dinge: Ich wollte heiraten, und ich wollte Schriftsteller werden, aber weder das eine noch das andere ist mir gelungen … Tja. Auch ein kleiner Schriftsteller zu sein wäre schön, letzten Endes.
TREPLJOW lauscht
Ich höre Schritte … Umarmt den Onkel Ich kann nicht leben ohne sie … Schon der Klang ihrer Schritte ist wunderbar … Ich bin wahnsinnig glücklich. Geht schnell Nina entgegen Meine Zauberin, mein Traum …
NINA aufgeregt
Ich bin nicht zu spät … nein, ich bin nicht zu spät …
TREPLJOW küßt ihr die Hände
Nein, nein, nein …
NINA
Den ganzen Tag war ich in Unruhe, ich war so aufgeregt! Ich hatte Angst, mein Vater läßt mich nicht gehen … Aber jetzt ist er mit meiner Stiefmutter weggefahren. Der Himmel ist rot, gleich geht der Mond auf, und ich habe mein Pferd gejagt … gejagt … Lacht Ich bin so froh! Drückt Sorin fest die Hand
SORIN lacht
Mir scheint, die Äugelchen sind verweint! Aber – aber! Das ist nicht schön!
NINA
Ach, das … Sehen Sie, wie ich außer Atem bin. In einer halben Stunde muß ich wieder weg, wir müssen uns beeilen. Nein, nein, um Gottes willen, halten Sie mich nicht zurück. Mein Vater weiß nicht, daß ich hier bin.
TREPLJOW
Allerdings, es ist höchste Zeit, daß wir anfangen. Jemand muß gehen, und alle rufen.
SORIN
Ich gehe, jaja. Sofort! Geht nach rechts und singt »Nach Frankreich zogen zwei Grenadier …« Dreht sich um Einmal fing ich auch so an zu singen, und da sagt ein Freund des Staatsanwaltes zu mir: »Euer Exzellenz, Ihre Stimme ist gewaltig …« Dann überlegt er kurz und fügt hinzu: »Aber … scheußlich.« Lacht und geht ab
NINA
Mein Vater und seine Frau wollen nicht, daß ich hierherkomme. Sie sagen, hier lebt die Bohème … sie haben Angst, ich könnte Schauspielerin werden … Aber mich zieht es hierher an den See wie eine Möwe … Mein Herz ist ganz erfüllt von Ihnen. Blickt sich um
TREPLJOW
Wir sind allein.
NINA
Ich glaube, da ist jemand …
TREPLJOW
Nein, niemand. Küßt sie
NINA
Was ist das für ein Baum?
TREPLJOW
Eine Ulme.
NINA
Warum ist sie so dunkel?
TREPLJOW
Es ist Abend, alle Dinge werden dunkel. Fahren Sie nicht gleich wieder nach Hause. Ich flehe Sie an.
NINA
Ich muß.
TREPLJOW
Und wenn ich zu Ihnen komme, Nina? Die ganze Nacht werde ich im Garten stehen und zu Ihrem Fenster hinaufschauen.
NINA
Das geht nicht, der Wächter würde Sie bemerken. Und der Hund ist noch nicht gewöhnt an Sie, er wird bellen.
TREPLJOW
Ich liebe Sie.
NINA
Pssst …
TREPLJOW hört Schritte
Wer ist da? Sie, Jakow?
JAKOW hinter der Bühne
Jawohl.
TREPLJOW
Geht auf eure Plätze. Es ist Zeit. Geht der Mond schon auf?
JAKOW
Jawohl.
TREPLJOW
Ist der Spiritus da? Ist der Schwefel da? Wenn die roten Augen erscheinen, muß es nach Schwefel riechen. Zu Nina Kommen Sie, es ist alles bereit. Sind Sie aufgeregt?
NINA
Ja, sehr. Ihre Mama macht mir nichts, vor ihr habe ich keine Angst, aber Trigorin ist bei Ihnen … Vor ihm zu spielen, fürchte ich mich, da schäme ich mich … Ein berühmter Schriftsteller … Ist er jung?
