Keri Hulme
Steinfisch
Geschichten Gedichte
Aus dem Englischen von Christel Dormagen
Fischer e-books
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel ›Stonefish‹ bei
Huia Publishers, Wellington, Aotearoa New Zealand
© 2004 Keri Hulme
Deutsche Ausgabe:
© S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2012
Umschlaggestaltung: bilekjaeger, Stuttgart
Umschlagabbildung: Anne Griffiths Belt/Corbis
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Dieses E-Book ist urheberrechtlich geschützt.
ISBN 978-3-10-402425-7
Sojourner Truth war eine US-amerikanische schwarze Sklavin und Frauenrechtlerin (1797–1883).
Motoitoi Kahutia war die mit einem Weißen verheiratete Tochter des Maorihäuptlings Kahuti, gestorben vor 1844.
Māui: Gott der Maori, der der Legende nach mit der Entstehung von Neuseeland verbunden ist.
Der Snipe ist eine alte Automarke.
Aotearoa ist die Maoribezeichnung für Neuseeland und bedeutet: Das Land der langen weißen Wolke.
Whakarawa war die zweite Frau des letzten Moriori Tame Horomona Rehe alias Tommy Solomon (1884 –1933).
Die Moriori lebten vorwiegend von Vögeln, vor allem dem Taiko.
Nunuku Whenua hieß ein verletzter Moriori, der das Tötungsverbot verkündete: nur so lange kämpfen, bis Blut fließt.
Die Moriori waren von zwei Maoristämmen abgeschlachtet worden.
Bei den eingeritzten Zeichnungen handelt es sich um Baumzeichnungen, Dendroglyphen, der Moriori.
Die Moriori waren ein polynesisches Volk, das auf den neuseeländischen Chatham-Inseln lebte, vermutlich, nachdem sie von den neuseeländischen Hauptinseln verdrängt worden waren. 1835 landeten Maori auf den Inseln und beanspruchten sie für sich. Viele Moriori wurden gefangen genommen oder getötet.
Die Dawn-Parade findet statt zur Erinnerung an die Schlacht von Gallipoli 1915.
Oopart = out-of-place-artifact, prähistorische etc. Objekte, die an unwahrscheinlichen Stellen gefunden werden.
Moa, ausgestorbener flugunfähiger Laufvogel.
Tawhaki war ein legendärer Maoriheld.
In Topper, South Carolina, haben Menschen schon vor 50 000 Jahren gesiedelt. Das Clovis-Volk von New Mexico, das bis dahin als das älteste von Amerika galt, lebte vor 13 000 Jahren.
Der Hilligar-Effekt ist eine durch Lichtbrechung entstehende Art Fata Morgana, die von Wikingern hillingar genannt wurde.
Das Wort Lobus = Lappen wird u.a. in der Paläontologie benutzt und bezieht sich da auf Versteinerungen.
Die Namen in dem Lied »Orkadische Kammergräber …« bezeichnen prähistorische Ausgrabungsorte auf den schottischen Orkney-Inseln.
Ein hibachi ist ein japanischer Grill.
Chinchorro-Mumien, der Begriff bezieht sich auf die Totenkonservierung in der sog. Chinchorro-Kultur im prähistorischen Chile.
Die Laternen des Aristoteles meinen den sog. Kieferapparat der Seeigel, zuerst von Aristoteles beschrieben.
Ulu ist ein ursprünglich von Eskimofrauen benutztes halbkreisförmiges Messer.
Aschenlinse ist ein archäologischer Fachbegriff, der die Art eines Fundorts beschreibt.
Der alte Mann von Shanidar: In der Grotte von Shanidar im heutigen Irak wurde das prähistorische Skelett eines stark behinderten Mannes gefunden, das Archäologen auf vorhandene Gruppenfürsorge schließen ließ, da der Mann sonst nicht hätte überleben können.
Der grüne Strahl ist ein Naturschauspiel in Grönland, bei dem die Sonne plötzlich einen grünen Rand hat.
Purakaunui und Puketeraki sind Jagdgebiete bei Christchurch, Neuseeland.
Die Lapitakultur ist die erste Keramik fertigende, Ackerbau treibende Kultur Melanesiens, nach ihrem Fundort Lapita genannt.
Mō taku hākui, mō Mary A. Miller, me te whānau katoa,
Me Te Naybore –
selbst nach einem Vierteljahrhundert!
