Silja stand verloren vor dem Flughafen und wartete auf Parkranger Lars, der sie abholen sollte. Ihr Gepäck bestand aus zwei großen Koffern und einem Rucksack, in denen sich hauptsächlich Winterkleidung befand.
Ein junger Mann tauchte neben ihr auf und musterte sie.
„Bist du Silja?“
Sie nickte.
„Hej, ich bin Lars und dazu verdonnert worden, dich abzuholen.“ Er grinste breit.
„Okay, dann kann ja nichts mehr schiefgehen“, erwiderte sie.
Lars griff nach ihren Koffern und schritt voraus.
„Auf geht’s“, sagte er.
Silja folgte ihm. Nachdem Lars das Gepäck in den Kofferraum gehievt hatte, stiegen sie ein.
„Wie war dein Flug?“
„Bestens“, erwiderte Silja und drehte die Heizung höher.
Obwohl sie unter der Jacke einen dicken Strickpullover trug, fröstelte sie.
„Hier herrschen andere Temperaturen als in Stockholm“, sagte Lars, der ihr leichtes Zittern bemerkt hatte.
„Was glaubst du, was sich in den zwei Koffern befindet?“ Sie deutete mit dem Daumen in Richtung Kofferraum. „Baumwollunterwäsche vom Feinsten.“
Lars lachte. „Humor scheinst du jedenfalls zu besitzen, gefällt mir.“
„Warten wir’s ab“, konterte sie, und das Eis schien gebrochen.
Der Geländewagen düste über die schneeverwehte Piste. Es herrschte klirrender Frost und die schneebedeckten Bäume neigten sich unter ihrer schweren Last. Hin und wieder bahnte sich die Sonne einen Weg durch die dichte Wolkendecke und brachte den Schnee zum Glitzern.
„Winter Wonderland“, sagte Lars.
„Oh ja, und ich werde es genießen“, antwortete sie.
„Sicher?“ Er warf ihr einen zweifelnden Seitenblick zu. „Ganz allein in dieser Hütte, abseits jeglicher Zivilisation?“
„Ich bin es gewohnt, keine Sorge. Ist nicht mein erster Nationalpark, in dem ich mein Unwesen treibe“, erwiderte sie lachend.
Obwohl nur fünf Tage vergangen waren, schien die Sache mit Per Ewigkeiten zurückzuliegen. Er hatte die Wohnung wieder für sich und konnte mit Anja treiben, was immer er wollte. Wahrscheinlich machte es ihm nun weniger Spaß, weil der Reiz des Verbotenen nicht mehr lockte. Per hatte sie auf Knien angefleht, bei ihm zu bleiben, doch sie hatte ihn abgewiesen. Vorbei war vorbei.
Sie spürte noch immer die Wut über den Vertrauensbruch in sich schwelen, aber schließlich überwog die Vorfreude auf den neuen Lebensabschnitt. Ihre Mutter war wenig begeistert gewesen, dass es Silja wieder in die Wildnis zog.
„Wie wirst du dich verteidigen, wenn du auf einen Bären triffst? Oder hinterrücks von einem Luchs angegriffen wirst?“, hatte sie besorgt geäußert.
Ihre Mutter arbeitete als Klavierlehrerin und hatte schon damals nicht nachvollziehen können, warum Silja sich für ein Biologiestudium entschieden hatte.
„Warum studierst du nicht Kunst? Das liegt unserer Familie schließlich im Blut.“
Es stimmte, Kunst und Kultur hatten die Kindheit dominiert, und ihre Mutter war fast schon versessen darauf gewesen. Die Notenhefte lagen stapelweise auf dem wuchtigen Klavier, das beinahe den gesamten Raum eingenommen hatte. Aber Silja war ein unbändiger Freigeist, der sich nur selten unterordnete, sehr zum Ärgernis der Familie. Sie hatte ihren Vater, der bei einem Unfall ums Leben gekommen war, nie kennengelernt und war demzufolge als Einzelkind aufgewachsen. Das hatte einiges erschwert. Statt Ballettunterricht zu nehmen, war Silja lieber auf Bäume geklettert und hatte die Chorproben geschwänzt. Ja, sie liebte die Musik, aber sie besaß nur halb so viel Talent wie ihre Mutter. Mehr gab es zu diesem Thema nicht zu sagen.