TREPLJOW
Ja.
NINA
Wie wunderbar seine Erzählungen sind!
TREPLJOW kalt
Weiß ich nicht, hab ich nicht gelesen.
NINA
In Ihrem Stück zu spielen ist schwierig. Es hat keine lebendigen Personen.
TREPLJOW
Lebendige Personen! Man muß das Leben nicht so darstellen, wie es ist, und nicht so, wie es sein soll, sondern wie man es sich in seinen Träumen vorstellt.
NINA
In Ihrem Stück ist zu wenig Handlung, es ist nur ein Vortrag. Und, in einem Stück, finde ich, muß unbedingt Liebe vorkommen …
Sie geht hinter die Bühne. Polina Andrejewna und Dorn treten auf.
POLINA
Es wird feucht. Gehen Sie zurück und ziehen Sie sich Galoschen an.
DORN
Mir ist heiß.
POLINA
Sie passen nicht auf sich auf. Diese Dickköpfigkeit. Sie sind Arzt und wissen sehr gut, daß feuchte Luft Ihnen schadet, aber Sie wollen, daß ich leide. Sie sind gestern absichtlich den ganzen Abend draußen auf der Terrasse geblieben …
DORN singt
»Sagt nicht, die Jugend sei dahin …«
POLINA
Sie waren so fasziniert von dem Gespräch mit Irina Nikolajewna … Sie haben die Kälte gar nicht bemerkt. Geben Sie es zu, sie gefällt Ihnen …
DORN
Ich bin fünfundfünfzig Jahre alt.
POLINA
Was sagt das schon, für einen Mann ist das kein Alter. Sie haben sich gut gehalten. Sie gefallen den Frauen immer noch.
DORN
Also was wollen Sie?
POLINA
Einer Schauspielerin liegt ihr alle zu Füßen. – Alle!
DORN singt
»Und wieder liege ich dir zu Füßen …« Wenn die Künstler von der Gesellschaft geliebt werden und man sich gegen sie anders verhält als, sagen wir, gegen Kaufleute, ist das ganz in Ordnung. Das ist Idealismus.
POLINA
Und daß sich alle Frauen immer in Sie verliebt haben und sich Ihnen an den Hals geworfen haben. Ist das auch Idealismus?
DORN zuckt die Achseln
Na und? In den Beziehungen der Frauen zu mir war viel Schönes. Die Frauen liebten in mir vor allem den ausgezeichneten Arzt. Vor zehn, fünfzehn Jahren, Sie erinnern sich, war ich der einzige ordentliche Geburtshelfer im ganzen Gouvernement. Außerdem war ich immer ein anständiger Mensch.
POLINA faßt ihn an der Hand
Mein Lieber!
DORN
Still. Sie kommen.
Es kommen: Arkadina am Arm Sorins, Trigorin, Schamrajew, Medwedjenko und Mascha.
SCHAMRAJEW
Im Jahre achtzehnhundertdreiundsiebzig in Poltawa auf dem Jahrmarkt hat sie umwerfend gespielt. Ein Jubel war das! Wundervoll hat sie gespielt! Sie wissen nicht zufällig, wo der Komiker Tschadin jetzt ist, Pawel Semjonitsch Tschadin? Als Raspljujew war er unnachahmlich, besser als Sadowskij, ich schwöre es Ihnen, Verehrteste. Wo ist er jetzt?
ARKADINA
Sie fragen immer nach irgendwelchen vorsintflutlichen Leuten. Woher soll ich das wissen? Setzt sich
SCHAMRAJEW seufzt
Paschka Tschadin! So jemand gibt es jetzt gar nicht mehr. Mit dem Theater ist es bergab gegangen, Irina Nikolajewna. Früher gab es mächtige Eichen, und jetzt sehen wir nur noch Stümpfe.
DORN
Glänzende Begabungen sind selten geworden, das ist wahr, aber der Durchschnittsschauspieler ist dafür um vieles besser heute.