Judith Maloney
In Erinnerung an die Toten
William G. R. Miller
Raymond D. Miller
David M. Miller
Alan Jolis
Robin Morrison
William P. C. J. Minehan
Irihapeti M. Ramsden
»Ich habe einen Stein der einst
alte Meere durchschwamm« – er liegt
großäugig, Kiemen aufgerissen
dünn wie Firnis auf dem Schiefer
nur Lack, der vom Leben blieb.
Ich bin ein Fisch
vertraut mit diesen Meeren
mit tödlicher Luft und
ich kenne das Messer des Alters und
Ich kenne Stein –
An diesem Finger flackert funkelt flirrt
ein anderer alter Schwimmer blitzgrünblau:
du lächelst über meine Steine
aber ich murmle Opale, du
sagst Ahnen und ich hauche:
Knochen –
(ich balanciere auf dem letzten Poller, die Slipleine in der Hand), gab es die ganze Zeit über Vorzeichen.
Zum Beispiel saß ziemlich zu Anfang, noch bevor irgendetwas in Bewegung geriet, ein Eisvogel auf der Stromleitung, eine Sprotte im Schnabel. Eisvögel sitzen häufig auf Stromleitungen, aber dieser blieb den ganzen Tag. Die Sprotte zappelte in einem fort – zumindest zuckte sie jedes Mal, wenn ich hinausschaute und den Eisvogel immer noch dort sitzen sah. Wir alle hier bemerkten damals den Vogel und den Fisch, und wir alle kommentierten es, aber keiner von uns machte sich tiefere Gedanken. Keiner von uns aber sah den Eisvogel wegfliegen. Vermutlich wurde die Sprotte schließlich verschluckt.
Da war auch der Tag, als ich zum letzten Mal Pilze sammelte.
Es hatte tagelang genieselt. Normalerweise herrscht zur Jahresmitte Regenzeit, fünf bis acht Zentimeter pro Tag, pro Nacht, aber das Wetter wurde faul. Endlose Tage hinter einem Schleier aus leichtem Niesel. Deshalb hatte ich die Pilzsuche immer und immer wieder verschoben, bis eines Tages mein Appetit meinen Verstand besiegte. Unsere Pilzreviere sind – waren – anders. Es gibt hier Blätterpilze, vor allem den Stadtchampignon und den gegürtelten Egerling, aber hin und wieder auch einen großen fetten weißen Anischampignon, äußerst begehrt wegen seines kräftigen Geschmacks. Sie wachsen auf der Startbahn, einem achthundert Meter langen schafgeschorenen Grasstreifen, und auf den Picknickplätzen. Schon damals hatte das von Süden herandrängende Meer die Picknickplätze weggenagt, und die verbliebenen Schafsköttel auf der Startbahn trugen eine traurige graue Patina. Die Schafe waren schon Wochen vorher abtransportiert worden.
Ich schlendere, scheinbar ziellos, über die Startbahn. Als ich mit dem Sammeln anfing, hielt ich Treibholz, helle Steine und abgenagte alte Schafsknochenreste irrtümlich für Pilze, weil ich den Fehler beging, nach ihnen zu suchen. Das ist Jahre her; jetzt halte ich meine Augen im Zaum. Jetzt gehe ich leise summend spazieren. Da ist ein rostbrauner Büschelritterling, kaum fingernagelgroß; dort ein handbreiter Parasol; hier ein ganzer Schwung Prachtexemplare, die Köpfe blass wie Eier. Ich habe schon fast eine Tasche voll, als ich auf halbem Weg stehen bleibe.
Im Norden herrscht dichter weißer Nebel, und ich kann Abut Head nicht mehr sehen. Die fliegende Postbotin sagte, die Landspitze sei zurückgewichen, um drei Kilometer oder mehr, meinte sie. Das tasmanische Meer rollt wild und wütend direkt über einen neuen Steinwall; es schiebt sich anders herein, seit ich zuletzt hier war.
Ich seufze: Veränderung, Veränderung, Veränderung. Wo ist Verlässlichkeit? Wo ist der Fels?