Lars chauffierte sie durch die schneebedeckte Landschaft, an der sie sich nicht sattsehen konnte. Nur selten wurde die unberührte Natur Lapplands von einzelnen Siedlungen unterbrochen.
„Wie lange sind wir noch unterwegs?“, fragte sie.
„Ungefähr zehn Minuten“, antwortete Lars. „Schon gespannt auf dein neues Zuhause?“
„Und wie.“
„Sei aber nicht zu enttäuscht, das Haus ist nicht sehr geräumig.“
„Das macht überhaupt nichts. Ich habe schon Monate in einem Zelt verbracht und weiß ein Dach über dem Kopf durchaus zu schätzen“, erwiderte sie.
„Dann ist ja gut.“
Die restliche Strecke legten sie schweigend zurück. Irgendwo im Nirgendwo setzte Lars den Blinker und bog ab. Der Geländewagen bahnte sich einen Weg durch die jungfräuliche Schneedecke und hatte ordentlich zu kämpfen. Silja hatte damit gerechnet, dass die Hütte von den Parkrangern zumindest beheizt worden wäre, um ihr die Ankunft ein wenig angenehmer zu gestalten. Aber dem war nicht so, der Schornstein stieß keine einzige Rauchwolke aus.
„So, da wären wir“, sagte Lars und brachte den Wagen vor dem Eingang zum Stehen.
„Gibt es überhaupt fließendes Wasser?“, fragte sie.
„Müssen wir schauen. Der Haupthahn ist zugedreht und die Pumpe abgestellt.“
Silja verzog das Gesicht. Das hätten die Ranger doch längst überprüfen können, dachte sie verärgert, während Lars den Kofferraum öffnete, um das Gepäck herauszuholen. Er bahnte sich einen Weg zum Haus und stellte die Koffer vor der Tür ab.
„Der Schlüssel liegt unter der Fußmatte“, rief er lachend.
„Ha, ha, sehr witzig“, erwiderte sie und stapfte verärgert zum Haus.
Mehrere Zentimeter Schnee bedeckten die winzige Veranda. Silja befreite die Matte vom Schnee, um den Schlüssel zu suchen. Lars schien nicht der geborene Gentleman zu sein, aber was hatte sie auch erwartet. Einige der männlichen Ranger waren Einzelgänger, die soziale Kontakte mieden. Lars gehörte anscheinend zu dieser Kategorie.
„Danke für die Mühe“, sagte sie mit einem Anflug von Sarkasmus.
„Keine Ursache.“
„Du kannst jetzt fahren, ich komme schon allein zurecht.“
„Sicher?“
„Klar.“
„Ein Satellitentelefon ist im Haus, müsste nur geladen werden. Soll ich nicht wenigstens nach dem Generator schauen?“
Sie zuckte mit den Schultern.
„Dann schließ bitte auf, damit ich im Keller nach den Benzinkanistern sehen kann.“
Nichts, absolut gar nichts war für ihre Ankunft vorbereitet worden, und ihr Stimmungsbarometer hatte den Tiefpunkt erreicht. Sie steckte den Schlüssel ins Schloss und musste sich mehrmals gegen die Tür stemmen, bis diese endlich mit einem leisen Knarren aufsprang. Lars drängte sich an ihr vorbei und schleppte den ganzen Schnee mit ins Haus.
„Das läuft ja besser als erwartet“, murmelte sie kopfschüttelnd.
„Zwei der Kanister sind voll“, rief Lars aus dem Keller.
Silja seufzte, immerhin etwas.