SCHAMRAJEW
Da kann ich Ihnen nicht zustimmen. Übrigens ist das Geschmacksache. De gustibus aut bene aut nihil.
Trepljow kommt hinter der Bühne hervor.
ARKADINA zu ihrem Sohn
Mein lieber Sohn, wann fängt es an?
TREPLJOW
In einer Minute. Ich bitte um Geduld.
ARKADINA zitiert aus »Hamlet«
Du hast mir meinen Blick gelenkt nach innen
Und tödliche Geschwüre sah ich dort
In meiner Seele – nichts mehr kann mich retten.
TREPLJOW zitiert aus »Hamlet«
Und warum hast du dich dem Laster ergeben,
Im Abgrund des Verbrechens Liebe gesucht?
Hinter der Bühne wird auf dem Horn geblasen.
Meine Herrschaften, es geht los. Ich bitte um Aufmerksamkeit!
Pause
fange an.
Er klopft mit einem Stock laut.
Oh, ihr ehrwürdigen alten Schatten, die ihr zur nächtlichen Stunde über diesen See hier zieht, hüllt uns in Schlaf, damit im Traum uns erscheine, was in zweihunderttausend Jahren sein wird.
SORIN
In zweihunderttausend Jahren wird nichts sein.
TREPLJOW
Dann soll man uns dieses Nichts jetzt zeigen.
ARKADINA
Gut. Wir schlafen.
Der Vorhang geht hoch, man sieht den See, der Mond steht am Horizont, er spiegelt sich im Wasser. Auf einem großen Stein sitzt Nina Saretschnaja, ganz in Weiß.
NINA
Die Menschen und die Löwen, die Adler und die Rebhühner,
Die Hirsche mit ihren Geweihen,
Die Gänse und die Spinnen,
Die stummen Fische im Wasser,
Die Seesterne und alle Wesen,
Die mit Augen nicht zu sehen sind,
Mit einem Wort
Alles Leben, alles Leben, alles Leben
Hat seinen traurigen Kreislauf vollendet, ist erloschen.
Tausende von Jahren schon
Trägt diese Erde kein lebendes Wesen mehr
Und entzündet der arme Mond seine Laterne umsonst.
Auf der Wiese erwachen keine Kraniche mehr mit ihrem Geschrei.
Und keine Maikäfer sind zu hören im Lindenhain.
Kälte, Kälte, Kälte.
Leere, Leere, Leere.
Schrecken, Schrecken, Schrecken.
Pause
Die Körper der lebenden Wesen sind zerfallen zu Staub
Und die ewige Materie hat sie verwandelt
In Steine, in Wasser, in Wolken.
Die Seelen aller sind verschmolzen zu einer Seele
Und diese gemeinsame Seele des Weltalls bin ich … ich …
In mir ist die Seele Alexanders des Großen,
Die Seele Cäsars und Napoleons
Und die Seele des niedrigsten Blutegels.
In mir ist das Bewußtsein der Menschen
Verschmolzen mit den Instinkten der Tiere.
Ich weiß alles, alles, alles
Und jedes Leben durchlebe ich von neuem in mir.
Irrlichter glimmen auf.
ARKADINA leise
Es hat etwas Dekadentes.
TREPLJOW flehend, vorwurfsvoll
Mama!
NINA
Einsam bin ich. Nur einmal in hundert Jahren
Öffne ich die Lippen und spreche
Und meine Stimme klingt trostlos in dieser Leere
Und niemand kann sie hören …
Auch ihr, ihr blassen Feuer hört mich nicht …
Der faulige Sumpf gebiert euch, bevor es Morgen wird,
Und bis der Tag anbricht, irrt ihr umher
Ohne Gedanken, ohne Willen, ohne ein Zucken von Leben.
Aus Furcht, es könnte Leben entstehen in euch,
Vollzieht der Vater der ewigen Materie,
Der Teufel, jeden Augenblick
In euch und im Gestein und im Wasser
Eine Wandlung der Atome
Und ununterbrochen verwandelt ihr euch.