Als ich mich nach Süden wende, um die restliche Strecke abzugrasen, bleibt mein Blick an etwas hängen, das komisch, verkehrt, fehl am Platz wirkt. Eine Farbexplosion neben einem Büschel Toetoe-Gras. Bei genauerer Untersuchung sieht es nach einem Röhrling aus – jedenfalls hat er unter der Kappe die typische Schwammstruktur –, aber von so einer Röhrlingsfarbe habe ich noch nie gehört. Es gibt einen ekligen Pilz am Haast-Pass mit Namen Tylopilus formosus, dessen Kappe oben braunschwarz und darunter scheußlich knallrosa ist; und es gibt verschiedene Hygrophorus-Arten, die »vielfarbig« heißen, und das meint rot und grün und schwefelgelb außen und türkisblau innen. Dieses Ding hier sieht wie eine missglückte Mischung aus beiden aus. Oben grünlich schwarz, unten drunter blau und der Stamm von oben bis unten rot und gelb längsgestreift.
Auf gar keinen Fall werde ich den essen, aber ich möchte mehr über ihn wissen, deshalb drehe ich ihn vorsichtig aus dem Sand und flechte rasch eine provisorische kete aus Toetoe-Halmen, um ihn nach Hause zu tragen. Und transportiere ihn mit blutenden Fingern nach Hause: Nicht von ungefähr wird Toetoe auch Messergras genannt.
In der dunstigen Ferne erscheint eine scheu zurückweichende Gestalt, ein grauer Schatten im Nieselregen. Obwohl es nur noch so wenige von uns gibt, bewegt sie sich nicht in meine Richtung. Das ist verständlich. Pilzsucher sind Einzelgänger und mögen keine anderen Pilzsucher in ihrer Nähe.
Ich weiß noch, dass die Hüte der Pilze vom ständigen Nieselregen leicht schleimig waren und in den Lamellen mehr Sand als sonst saß. Zubereitung: eine halbe Tasse natives Olivenöl extra, Salz, zwei zerdrückte Knoblauchzehen und viel gehackte Petersilie (meine Kräuter ließen sich überraschend gut nach oben in Eimer und Terrakottatöpfe verlegen) … dann die Pilze hinzufügen und alles köcheln lassen. Eine schmackhafte Mischung, zu der Speckstreifen perfekt passen würden.
Speck – und jedwedes Fleisch – ist schon seit Monaten nicht mehr zu bekommen.
An ungewöhnliche Träume kann ich mich nicht erinnern. Flutträume ja: Aber die hatten alle, ausgelöst durch die Nachrichten (solange noch gesendet wurde).
Ich finde, es hätte Hinweise geben sollen auf das, was da im Gange war, Andeutungen und Vorahnungen. Doch im Gegenteil: Meine Träume waren friedlich und eigentümlich grün/ländlich/wasserlos.
Dann war da die Besucherin.
Also, wenn es ein Anzeichen der kommenden Zeiten gab, dann sie.
Es war ziemlich zu Anfang, nachdem das Wasser zu steigen begonnen hatte, bevor die Ballonstädte kamen. Ich hatte intensiv geschrieben, weil das Postflugzeugsystem gut und verlässlich funktionierte. Ich habe nie herausgefunden, wer damit anfing und wie es zu dem gegenseitigen Vertrauen kam, aber es lief gut:
Ich brauche
Mehl (biologisch, mit Mühlsteinen gemahlen, von Kaikoura)
Käse (Hipi-mā bitte)
Öl (Oliven und Avocado)
Sojasoße
Apfelessig (Healtheries) und
getrocknete Aprikosen (gibt es noch welche von Roxburgh?)
Beiliegend Kapitel 23.
Und das Postflugzeug nahm Zettel und Kapitel entgegen und händigte die Bestellung der letzten Woche aus (Motueka-Tabak, Blue-Mountain-Kaffeebohnen aus Neuguinea und eine Kiste Honigwein, Marke Havill’s Mazer Mead). Je genauer die Bestellangaben, desto größer die Chance, etwas zu bekommen. Aus unerfindlichen Gründen bekäme man sonst nur Fertigessen und Fertiggetränke. Kein frisches Obst oder Gemüse; kein Fleisch (nicht einmal Salami). Und wenn nichts Geschriebenes die Bestellung begleitete, würde nur eine kleine Schachtel aus recycelbarer Pappe kommen, mit einem Ausrufezeichen aus pāua-Schalen darin. Irgendjemand da draußen besaß Humor. Ich habe nur ein einziges Mal versucht, Kredit zu bekommen, ohne in Wörtern zu bezahlen …
Jedenfalls habe ich damals den ganzen Tag und fast den ganzen Abend lang intensiv geschrieben. Nach zwanzig Stunden am Stück fühlte ich mich wie Märzrogen von Flundern – schwärzlich, leer, sauer. Nur in der Stimmung für eine Flasche Met und dann ins Bett und Bewusstlosigkeit. Ich hatte 47 beendet und den Anfang des tangihanga-Kapitels (nicht das abschließende, wie Sie vielleicht vermuten, sondern den Beginn der zweiten Abteilung) so weit stehen:
Der Sarg begann tatsächlich zu brodeln.