Lars schleppte einen Kanister zum Generator, der innerhalb weniger Minuten ansprang und vor sich hin ratterte. Erleichterung machte sich breit, für Strom war gesorgt.
„Du solltest sparsam mit Licht und den technischen Geräten umgehen“, riet Lars. „Und falls dir langweilig ist, kannst du die Solarpanels von Schnee befreien. Viel Strom wird das nicht erzeugen, aber für eine Ladung warmes Wasser könnte es bei Sonnenschein reichen.“
„Super“, antwortete sie und ersparte sich die bissige Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag.
Lars behandelte sie von oben herab und das konnte sie überhaupt ausstehen. Während der Fahrt hatte er einen sympathischen Eindruck gemacht, der allmählich verblasste. Wahrscheinlich reagierte sie über, wie so oft in den letzten Tagen. Aber sobald sie sich eingewöhnt hätte und zur Ruhe gekommen wäre, würde sich dieses Verhalten garantiert wieder legen.
„Ich mache mich mal wieder auf den Weg. Falls du Fragen hast, ruf einfach an, das Buch mit der Telefonliste müsste irgendwo in der Küche liegen. Der Wagen steht im Schuppen, er ist gewartet und dürfte keinerlei Probleme machen.“
„Prima, dann weiß ich Bescheid.“
Lars verabschiedete sich und trat den Rückweg ab, während Silja das Gepäck ins Haus trug, das er hatte stehen lassen. Männer, dachte sie genervt.
Mit dem Besen beförderte sie den Schnee wieder nach draußen und schloss die Tür. Erst jetzt schaute sie sich genauer um. Das war es also, das Heim für die nächsten zwölf Monate. Das Mobiliar war spartanisch und zweckmäßig – ein schmales Schlafzimmer mit zwei Stockbetten, ein winziges Labor im Anbau, Küche, Abstellkammer, Bad und Wohnzimmer. Verlaufen konnte man sich also nicht. Die Dielen knarrten bei jedem Schritt, wie das bei einem alten Holzhaus üblich war.
Silja öffnete die Fensterläden in Küche und Wohnzimmer, um das letzte bisschen Tageslicht ins Haus zu lassen. Anschließend hockte sie sich vor den Kachelofen und öffnete das Türchen. Sie spürte den Luftzug, der Ofen schien zu funktionieren. Auf der Suche nach einem Anzünder durchforstete sie die Schubladen und wurde in der Abstellkammer fündig. Anschließend lief sie nach draußen und packte sich mehrere Holzscheite auf den Arm. Zum Glück war ein großer Holzvorrat von ihrem Vorgänger angelegt worden. Er hatte die Scheite an der Wetterseite des Hauses gestapelt, was für zusätzlichen Windschutz sorgte.
Auf der Veranda klopfte sie sich den Schnee von den Schuhen, drückte mit dem Ellenbogen die Klinke herunter und trat ein. Sie bestückte den Ofen und zündete das Holz an. Nur wenige Minuten später konnte sie ein heimeliges Knistern vernehmen. Hoffentlich wurde es bald warm, denn im Haus herrschten eisige Temperaturen und die Atemwölkchen stiegen bis unter die Decke. Silja hatte im Rucksack einige Lebensmittel für die ersten Tage dabei und öffnete die Bodenluke, um die Vorräte im Keller zu lagern. So musste sie den Kühlschrank nicht ans Stromnetz anschließen.
Silja bugsierte die Koffer ins Schlafzimmer, öffnete den Kiefernschrank und packte die wichtigsten Kleidungsstücke hinein. Danach steckte sie das Satellitentelefon in die Ladestation, damit es im Notfall über eine gewisse Akkukapazität verfügte. Nachdem sie das Wichtigste erledigt hatte, setzte sie sich auf das Sofa und wählte die Nummer ihrer Mutter. Helene wartete sicher schon sehnsüchtig auf ein Lebenszeichen von ihr.
„Hi Mam, ich bin’s“, meldete sich Silja.