Beständig und unwandelbar im Weltall
Bleibt einzig der Geist.
Pause
Wie ein Gefangener in einen leeren tiefen Brunnen geworfen
Weiß ich nicht, wo ich bin und was mich erwartet.
Nicht verborgen ist mir nur,
Daß im beharrlich grausamen Kampf mit dem Teufel,
Dem Ursprung aller Kräfte der Materie,
Es mir beschieden ist, zu siegen.
Und dann werden Materie und Geist
Verschmelzen in einer Harmonie der Schönheit,
Und die Herrschaft des einen gemeinsamen Willens bricht an.
Aber das wird erst sein, wenn allmählich
Im Laufe einer langen, langen Reihe von Tausenden von Jahren
Der Mond, der leuchtende Sirius
Und die Erde sich in Staub verwandelt haben …
Bis dahin aber nichts als
Grauen, Grauen, Grauen …
Pause. Im Hintergrund am See erscheinen zwei rote Punkte.
Da nähert sich mein mächtiger Gegner, der Teufel.
Ich sehe seine furchtbaren glutroten Augen …
ARKADINA
Es riecht nach Schwefel. Ist das so gedacht?
TREPLJOW
Ja.
ARKADINA lacht
Aha, das ist ein Effekt.
TREPLJOW
Mama!
NINA
Er langweilt sich ohne die Menschen …
POLINA zu Dorn
Sie haben Ihren Hut abgenommen, setzen Sie ihn wieder auf, sonst erkälten Sie sich.
ARKADINA
Der Doktor hat den Hut vor dem Teufel abgenommen, vor dem Vater der ewigen Materie.
TREPLJOW aufbrausend, laut
Das Stück ist zu Ende! Schluß! Vorhang!
ARKADINA
Was bist du denn so wütend?
TREPLJOW
Schluß! Vorhang! Vorhang runter! Stampft mit dem Fuß auf Vorhang!
Der Vorhang fällt.
Verzeihen Sie, ich hatte außer acht gelassen, daß nur wenige Auserwählte Stücke schreiben und auf der Bühne stehen dürfen. Ich habe das Monopol verletzt. Mir … ich … Er möchte etwas sagen, winkt aber ab und geht nach links ab.
ARKADINA
Was hat er denn?
SORIN
Irina, Liebe, so darf man nicht umgehen mit jugendlichem Ehrgeiz.
ARKADINA
Was habe ich denn gesagt?
SORIN
Du hast ihn gekränkt.
ARKADINA
Er hat doch selbst vorher mehrmals gesagt, daß es sich um einen Spaß handelt, also habe ich sein Stück auch als Spaß aufgefaßt.
SORIN
Trotzdem …
ARKADINA
Jetzt stellt sich heraus, daß er ein bedeutendes Werk geschrieben hat! Ich bitte euch! Er hat uns also nicht aus Spaß dieses Stück vorgeführt und uns mit Schwefel eingeräuchert, sondern als Demonstration … Er wollte uns belehren, wie man schreiben muß und was man spielen muß. Allmählich wird das langweilig. Diese ständigen Ausfälle gegen mich, diese Sticheleien, ich bitte Sie, das soll einem nicht auf die Nerven gehen! Dieser launische, ehrgeizige Bengel.
SORIN
Er wollte dir eine Freude machen.
ARKADINA
Ach ja? Warum hat er dann nicht irgendein ganz normales Stück genommen, sondern uns gezwungen, diese dekadenten Fieberphantasien anzuhören? Zum Spaß bin ich ja gern bereit, mir auch Fieberphantasien anzuhören, aber das hier – dieser Anspruch auf neue Formen, auf eine neue Ära in der Kunst. Ich sehe hier keine neuen Formen, sondern einfach einen schlechten Charakter!
TRIGORIN
Jeder schreibt so, wie er will und wie er kann.
ARKADINA
Soll er doch schreiben, wie er will und wie er kann, nur mich soll er damit in Ruhe lassen.