Die starke Mittagssonne, natürlich, und die Tatsache, dass sie ihn erst fanden, als der Fluss ihn nach einer Woche herausrückte: Die Leute vom Leichenschauhaus hatten ihr Bestes getan, aber es genügte offensichtlich nicht, um das Werk der Aale und des Wassers auszugleichen, und es würde ihn auch nicht die ganzen drei Tage lang zusammenhalten können.
Ganz gut für den Anfang, dachte ich, und dann klopft es an der Tür.
»Wer ist da?«
Schweigen.
»Wer ist da?«
Noch mehr Schweigen. Dann das Klopfen, tok-tok-tok BUMM, dreimal mit den Knöcheln und einmal mit der flachen Hand, mein Klopfen, verdammt nochmal (mein Puls fing an zu rasen), aber doppelt so stark.
Scheiß auch auf dich, denke ich, aber es ist der letzte Rest eines harten Tages, und es wäre netter, eine Flasche Met mit einem Gast zu teilen, als sie in verdrossener Einsamkeit zu trinken.
Ich vergewissere mich, dass die abgesägte .410er da ist, funktionsbereit hinter der Tür (ist sie), und die Kriegskeule an der einen Seite wartet (tut sie), und dann schiebe ich den Riegel beiseite.
Ihre Stimme klingt sehr enttäuscht, als sie sagt:
»Du bist dicker, als ich gedacht hatte.«
Ich stehe da und glotze.
»Auch ein kleiner Hängebauch, wie?«
und schiebt sich vorbei, direkt auf meinen Schnaps-Schrank zu.
Ihre Hand fördert ohne Zögern die Flasche Lagavulin zutage, obwohl die raffiniert hinter einer Reihe anderer, weniger guter Single Malts versteckt ist, und sie weiß genau, wo ich meine Whiskygläser aufbewahre, in einem Schreibtischfach. Sie holt sogar mein Lieblingsglas heraus, bevor sie sich auf den besten Stuhl fläzt.
»Du hast deinen Kühlschrank immer noch in der Garage? Hol uns eine Flasche Milch, ja?«
»Rums bums bums …«
Selbst ich würde solche Töne ignorieren.
Sie hat angefangen zu singen,
O yeah so I bear
the stigmata
of the hard drinker
a doer a goer
a wine-cup thinker – still
will you barter
your dreams for mine?
(O ja, ich trage also
die Stigmata
des harten Trinkers
ein Macher ein Geher
ein Weinglasdenker – möchtest du
dennoch tauschen:
deine Träume gegen meine?)
Oh, dieses Lied kenne ich: Weinlied #33, ein frühes aus einer langen unveröffentlichten Serie …
»Milch, ja?«
Einen subtil drohenden Unterton hat dieses letzte »ja?«. Es ist genau der subtil drohende Unterton, den ich benutze, wenn ein jüngeres Mitglied meiner Sippe sich ermüdend begriffsstutzig anstellt. Er warnt: Wenn du dich nicht gefälligst auf der Stelle zusammenreißt, wird das, was als Nächstes passiert, jemandem hier leidtun.
Ich würde liebend gern sehen, wie du es versuchst, Frau! Ich wiege, na ich würde sagen, zehn Kilo mehr als du … aber deine Hände haben diese zähe Äderung, die meine schon vor Jahren verloren haben. Und du wirkst gemeiner und auch feiner. Also werden wir es nicht mit den Fäusten versuchen. Noch nicht.
Sie lächelt ein gemeines, feines Lächeln.
Ich gehe nach draußen und hole die Milch (die heutzutage in Plastikbeuteln geliefert wird. Interessant, denke ich plötzlich, als mir »du hast deinen Kühlschrank immer noch in der Garage?« einfällt. Selbst in diesem benommenen Zustand kommt man da auf Zeitverzögerungen). Ich schnappe mir meine letzte Flasche Lindauers Bester. Ultra Brut Cuvee Sans Dosage. Das ist ein Champagner so fein und gemein, wie du ihn nur irgend bekommst.