„Du bist gut angekommen?“
„Ja. Es war eine absolut anstrengende Reise, aber jetzt habe ich es geschafft.“
„Schade, dass du mich in diesem Jahr zum Julfest alleinlassen willst“, klagte ihre Mutter mit vorwurfsvoller Stimme.
„Bitte nicht theatralisch werden“, erwiderte Silja. „Ich verspreche dir, alles zu versuchen, um bei dir zu sein.“
Sie hörte, wie ihre Mutter am anderen Ende der Leitung aufatmete.
„Ich würde mich jedenfalls wahnsinnig freuen und dich nach Strich und Faden verwöhnen.“
Silja lachte. „Schon gut, ich werde einen Flug buchen, wenn nichts dagegenspricht.“
„Das freut mich. Und? Wie gefällt es dir?“
„Ach Mama, ich bin doch gerade erst angekommen. Das Haus ist in Ordnung, die Landschaft fantastisch und der Rest wird sich finden.“
„Ich weiß bis heute nicht, von wem du diese Abenteuerlust hast“, sagte ihre Mutter.
„Manchmal entwickeln sich Kinder eben anders“, erwiderte Silja. „Ich habe den schönsten Beruf der Welt, auch wenn du das anders siehst.“
„Mütter machen sich nun einmal Sorgen, Kleines.“
„Das musst du nicht, es ist alles bestens. Du, mein Akku ist nach dem langen Flug gleich leer. Ich hab dich lieb und melde mich wieder.“
„Ich dich auch, Silja. Und gib auf dich Acht.“
„Das werde ich.“
Die Raumtemperatur war inzwischen ganz annehmbar und Silja zog ihre Jacke aus. Der Magen knurrte und sie setzte Wasser auf, um sich einen Tee zu kochen und eine Kleinigkeit zu essen. Nachdem sie sich gestärkt hatte, lief sie noch einige Male nach draußen, um Holzscheite zu holen, damit das Feuer über Nacht nicht ausging. Anschließend bezog sie das Bettzeug und putzte sich die Zähne. Für heute hatte sie definitiv genug.
Silja war am Abend sofort in einen tiefen Schlaf gefallen, der anstrengende Tag hatte Spuren hinterlassen. Obwohl sie sich tief ins Bettzeug vergraben hatte, spürte sie die Kälte und erwachte. Ihre Hand tastete sich zum Schalter der Nachttischlampe voran und das Licht flammte auf. Atemwölkchen schwebten wieder nach oben und Silja rieb sich schlaftrunken die Augen. Das Feuer im Ofen knisterte noch, trotzdem herrschten eisige Temperaturen im Haus.
Na wunderbar, dachte Silja frustriert und schlug die Bettdecke zurecht, um nach dem Rechten zu sehen. Sie drückte die Klinke herunter und stieß die Tür auf. Das Licht des Feuers flackerte noch, trotzdem schien die Wärme nicht auszureichen, um die Raumtemperatur auf einem angenehmen Niveau zu halten. Silja spürte einen kalten Luftzug an ihren nackten Beinen und bemerkte im Flur die offene Tür. Sie erstarrte und ihr Herz klopfte. Wie konnte das sein, wo sie doch abgeschlossen hatte?
Sie drückte die Tür wieder ins Schloss und drehte den Schlüssel herum. Anschließend schob sie die schwere Holzbank davor und beschloss, gleich am nächsten Morgen Lars anzurufen. Die Eingangstür konnte sich durch die Witterung verzogen haben und bei Temperaturschwankungen aufspringen. Das wäre zumindest eine logische Erklärung.
Silja legte noch ein paar Scheite nach und schlüpfte zurück unter die noch warme Decke. Doch der Schlaf ließ sich auf sich warten. Hier und da knackte es und sie hatte das untrügliche Gefühl, nicht allein im Haus zu sein. Ruhelos wälzte sie sich von einer Seite auf die andere, bis ihre Lider schwer wurden. Was für eine verrückte Nacht.