DORN
Jupiter, du zürnst …
ARKADINA
Ich bin nicht Jupiter, sondern eine Frau. Zündet sich eine Zigarette an Ich zürne nicht, mich ärgert nur, daß ein junger Mensch seine Zeit dermaßen langweilig vertut. Ich wollte ihn nicht kränken.
MEDWEDJENKO
Niemand hat einen Grund, den Geist von der Materie zu trennen, vielleicht ist ja der Geist die Gesamtheit der materiellen Atome. Lebhaft zu Trigorin Aber wissen Sie, man sollte einmal in einem Stück beschreiben und dann auf der Bühne zeigen, wie unsereiner lebt – wir Lehrer. Das ist ein hartes Leben, ein hartes Leben!
ARKADINA
Sie haben vollkommen recht, wir wollen nicht mehr über Stücke reden und über Atome – es ist ein so herrlicher Abend! Hören Sie sie singen, meine Herrschaften? Lauscht Wie schön!
POLINA
Das ist drüben am anderen Ufer.
Pause
ARKADINA zu Trigorin
Setzen Sie sich neben mich. Vor zehn, fünfzehn Jahren konnte man hier am See fast jede Nacht ununterbrochen Musik und Gesang hören. Hier am Ufer gibt es sechs Landgüter. Ich erinnere mich – Lachen, Lärmen, Schießen, und immer Romane, Romane … Jeune premier’om und Abgott auf allen sechs Gütern war damals, Deutet auf Dorn darf ich vorstellen, Doktor Jewgenij Sergejewitsch. Er ist auch heute noch bezaubernd, aber damals war er unwiderstehlich. Ach, jetzt quält mich mein Gewissen. Warum habe ich meinen armen Jungen gekränkt? Das läßt mir keine Ruhe. Laut Kostja! Mein Sohn! Kostja!
MASCHA
Ich gehe ihn suchen.
ARKADINA
Bitte, Liebste.
MASCHA geht nach links
Hu – hu! Konstantin Gawrilowitsch! Hu – hu! Geht ab
NINA kommt hinter der Bühne hervor
Offenbar soll es nicht weitergehen, ich kann rauskommen. Guten Abend! Küßt Arkadina und Polina Andrejewna
SORIN
Bravo! Bravo!
ARKADINA
Bravo! Bravo! Wir haben Sie bewundert! Mit diesem Aussehen, mit dieser wundervollen Stimme darf man nicht auf dem Land sitzen, das ist eine Sünde. Sie haben sicher Talent. Hören Sie? Sie müssen unbedingt zum Theater!
NINA
Oh, das ist mein Traum! Seufzt Aber er wird sich nie erfüllen.
ARKADINA
Wer weiß? Darf ich vorstellen: Trigorin, Boris Alexejewitsch …
NINA
Ach, ich freue mich so … Verwirrt Ich lese alles von Ihnen …
ARKADINA setzt sie neben sich
Nicht verlegen werden, meine Liebe. Er ist ein berühmter Mann, aber er hat ein einfaches Herz. Sehen Sie, er ist selber verlegen geworden.
DORN
Ich glaube, jetzt kann man den Vorhang hochziehen, es ist sonst so unheimlich.
SCHAMRAJEW laut
Jakow, zieh doch mal den Vorhang hoch! Der Vorhang geht hoch.
NINA zu Trigorin
Ein seltsames Stück, nicht wahr?
TRIGORIN
Ich habe nichts verstanden. Aber ich habe mit Vergnügen zugeschaut. Sie haben so aufrichtig gespielt. Und die Dekoration war wunderschön.
Pause
In diesem See gibt es bestimmt viele Fische.
NINA
Ja.
TRIGORIN
Ich angle leidenschaftlich gern. Für mich gibt es keinen größeren Genuß, als am Abend am Ufer zu sitzen und auf den Schwimmer zu schauen.
NINA
Aber, ich dachte, wer einmal den Genuß des Schaffens erlebt hat, für den gibt es gar keine anderen Genüsse mehr.
ARKADINA lacht
Sprechen Sie nicht so. Wenn man ihm so große Worte sagt, versinkt er in den Erdboden.