Ich merke schon, obwohl ich es nicht glauben kann – es ist, als habe die Realität geniest und sei zersprungen –, dass dies hier eine der Situationen ist, in denen vernünftiges, zielgerichtetes Handeln mich nicht weiterbringt.
Der Wintermond in jener Nacht war sehr bleich.
»Es regnet ein bleicher Mond.«
Vor langer Zeit, als ich anfing, mir whakataukī-waina auszudenken, Aphorismen, die sprichwörtliche Redewendungen sein oder werden könnten, lautete mein erster Versuch:
»Wenn du ertrinkst, ist dir völlig egal, wie tief das Wasser ist.«
Das Entscheidende bei einem whakataukī-waina ist, dass es sinnvoll zu sein scheint – es ist sinnvoll, in gewisser Weise, aber der Sinn ist launisch, unstet, und wenn du zu lange darüber nachdenkst, landest du in geistigem Flugsand, der wegrutscht und unter dir nachgibt. Deshalb heißen sie auch Wein-Sprichwörter, bei anderer Gelegenheit taugen sie wenig.
Auē! Whakataukī-waina; meine Sippe; die letzte Flasche Lindauer und die vergleichsweise leichte Aufgabe, mit einem real gewordenen Phantasieklon meiner selbst umzugehen. All das scheint so weit weg und so unschuldig heutzutage …
Damals dachte ich natürlich, die Welt sei verrückt geworden.
Da war ich im Begriff, in Unwirklichkeit zu ertrinken, und es war völlig egal, und die Tiefe des Weins war meine letzte Sorge.
Die Flasche halbleer, die Flasche halbvoll. Da sitzt sie und nippt ausgeflockten Whisky, die Füße auf einen Hocker gelegt, die Haifischlederstiefel zu nah an meinem Schenkel. Sie hat ihr Haar zu einem kurzen dicken Knüppel geflochten, der ihren Nacken bedeckt. Sie trägt sieben Silberringe an den Fingern, und ihr Hemd ist erdig rot. Der Schottenrock ist neu, aus handgewebtem grobem Wollstoff, ohne raffinierte Falten, nur schlicht übereinandergeschlagen und von einem schmalen schwarzen Gürtel zusammengehalten. Der Schottenrock ist anders: Den Schottenrock hatte ich mir nie vorgestellt.
»Bleibst du lange?« Meine Frage klingt verzweifelt. Ich bin verzweifelt.
Sie lächelt boshaft und gießt mehr Whisky in die Sauermilch.
»Was hat dich hergeführt? Von – dort, meine ich«, und sie lässt nur ihren Kugelblitz aufschnappen, die persönliche Ladung, über die jede Frau in dieser meiner Phantasie verfügte, trifft mit einem winzigen Teil ihres Blitzes eine vorbeifliegende Stechmücke und verschmort sie.
Es hätte verheerend sein können: Es hätte mein Ende sein können. Nachdem ich Kei-Tu losgeworden war, achtete ich sehr darauf, wen ich mir ausdachte: Es war eine Sache, Personen zu Papier zu bringen, etwas ganz anderes, wenn sie, besinnungslos betrunken und mit Erbrochenem beschmiert, auf dem Boden lagen (eine ganze Flasche Lagavulin macht das mit dem hartgesottensten Trinker, auch wenn sie mit zwei Litern Milch ruiniert wird). Mir fiel die schattenhafte Gestalt ein, die ich beim Pilzesuchen gesehen hatte: ungefähr meine Größe, ungefähr meine Figur. Ihr schwankender Gang. Konnte es der Drachenfisch gewesen sein, mit seinen monochromen Tätowierungen und den leeren Mörderaugen? Es schauderte mich. Ich hatte zu viele Figuren erfunden, denen ich nicht gern begegnen würde. Wenn ich jetzt meine Kapitel schrieb, um mir mein tägliches Brot (Polenta/Strohpilze/Linsen) zu verdienen, vermied ich Details, Dramatik, Realismus … darauf schien, wer – oder was – sie am anderen Ende las, keinen Wert zu legen.
Das war ungefähr um die Zeit, als meine Nachbarin Lux Malone ihr Obergeschoss abriss und in ein riesiges rechteckiges Floß verwandelte, eine Art Viehfähre. Darauf baute sie ein Haus mit Spitzdach und überließ die restliche Fläche dem Austernlaich, den sie importierte. Die Austern wuchsen und laichten und wuchsen. Sie stakt ihre Austernfarm von den verbliebenen Häusern zu dem befestigten Dorf über der sumpfigen Bucht, jener geisterhaften, halb versunkenen Kolonie aus schmutzfarbenen Kuppeln, die über Nacht dort auftauchten, wo früher der Schuppen auf der Mole stand, und tauscht Austern gegen das, was wir anzubieten haben.
Sie sagt, es komme allenfalls ein wasserdicht verpackter Arm aus der Ausstiegsluke der Kuppelkolonie. Sie sagt, sie würden interessanten Sirup produzieren. Sie sagt, alle Männer seien nun in das befestigte Dorf umgezogen und hätten dort eine Langhauskultur angefangen. Sogar Bond. Sie macht ein finsteres Gesicht.
Bond ist ihr Typ gewesen.
Ich sage schnell:
»Hast du andere Veränderungen bemerkt?«
Sie kratzt sich nachdenklich am Schenkel. Sie stützt sich auf die lange mānuka-Stange, mit der sie ihre Austernfarm bewegt.
»Ich habe gehört, dass sie oben auf dem Berg blauäugige Krebse fangen.«
»Machen die irgendwas? Die Krebse, meine ich. Sind die schlauer oder gefährlicher?«
»Nee, süßer …«
Ihre Horde aufgelesener Kinder flitzt in Einbäumen, so spitz und schnell wie Schnappmesser, um die Austernfarm herum. Ihre Stimmen klingen hoch und süß, aber ihre Worte sind unverständlich. Ich gebe ihr ein Büschel getrockneten Thymian und ein Fläschchen ngaio-Öl, das ihr die Sandfliegen vom Leib halten soll, und kriege dafür einen Sack Austern.
»Bis bald, Lux …«
»Ja, bis bald« –
Aber wahrscheinlich nicht. Unsere Welten treiben immer weiter auseinander.
Die Flut hat meinen vorderen Zaun erreicht, und die Veranda tanzt mit tausend wirbelnden Blättern vom sterbenden Eukalyptusbaum. O Wind, blas die Nebel fort …
Ich streiche das Erdgeschoss weiter mit Kreosot. Vier Schichten habe ich schon aufgebracht, und die Dämpfe machen mich ganz benommen, aber es reicht noch nicht. Kreosot ist das Einzige, was den unteren Teil des Hauses vor dem Verrotten schützt, wenn das Wasser steigt. Ich habe sämtliche Bücher nach oben geschafft – die Zimmer befinden sich drei Meter fünfundsechzig über dem, was einmal der Erdboden war. Ich habe ein Schild gemalt, GRATISBÜCHEREI, und die Tür zum Meer hin unverschlossen gelassen.
Ich habe auch all die Sachen, die ich nicht mit auf ein Floß nehmen werde, ans Tor gelegt. Als ich mit einer weiteren Ladung (zwei Rust-Töpfen, einem frühen Colin McCahon und vier überzähligen Federbetten) hinauswate, sehe ich, dass der Haufen kleiner wird. Irgendjemand nimmt sich die Sachen, die Männer aus dem befestigten Dorf, vielleicht die Arme aus den Kuppeln. Vielleicht ist es nur die Flut.
Der Kahn ist fast fertig: Ich habe die Bretter des ehemaligen hohen Zauns benutzt, der rund um mein Haus lief (aus den Zaunpfosten mache ich Poller). Sie sind aus behandeltem kahikatea, sehr wasserfest und leicht zu bearbeiten. Es ist ein großer Kahn, elf Meter lang und sechs Meter breit. In langsamer, stetiger Arbeit verlege ich mein Hauptwohnzimmer dorthin. Ich werde Expertin im Umgang mit Hebeln und Flaschenzügen und habe kaum Schwierigkeiten, nicht einmal mit dem York-Seal-Herd. Schwierigkeiten machten mir bei diesem Umzug tatsächlich nur der Zitroneneukalyptus und der Cox-Orange-Apfelbaum: Sie schmollten, nachdem sie ausgegraben worden waren, und weigern sich jetzt hartnäckig zu blühen, obwohl sie in großen Weidenkörben mit fetter Erde und viel Platz für die Wurzeln stehen. Tja, sie werden sich daran gewöhnen, dass nichts mehr beständig, sesshaft, von Dauer ist, am wenigsten die Bäume.