SCHAMRAJEW
Ich erinnere mich, in Moskau in der Oper sang einmal der berühmte Sänger Silva das tiefe C. Und ausgerechnet an dem Abend saß auf der Galerie der Baß aus unserem Kirchenchor und plötzlich, stellen Sie sich unser maßloses Erstaunen vor, hören wir von der Galerie: »Bravo, Silva! « Eine ganze Oktav tiefer … So: In tiefem Baß »Bravo, Silva!« … Das Theater war wie versteinert.
Pause
DORN
Ein Engel flog durch den Raum.
NINA
Ich muß gehen. Leben Sie wohl.
ARKADINA
Wohin? Wohin so früh? Wir lassen Sie nicht gehen.
NINA
Papa wartet auf mich.
ARKADINA
Wirklich, was ist er für ein …
Sie küssen sich.
Nun, was soll man machen. Schade, schade, daß Sie gehen müssen.
NINA
Wenn Sie wüßten, wie schwer es mir fällt!
ARKADINA
Jemand sollte Sie begleiten, mein Kleines.
NINA erschreckt
Nein, nein!
SORIN flehend zu ihr
Bleiben Sie doch noch!
NINA
Ich kann nicht, Pjotr Nikolajewitsch.
SORIN
Bleiben Sie noch eine Stunde, jaja. Was ist das schon, wirklich …
NINA nach kurzem Überlegen, unter Tränen
Es geht nicht.
Drückt ihm die Hand und geht schnell ab
ARKADINA
Ein unglückliches Mädchen, im Grunde. Man sagt, ihre verstorbene Mutter hat ihr gesamtes riesiges Vermögen bis auf die letzte Kopeke ihrem Mann vermacht, und jetzt steht das Mädchen da mit nichts, weil ihr Vater wiederum alles seiner zweiten Frau überschrieben hat. Es ist empörend.
DORN
Ja, ihr Papa ist wirklich ein außergewöhnliches Schwein, da muß man ihm volle Gerechtigkeit widerfahren lassen.
SORIN reibt sich die erstarrten Hände
Gehen wir auch, meine Herrschaften. Es wird feucht. Meine Beine tun weh.
ARKADINA
Deine Beine! Wie zwei Holzbeine – du kannst ja kaum laufen. Also, komm, du unglücklicher Greis. Sie faßt ihn unter dem Arm.
SCHAMRAJEW reicht seiner Frau den Arm
Madame?
SORIN
Ich höre, der Hund heult schon wieder. Zu Schamrajew Seien Sie so gut, Ilja Afanasjewitsch, lassen Sie ihn losbinden.
SCHAMRAJEW
Das geht nicht, Pjotr Nikolajewitsch. Ich habe Angst, daß sich Diebe in die Scheune einschleichen, ich habe dort die ganze Hirse liegen. Geht neben Medwedjenko her Stellen Sie sich das vor, eine ganze Oktav tiefer: »Bravo, Silva!« Dabei war er gar kein richtiger Sänger, nur ein Kirchenchorsänger.
MEDWEDJENKO
Und was für ein Gehalt bekommt so ein Kirchenchorsänger?
Alle gehen ab, außer Dorn.
DORN allein
Ich weiß nicht, vielleicht habe ich keine Ahnung, oder ich habe den Verstand verloren, aber mir hat das Stück gefallen. Irgend etwas hat es. Wie dieses Mädchen über die Einsamkeit gesprochen hat, und dann, wie die roten Teufelsaugen erschienen, haben mir vor Aufregung die Hände gezittert. So frisch, so naiv … Da kommt er. Ich möchte ihm etwas Freundliches sagen.
TREPLJOW kommt
Keiner mehr da.
DORN
Doch, ich.
TREPLJOW
Mascha durchsucht den ganzen Park nach mir. Ein unerträgliches Geschöpf.
DORN
Konstantin Gawrilowitsch, Ihr Stück hat mir außerordentlich gut gefallen. Es ist eigenartig, und ich kenne den Schluß nicht, trotzdem, es hat mich sehr beeindruckt. Sie sind begabt, Sie müssen weitermachen.