Das Meer leckt an meiner Außentreppe, und die Taschenkrebse klettern hoch und krabbeln zwischen den toten Eukalyptusblättern herum.
Die Ballonhäuser sind mittlerweile so normal, dass ich sie gar nicht mehr zähle. Früher saß ich oft stundenlang auf dem oberen Schattendeck mit einem kleinen Zählapparat von KouSeiki in der Hand und klickte sie weg, wenn sie im Dunst auftauchten.
11 87
11 88
Manchmal sah ich Menschen, die an den durchsichtigen Wänden lehnten. Manche wirkten wie in der Falle, andere wie entspannte Touristen der Luft. 1189, 1190, 1191.
Also: Einige von uns treiben mit dem Wasser fort und andere mit himmlischen Strömungen.
Das Postflugzeug kommt zum letzten Mal. Chefin ist nicht wie sonst die ältere Frau, sondern jemand, den ich nur zu gut kenne. Jeden Tag aus dem Spiegel …
»Ich dachte, die Krebse hätten dich erwischt«, stammle ich (und denke an die schlaffe rollende Leiche, denke an die Versuchung, mal Speck der ungesalzenen Sorte zu probieren [aber das ging offenbar zu hart an die Schmerzgrenze]).
»Die Krebse haben nie irgendwas Bedeutendes erwischt«, sagt Kei-Tu, und ihr Lächeln verspricht Rache.
Ich entnehme ein Päckchen geräucherten Lachs von Angus McNeil, zwei Fläschchen mit Aromaöl (YlangYlang von Healtheries und Schlangengift), ein viertel Glas Hefeextrakt (Sanitarium) und einen Sack wilden Reis. Ich lege das letzte Kapitel von Der unendliche Roman und einen Nachsendeantrag (sozusagen) hinein, aber ich glaube nicht, dass Letzterer funktionieren wird.
»Wer kümmert sich um deine Bücher?«, fragt Kei-Tu. Meine Bibliothek war mal berühmt.
»Jeder Leser …«
»Wohin gehst du?«
»Ich weiß es nicht. Wohin auch immer Ebbe und Flut mich tragen. Mit vorübergehendem Halt, wo immer ich strande.«
Geschichtenerzähler bleiben nie lange an einem Ort.
Aber ich habe für meine Antwort zu viele Worte gebraucht, denn das Postflugzeug hat bereits abgehoben und schwebt davon.
Ich stehe auf dem Deck meines selbstgebauten Boots und starre den seltsamen Pilz an. Er ist im Laufe der vergangenen Monate weder geschrumpelt noch verfault, sondern hat in der kleinen provisorischen Toetoe-kete Zellfäden entwickelt und das Ganze zu seinem Myzel gemacht. Das ist unnatürlich, da solche Fäden sehr zart sind und außerordentlich empfindlich gegen jede Veränderung von Licht und Feuchtigkeit – aber was ist heutzutage natürlich? Ich habe schon ein Nest mit leuchtenden Kuckucken gesehen und Locken, die aus einem Schädel wuchsen …
Ich hatte mich an das Korb-Myzel gewöhnt, mich an die heftige Färbung gewöhnt. Aber jetzt leuchtet der Pilz mit winzigen blauen Sinuswellen, die mit der steigenden Flut am Stängel hochwandern. Ein Mikrokosmos der Gezeiten, und bei Stillwasser leuchtet der ganze Hut.
Ich erkenne ein Zeichen, wenn es sich mir so deutlich zeigt.
Ich nehme mit
den Gezeitenpilz und die Wetteruhr
eine Wolldecke, eine wasserdichte Swanndri-Jacke und sechs Seidenhemden
einen schwarzen Eisenkessel, eine Bratpfanne und ein Backblech
eine Gitarre und mein Lieblingsglas
die Wörterbücher – OED & Partridge für Englisch, Williams, Tregear und Biggs für Maoriisch und Kraz für Chaotisch: keine anderen Nachschlagewerke. Was ich nicht weiß, denke ich mir aus
diverse andere Sachen, wie Lebensmittel und Getränke und Feuerholz
mich.