Trepljow drückt ihm fest die Hand und umarmt ihn heftig.
Wie nervös Sie sind. Tränen in den Augen … Was ich sagen will: Sie haben ein Sujet aus dem Bereich der abstrakten Ideen gewählt. Das ist richtig, ein Kunstwerk muß unbedingt einen großen Gedanken zum Ausdruck bringen. Nur das ist schön, was ernst ist. Wie blaß Sie sind!
TREPLJOW
Sie meinen also, ich soll weitermachen?
DORN
Ja … Aber schreiben Sie nur das Wesentliche und Unvergängliche. Sie wissen, mein Leben war reich, ich habe es genossen, ich bin zufrieden, aber hätte ich jemals diesen Aufschwung des Geistes erfahren, den die Künstler in ihrem schöpferischen Prozeß erleben, dann, glaube ich, hätte ich meine materielle Hülle und alles, was diese Hülle ausmacht, verachtet und nur danach gestrebt, mich so weit wie möglich über diese Erde zu erheben.
TREPLJOW
Entschuldigung, wo ist die Sarjetschnaja?
DORN
Und noch etwas. Einem Kunstwerk muß ein klarer, bestimmter Gedanke zugrunde liegen. Sie müssen wissen, für was Sie schreiben, sonst, wenn Sie diesen poetischen Weg ohne ein bestimmtes Ziel gehen, werden Sie sich verirren, und dann wird Ihr Talent Sie zugrunde richten.
TREPLJOW ungeduldig
Wo ist die Sarjetschnaja?
DORN
Sie ist nach Hause gefahren.
TREPLJOW verzweifelt
Was soll ich nur machen? Ich will sie sehen … Ich muß sie unbedingt sehen … Ich fahre hin …
Mascha tritt auf.
DORN zu Trepljow
Beruhigen Sie sich, mein Freund.
TREPLJOW
Doch, ich fahre hin. Ich muß hinfahren.
MASCHA
Gehen Sie ins Haus, Konstantin Gawrilowitsch. Ihre Mutter wartet auf Sie. Sie ist beunruhigt.
TREPLJOW
Sagen Sie ihr, ich bin weggefahren. Und ich bitte euch alle, laßt mich in Ruhe! Laßt mich in Ruhe! Geht mir nicht dauernd nach!
DORN
Aber, aber, aber, mein Lieber … So geht das nicht … Das ist nicht gut.
TREPLJOW unter Tränen
Auf Wiedersehen, Doktor. Danke …
Geht ab
DORN seufzt
Die Jugend, die Jugend!
MASCHA
Wenn einem nichts anderes mehr einfällt, sagt man immer: die Jugend, die Jugend … Schnupft Tabak
DORN nimmt die Tabakdose weg und schleudert sie ins Gebüsch
Das ist scheußlich.
Pause
Im Haus spielen sie sicher schon. Wir müssen gehen.
MASCHA
Warten Sie.
DORN
Was ist?
MASCHA
Ich möchte es Ihnen noch einmal sagen. Ich muß es aussprechen … Erregt Ich liebe meinen Vater nicht … aber Ihnen bin ich sehr zugetan. Ich weiß nicht, warum, aber ich fühle von ganzem Herzen, daß Sie mir nahe sind … Helfen Sie mir. Helfen Sie mir, sonst begehe ich eine Dummheit, sonst zerstöre ich mein Leben, ich mache es kaputt … Ich kann nicht mehr …
DORN
Was? Wie kann ich Ihnen helfen?
MASCHA
Ich leide. Niemand, niemand weiß, wie sehr ich leide. Legt ihren Kopf an seine Brust, leise Ich liebe Konstantin.
DORN
Wie nervös alle sind! Wie nervös alle sind! Und wieviel Liebe … Ja, dieser Zauber-See. Zärtlich Aber was kann ich denn tun, mein liebes Kind? Was? Was?
Vorhang