Es war einmal vor langer Zeit, da waren wir hier eine Gemeinschaft, zehn Haushalte mit Menschen, die in den Tag hineinlebten. Wir murrten über die Steuern und beklagten uns manchmal über das Wetter. Wir erleichterten einander die grauen Zeiten mit Lagerfeuern, Whisky und flotten Massagen. Wir sangen manchmal, wenn wir traurig waren. Wir wussten – das Fernsehen sagte es uns, das Radio erwähnte es häufig –, dass die Ozeane steigen, der Treibhauseffekt das Wetter ändern würde und dass die tektonischen Platten rumpeln und sich verschieben könnten, wenn Gaia sich dem veränderten Wasserdruck anpasste. Und wir hielten das für eine weitere normale Veränderung im ewigen Kreislauf des Lebens.
Jetzt ist hier, wo immer du mich findest, und nirgendwo ist dort, wo ich sein werde.
Ich balanciere auf dem letzten Poller, die Slipleine in der Hand.
Da ist noch eine Sache, bevor ich an Bord springe und mit meinen schmollenden Bäumen forttreibe.
Ich kann dieses Ding doch nicht Hulmeschiff nennen: Wie wäre es mit Eine-Nase-gedreht? Oder einem großen Namen aus der Vergangenheit – Sojourner Truth[1]? Die Stephen Hawking? Motoitoi Kahutia[2]? Nein: Die sind zu groß für ein kleines Boot, dessen einzige wirkliche Fracht Wörter sind. Träumende Fische: Ja, das ist poetisch, aber ich fürchte, es ist nicht wahr. Ich wünschte, es wäre wahr.
Die Nebel wabern, während Land sich vom Meer entfernt und sich ein weiterer Riss in der Wirklichkeit auftut: Ein kreischender Vogelschwarm kreist und kurvt über einem vorbeiziehenden Strom von Ballons.
Die Piratenepistel entert deine Sphäre.
jedenfalls supersauinteressant, das sag ich Ihnen. Fünfzehn von denen unten am Strand und allesamt raus aus ihren Schalen. Werden ja jetzt hyperextradreist! Und hab ich das nicht gleich zu Anfang gesagt? Aber nein. Niemand hört auf mich. (Sie sind gefesselt, ein gefesselter Zuhörer. Leser. Was auch immer. Sie zählen nicht.) (Die Einschübe – und es handelt sich hier hauptsächlich um Einschub – sind von mir. Sie kennen mich nicht. Hinterher werden Sie mich auch nicht kennen. Keine Sorge. Hören Sie ihm einfach zu, wie er davon faselt, dass wir sie sofort hätten essen sollen, anstatt zuzuhören. Aber was hätten Sie denn getan? Ich jedenfalls ließ das Messer beim ersten Schrei fallen und war bezaubert, gleich bei Nummer Eins – schreibt man eins jetzt groß? Bin nicht sicher, ob ich das in der Schule gelernt hab. Egal, ich war bezaubert, und ich tat, was zu tun war, und das mache ich nicht bei all meinem Schmalzgebäck, glauben Sie mir.)
Sie ist eng und besteht aus blaugrünem Perlmutt: Sie ist so fließend und flüchtig wie ein Geflecht aus Tönen: Sie ist der Haltefels (ein vulkanischer Damm, der zu einem 800-Meter-Stummel erodiert ist, aber sehr viel solider als am Tag seiner Entstehung), und sie ist das unsichtbare neuronale Netzwerk, und sie ist die Gezeiten dazwischen.
Jeder Kunstharzaschenbecher mit den eingegossenen Schnipseln; jeder Anhänger und billige Schaukelohrring und öde verzierte versilberte Ring; jeder Einundzwanziger-Schlüssel; jeder Serviettenring; jedes Brettspiel; jeder Salz- und Pfefferstreuer; jeder Schlüsselring; jede Designer-Halskette und jeder kunstgeschmiedete Silberring, der von Ihrem Finger herabstürzt wie ein verirrter Vogel, sich in allem verhakt, was Sie berühren; jedes Flöckchen, das sich in den Kies von Weg oder Strand gebohrt hat; jede verhexte Schale, haufenweise auf der Mole der Stewart-Insel, der Länge und der Breite nach über die Inseln verstreut (Längen, Breiten), an Stränden, in Ferienhütten, in ruhigen Vorstadthäusern. Jedes Einzelne von ihnen. JEDES.